Die dunklen Seiten der Begabung - Laura Staats - E-Book

Die dunklen Seiten der Begabung E-Book

Laura Staats

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Beschreibung

Den "dunklen Seiten der Begabung" begegnen viele Eltern (hoch)begabter Kinder früher oder später. Dieses Buch entstand aufgrund des zunehmenden Interesses an der Thematik und den sich häufenden Hilferufen von Eltern, die in der Kinder- und Jugendhilfe nach Unterstützung und Begleitung suchen. Ihnen allen ist bewusst: "Wir verschleifen uns in der Erziehung unseres (begabten) Kindes". Die erziehungspsychologischen Auswertung und die Sammlung von Dokumenten eines dieser begabten Kinder bilden den Ausgangspunkt dieser Analyse von Laura Staats. Sie beleuchten "Die dunklen Seiten der Begabung" eines Betroffenen und zeigen seinen Weg der Neuorientierung sowie Begleitung bis hin zu seinem Abitur. Es wird dargestellt, wie Lerner und Lernbegleiter Schritt für Schritt zusammenarbeiten, "die Wende" vorbereiten und letztlich umsetzen.

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Seitenzahl: 245

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Die dunklen Seiten

der Begabung

Eine empirische Biographieanalyse eines

hochbegabten Jugendlichen

Laura Staats

Familie ohne Hauen und Stechen

Aktuelle Beiträge zum FamilienSinn, zur Zweitfamilie, zur Jugend- und Familienhilfe und zur Beziehungskultur

Band 2

Impressum

E-Book-Ausgabe Juli 2014

© 2014 Fleet Street Press, Oberer Kalbacher Weg 10, 603437 Frankfurt am Main, Deutschland

Kontakt: [email protected]

Covergestaltung: Julia Graff, Weil der Stadt

Bildnachweis Icon: © sensibleworld.com / Abbildung 26: © FranziH / pixelio.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Die Verwertung dieses Textes, insbesondere Vervielfältigung, Sendung, Aufführung, Übersetzung, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Genehmigung durch den Verlag urheberrechtswidrig und nicht gestattet.

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-944479-92-7

Hoffnungen eines Vaters

Jannik braucht nur noch ein Jahr bis zu seinem Abitur und macht, bis auf manche Fahrten zur Schule (mit mir), alles alleine. In der Regel tut er es mit Erfolg, schreibt in den Klassenarbeiten Einser und Zweier. In der Genetik und Geschichte (Weltfronten 1939-1945) erzielte er neulich die besten Noten. Er liest und informiert sich selber, was er danach machen kann. Ich frage ihn nicht aus, warte bis er selbst etwas fragt/mitteilt, was seine Zukunft angeht. Neulich sprach er vom Medizinstudium im Ausland. Generell läuft es also gut bei ihm.

Alles in allem: Meiner Einschätzung nach ist der durchgeführte Inklusions-Versuch alleine schon deshalb gelungen, da sich Jannik jetzt in einem nach außen gerichteten Veränderungsprozess befindet. Ich schätze, dass er nicht ausschließlich als ein Jugendamt-Klient betrachtetet wurde. Dass Jannik überhaupt so weit gekommen ist, verdankt er Karl Kluges Update21 und seinem Überlebenswillen. Die besondere Herausforderung eines Marathonlaufes beginnt auf dem letzten Viertel der Strecke. Die wird Jannik auch noch bewältigen, sobald er Kluges Resilienzstrategien anwendet und bis an die Grenzen seiner Beharrlichkeit geht. Mein Sohn konnte sich aus seiner „Sackgasse“ befreien.

Ein dankbarer Vater

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Laura Staats

Vorwort von Lisa Götzen

Von der Theorie zur Praxis – ein Überblick

Das Allerwichtigste zuerst

Einleitung

I Theorieteil

1.  Phänomenologie von Hochbegabung

1.1  Definition und Abgrenzung

1.1.1  Intelligenz

1.1.2  Theoretische Ansätze

1.1.3  Hochbegabung und Hochleistung: Zu Begabungspotential und Performanz

1.2  Mehrfaktorielle Modelle von Hochbegabung

1.2.1  Das Drei-Ringe-Modell

1.2.2  Das triadische Interdependenzmodell

1.2.3  Das implizite pentagonale Modell

1.2.4  Das differenzierte Begabungs- und Talentmodell

1.2.5  Das Münchener Hochbegabungsmodell

1.2.6  „Die Expertise Formel“ – ein erweitertes Hochbegabungsmodell

1.3  Underachievement

1.4  Zur Korrelation von Hochbegabung und Verhaltensauffälligkeit

1.4.1  Definition von Verhaltensauffälligkeit

1.4.2  Hochbegabung und Verhaltensauffälligkeit aus historischer Perspektive

1.4.3  Aktueller Forschungsstand

2.  Entwicklung im Kindes- und Jugendalter

2.1  Grundlagen der Entwicklungspsychologie

2.2  Entwicklungsaufgaben

2.3  Entwicklung emotionaler Kompetenz

2.4  Entwicklung sozialer Kompetenz

2.5  Entwicklungspsychologische Charakteristika bei Hochbegabung

2.5.1  Entwicklungsmerkmale hochbegabter Kinder und Jugendlicher

2.5.2  Persönlichkeitsvariablen hochbegabter Kinder und Jugendlicher in Anlehnung an die Erkenntnisse des Wiener Diagnosemodells zum Hochleistungspotential

2.5.3  Zur Psychosozialen Entwicklung bei Hochbegabung

2.5.3.1  Selbstkonzept

2.5.3.2  Konvergenz- und Divergenztheorie

2.5.3.3  Asynchrone Entwicklung

2.5.3.4  Spirale der Enttäuschung

2.6  Abschließende Betrachtung

3.  Resilienzforschung

3.1  Definition von Resilienz und Vulnerabilität

3.2  Das Konzept von Risiko- und Schutzfaktoren

3.3  Resilienzmodelle

3.3.1  Modell der Kompensation

3.3.2  Modell der Herausforderung

3.3.3  Modell der Interaktion

3.3.4  Modell der Kumulation

4.  Pädagogische Fördermaßnahmen bei Hochbegabung

4.1  Schulische Fördermaßnahmen

4.1.1  Akzeleration

4.1.1.1  Vorzeitige Einschulung

4.1.1.2  Überspringen von Klassen

4.1.1.3  Äußere Differenzierung

4.1.2  Enrichment

4.2  Die flexible Schuleingangsstufe in NRW

4.3  Außerschulische Fördermaßnahmen

4.4  Abschließende Betrachtung

5.  Kollegiale (Fall)Beratung

5.1  Definition von Kollegialer (Fall)Beratung

5.2  Erkenntnisse der Beratungspsychologie

5.2.1  Konzeption von Beratung

5.2.2  Kommunikationspsychologie

5.2.2.1  Die vier Seiten einer Nachricht nach Schulz von Thun

5.2.2.2  Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg

5.3  Abschließende Betrachtung

II Empirieteil

6.  Analyse der Forschungsmethode

6.1  Grundlagen der Qualitativen Sozialforschung

6.2  Zentrale Prinzipien der Qualitativen Sozialforschung

6.3  Die Einzelfallstudie in der Qualitativen Sozialforschung

6.4  Die biographische Methode in der Qualitativen Sozialforschung

6.5  Die Habitusanalyse

6.6  Abschließende Betrachtung

7.  Lebensgeschichtliche Einbettung

7.1  Zur Biographie

7.2  Zur Passung der vorgestellten Theorien

7.2.1  Zum Aspekt der Hochbegabung

7.2.2  Zum Aspekt des Underachievements

8.  „Unter der Lupe“ Zu Janniks Persönlichkeit und Entwicklung

8.1  „Wer ich bin und was ich kann“ – Zum Selbstbild

8.2  Im Spiegel der Anderen – Zum Beziehungsgeflecht von Jannik und seinem sozialen System

8.3  „Wer nichts leistet, ist nicht begabt?“ (Rost & Hanses) – Zur Rolle der Schule

8.3.1  „Nur was unter die Haut geht, kommt im Gehirn an“ (Hüther) – Zur Motivation

8.3.2  „Lernen hat er nie gelernt“ (Locke) – Vom Resultat Janniks Entwicklung

9.  „Wer viel erreichen will, braucht Möglichkeiten!“ – Zur Grundlage der Förderung

9.1  „Viele konkurrieren, wenige kooperieren“– Zur Notwendigkeit von Kooperation und Kommunikation

9.2  „Lernen lernen“ – Zum Lernen und Lehren

9.3  „Wer neue Wege gehen will, muss alte Pfade verlassen“ (Grau) – Update 21: Begabungsförderung neu gedacht

9.3.1  Begabungsförderung im Rahmen des L.I.N.D- Ansatzes

9.3.1.1  Self Science

9.3.1.2  Critical Thinking

9.4  Zur „Daseins“-Kompetenz

9.5  „Wer nichts wagt, gewinnt auch nichts“ – Zum Nutzen des „Update 21“

10. „Einzelfall oder Phänomen?“ - Zur Relevanz für die (Hoch)Begabtenforschung

11. Literaturverzeichnis

12. Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Normalverteilung der Intelligenzquotienten

Abbildung 2: „Das Drei-Ringe-Modell“ von Renzulli

Abbildung 3: Mehr-Faktoren-Modell der Hochbegabung nach Mönks

Abbildung 4: Sternbergs pentagonales Modell

Abbildung 5: Differenziertes Begabungs- und Talentmodell nach Gagné

Abbildung 6: „Münchener Hochbegabungsmodell“ nach Heller

Abbildung 7: Erweitertes Hochbegabungsmodell nach Kluge

Abbildung 8: Korrelation von Emotionaler Kompetenz und Entwicklungsrisiken nach Petermann und Wiedebusch

Abbildung 9: Checkliste zur Hochbegabung des BMBF

Abbildung 10: Das Wiener Diagnosemodell zum Hochleistungspotential

Abbildung 11: Faktoren des Wiener Diagnosemodells zum Hochleistungspotential

Abbildung 12: Modell des „Hierarchischen Selbstkonzepts“ nach Shavelson

Abbildung 13: Spirale der Enttäuschungen nach Wieczerkowski und Prado

Abbildung 14: Haupteffekt- Modell nach Wustmann

Abbildung 15: Mediatoren- Modell nach Wustmann

Abbildung 16: Modell der Interaktion nach Wustmann

Abbildung 17: Die vier Seiten einer Nachricht nach Schulz von Thun

Abbildung 18: Advance Organiser: Zur Interaktion der Forschungsmethodik

Abbildung 19: Advance Organiser: der Habitus

Abbildung 20: Interaktion der Systeme im Rahmen der intensivpädagogischen Einzelfallhilfe Update 21

Abbildung 21: Zur Biographie von Jannik

Abbildung 22: Advance Organiser: Zum Schnittpunkt zwischen Theorie, Praxis und dem Einzelfall

Abbildung 23: Multiple Intelligenzen bei Jannik

Abbildung 24: Theoretische Kriterien nach Lucito (1964) sowie Mönks und Mason (2002) in Bezug auf Jannik

Abbildung 25: Erweitertes Hochbegabungsmodell

Abbildung 26: Das „15-Schritte zum Erfolg Programm“ – Schritt 7

Abbildung 27: Auswertung eines Interessensfragebogens

Abbildung 28: Inklusion wagen – Fragebogen

Abbildung 29: Paradigmenwechsels in der Denkweise über „Begabungsförderung“

Abbildung 30: Advance Organiser: Zum kooperativen Netzwerk

Abbildung 31: Netzwerk der Kooperation

Abbildung 32: Jugendhilfephilosophien im Vergleich

Abbildung 33: Das Konzept und sein Bezugsrahmen

Abbildung 34: Die ausgewählten und eingesetzten Lösungsinstrumente und –verfahren

Abbildung 35: Advance Organiser: „Daseins“ Kompetenz

Abbildung 36: Zentrale Aspekte und Ansätze zur Förderung der „Daseins“ Kompetenz

Alle Grafiken können durch antippen/anklicken vergrößert werden.

Vorwort

In meiner beruflichen Praxis habe ich erlebt, welche Hindernisse in der schulischen und persönlichen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen entstehen, wenn sie keine individuelle Förderung erhalten. Die Chancen und Perspektiven, die sich ebendiesen Schülern und Schülerinnen hingegen bieten, wenn ihnen eine entsprechende – individuelle und kompetenzorientierte Förderung – zukommt, sind enorm. Meiner Einschätzung nach, obliegt diese Aufgabe auch der zukünftigen Schule und den Lehrern und Lehrerinnen sowie Pädagogen und Pädagoginnen, die diese mitgestalten. Auch wenn Klassengröße, Zeitdruck und andere externe Bedingungen den idealen Unterricht häufig torpedieren, bin ich der Meinung, dass der Einzug von „LernBEGLEITUNG“ (i.S.v. Karl J. Kluge) und Begabungsförderung im Klassenzimmer und pädagogische Settings unbedingt nötig sind. Bisher ist mir nicht bekannt, dass diese Thematik so stringent, praxislogisch und verständlich zur Darstellung gebracht wurde wie in dieser Arbeit von Laura Staats. Die Autorin bringt erstmals die Idee und Methode Habitus-Analyse in die Kölner Erziehungshilfe-Pädagogik ein und zeigt anhand des « Update 21-Ansatzes » der Europäischen Gesellschaft für Coaching einen anderen Schwerpunkt in der Pädagogik auf. Ein Wagnis, das ihr gelungen ist :

Eltern, Kinder und LernBEGLEITER fanden sich im Text praxisgerecht vor- und dargestellt.

Bemerkenswert ist der inhaltliche & methodische Ansatz:Wissen von der Praxis über die Metaanalyse für die Praxis. Diese Studie ist ein Musterbeispiel für den respektvollen Umgang mit Wissen aus der Praxis. Dieses ist literarisch und textinhaltlich so aufbereitet, dass jede(r), die/der will, sich praxisgerecht bedienen kann. Hier wird jede vorgefundene Konstellation individueller Begabungsförderung sichtbar gemacht.

Lisa Götzen, Lehrerin

I. Von der Theorie …

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Grafik: Laura Staats

II. … zur Praxis

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Grafik: Laura Staats

Das Allerwichtigste zuerst

Die ersten Überlegungen zur Erstellung dieser Studie entstanden im Rahmen des Studiums der Sonderpädagogik. Dort erfuhr ich, was Begabungspädagogik zu leisten im Stande ist.

Während meines Studiums erlebte ich die Wende von der Anerkennung der kognitiven Begabungsförderung hin zur Förderung individueller Begabungen. Die von der Schulpolitik gesetzten Richtlinien für den Schulunterricht setzten mit dem “Recht auf […] individuelle Förderung” (vgl. §1 (1) SchulG NRW) neue Maßstäbe für die individuelle Begabungsförderung in Schulen. So entwickelte ich im Verlauf meines Studiums die Einstellung, dass die Würde der Praxis sowie der Praktiker Ansprüche an die Wissenschaft stellen darf, effiziente Handlungsanweisungen vorzustellen bzw. transparent zu diskutieren. Diesem Standpunkt komme ich mit dieser Untersuchung nach, die einerseits eine Aufarbeitung der aktuellen Thematik ist und andererseits ein Angebot zur Realisierung einer “modernen Jugendhilfe” darstellt.

Wissen von der Basis für die moderne Jugendhilfe. Innovation und Inklusion

Das Einbinden des Wissens von der Basis ist eine pädagogische und wissenschaftliche Herausforderung. Wir brauchen das Wissen von der Basis für eine gelingende Inklusion.

Wissen von der Basis ist notwendig für die moderne Jugendhilfe. Die Experten, die sich mit Schwierigkeiten im Wissenserwerb und in der Persönlichkeitsentwicklung beschäftigen, müssen umdenken und auch ein Umdenken der Menschen bewirken, weil das der Schlüssel zum Erfolg ist.

Dazu gehören nicht nur wissenschaftliche Publikationen in hochrangigen Zeitschriften, sondern auch grundlegende Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Wissenschaft und Praxis. Wir müssen offen sein und neue Wege finden. Ein wichtiger Schritt hierfür ist der Ausbau der Orte für Partnerschaft zwischen Forschern, Lehrern, Eltern und Schülern, wo derartige Beziehungen entwickelt werden können. Insbesondere der Jugendhilfe kommt hier eine wichtige Rolle zu. Institutionen, die Praxis und Forschung miteinander verknüpfen, wie das Netzwerk “Begaben wagen” am Niederrhein, sind gleichzeitig äußerst beliebte und anerkannte Orte relevanten und spannenden Wissenserwerbs. Pädagogik und Gesellschaft müssen einen Bund schließen für den erfolgreichen Zusammenschluss von Wissenschaft und Praxis.

Eltern und Schüler wollen in den o.g. Dialogprozess einbezogen werden, um individuelle Lösungen zu finden. Wichtige Erkenntnisse kann man hierbei aus der pädagogischen Praxis ziehen, die sich mit Neuerungen und innovativen Ideen hinsichtlich der Begabungsförderung befassen und somit zur Modernisierung der Jugendhilfe beitragen.

So baut auch die Kölner Begabungspädagogik seit ihren Anfängen im Jahre 1985 auf Erfahrungen aus der Praxis, pädagogischen Neuerungen sowie begabungspädagogischen Ansätzen und wird damit der Forderung nach einer modernen Jugendhilfe gerecht.

Es gilt also, dafür Rechenschaft zu tragen, dass auf breiter Basis Wissen akquiriert und Partizipation ermöglicht wird, so dass zukünftige pädagogische Entwicklungen von Wissenschaft, Gesellschaft und Praxis noch besser zum Vorteil und Gewinn aller Schüler auf inklusivpädagogischer Basis erreicht werden.

Laura Staats

Duisburg & Viersen, 2014

Vorwort

„Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten“ (Goethe)

„Natürlich gibt es viele, die eine solche Veranlagung bewundern oder einen darum beneiden. Tatsächlich ist sie ein Segen und ein Fluch zugleich“ (Menke 2012a).

So äußert sich die sechzehnjährige Julia Wimmer in einem Interview in der Frankfurter Rundschau, nachdem sie ihre Begabung in der ZDF-Sendung „Deutschlands Superhirn“ unter Beweis stellte. Sie gehört mit einem Intelligenzquotienten von 148 zu den zwei Prozent der Bevölkerung, die als hochbegabt gelten. Ihre Teilnahme an dieser Fernsehsendung verdeutlicht eindrucksvoll, welches Bild der Durchschnittbürger vom Prototyp des Hochbegabten in sich trägt: Menschen, die sich durch Leistungsexzellenz, überragende schulische oder akademische Leistungen bzw. besondere Talente auszeichnen. Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen, wie Albert Einstein, Marie Curie oder Leonardo da Vinci prägen hierbei das Bild vom Genie, Überflieger oder Ausnahmetalent. Tatsächlich existiert diese Sicht von Begabung, jedoch nicht in jener Reinheit, die ihr oft – auch im wissenschaftlichen Diskurs - zugewiesen wird. Julia Wimmer bezeichnet jenen Teil der Begabung, der in dieser Studie als „die dunkle Seite“ betrachtet wird, als Fluch, den sie neben der Tatsache, ihre Begabung als Segen wahrzunehmen, anerkennt. Die Historie der Begabungsforschung zeigt, dass sich Autoren vornehmlich mit Erklärungsansätzen für Leistungsexzellenz befassen (vgl. Ziegler 2008) oder den Zusammenhang von „Genie und Irrsinn“ (vgl. Lambroso 1864) zu erklären versuchen. Der „dunklen Seite“ wird weder der eine noch der andere Deutungszusammenhang gerecht, denn Hochbegabung zählt mittlerweile nicht ausschließlich als Leistungsexzellenz, ebenso wenig aber impliziert „die dunkle Seite“ eine Korrelation von Begabung und Verhaltensauffälligkeit, wohl aber mit Erwartungswidrigem Verhalten. Entscheidend sind Aspekte der Begabung, die Lernen und Leben erschweren: festgefahrene Denk- und Handlungsstrukturen, fehlende Lern- und Arbeitstechniken, mangelnde emotionale Regulierung sowie beschwerte Selbstwirksamkeit und unzureichende Förderung hinsichtlich dieser Komponenten.

Die Existenz der „dunklen Seite“ stellt per se kein Problem dar; sie äußert sich jedoch an einem gewissen Punkt der Entwicklung als „Handicap“ für den Einzelnen und muss daher im wissenschaftlichen Diskurs sowie in der Praxis Berücksichtigung finden. Schon Goethe verwies mit seiner Aussage „Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten“ darauf, dass in der Realität das „Gute“ mit dem „Schlechten“ einhergeht und das eine ohne das andere an Bedeutung verliert. So erfährt auch die „helle Seite der Begabung“ durch die Berücksichtigung einer „dunklen Seite“ eine echte Würdigung; sie ist nicht immanent in einer Person verankert, sondern fordert Arbeit, Aufwand und Anstrengung.

Einer solchen mehrperspektivischen Betrachtung von Hochbegabung liegt demnach auch eine ethische Perspektive zugrunde. Der Einzelne wird mit seinen Stärken und Schwächen gewürdigt und anerkannt, ohne seine kognitive Hochbegabung zu seinem „Aushängeschild“ zu deklarieren. Die Nichtbeachtung der „dunklen Seite“, die auch von Hochbegabten und ihren Familien nicht selten als Solche beschrieben wird, fordert die aktuelle bzw. zukünftige Begabungsforschung demnach dazu auf, die Wirklichkeit auch unter diesem Aspekt zu betrachten und zu erörtern, welche Aspekte der „dunklen Seite(n)“ die kognitive Begabung überschatten. Es gilt also, sich von der Vorstellung des „Genies“ zu lösen und anzuerkennen, dass keine absolute Hochbegabung ohne Fehler existiert. Dieser Forderung und der Tatsache, dass ein Diskurs über diesen Aspekt der Begabung bislang fehlt, versucht diese Studie nachzukommen.

Einleitung

Verschiedenen Statistiken zu Folge wird in jeder zweiten Grundschulklasse und in jeder Gymnasialklasse ein hochbegabtes Kind beschult. Diese Kinder oder Jugendlichen gehören demnach zu den 2 Prozent der Bevölkerung, die einen Intelligenzquotienten von mindestens 130 (vgl. Ziegler 2008:20) aufweisen und das Potential für außergewöhnliche Leistungen besitzen. Unter ihnen befinden sich wiederum 15 bis 20 Prozent, die hinter ihrem Potential zurückbleiben und somit zu den sogenannten Underachievern, Teilleistern oder Partly-Achievern (i.S.v. K.J. Kluge) zählen. Underachievement bedeutet hierbei nicht allein, dass überragende schulische Leistungen ausbleiben; es führt für die Betroffenen und ihr soziales System häufig zu schwerwiegenderen persönlichen und sozialen Problematiken.

Ungleich schwerer wiegen diese Problematiken dann, wenn Hochbegabung nicht rechtzeitig entdeckt und Kinder oder Jugendliche demnach nicht zureichend gefördert werden können. Während der Fokus in Deutschland, sicherlich auch zu Recht, auf der Förderung von leistungsschwachen Kindern liegt, fehlen für hochbegabte Kinder und Jugendliche deutschlandweit bislang adäquate Hilfsangebote und Fördermöglichkeiten. Ein mögliches Erklärungsangebot für die aktuellen Defizite der Begabungspädagogik liefert auch die Tatsache, dass Hochbegabung zumeist mit Hochleistung gleichgesetzt wird. Die landläufige Meinung, kognitiv Begabte hätten es im schulischen Rahmen zumeist leichter, profitierten von ihrem außergewöhnlichen Intellekt und erzielten ohne größere Anstrengung Hochleistungen, dominiert hierbei. Auch mit Blick auf die wissenschaftlichen Publikationen und theoretischen Modelle rückt die Auseinandersetzung mit der „dunklen Seite der Begabung“ und jenen, die, trotz einer überdurchschnittlichen intellektuellen Begabung, keine Performanz erzielen, nur langsam und bis dato nicht ausreichend in den Fokus der Pädagogik und Psychologie.

Auch Jannik (der Name wurde geändert) zählt zu den sogenannten Underachievern: Er hat einen Intelligenzquotienten von 143, ist heute über 18 Jahre alt, besucht ein Abendgymnasium und erzielt dort beachtenswerte Leistungen, so dass er in einem Semester drei Leistungsstufen übersprang. Zahlreiche familiäre und soziale Probleme, Aufenthalte in der Jugendpsychiatrie, schulische Absenz und soziale Isolation jedoch gingen dieser Entwicklung voraus. Der Wendepunkt kam für Jannik mit dem kompetenzorientierten Ansatz „Update 21“, einer intensiv-pädagogische Einzelfallhilfe in Verbindung mit Familientrainings, an der er nach der ersten Kontaktaufnahme seines Vaters mit K.J. Kluge teilnahm. „Update 21“ beruft sich hierbei auf eine wertschätzende, belastbare und akzeptierende Grundbeziehung zwischen dem Lernenden und seinem LernBEGLEITER, Lernen durch L.I.N.D Ansatz (= Lernen in Neurodynamischen Dimensionen) und Self Science, die Förderung von Daseins-Kompetenzen und „LearningWill“ sowie eine Vielzahl von Methoden und Trainingselementen. Mit dem Ziel einer individuellen Förderung und der Befähigung zum selbststrukturierten Lernen und Leben, wird der Einzelne unter Berücksichtigung seiner „individuellen Begabungen“ für die Zukunft gestärkt. Unter welchen Rahmenbedingungen, mit welche „Vorordnungen“ (i.S.v. Petersen) und Erfolg „Update 21“ arbeitet, wird diese Studie aufzeigen und dessen Relevanz für die zukünftige Begabungsförderung untersuchen.

Um im Rahmen dessen ein umfassendes Bild zu gewährleisten, werden im Theorieteil der derzeitige Status Quo der Begabungsforschung sowie zentrale Aspekte der Entwicklung im Kindes- und Jugendalter analysiert und dargestellt werden. Kapitel 1 thematisiert die Phänomenologie von Hochbegabung, also zentrale definitorische Aspekte, Intelligenz sowie theoretische Ansätze und multifaktorielle Modelle von Hochbegabung. Zusätzlich liegt das Augenmerk auf der Unterscheidung von Hochbegabung und Hochleistung bzw. Potential und Performanz, der wissenschaftlichen Annäherung an das Phänomen Underachievement und der Frage nach der Korrelation von Hochbegabung und Verhaltensauffälligkeit, welche anhaltend im Diskurs um Hochbegabung verankert ist.

Das 2. Kapitel fokussiert zentrale Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und wird hierbei durch entwicklungspsychologische Charakteristika im Rahmen der Entwicklung von Hochbegabten ergänzt. Differenzierte Phänomene wie die Konvergenz- und Divergenztheorie, die asynchrone Entwicklung sowie die Spirale der Enttäuschung sollen hierbei genauere Betrachtung finden und in Hinblick auf ihren Realitätsgehalt überprüft werden. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass diese Phänomene größtenteils besondere Entwicklungsrisiken für Hochbegabte nahelegen, wird in Kapitel 3 auf einige Erkenntnisse der Resilienzforschung eingegangen. An diese Ausführungen schließt mit Kapitel 4 die Thematisierung von pädagogischen Fördermaßnahmen bei Hochbegabung an, in dessen Rahmen die derzeit „dominierenden“ Ansätze von Akzeleration und Enrichment sowie die flexible Schuleingangsphase in Nordrhein-Westfalen und weitere, außerschulische Fördermaßnahmen diskutiert und auf deren Nutzen geprüft werden.

Da im Rahmen der außerschulischen Fördermaßnahmen besonders die Hochbegabtenberatung forciert wird und auch schulische Hilfsangebote stark von Kooperation und Kommunikation abhängig sind, geht das 5. Kapitel auf die Bedeutung von Kollegialer Beratung ein. Neben den Ausführungen zur Kollegialer Beratung und grundlegenden Aspekten der Beratungspsychologie, schließt sich hierbei die Diskussion um kommunikationspsychologische Denkansätze an, die auch im Empirieteil von Bedeutung sein werden. Dieser hat im 6. Kapitel die Analyse der Forschungsmethode zur Grundlage und diskutiert hierbei die Einzelfallanalyse sowie die biographische Methode im Rahmen der Qualitativen Sozialforschung. Eine Neuerung stellt hierbei die Ergänzung um die Habitusanalyse dar, welche im Rahmen dieser Studie von besonderer Bedeutung ist.

Janniks biographische Daten sowie die Frage nach der Passung der vorgestellten Theorien im Rahmen der Hochbegabtenforschung, sind zentraler Ausgangspunkt des 7. Kapitels, welches zusätzlich ein erweitertes Hochbegabungsmodell in Anlehnung an die Erkenntnisse aus der Praxis und der Thematisierung von Janniks Biographie anbietet. Eine differenzierte Analyse von Janniks Entwicklung unter Berücksichtigung der grundlegenden Aspekte der Entwicklungspsychologie wird in Kapitel 8 vorgenommen, wobei im Speziellen Janniks Selbstbild, seine Position im sozialen System, die Rolle der Schule sowie Motivation von besonderer Bedeutung sein werden. In Kapitel 9 werden anschließend die Fördermaßnahmen, die Jannik im Rahmen von „Update 21“ erhielt, dargestellt und analysiert. In diesem Rahmen wird zunächst auf immanente Grundlagen der intensiv-pädagogischen Einzelfallhilfe, unter anderem Kooperation und Kommunikation, verwiesen und das Konzept vorgestellt. Die bereits angesprochenen Variablen, nämlich Lernen durch L.I.N.D und Self Science, die Förderung von Daseins-Kompetenzen und „LearningWill“ sowie die Umsetzung von LernBEGLEITUNG stehen hierbei im Fokus.

Kapitel 10 stellt als Resümee den Abschluss dieser Studie dar und analysiert, auf Grundlage der Frage, ob der Fall Jannik im Rahmen der Begabungsforschung und –förderung als Einzelfall oder Phänomen gelten muss, die Relevanz dieser Studie.

I Theorieteil

1. Phänomenologie von Hochbegabung

1.1 Definition und Abgrenzung

In der Diskussion um Hochbegabung existiert eine Vielzahl von unterschiedlichen Begrifflichkeiten und Auslegungen hinsichtlich ihrer Definition. Neben der oft uneinheitlichen Definition werden in der Literatur Begriffe wie „hochintelligent“, „besonders befähigt“ und „talentiert“ häufig synonym verwendet. Dies liegt nach Hahl (1999) im Speziellen daran, dass die Verwendung verschiedener Begrifflichkeiten nicht nur deskriptiv anmutet, sondern auch immanente Bewertungen nach sich zieht.

Schon der Begriff „Begabung“ unterliegt in der wissenschaftlichen Diskussion keiner einheitlichen Definition, was eine klare Eingrenzung erschwert. Dennoch wurde vor allem mit Blick auf das erhöhte Interesse an der (Hoch)Begabungsforschung immer wieder versucht, Kategorien zu skizzieren, in dessen Rahmen eine genauere Klassifikation möglich wird. Eine intensivere Auseinandersetzung mit der Thematik ist in Deutschland ab 1980 zu verzeichnen, während man sich zuvor nur vereinzelt mit Hochbegabung auseinandersetzte und in diesem Rahmen von „Genie“ oder „Talent“ sprach. Hierbei wurde zumeist davon ausgegangen, dass eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit der Thematik hinsichtlich der geringen Anzahl an Hochbegabten unbegründet sei, dass Hochbegabte keiner Förderung bedürfen oder dass Hochbegabung kein zentrales Phänomen sei, da es nur Kinder aus privilegierten Elternhäusern betreffe. Dennoch war auch der Mythos, dass Hochbegabung mit Geisteskrankheit korreliert, seit der Debatte um „Genie und Irrsinn“ weit verbreitet (vgl. Schmidt 1977).

Erst die Publikationen des Bundesministeriums für Forschung und Bildung (1985) oder die Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Förderung besonders Befähigter (1981) prägten den Aufschwung zur Forschung und Förderung von Hochbegabten. Trotz zahlreicher Publikationen, die diesen im Laufe der Jahre folgten, bleibt die einheitliche Eingrenzung und Definition erschwert. Es existiert eine Vielzahl von Modellen und theoretischen Konstrukten, die auf jeweils unterschiedlichen Determinanten beruhen. Den wohl bis heute einflussreichsten Faktor stellt hierbei die Intelligenz dar.

1.1.1 Intelligenz

Hochbegabung wird bis heute maßgeblich über die Intelligenz definiert. Diese wird, neben anderen Faktoren, die zur Diagnostik dienen, zumeist als determinierendes Kriterium dafür herangezogen. Unter Intelligenz wird grundsätzlich die Fähigkeit zu intellektuellen Leistungen (vgl. Schweizer, 2006) verstanden, wobei sich die Definitionen von Intelligenz nur geringfügig voneinander unterscheiden. Stern liefert hierbei eine der geläufigsten Definitionen und äußert sich zur Eingrenzung von Intelligenz wie folgt:

„Intelligenz ist die allgemeine Fähigkeit eines Individuums, sein Denken bewusst auf neue Forderungen einzustellen; sie ist die allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens“ (Stern 1920: 3).

Die Messung der Intelligenz erfolgt durch Intelligenztest, wobei Hochbegabung in den meisten Publikationen ab einem Intelligenzquotienten von 130 angesetzt wird. Es existieren allerdings wissenschaftliche Beiträge, in denen der Grenzwert abweicht (140 bei Terman, 125 bei Rost). Der Intelligenzquotient berechnet sich hierbei in Abhängigkeit von Intelligenzalter und Lebensalter, das heißt bei einem Durchschnittswert von 100 wird von einer Übereinstimmung von Intelligenz und Alter ausgegangen. Testergebnisse berufen sich demnach neben dem Intelligenzquotienten auf die Ermittlung des zugrunde liegenden Prozentranges. Ein Intelligenzquotient von 100 erzielt hierbei einem Prozentrang von 50, das heißt er entspricht 50 Prozent der Altersgruppe innerhalb einer Normalverteilung.

Zum Vergößern: Grafik antippen/anklicken

Abbildung 1: Normalverteilung der Intelligenzquotienten (Holling et al. 2004: 14)

Die obige Gaußsche Normalverteilung zeigt den Intelligenzquotient (horizontale Achse) in Abhängigkeit zur Verteilung innerhalb der Bevölkerung (vertikale Achse). Die unter der Kurve befindlichen Abschnitte stellen hierbei die prozentuale Häufigkeit des zugrunde liegenden Intelligenzquotienten dar. Demnach haben 68,2 Prozent der Bevölkerung einen Intelligenzquotienten zwischen 85 und 115 und befinden sich somit im Normalbereich. Als hochbegabt gelten wiederum 2,2 Prozent der Bevölkerung. In einigen Publikationen findet sich weiterhin eine Differenzierung zwischen hoch- und höchstbegabt, wobei grundsätzlich ab einem Intelligenzquotienten von 150 von einer Höchstbegabung ausgegangen wird (vgl. Jost, 1999).

In Bezug auf die Hochbegabungsdiagnostik besteht hierbei die Problematik, dass Intelligenztests für die Messung von überdurchschnittlicher Intelligenz nicht konzipiert sind, das heißt ihre Vorhersagegüte ist innerhalb des Normalbereiches relativ genau, während die Messung besonders niedriger und besonders hoher Intelligenz Ungenauigkeiten aufweist. Besonders in Bezug auf Intelligenztests für Kinder stellt dieses Phänomen eine Hürde innerhalb der Diagnostik dar.

Neben der klassischen Intelligenztheorie existiert eine Vielzahl von erweiterten Intelligenztheorien, die sich darauf berufen, dass sich Intelligenz aus weitreichenderen Faktoren zusammensetzt als dem reinen Intelligenzquotienten. Exemplarisch sei hier Gardners Theorie der multiplen Intelligenzen genannt, die von verschiedenen kognitiven Fähigkeiten ausgeht. Gardner (1983) unterscheidet hierbei folgende Intelligenzen:

•  Sprachliche Intelligenz

•  Logisch-mathematische Intelligenz

•  Musikalische Intelligenz

•  Räumliche Intelligenz

•  Körperlich-kinästhetische Intelligenz

•  Naturalistische Intelligenz

•  Interpersonale Intelligenz

•  Intrapersonale Intelligenz

Besonders die musikalische und die körperlich-kinästhetische Intelligenz finden in klassischen Intelligenztests keine Betrachtung. Nach Gardner würde eine besondere Begabung in diesen Bereichen auch zur Identifikation von Intelligenz führen, die jedoch durch einen Test unberücksichtigt bliebe.

Auch die inter- und intrapersonale Intelligenz gewinnt, gerade im Rahmen der Diskussion um emotionale und soziale Intelligenz, innerhalb der Intelligenzforschung immer mehr an Bedeutung. Dennoch unterliegen Intelligenzmodelle wie Gardners immer wieder der Kritik. Klassische Intelligenztests sind deswegen bislang die grundlegende Determinante zur Feststellung von Hochbegabung. Trotz der Tatsache, dass diese, besonders mit Blick auf die Testgütekriterien, bislang kaum durch andere Verfahren ersetzbar scheinen, werden sie von einer Reihe von Autoren und Forschern abgelehnt. Diese verweisen auf den Einbezug differenzierterer Kriterien zur Diagnostik, plädieren also auch für eine Testung von Kompetenzen abseits des Intelligenzquotienten. Während die Intelligenztestung also eine eindimensionale Betrachtungsweise darstellt, berufen sich andere theoretische Ansätze auf die Mehrdimensionalität von Begabung.

1.1.2 Theoretische Ansätze

Neben dem klassischen Intelligenzkonzept werden von einigen Autoren auch mehrdimensionale Konzepte zur Eingrenzung von Hochbegabung herangezogen. Diese unterscheiden sich jeweils in ihrem Fokus auf verschiedene Faktoren. Die fünf bedeutsamsten Kategorien zur Hochbegabungsdefinition nach Lucito (1964) werden im Folgenden vorgestellt und durch weitere Konzeptvorstellungen ergänzt (vgl. Lucito, 1964 zit. nach Feger und Prado, 1998):

(1)  Ex-post-facto Definitionen: Hochbegabt ist, wer aufgrund einer außergewöhnlichen Leistung rückwirkend als hochbegabt postuliert wird.

Neben der Wertung der spezifischen Leistung enthalten diese Definitionen auch eine soziale Komponente; als hochbegabt erkannt, wird also der, dessen Leistung im Rahmen des sozialen Milieus geschätzt wird. Defizite zeigen solche Definitionen insofern, als dass allein die Entdeckung eines Talentes über die Identifikation von Hochbegabung entscheidet und somit recht willkürlich verbleibt. Welche Kriterien tatsächlich zur Diagnostik dienen, sind darüber hinaus sehr subjektiv.

(2)  IQ-Definitionen: Hochbegabt ist, wer bei einem Intelligenztest einen entsprechenden Grenzwert, der meist bei 130 liegt, erreicht hat.

(3)  Prozentrang-Definitionen: Hochbegabt ist, wer in einer Stichprobe durch einen Intelligenzwert zum obersten Prozentrang zu zählen ist. Dieser Prozentrang entspricht zumeist einem Wert von 2 Prozent .

(4)  Soziale Definitionen: Hochbegabt ist, wessen Fähigkeiten oder zugesprochene Sonderbegabung von der Gesellschaft als wertvoll erachtet werden.

Hier gelten ähnlich Kriterien wie bei den Ex-post-facto Definitionen. Hochbegabung liegt demnach nur vor, wenn ein Talent von der breiten Masse geschätzt wird.

(5)  Kreativitäts-Definitionen: Hochbegabt ist, wer originelle und produktive Leistungen erbringt, die auf Kreativität zurückzuführen sind.

Bei diesen Definitionen wird das Merkmal der Intelligenz durch Kreativität ersetzt. Problematisch erscheint dies deswegen, weil Kreativität im Gegensatz zu Intelligenz schwer abzugrenzen und definieren ist. Kreativität ist darüber hinaus kein statisches Merkmal, das heißt ein gutes Resultat in einem Kreativitätstest kann nicht zwangsläufig wiederholt werden.

Lucito stellt eine eigene Definition von Hochbegabung an, die sich an dem Guilfordschen Modell der Intelligenz orientiert und besagt, dass von Hochbegabung dann zu sprechen ist, wenn ein Potential im kritischen und produktiven Denken zu erkennen ist, das zukünftig von Nutzen sein wird. Er fügt hierbei die Bedingung einer adäquaten Erziehung und Förderung hinzu. Weitere Klassifikationsversuche finden sich auch bei Mönks und Mason (2002), welche die verschiedenen definitorischen Versuche wie folgt kategorisieren:

(1)  Genetisch orientierte Definitionen: Hochbegabt ist, wer einen entsprechenden Intelligenzquotienten vorweist.

Definitionen, die unter diese Kategorie fallen, orientieren sich an den genetischen Dispositionen eines Menschen, sie gehen also davon aus, dass Intelligenz ein stabiles, angeborenes Merkmal ist.

(2)  Kognitiv orientierte Definitionen. Hochbegabt ist, wer entsprechende Leistung in Bezug auf Denkprozesse und Gedächtnis erbringt.

(3)  Leistungsorientierte Definitionen: Hochbegabt ist der, dessen Fähigkeiten sich in Leistung äußern

Bei diesen Definitionen steht das Resultat der Begabung im Vordergrund, das heißt eine entsprechende, sichtbare Umsetzung von Potential ist erforderlich.

(4)  Umweltorientierte Definitionen: Hochbegabt ist der, dessen Begabung im Rahmen der vorherrschenden Strukturen erkannt und gewertet wird.

Innerhalb dieser Definitionen spielt neben dem sozialen Milieu, der Familie, Schule und Peers, auch die aktuelle gesellschaftliche Lage eine immense Rolle. So determinieren gesellschaftliche Phänomene, Werte, Normen und Überzeugungen die Identifikation von Hochbegabung.

Jedem dieser Kategorisierungsversuche liegen jeweils unterschiedliche Kriterien zugrunde, die dem heutigen Stand der Begabungsforschung als singulative Faktoren unzureichend erscheinen. In Kapitel 1.1.3 sollen daher Mehrfaktorielle Modelle von Hochbegabung Betrachtung finden, die jeweils unterschiedliche Kriterien miteinander kombinieren. Zunächst erscheint es jedoch wesentlich, Hochbegabung und Hochleistung beziehungsweise Potential und Performanz zu differenzieren, da auch dieses Kriterium innerhalb der Hochbegabtenforschung zentral ist und auch in den Mehrfaktoriellen Modellen von immenser Bedeutung ist.

1.1.3 Hochbegabung und Hochleistung: Zu Begabungspotential und Performanz

„Im Hinblick auf Intelligenzleistungen ist der Mensch begabt, geht es aber um die Aneignung der geistigen Produkte unserer Kultur durch den Einzelnen, so wird der Mensch begabt“ (Roth 1952: 397).

Durch dieses Zitat wird eine weitere Differenzierungskategorie im Rahmen der Hochbegabtenforschung deutlich. Eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Kategorien von Intelligenz oder differenziert orientierten Definitionen reicht oft nicht aus, um dem Phänomen Hochbegabung gänzlich gerecht zu werden. Es verlangt demnach zwischen einer differenzierten Betrachtung von Potential und Performanz, denn nicht jeder Hochbegabte wird unweigerlich zum Hochleister. In diesem Sinne unterscheiden einige Autoren zwischen fluider und kristalliner Intelligenz, bei der es sich um eine genetische Disposition beziehungsweise um Umwelt bedingte Lernerfahrungen handelt.

Dass die fluide Intelligenz also als vererbte Funktionsfähigkeit angesehen und somit Bestandteil eines menschlichen Individuums ist, entscheidet noch nicht darüber, ob jemand dieses Potential auch tatsächlich nutzt. Viel eher beruht Hochleistung auch auf der Umsetzung von kristalliner Intelligenz und setzt somit eine gezielte Förderung durch das soziale Milieu voraus.

Obwohl auch die Diskussion um die Anlage-Umwelt-Debatte im Rahmen der Hochbegabtenforschung von Bedeutung war und ist, gehen Holling und Kanning (1999) davon aus, dass eine adäquate Förderung sowohl zur Entstehung als auch zur Entfaltung von Hochbegabung immanent ist und die Anlage-Umwelt-Debatte somit an Bedeutung verliert. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Unterscheidung zwischen einem statischen und einem dynamischen Begabungsbegriff zu verweisen.