Die Ehre der Am'churi - Sandra Gernt - E-Book

Die Ehre der Am'churi E-Book

Sandra Gernt

0,0

Beschreibung

Die Drachenkrieger Jivvin und Ni'yo hassen einander, seit sie sich das erste Mal begegnet sind. Obwohl sie als Waffenbrüder im Tempel des Kriegsgottes Am'chur aufwachsen, scheint es ihr Schicksal zu sein, sich gegenseitig umbringen zu müssen. Eines Tages werden sie aufgrund einer alten Schuld an ihre Erzfeinde, die Schattenelfen, ausgeliefert. Doch sie können fliehen - aneinander gekettet. Von nun an sind sie aufeinander angewiesen. Da entdeckt Jivvin, dass er noch ganz andere Gefühle für seinen Kontrahenten Ni'yo hegt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 277

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Ehre der Am’churi

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen

Originalausgabe 2009

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: M. Hanke

Abbildung © TimurD - Fotolia.com

2. Auflage 2011

ISBN 978-3-934442-50-4 (print)

ISBN 978-3-943678-56-7 (epub)

1.

„Das ist er“, knurrte Jivvin angewidert, als er mit seinen beiden Zimmerkameraden, Lurez und Pitu, den Raum betrat. Sie starrten auf den Neuen, der sich so tief unter seiner Bettdecke verbarg, dass von ihm im Augenblick nur tiefschwarzes Haar zu sehen war.

Ni’yo schreckte hoch, völlig desorientiert. Es dauerte mehrere Augenblicke, bis er sich erinnerte, wo er überhaupt war: im Tempel des Kriegsgottes Am’chur. Er hatte mehrere Stunden lang geschlafen, völlig erschöpft von der Berührung des Gottes. Mit großen dunklen Augen starrte er die drei älteren Jungen an, Am’churi wie er selbst. Auserwählt vom zornigen Drachen. Für gewöhnlich zeigten sich die furchterregenden Zeichen, dass man erwählt war, erst während der Geschlechtsreife. Ein erschreckender Moment – nicht nur für die jungen Krieger, sondern auch deren Familien, die meist sofort alles versuchten, um diese Kreatur loszuwerden. Ni’yo war erst knapp sieben Sommer alt und damit der jüngste Am’churi des Tempels. Ein Hort der Verstoßenen …

„Sieht ja wirklich aus wie eine abgezogene Ratte“, höhnte Pitu und beugte sich grinsend zu Ni’yo herab.

„Na, du Kleiner, kannst du denn schon sprechen?“, fragte er in jenem singenden Ton, mit dem man sich Säuglingen näherte. Ni’yos Gesicht verdüsterte sich, aber er schwieg.

„Sieht nicht so aus. Was will dieser Hosenscheißer bei uns? Aus dem wird doch kein Krieger! Oder soll er ein Haustier für die Großmeister abgeben? Kannst du Stöckchen bringen? Kannst du schön bellen?“, stichelte Pitu weiter. Lurez und Jivvin lachten. Ni’yo ballte die Fäuste, mörderische Blitze funkten in seinem Blick.

„Na los, bell doch mal! Zeig uns, was du kannst! Irgendeinen Grund muss es doch geben, dass du hier bist. Oder wollten deine Eltern dich nur loswerden, weil du völlig nutzlos bist?“ Pitu boxte den Jungen, der langsam von seinem Bett aufgestanden war, hart gegen die Schulter. Ni’yo, der mehr als zwei Köpfe kleiner und kaum so schwer wie ein Schmetterling war, taumelte mehrere Schritte zurück und prallte gegen die Wand. Er zeigte keinen Schmerz, keine Angst, weinte nicht, wie die drei älteren Jungen es erwartet hätten, sondern starrte sie nur finster an.

„Was guckst du so? Na los, Krieger, wehr dich!“ Pitu baute sich vor ihm auf, schubste ihn unsanft zurück gegen die Mauer.

„Pitu, lass ihn. Wenn du ihn verletzt, bekommen wir Ärger“, murmelte Jivvin. Das Glitzern in Ni’yos Blick gefiel ihm nicht, und Großmeister Leruam hatte ihn gebeten, sich ein wenig um den Jungen zu kümmern.

„Keine Angst, ich tu ihm nicht weh. Ich will doch nur wissen, ob der uns überhaupt hört!“Er klopfte mit der Faust gegen Ni’yos Stirn. „Bist du taub? Oder einfach nur blöd?“

„Fass mich nicht an!“, fauchte der Junge und schlug Pitus Hand weg.

„Ho! Jetzt hab ich aber Angst! Sag schön bitte, du Rotznase, dann lass ich dich in Ruhe.“ Er holte aus, um Ni’yo vor die Brust zu schlagen, aber er erreichte nie sein Ziel: Mit einem Mal bewegte sich Ni’yo, schneller, als der Blick folgen konnte, rammte seine beiden kleinen Fäuste in Pitus Unterleib, riss das Knie hoch, als sein Gegner überrascht in sich zusammensackte und traf ihn damit hart ins Gesicht. Klauen brachen aus seinen Fingern hervor, sein Unterkiefer verschob sich, lange Reißzähne wurden sichtbar. Sein bedrohliches Grollen war das einzige Geräusch in der absoluten Stille, die eingetreten war. Pitu lag regungslos am Boden, Blut quoll hell aus seiner Nase. Ni’yo stand über ihm, bleich wie die Wand in seinem Rücken. Mörderische Wut glühte in seinen unmenschlichen Augen, mit denen er Jivvin und Lurez musterte. Sie alle waren Gestaltwandler, halb Mensch, halb Drache, denn dies war Am’churs Gabe. Nur im allerhöchsten Zorn offenbarte sie sich, nur in Todesnot wurden aus den Erwählten wahrhaftige Drachen. Zusätzlich zur Wandlungsfähigkeit besaßen Am’churi außergewöhnliche Heilkräfte, die sie auch schwere Verletzungen in kurzer Zeit durchstehen ließen. Nichts davon war den entsetzten Jungen im Moment bewusst.

„Du hast ihn umgebracht“, wisperte Jivvin, der sich als erster fing. Langsam wagte er sich zu seinem Freund vor, ließ Ni’yo dabei keinen Moment unbeobachtet.

Pitu rührte sich, rollte sich leise stöhnend zusammen. Jivvin zog ihn am Arm außer Reichweite des fremden Jungen, der noch immer eine tödliche Gefahr darstellte. Lurez rannte schreiend aus dem Raum, um Hilfe zu holen.

„Das verzeihe ich dir nie, du Ratte!“, zischte Jivvin zornig. „Niemals, hörst du!“

„Ich hatte ihm gesagt, er soll mich lassen“, flüsterte Ni’yo. Langsam wich die Anspannung in seinem winzigen Körper. Aus den Drachenkrallen wurden wieder menschliche Finger, die er verwirrt betrachtete.

„Er hat dich ein bisschen geschubst, und du schlägst ihn dafür halb tot! Es ist verboten, sich einfach zu verwandeln. Du bist eine Ratte, eine feige Ratte! Und Ratten gehören erschlagen!“

„Was ist hier los?“ Tamu und Leruam, die beiden Vorsteher des Tempels, betraten den Raum. Sie blickten von dem blutüberströmten Kind auf dem Boden zu den beiden vor Zorn sprühenden Jungen, die über Pitu standen.

„Auseinander, ihr beiden!“ Leruam ergriff Ni’yo bei der Schulter, zog ihn hinter sich.

„Es sieht so aus, als hätten wir uns geirrt, dich in dieses Zimmer zu schicken. Jivvin, geh zum Abendessen, es hat längst geläutet. Tamu, kümmere dich um den Jungen, ich denke, seine Nase ist gebrochen. Und Ni’yo, du kommst mit mir.“

„Ich krieg dich“, zischte Jivvin hasserfüllt, bevor er den Raum verließ.

„Was hast du vor?“, fragte Tamu in der geheimen Sprache der Am’churi, damit die beiden verbliebenen Kinder ihn nicht verstehen konnten.

„Er bekommt einen Raum für sich, getrennt von den anderen“, seufzte Leruam. „Es sieht nicht so aus, als würde er den Zorn in sich kontrollieren. Am’chur hatte mich davor gewarnt. Ni’yo ist einfach noch sehr jung. Ich hatte gehofft, Jivvin würde sich mit ihm anfreunden, er ist schließlich auch jünger als die anderen und sehr begabt.“ Der alte Großmeister dachte an das, was vor wenigen Stunden geschehen war: Der schwer verwundete Junge, fast noch ein Kleinkind, hatte sich ganz allein durch das Tempeltor geschleppt, auf der Flucht vor jenen, denen er nur mit knapper Not entkommen war. Am’chur hatte Ni’yo geheilt und Leruam verboten, die Wahrheit über dieses Kind nach außen dringen zu lassen.

„ER IST MEIN, LERUAM, MEIN EIGENTUM. VERSTEHE, WAS ER IST – UND FÜRCHTE IHN. JEDER WIRD IHN FÜRCHTEN. LEHRE IHN, EIN AM’CHURI ZU SEIN. ER IST ALLEIN MEIN!“

Die riesige Statue des Drachengottes war zum Leben erwacht, hatte seinem Diener das Wissen geschenkt, das er brauchte, um diese Last zu meistern. Leruam wusste, er würde schwer an ihr tragen. Nun galt es aber erst einmal, Ni’yos unmittelbares Überleben zu sichern, und dafür musste er ihn außer Reichweite der anderen Jungen schaffen.

„Aber wenn wir ihn isolieren, wird es für die anderen noch schwerer, ihn als einen der ihren anzunehmen“, warnte Tamu besorgt.

„Verstehst du nicht? Es geht nicht darum, Ni’yo in unsere Gemeinschaft aufzunehmen. Wir müssen ihn auch nicht vor den Übergriffen der anderen beschützen, die in ihm ein ideales Opfer sehen, klein und schmächtig, wie er ist. Wir müssen die anderen vor ihm beschützen. Die anderen Am’churi. Die ganze Welt. Ni’yo ist gefährlich! Er muss lernen, sich zu beherrschen, sonst wird es bald Tote geben. Wir müssen ihn vor sich selbst beschützen.“ Besorgt blickte Tamu auf Pitu nieder, der mittlerweile schwankend auf die Beine gekommen war.

„Meister, ich will den nicht hier haben“, brachte er mühsam hervor, starrte entsetzt auf das viele Blut, das seine weiße Robe tränkte.

Ni’yo senkte den Kopf, wich allen Blicken aus.

„Komm mit mir“, sagte Leruam sanft, und führte den Jungen durch die Tür.

Oh ja, es würden schwierige Zeiten werden, daran bestand kein Zweifel …

2.

Einige Jahre später …

Jivvin stöhnte innerlich, als sein Feind den Speiseraum betrat. Alle Tische waren bereits besetzt, also musste sich Ni’yo zu ihm setzen. Sieben Jahre waren seit ihrer ersten Begegnung vergangen; seitdem hatte ihr Hass sich vertieft. Alle Bewohner dieses Tempels hassten und fürchteten das Rattengesicht, selbst die ausbildenden Meister. Kaum einer wagte allerdings, den Jungen offen anzugreifen, dazu war er schlicht zu gefährlich. Anfangs hatten die älteren Schüler noch gelacht, wenn sie gegen Ni’yo im Stockkampf oder A’Kure-cham, der waffenlosen Kampfkunst, antreten sollten, auch wenn sie gehört hatten, was mit Pitu geschehen war. Der Junge war kaum halb so groß wie sie, zudem ein Neuling, während sie teilweise schon seit Jahren ausgebildet wurden. Nachdem Ni’yo die ersten Gegner binnen weniger Herzschläge niedergerungen hatte, lachte niemand mehr. Jeder wusste, reizte man Ni’yo zu sehr, weil man glaubte, er wäre leichte Beute, konnte das üble Folgen haben, selbst für Adepten, die mehr als doppelt so alt waren wie er. Er bewegte sich mit einer Schnelligkeit, die seinen Mangel an Kraft und Reichweite mehr als ausglich. Bei Waffenübungen wollte niemand mit ihm kämpfen, er saß oft gelangweilt am Rand oder versuchte es allein. In den Schreibstunden musste er weit abseits sitzen. Aber Leruam hielt seine Hand über ihn, Ni’yo wurde selten bestraft, wenn seine Wut durchbrach, sondern meist diejenigen, die ihn provoziert hatten. Das mochte gerecht sein, aber es schürte den Hass und die Ablehnung der anderen noch mehr. Wenn man ehrlich war, hatte es seit Jahren keine Ausbrüche Ni’yos mehr gegeben, er beherrschte sich. Er verwandelte sich nicht mehr unwillkürlich und war somit keine tödliche Gefahr mehr für alle anderen. Dennoch wollte niemand etwas mit ihm zu tun haben, und die wenigen, die es aus Mitleid oder Neugier versuchten, wurden von dem Jungen rasch weggejagt. Er war misstrauisch, hielt sich von der Gemeinschaft fern.

Jivvin erging es zu Teilen ähnlich. Auch er war stärker, lernte schneller als seine gleichaltrigen Waffenbrüder. Tatsächlich war er der einzige, der Ni’yos Fortschritten zumindest auf den meisten Gebieten folgen konnte. Glücklicherweise hasste ihn niemand dafür. Zwar gab es Neider, er hatte neben Ni’yo noch weitere Feinde, vor allem unter den älteren Adepten. Zumeist aber begegnete man ihm freundlich und bat eher um Hilfe als ihn auszuschließen. Ni’yo und er hatten gemeinsam die Prüfung zum Adepten abgelegt, kaum ein Jahr, nachdem sie in den Tempel gekommen waren. Die Rivalität zwischen ihnen hatte die Feindschaft, geboren aus der ersten Begegnung, nur noch weiter genährt. Sie waren mit großem Abstand die jüngsten und erfolgreichsten Schüler, die jemals an diesem Ort aufgenommen worden waren – was Jivvin einige Freunde gekostet hatte, denn die waren alle Novizen geblieben und fanden den Anschluss nicht mehr zu ihm, als sie selbst Adepten wurden.

Das Rattengesicht saß am Ende des Tisches, mehrere Plätze von Jivvin entfernt, nahm sich Geschirr von einem Tablett, das von einem Novizen herumgereicht wurde und füllte sich dann Tee aus dem Krug, der für alle bereitstand. Zwei Adepten setzten sich Jivvin gegenüber, Perénn und Kamur. Sie grüßten sich flüchtig. Eine Weile lang widmete er sich ganz seinem Essen und versuchte, den Blick auf seinen Feind zu vermeiden, um sich nicht grundlos den Appetit zu verderben. Doch er konnte es nicht, unweigerlich musste er wieder zu ihm hinüber sehen. Wie sehr er diese Ratte hasste! Eines Tages würde er ihn zerquetschen!   

Plötzlich erstarrte Ni’yo. Ganz langsam setzte er die Tasse ab, als fürchtete er, sie zu zerbrechen. Der Ausdruck von Angst und fassungslosem Entsetzen flackerte kurz über sein Gesicht, dann verschwand es, als wäre nie etwas geschehen. Obwohl er fast nichts gegessen hatte, stand Ni’yo auf, brachte sein Geschirr fort und verließ den Speisesaal.

Jivvin hätte diesen Vorfall als nebensächlich abgetan, vielleicht sogar als Einbildung. Ni’yo benahm sich oft seltsam, und es war nicht ungewöhnlich, dass er wenig bis gar nichts aß. Doch Perénn und Kamur beobachteten aufmerksam, wie der Junge hinausging. Sie verabscheuten Ni’yo, wie fast jeder hier. Was Jivvin in ihren Augen las, war allerdings kein Hass, sondern Triumph. Nachdenklich blickte er sich um. Niemand sonst sah hinter Ni’yo her oder schien irgendetwas ungewöhnlich zu empfinden. Alle aßen, unterhielten sich, lachten und scherzten. Pérenn und Kamur verließen ebenfalls den Saal, ein bisschen eiliger als sonst üblich, zudem hatten sie noch nicht einmal Tee getrunken, geschweige denn das Essen angerührt.

Bei Am’churs Weisheit, was bedeutet das? Hastig beendete Jivvin sein Mahl, ohne etwas zu schmecken.

Für gewöhnlich verbrachte Jivvin seine Abende damit, zu lernen, einige schwierige Kampf- oder Waffentechniken zu üben oder sich auf den Moment vorzubereiten, an dem er beginnen durfte, sein eigenes Chi’a zu schmieden. Es dauerte rund zwei Jahre, diese Waffe anzufertigen, die Am’churs Krallen nachempfunden war, und nur, wenn seine Großmeister einstimmig bestätigten, dass er an Geist und Körper ausreichend gereift war, durfte er diese Aufgabe beginnen. Sein Chi’a würde ihn als wahren Am’churi ausweisen, als Meister der Kriegs- und Waffenkunst. Eine solche Waffe war nahezu unzerbrechlich, ihre fast sichelförmige, armlange Stahlklinge gehärtet in Am’churs göttlicher Flamme. Sie spaltete selbst Felsbrocken und war doch so leicht, dass man nicht im Kampf ermüdete. Verlor ein Am’churi sein Chi’a, war dies fast so schmerzhaft wie der Verlust seiner Waffenhand. Er konnte sich ein neues schmieden, doch es würde wieder zwei Jahre dauern, bis er sich als wahrer Krieger fühlen durfte.

Ruhelos streifte Jivvin durch seine Kammer. Die Adepten durften ein Zimmer für sich allein beanspruchen, im Gegensatz zu den Novizen, die sich noch zu dritt oder zu viert einen Raum teilten. Diese Räume waren nicht allzu groß, erst als Meister erhielten sie den Platz, sich vollkommen frei zu entfalten, aber es genügte, um sich zurückzuziehen und ungestört studieren oder Kampfschritte üben zu können.

Nichts davon wollte Jivvin heute gelingen. Die Buchstaben auf den Schriftrollen tanzten vor seinen Augen, er wollte nicht lesen. Für Meditation oder Kampfübungen fehlte ihm die Konzentration. Immer wieder sah er die Angst in den Augen seines Feindes und den Triumph auf Pérenns und Kamurs Gesichtern. Jivvin sorgte sich nicht um Ni’yo, mehr darum, was er mit den beiden jungen Kriegern anfangen würde, sollten die ihm tatsächlich einen Streich gespielt haben. Die zwei waren ihm so hoffnungslos unterlegen, in jeglicher Hinsicht …

Obwohl, Pérenn zumindest besaß eine Fertigkeit, mit der er selbst die Großmeister ausstach. Niemand war so findig wie er, was den Umgang mit Giften betraf. Sowohl der Gebrauch von gewöhnlicher Medizin als auch die Entwicklung neuer Tötungsarten war seine Spezialität. Er schien regelrecht zu riechen, wie viel Wirkstoff in Pflanzen und Mineralien vorhanden war, und fertigte mit unglaublicher Präzision Schlaf- und Waffengifte an, Tinkturen, die heilten, töteten, Schmerzen verursachten … Es war nicht der Weg der Am’churi, zu solchen Mitteln zu greifen, dennoch mussten sie in der Lage sein, Gifte zu erkennen wie auch herzustellen, Antidote zu entwickeln, im schlimmsten Fall die Auswirkungen zu behandeln und dadurch den nahenden Tod zu verhindern.

Wenn Pérenn nun …?

Seufzend wandte sich Jivvin zur Tür. Er würde ja doch keine Ruhe finden, bevor er nicht nachgesehen hatte!

Auf dem Gang war alles still. Man hörte zwar Geräusche aus einigen Zimmern. Manche hatten sich zu zweit oder mehreren zusammengesetzt und unterhielten sich leise, andere waren mit Waffenübungen beschäftigt; doch nichts davon klang verdächtig, und niemand sonst hielt sich außerhalb seines Raumes auf. Hier im Haus der Adepten gab es keine Kontrollen. Die Meister hielten sie für fähig, selbst zu entscheiden, wann der richtige Zeitpunkt zum Schlafen gekommen war. Wer die ganze Nacht mit Lernen oder Feiern verbrachte, musste die Konsequenzen am Morgen ertragen. Streitigkeiten regelten die jungen Männer unter sich, es kam selten vor, dass sie die Hilfe eines Meisters benötigten.

Lautlos schritt Jivvin durch die Gänge, bis er die nebeneinanderliegenden Zimmer von Pérenn und Kamur erreichte. Die beiden waren gleichzeitig in den Tempel gekommen und seither unzertrennliche Freunde. Er hörte ihre Stimmen, sie saßen in Pérenns Zimmer zusammen. Es klang, als würden sie eine Partie Hoga spielen: Ein Geschicklichkeitsspiel mit Holzstäbchen und Plättchen, das eine ruhige Hand erforderte. Würden sie etwas so Harmloses beginnen, wenn sie gerade einen tödlichen Anschlag auf einen Waffenbruder verübt hatten, egal, wie verhasst der war? Wohl kaum!

Trotzdem schlich Jivvin weiter, bis er vor Ni’yos Zimmer stand. Es befand sich ein wenig abseits von den anderen,  getrennt durch den gemeinschaftlichen Waschraum.

Kein Laut war zu hören, durch den Spalt am Boden fiel kein Licht. Ob Ni’yo schon schlief? Eigentlich hatte Jivvin vorgehabt, zu klopfen und nach einem Buch zu fragen, von dem er wusste, dass der Junge es sich von Leruam geliehen hatte. Er zögerte. Wenn er Ni’yo aus dem Schlaf riss, konnte das böse Folgen haben …

Noch einmal presste er das Ohr gegen die Tür, lauschte mit aller Macht; dann wandte er sich um und ging zurück in sein Zimmer.

Vielleicht wäre es nicht falsch, ebenfalls früh schlafen zu gehen?

Sicherlich habe ich die letzten Tage zu viel gelernt und sehe jetzt schon Gespenster!

***

Es herrschte tiefe Nacht. Jivvin schreckte hoch, ohne zu wissen warum. Er hatte keinen Alptraum gehabt, nichts war zu hören. Und dennoch hatte irgendetwas ihn geweckt. Er versuchte gar nicht erst, sich wieder hinzulegen und weiterzuschlafen, es würde ja doch nichts nutzen. Müde rollte er sich von seinem Schlaflager, schlich wieder in den Gang. Alles war still, die anderen schliefen längst, und wenn überhaupt, dann war nur gelegentliches Schnarchen zu hören.

Beinahe wäre Jivvin den beiden in die Arme gelaufen: Erst im allerletzten Moment spürte er, dass sich vor ihm zwei Krieger in den Schatten bewegten, genauso wie er selbst darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen. Rasch legte er sich flach auf den Bauch, verbarg sein Gesicht in der Armbeuge und verschmolz so gut es ging mit der Dunkelheit.

Pérenn und Kamur. Sie schlichen lautlos zu ihren Zimmern, ahnten nicht, dass sie verfolgt wurden – Jivvin hielt sich dicht an ihren Fersen. Vor ihren Türen blieben die beiden stehen, und hier wurde Jivvins Geschick und Beharrlichkeit belohnt, denn sie flüsterten noch kurz miteinander.

„Kümmerst du dich morgen früh darum?“, wisperte Pérenn.

„Natürlich, in der Dämmerung, wie immer.“

Wie immer? Am’chur, was machen die zwei bloß?

„Meinst du, wir sind zu weit gegangen?“ Kamurs Stimme klang unsicher.

„Nein, warum auch? Alles ist so wie sonst auch, du wirst sehen!“

Damit trennten sie sich und verschwanden in ihren Räumen.

Mit ungutem Gefühl schlich Jivvin weiter. Was immer hier vor sich ging, es konnte nichts Gutes bedeuten!

Vor Ni’yos Zimmer verharrte er wieder. Es gab keinen echten Grund, sich hineinzuwagen. Wenn Ni’yo friedlich schlief, wäre es Dummheit, sich ihm zu nähern. Wenn Pérenn und Kamur es irgendwie geschafft hatten, ihm etwas anzutun, sollte Jivvin sie eigentlich beglückwünschen. Dennoch drängte es ihn, sich zu vergewissern.

Na los! Ganz kurz den Kopf reinstecken und lauschen. Wenn er schläft, alles gut. Wenn er verletzt ist – na, das sehen wir dann. Wenn er aufwachen sollte … sag ich einfach, ich würde ihn zu einem Mitternachtsduell fordern wollen. Es kann gar nichts geschehen!

Trotzdem, es war nicht zu leugnen: Er hatte Angst vor Ni’yo.

Du willst ein Am’churi sein, stell dich der Angst! Vorwärts!

Entschlossen drückte Jivvin die Tür auf, ohne das leiseste Geräusch zu verursachen. Saurer Gestank nach Erbrochenem schlug ihm entgegen. Hastig bedeckte er seine Nase mit der Hand, atmete nur noch flach durch den Mund, während er sich weiter in das Zimmer hinein schlich. Durch das halb offene Fenster fiel ein wenig Mondlicht auf das Bett – es war leer, offenbar ungenutzt. Alarmiert blickte Jivvin sich um, erstarrte, als er einen dumpfen Laut hörte.

Dort, hinter dem Bett, lag eine unförmige Gestalt auf dem Boden. Jivvin brauchte einen langen Moment, um in dem dämmrigen Licht zu erkennen, was er da wirklich sah: Ni’yo war auf höchst grausame Weise verschnürt worden. Er lag auf dem Bauch, die Hände auf den Rücken gebunden. Seine Beine waren gefesselt und so nach vorne gezogen worden, dass seine bloßen Füße auf seinen nach oben gezwungenen Schultern ruhten. Ein Seidentuch um seine Kehle verband sowohl Hand- als auch Fußgelenke. Sein Körper bildete ein perfektes Rad. Sobald er sich bewegte, auch nur mit dem kleinen Finger zuckte, drohte er sich unweigerlich zu erwürgen. Ein Wunder, wie er in dieser Stellung überhaupt atmen konnte …

Fassungslos kniete Jivvin neben seinem Feind nieder. Sicher war er an seinem Erbrochenen erstickt! Er wagte es kaum, wollte eigentlich nicht wissen, ob Ni’yo wirklich tot war. Aber schließlich berührte er doch die bloße Brust des Jungen. Rasender, flatternder Herzschlag unter seinen Fingern. Er lebte! Ruckartige, viel zu kurze Atemstöße, die er zuvor in seiner Kopflosigkeit nicht gehört hatte, bewiesen den Kampf gegen das Unvermeidliche. Da fuhr plötzlich ein Krampf durch den verdrehten Körper, schüttelte ihn gnadenlos durch. Ni’yo stöhnte leise, röchelte gurgelnd. Sofort hielt Jivvin sein Messer in der Hand, setzte es an – und zögerte.

Das hier war Ni’yo, sein Todfeind. Widersinnig, ihm zu helfen… 

Wenn du morgen früh noch mit dir selbst leben können willst, rette ihn! Ehrenkampf ist das eine, ein wehrloses Opfer an seiner eigenen Kotze, in unerträglichen Schmerzen krepieren zu lassen das andere!

Trotzdem zögerte er noch einen Augenblick länger. Er brauchte eine Möglichkeit, die Fesseln zu durchtrennen, ohne weitere Qualen, vielleicht auch Verletzungen zu verursachen. Schließlich schlang er den linken Arm um Ni’yos Oberkörper, ignorierte das klebrige Erbrochene und umfasste mit der linken Hand die Fußfessel. Auf diese Weise stützte er Ni‘yo ab, verhinderte, dass er sich durch einen unkontrollierten Ruck die Wirbelsäule brechen konnte. Mit der Rechten durchtrennte er das Tuch, das bereits tief in die Kehle des Jungen einschnitt. Ganz langsam senkte er Ni’yos Kopf, drehte ihn dabei auf die Seite, ließ gleichzeitig vorsichtig die Beine nach unten, bis der Junge schließlich ausgestreckt auf den Steinfliesen lag. Er hustete und würgte, schnappte dazwischen hilflos nach Luft wie ein Ertrinkender. Aufgewühlt legte Jivvin eine Hand auf Ni’yos Rücken, um die Armfesseln zu durchtrennen – und fuhr zurück. Gerade noch konnte er einen Aufschrei unterdrücken: Nadeln steckten in seinen Fingern und der Handfläche, sicherlich zwanzig Stück. Feine, extrem spitze Holznadeln. Innerlich fluchend zog er sie heraus, sprang dann auf, versuchte, sich in dem fremden, düsteren Raum zu orientieren, bis er auf dem Tisch unter dem Fenster eine Kerze fand sowie eine Schale mit Glühsteinen und Stäbchen. Rasch schaffte er sich damit das dringend benötigte Licht und eilte zurück an Ni’yos Seite. Der Junge hatte sich nicht bewegt, noch immer kämpfte er röchelnd darum, wieder frei atmen zu können. Jivvin achtete nicht darauf, er starrte wie gebannt auf das, was sich im Kerzenlicht offenbarte: Ni’yos gesamter Rücken war mit unzähligen feinen Nadeln gespickt, bis hinab zum Bund der Stoffhose. Jivvin hoffte einfach, dass Pérenn und Kamur diese Grenze gewahrt hatten und betrachtete die bloßen Arme des Jungen. Sie waren rot geschwollen, als wäre eine Armee von Moskitos über sie hergefallen. Er brauchte Ni’yo nicht umzudrehen, um zu wissen, wie Brust und Bauch aussehen würden. Was hatte es nur mit diesen Nadeln auf sich? Sie waren scharf geschliffen, sicherlich das Werk von Kamur, der geschickte Finger und sehr viel Geduld besaß. Jivvin sah eine einzelne Nadel auf dem Boden liegen und hob sie auf. Die Spitze schimmerte feucht, aber nicht von Blut.

Auch er bereits ahnte, was auf ihn zukommen würde, musste er es einfach genau wissen. Er rollte sich den linken Ärmel hoch und stach beherzt zu.

Die Wirkung folgte augenblicklich, und so heftig, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb, obwohl er sich doch innerlich gewappnet hatte: entsetzliches Brennen, kribbelnder Schmerz, der sich schnell um die Einstichstelle herum ausbreitete. Er riss die Nadel heraus, krümmte sich keuchend über seinen Arm, der in Flammen zu stehen schien, presste ihn an sich, bis die Qual endlich ganz langsam verebbte. Eine einzige Nadel reichte – wie konnten diese Bastarde hunderte davon in ein lebendiges Wesen stecken? Jivvin hätte nie geglaubt, dass er irgendjemanden mehr hassen könnte als Ni’yo, aber im Moment hätte er Pérenn und Kamur am liebsten das Herz aus Leib gerissen und es ihnen in den Mund gestopft!

Sobald er sich gefangen hatte, zog er die fürchterlichen Nadeln aus Ni’yos Rücken, schlich sich dann in den Waschraum und holte zwei große Schalen voll Wasser, sowie mehrere Tücher. Er musste das nicht tun, das war ihm klar. Ni’yo würde diese Nacht jetzt mit Sicherheit überleben. Ein wenig Sorge bereitete ihm der Gedanke, was Kamur tun würde, wenn er den Jungen von seinen Fesseln befreit vorfand, aber das war eigentlich schon nicht mehr seine Angelegenheit. Während er langsam den Boden wischte, die beiden Fenster weit aufstieß, um frische Luft hereinzulassen, dachte Jivvin intensiv darüber nach, warum er sich diese Mühe machte. Als er mit dem Raum fertig war, kniete er sich unschlüssig neben Ni’yo, betrachtete die erbärmlich zitternde, krampfende, nach Luft ringende Gestalt. Wie dünn er war! Alle Knochen staken hervor, obwohl die Haut so angeschwollen war. Wenn er Pérenn richtig verstanden hatte, war dies nicht der erste Angriff. Kein Wunder also, das Ni’yo so dürr aussah, wahrscheinlich aß und trank er nur noch, um sich am Leben zu halten, wenn er ständig damit rechnen musste, vergiftet zu werden. Verwunderlich war eher, dass niemand bemerkt hatte, was vor sich ging. Die Wunden konnte man vielleicht unter weiten Gewändern verstecken, aber wie viel Kraft gehörte dazu, die Schmerzen nicht zu zeigen? Die Erschöpfung nach durchwachter, von Folter und Angst beherrschter Nacht zu verbergen? Sich nicht anmerken zu lassen, dass man an einem gedeckten Tisch verhungern musste?

Warum hatte er selbst, Jivvin, nichts bemerkt? Er beobachtete Ni’yo doch schon seit Jahren, kämpfte fast täglich gegen ihn!

Aber seit Monaten will er nur noch mit den Stöcken kämpfen statt waffenlos zu ringen …

Behutsam wusch Jivvin über Ni’yos Rücken. Feind oder nicht, im Augenblick war dies die bemitleidenswerteste Kreatur unter der Sonne.

Das kalte Wasser schien zu helfen, die Schwellungen ließen etwas nach. Zumindest bildete er sich das ein. Vorsichtig drehte er Ni’yo um. Für gewöhnlich hasste er es, in dieses bleiche, abstoßende Rattengesicht zu blicken, deshalb konzentrierte er sich absichtlich auf den schmalen Oberkörper, wusch Erbrochenes und kalten Schweiß fort, versuchte, alle Einstichstellen zu finden, bis nur noch Hals und Gesicht fehlten. Dann holte er frisches Wasser, ließ sich viel Zeit dabei. Erst, als es nicht mehr anders ging, überwand er sich, Ni’yo anzusehen.

Dunkle Augen fixierten ihn, von unsagbarer Qual erfüllt. Jivvin zuckte zusammen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Ni’yo wach werden könnte. Besser wäre es gewesen, diese Ratte hätte nie davon erfahren, wer ihm beigestanden hatte! – Aber nun war es nicht mehr zu ändern. Innerlich seufzend tauchte er das Tuch ins Wasser und starrte dann in das schmale, in Schmerz erstarrte Gesicht. Es kostete ihn viel Überwindung, Ni’yo überhaupt zu berühren, jetzt wo er wusste, dass sein Feind ihn wahrnahm. Doch er stellte sich verbissen dieser Herausforderung, wusch über Ni’yos Stirn und Wangen. Seltsam, er wirkte gar nicht abstoßend. Nur jung, viel zu jung für so viel Leid.

„Kannst du mich hören?“, sprach er leise. Ni’yo senkte die Augenlider, rührte sich ansonsten nicht.

„Bist du gelähmt?“

Wieder ein Senken der Lider. Wenn er diese Kontrolle bereits wieder besaß, müsste das Gift bald aufhören zu wirken. Jivvin beschloss, einfach weiterzumachen. Er kühlte die zerstochene Haut des Jungen, hielt dabei dessen Blick stand. Nach einer Weile begannen Ni’yos Wangenmuskeln und Lippen zu zittern, die Qual in den weit aufgerissenen Augen vervielfachte sich.

„Es tut weh“, presste Ni’yo kaum hörbar hervor.

Zaghaft, mit dem Gefühl, einen Fehler zu begehen, lehnte sich Jivvin an das Bett hinter ihm, zog seinen Feind mit dem Rücken zu sich heran, drückte Ni‘yos Kopf an seine Schulter und umfasste die schlaffen, weiterhin gelähmten Hände, in der Hoffnung, damit Trost zu schenken. Es kostete ihn viel Kraft, seinen Widerwillen gegen diese Nähe zu unterdrücken, alles zu unterlassen, was Ni’yo noch mehr Schmerz zugefügt hätte. Die Versuchung, ihm die Arme zu brechen, wehrlos wie der Junge gerade war, ihn dadurch auf Wochen kampfunfähig zu machen, fraß ihn beinahe auf.

Denk an deine Ehre. Ein Am’churi vergreift sich nicht an den Hilflosen, ob Feind oder nicht. Denk an deine Ehre!

Lange Zeit verharrten sie so, während die Lähmung immer weiter wich. Jivvin suchte nach Worten, mit denen er den Verletzten ablenken könnte, und fand kein einziges. Irgendwann bäumte sich Ni’yo in seinen Armen auf, klammerte sich mit so viel Verzweiflung an Jivvins Hände, dass er fürchtete, seine Finger könnten zersplittern. All dies geschah in Stille, nur unterbrochen von hastigen Atemzügen. Ni’yo schrie nicht, stöhnte nicht einmal mehr, kämpfte einfach nur still, bis er schließlich zurücksank. Jivvin ließ ihn los und lehnte sich gegen das Bett zurück. Noch nie war er von so vielen widerstreitenden Emotionen aufgewühlt worden. Alles schien Kopf zu stehen. Pérenn und Kamur gehörten nicht zu seinen Freunden, aber er hatte sie immer als seine Waffenbrüder angesehen, zuverlässige, gute Jungen. Bösartigkeit, Grausamkeit, das konnte er einfach nicht mit ihnen verbinden.

„Wie oft?“, fragte er schließlich. „Das wievielte Mal war es?“

„Neun“, wisperte Ni’yo matt. Er hatte sich abgewandt, versteckte das Gesicht unter den Armen.

„Neun Mal. Und jedes Mal haben sie dir diese Nadeln …?“

„Nein. Pérenn findet immer neue Möglichkeiten.“

„Wie lange geht das denn schon so?“

„Über zwei Jahre.“

Jivvin beugte sich vor, packte Ni’yos Arme und riss sie zur Seite. Der Junge war zu sehr geschwächt, um sich wehren zu können, starrte ihn nur hilflos an. Er weinte dabei stumm. Es schien allerdings mehr eine körperliche Reaktion zu sein, wie Niesen oder Gähnen, als wirkliche Tränen.

„Du lässt dich seit zwei Jahren foltern und vergiften? Leidest jedes Mal hier einsam vor dich hin, bis dein Körper damit fertig geworden ist?“, zischte Jivvin fassungslos. „Warum bittest du nicht um Hilfe? Ist es dir peinlich, dass der große Krieger eben doch nicht unbesiegbar zu sein scheint?“

„Lass mich los!“, flüsterte Ni’yo und drehte sich weg, so weit er konnte. Es war eher Flehen als Befehl. „Du verstehst das nicht.“

„Nein, ich kann das wirklich nicht verstehen! Macht es Spaß, solche Schmerzen zu leiden? Bist du stolz darauf, keine Hilfe zu brauchen? Warum klagst du die beiden Bastarde nicht an?“ Jivvin merkte, dass er in seiner Wut laut wurde. Das fehlte noch, dass jemand ihn hörte und hier fand!

„Leruam weiß es. Ich bin zu ihm gegangen, nach dem ersten Mal. Es waren nicht nur Pérenn und Kamur, sondern noch andere. Sie hatten mich abgepasst, nachdem ich für Großmeister Tamu eine Besorgung im Dorf erledigt hatte und gerade zurückkam. Ganz allein, niemand in der Nähe … da sind sie auf mich los.“

„Du bist besser als jeder Adept hier.“

„Aber nicht gut genug gegen sieben von ihnen“, murmelte Ni’yo. „Sie haben mich zusammengeschlagen, bis ich mich nicht mehr rührte, und dann einfach liegen gelassen. Ich ging zu Leruam, klagte sie an. Er sah, dass ich nicht log. Seine Worte dazu waren: Wenn du zu langsam bist, schimpfe nicht über jene, die schneller sind, sondern streng dich mehr an. Wenn du zu schwach bist, stähle deinen Körper. Wenn deine Feinde zu zahlreich sind, werde besser als sie alle.“

„Sie wurden nicht bestraft?“ Ungläubig schüttelte Jivvin den Kopf. Erst vor einigen Monaten war ein Adept hart gerichtet worden, weil er hinterrücks einen Kameraden angegriffen hatte. Der war dabei noch nicht einmal verletzt worden, es ging allein um die ehrlose Absicht. Wenn sieben Adepten einen einzelnen, wesentlich Jüngeren angriffen und schwer verletzt liegen ließen, dazu noch außerhalb des Schutzes, den der Tempel bot …

„Nein. Ich wurde bestraft, ich musste vier Wochen lang zusätzlichen Arbeitsdienst leisten, weil ich meine Waffenbrüder verraten habe.“ Ni’yo biss sich auf die Lippen und drehte wieder den Kopf zu Seite.

„Ich kann das nicht glauben!“

„Dann lass es.“

„Ni’yo, ich bitte dich! Niemand bestraft ein Opfer dafür, dass es fast umgebracht wurde.“

„Ich lüge nicht!“, fauchte der Junge, viel zu laut. Hastig legte Jivvin ihm eine Hand auf den Mund. Die Angst, die für den Bruchteil eines Augenblicks in Ni’yos Augen aufflackerte, traf ihn tief.

„Nicht so laut! Wenn mich jemand hier findet, in dem Zustand, in dem du bist …“

„… wird dich jeder beglückwünschen, Jivvin. Sei unbesorgt, die einzige Gefahr würde von Pérenn und Kamur drohen, die sicherlich wütend wären, dass sich jemand mit ihrem Erfolg schmückt.“

Verblüfft wich Jivvin von ihm zurück. Nicht einmal die Tatsache, dass Ni’yo wohl Recht hatte, verwirrte ihn, es war mehr der Tonfall, in dem der Junge sprach. Nicht verbittert, oder zornig, eher so, als würde er eine allgemein bekannte Weisheit erklären müssen und sich darüber wundern.

„Warum bist du hier, Jivvin?“, fragte er plötzlich. „Wenn du doch fürchtest, für etwas angeklagt zu werden, was du nicht getan hast, warum bist du hier? Warum hilfst du mir, statt die gute Gelegenheit zu nutzen, deinen Hass auszuleben?“

Er schien tatsächlich interessiert zu sein. Etwas an der gesamten Situation war so unwirklich, so unnatürlich, dass Jivvin sich ernstlich fragte, ob er gerade träumte.

„Ich wollte verhindern, dass du stirbst“, erwiderte er langsam. „Wenn du eines Tages getötet wirst, dann durch meine Hand. Ich gewinne nichts, wenn du durch die Grausamkeit anderer umkommst. Außerdem finde ich das hier … unehrenhaft. Was die beiden da treiben, ist widerwärtig, eines Am’churi unwürdig. Verdammt, wenn sie dich einfach normal angegriffen und besiegt hätten, wäre ich der erste, der ihnen gratulieren würde. Wie können sie es wagen, zu solchen Mitteln zu greifen? Spaß an so etwas zu haben?“

„Es ist meine Schuld“, flüsterte Ni’yo. „Ich rufe das Böse in den Menschen wach, sie können nichts dafür. Ich muss einfach lernen, schneller, stärker und besser zu werden. Giften auszuweichen, Gefahren und Fallen zu erkennen, noch bevor sie gelegt wurden.“

„Wer sagt, dass es deine Schuld ist?“, schnaubte Jivvin verächtlich.

„Am’chur.“

Einen Moment lang starrten sie einander an. Dann rollte Ni’yo sich mühsam auf die Seite.