Die Meister der Am'churi - Sandra Gernt - E-Book

Die Meister der Am'churi E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Ein dunkles Geheimnis, eine uralte Prophezeiung und ein erbitterter Wettlauf gegen die Zeit. Die Drachenkrieger Jivvin und Ni'yo leben zurückgezogen am Rande eines Dorfes. Doch die Idylle zerbricht, als Ni'yo von den Göttern erwählt wird, eine lebensgefährliche Mission anzunehmen. Dafür muss er Jivvin aufgeben und alles, was er liebt, um sich den Schatten zu stellen, vor denen er ein Leben lang geflohen ist ...

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Die Meister der Am’churi

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2011

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: M. Hanke

Coverabbildung: TimurD – fotolia.com

Giraffe: Stephi – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-934442-83-2

ISBN 978-3-944737-65-2 (epub) 

Dieser Roman ist Fiktion. Ähnlichkeiten zu Orten oder Personen sind rein zufällig.

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Für meine Mutter, die zu sehen

Prolog

„Die Zeit ist gekommen, Am’chur.“

Der Drachengott ignorierte Kalesh, den Herrscher über Licht und Schatten; er wusste bereits, was zu tun war. Ni’yos Stunde war gekommen.

„Glaubst du, dein Erwählter wird sich fügen?“ Am’chur fauchte gereizt auf Murias Einmischung, er ließ sich nicht drängen, von niemandem. Auch nicht von seiner Schwester.

„Ni’yo ist mein“, sagte er grollend. „Er gehorcht dem Gebot der Ehre und er beherrscht die Einsamkeit. Wenn es jemanden gibt, der Charur standhalten kann, dann er.“

„Du selbst hast dabei versagt, warum sollte es einem Sterblichen gelingen? Einem Nachgeborenen, gleichgültig, ob Elfenblut in seinen Adern fließt oder nicht!“ Kaleshs Stimme klang amüsiert. Er war der Erste. Sein Wille hatte die Schattenelfen in Aru erwachen lassen. Am’chur verzichtete beherrscht, auf diese Herausforderung zu antworten, sondern wandte sich an Muria:

„Schick deine Erwählte los. Es muss beginnen, sonst war alles umsonst.“

Er spürte die Wut seiner Schwester, die die Gestalt einer Wölfin annahm, wenn sie in die stoffliche Welt zurückkehren musste. Alle Götter hatten auf diesen Tag gewartet, ihn herbeigesehnt, ihn gefürchtet. Sie alle trugen diese Wut in sich, Wut auf Kalesh, denn nur weil er sich in die Geschicke von Aru einmischen musste, war es zum Ewigen Krieg gekommen. Er hatte das Schicksal der Drachen besiegelt, und nur er allein hatte gewusst, wann dieses Siegel gebrochen werden konnte.

1.

„Nun fürchte dich doch nicht!“

Ni’yo versuchte bereits seit einigen Minuten, den kleinen Jungen zu beruhigen, aber vergeblich: Das Kind weinte nur noch lauter und duckte sich soweit wie möglich von der Hand weg, die ihn eigentlich retten wollte. Viel Platz blieb ihm dafür nicht: Der Junge, der vermutlich aus dem nah gelegenen Bauerndorf stammte, war in einen engen Schacht gefallen. Ni’yo wusste nicht, ob es vielleicht früher einmal ein Brunnen gewesen war, zumindest waren die Wände teilweise gemauert worden. Es kümmerte ihn auch nicht weiter, dafür war er zu sehr damit beschäftigt, mit dem Kopf nach unten hängend zu versuchen, dem Kleinen zu helfen. Ein Seil, das er um den nächstbesten Baumstamm geschlungen hatte, sicherte ihn dabei an den Füßen. Der Junge müsste nichts weiter tun als aufzustehen, dann könnte Ni’yo ihn greifen und nach oben ziehen; doch er weigerte sich strikt. Dass sie beide kaum etwas sehen konnten, weil Ni’yo den Schacht fast vollständig ausfüllte, machte die Sache nicht leichter. Langsam verlor er die Geduld. Das Seil scheuerte unangenehm über seine Fußknöchel, das Blut hämmerte in seinem Kopf von der ungewohnten Lage und das anhaltende Schluchzen zerrte an seinen Nerven.

„Dunkler, Dunkler!“, hatte der Junge gebrüllt, als er Ni’yo oben am Schacht erblickt hatte – zweifellos hielt er ihn für einen Schattenelf. Das geschah häufig, denn Ni’yo besaß nicht nur nachtschwarze Haare und Augen, sondern auch eher dunkle Haut im Vergleich zu den blassen und zumeist flachsblonden Flachländern in diesem Teil Arus. Er war tatsächlich ein Halbblut, seine Mutter war eine Schattenelfe gewesen. Dieses Volk lebte in unterirdischen Städten und war für seine Grausamkeit berüchtigt – nicht völlig zu Unrecht, wie Ni’yo am eigenen Leib hatte erfahren müssen.

„Ich bringe dich nach Hause, zu deinen Eltern“, versuchte er es ein letztes Mal, mit so viel Sanftmut, wie er noch aufbringen konnte. Es sollte eigentlich nicht mehr schmerzen, mit Angst und Ablehnung bedacht zu werden. Ni’yo war damit aufgewachsen und kannte es beinahe nicht anders. Beinahe – Jivvin hatte sein Dasein in dem letzten halben Jahr, seit sie den Tempel des Am’chur verlassen hatten, gründlich durcheinandergebracht. Ni’yo sehnte sich danach, ein Leben zu führen wie jeder andere Mensch auch. So, wie er es früher stets bloß hatte beobachten dürfen. Doch gleichgültig, wie viel sich mittlerweile geändert hatte, Ni’yo musste einsehen, dass er immer anders bleiben würde. Erschreckend und bedrohlich für die Menschen, die ihn nicht kannten.

Das Kind unter ihm wimmerte schwach.

„Du stehst jetzt auf und kommst her!“, grollte Ni’yo plötzlich. Er hatte genug von diesem Unsinn!

Wo Freundlichkeit versagt hatte, wirkte die Drohung sofort: Der Junge hörte auf zu weinen.

„Herkommen!“, befahl Ni’yo scharf. „Sonst komme ich runter, es reicht!“ Seine Augen, die auch in der Dunkelheit mehr sahen, als es Menschen möglich war, erhaschten panische Bewegungen unter sich. Schnell packte er zu, erwischte das Kind, das schrill zu brüllen und zu zappeln begann, um dann, als Ni’yo es mit beiden Armen umschloss, völlig zu erstarren. Kraftvoll zog er die Beine an und schaffte es so mitsamt dem angstbebenden Jungen aus dem Schacht heraus. Der Kleine war schmutzig und zerkratzt, schien den Sturz in etwa zwei Schritt Tiefe ansonsten aber gut überstanden zu haben. Zumindest konnte Ni’yo keine Verletzungen an ihm sehen, als er sich mit der einen Hand von dem Seil befreite, mit der anderen dafür sorgte, dass der Junge nicht weglief. Riesige blaue Augen starrten ihn an, erfüllt von Panik. Das Kind war vielleicht drei Jahre alt, schätzte Ni’yo, eher jünger – er wusste wenig von solch kleinen Geschöpfen. Für einen Moment erwog er ihn zu fragen, wie er hieß und ob er tatsächlich aus dem Dorf stammte, in dessen Nähe Ni’yo und Jivvin eine verlassene Holzhütte übernommen hatten. Aber das hätte wohl nur neues Geschrei und Tränenfluten hervorgebracht, also schlang er sich stumm das Seil über die Schulter und marschierte los, den Jungen fest an sich gedrückt. Die Bauern würden sich um das Kind kümmern, egal wohin es gehörte.

Es war Zufall gewesen, dass Ni’yo ihn überhaupt gefunden hatte. Er war eigentlich nur losgezogen, um Reisig zu sammeln, das er mit dem Seil zu handlichen Bündeln hatte schnüren wollen. Der Winter besaß einen langen Atem dieses Jahr und noch immer waren die Nächte so kalt, dass sie das Herdfeuer nicht ausgehen ließen. Ni’yos scharfe Sinne hatten das Wimmern des Kindes wahrgenommen und ihn hierhergeführt, etwa drei Meilen von dem Dorf entfernt. Erstaunlich, sollte der Kleine tatsächlich allein soweit gelaufen sein.

Und wenn seine Mutter hier irgendwo tot oder verletzt liegt?, dachte er und blieb kurz stehen. Es war nichts zu hören, keine Hilferufe, kein Zeichen von Raubtieren, die sich an leichter Beute gütlich taten; darum ging er rasch weiter. Er hoffte, dass Jivvin bereits wieder zuhause sein würde – sein Liebster war am Morgen nach Hebba aufgebrochen, einer kleinen Stadt in der Nähe, wo er einige Felle von Wildtieren verkaufen wollte, die sie beide im Laufe des Winters erlegt hatten. Von dem Geld würde er dann Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände besorgen, die sie nicht selbst sammeln oder herstellen konnten. Es war für sie beide nicht die angenehmste Art, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, sie waren Krieger, keine Jäger! Ni’yo wollte Jivvin überreden von hier fortzugehen, sobald der Frühling vollends die Herrschaft über das Land erobert hatte. Die Kampfkraft von zwei Am’churi wurde immer irgendwo gebraucht. Auch, wenn sie den Tempel verlassen hatten, sie waren und blieben Erwählte des Drachengottes. Er wusste, sein Geliebter wollte eher gestern als morgen von hier verschwinden, zögerte nur aus Rücksicht auf ihn, Ni’yo, es auszusprechen. Dabei war Ni’yo selbst nicht allzu glücklich in dieser Einöde, in der sie außer misstrauischen Nachbarn nichts weiter vermissen würden.

Ni’yo fluchte innerlich, als er die Hütte still und leer vorfand, Jivvin war noch unterwegs. Schicksalsergeben machte er sich auf den Weg hinab in das Dorf. Nach einigen Zusammenstößen mit abergläubischen, verängstigten Bauern, die Schattenelfen als Ausgeburten des Bösen fürchteten und Am’churi nur aus bedrohlichen Legenden kannten, hatte er alle Besorgungen und Wege in Richtung des Dorfes Jivvin überlassen. Das aufgeschlossene, einnehmende Wesen seines Liebsten hatte dafür gesorgt, dass man sie in Ruhe ließ, und mehr wollten sie beide nicht.

Als sich Ni’yo dem Dorf näherte, hörte er aufgeregte Stimmen, die immer wieder einen Namen riefen: „Erenn!“

Der Junge regte sich, als er – sehr viel später als Ni’yo – diese Rufe hörte. Er starrte furchtsam zu ihm hoch, blieb dann weiterhin völlig verkrampft und soweit von ihm abgerückt, wie Ni’yos Griff es zuließ.

„Erenn heißt du?“, fragte er ihn leise, blickte jedoch rasch fort, als es so aussah, als würde der Kleine wieder losweinen.

Ihr Götter, warum muss ich so ein abscheuliches Monster sein, dachte er niedergeschlagen. Er überlegte kurz, ob er Erenn einfach absetzen und darauf vertrauen sollte, dass man ihn hier finden würde. Aber was wäre, wenn der Kleine von dem bösen dunklen Mann erzählen sollte, der ihn hergebracht hatte, und irgendjemand den Bezug zu dem Fremden dort oben in der Hütte fand, der sich da gemeinsam mit einem Am’churi verkroch? Besser, er versuchte wenigstens zu erklären, dass er den Jungen gerettet, nicht verschleppt hatte!

Falls sie mich zu Wort kommen lassen …

Seufzend straffte Ni’yo die Schultern. Lieber würde er jetzt gegen zwanzig Schattenelfen antreten, wahrhaftige Feinde, keine Bauern, die sich zusammenrotteten! – und ging weiter. Für einen Moment hatte er dabei das Gefühl beobachtet zu werden. Er fuhr mit dem Kopf herum und suchte die Umgebung mit allen Sinnen ab. Doch da war lediglich ein Baumhörnchen, das ihn mit schwarzen Knopfaugen anstarrte, bevor es im Geäst einer Buche verschwand. Das Tier hatte zumindest einen Grund, ihn als Feind zu fürchten …

~*~

Lynea zwang dem Baumhörnchen erneut ihren Willen auf, nachdem sie sich so hastig hatte zurückziehen müssen, um nicht von Ni’yo erwischt zu werden. Sie hatte ihn schon die ganze Zeit über im Blick gehabt, durch die Augen des Nagers zugesehen, wie er seine Hütte verließ, das Kind entdeckte und mühsam bergen konnte. Er kannte die Fähigkeiten einiger Kinder Murias nicht, in das Bewusstsein von Lebewesen eindringen und sie kontrollieren zu können, sonst hätte er vielleicht intensiver gesucht. Wenige Wolfswandler besaßen diese Gabe und sie sprachen zu niemandem darüber. Auch wenn es schwierig war, ein höher entwickeltes Lebewesen als Werkzeug zu benutzen und bei einem Menschen meist nur geistige Einflüsterungen möglich waren, die auf subtile Weise Einfluss nehmen konnten – selbst Ihresgleichen fürchteten sich davor, und das zu Recht. Gewiss, das Opfer konnte sich wehren, wenn es genug Willenskraft besaß, trotzdem war es eine gefährliche Waffe.

Das Baumhörnchen bewegte sich auf ihren Befehl und sprang näher an das Dorf heran, wo sich ein weitläufiger Ring halb verängstigter, halb wütender Menschen um Ni’yo schloss. Ihr Bruder ließ keinerlei Furcht erkennen und ahnte wohl nicht, dass es gerade seine beherrschte Miene war, die so finster und erschreckend wirkte.

„Ich habe ihn im Wald gefunden, er war in einen Schacht gestürzt“, sagte Ni’yo und setzte den Jungen vorsichtig zu Boden. „Etwa drei Meilen südöstlich, ein gemauerter Schacht, etwas mehr als eine Manneslänge tief.“

Erenn blieb einen Moment mit überraschtem Gesichtsausdruck bei Ni’yo stehen, dann rannte er heulend auf eine dralle Frau mit blonden Zöpfen zu, die zweifellos seine Mutter war. Die Dörfler hielten den Ring um Ni’yo geschlossen, ihr Misstrauen war deutlich spürbar.

„Ich habe nichts getan als ihn hierher zu bringen“, versicherte er ruhig. Lynea wusste, dass er sich jederzeit mit einem einzigen Sprung in Sicherheit bringen könnte, ohne auch nur einem der Bauern ein Haar zu krümmen. Danach aber würde er kaum noch länger friedlich mit Jivvin hier wohnen bleiben können.

„Ich weiß, was er meint“, sagte plötzlich ein alter Mann, der sich weit abseits gehalten hatte und nun herantrat. „’s so, wie er sagt, ein ganzes Stück da in die Richtung. Sollte mal ein Brunnen werden, das Wasser war allerdings zu tief, hier hat man Besseres gefunden.“ Er wies mit dem Daumen hinter sich, wo sich der Dorfbrunnen befand. „Dachte, der wäre schon lang eingestürzt.“ Neugierig musterte er Ni’yo von oben bis unten, der sich das ohne jede Regung gefallen ließ.

Wie eine Statue, dachte Lynea amüsiert.

„Geht’s ihm gut?“, brüllte ein stämmiger jüngerer Mann mit rotblondem, struppigem Haarschopf und blickte über die Schulter zu der Frau hinüber, die damit beschäftigt war, Erenn zu beruhigen.

„Verkratzt und zerbeult und dreckig von Kopf bis Fuß, aber sonst heile“, gab sie zurück. Bei diesen Worten entspannten sich die Dörfler. Niemand sagte etwas, sie hielten Ni’yo jedoch nicht auf, als er sich langsam umdrehte und an ihnen vorbei schritt.

Lynea beobachtete die Bauern durch die Augen des Hörnchens. Da die allerdings nichts unternahmen, was Ni’yo hätte schaden können, verfolgte sie ihren Bruder weiter, bis er in seiner Hütte verschwand, und entließ das arme Hörnchen aus ihrem Bewusstsein. Noch war sie zu weit entfernt, aber in etwa zwei Tagen würde sie Ni’yo persönlich gegenüberstehen. Voller Vorfreude verwandelte sie sich in eine Wölfin und rief laut nach ihrem Rudel, das sie unangefochten anführte. Auch, wenn der Anlass mehr als unangenehm war, sie freute sich sehr, ihrem Bruder endlich wieder begegnen zu dürfen – und seinem Gefährten Jivvin, den sie bislang nur aus der Ferne hatte bewundern können.

2.

Metallisches Klirren störte den Frieden des Waldes. Jivvin und Ni’yo umkreisten einander, maßen sich mit Blicken, suchten nach Schwächen in der Abwehr des Gegners. Wenn sich ihre armlangen, schlanken, leicht gekrümmten Schwerter trafen, sprühten Funken. Was wie ein tödlicher Kampf aussah, bei dem sich beide weder selbst schonten noch dem jeweils anderen Gnade zugestanden, war allerdings nichts weiter als eine Schwertübung zweier Am’churi.

Jivvin hatte diesen Winter mit Ni’yo genossen, den sie mit Diskussionen über sämtliche Götter und die Welt, Spielen, Kämpfen und vor allem Liebe zugebracht hatten. Und noch immer war es jeden Tag ein Wunder für ihn, an Ni’yos Seite zu erwachen. Gerade weil er jahrzehntelang abseits der Gemeinschaft gelebt und Menschen lediglich beobachtet hatte, besaß Ni’yo einen unerschöpflichen Schatz von tiefgründigen Gedanken und Erkenntnissen, die Jivvin beständig in Staunen versetzten.

Seit einiger Zeit verspürte er allerdings Sehnsucht nach anderer Gesellschaft, nach seinen Freunden, die er zurücklassen musste, nach den Tempelritualen, oder auch nur nach Menschen, für die nicht jede Selbstverständlichkeit wie eine kameradschaftliche Umarmung ein mystisches Rätsel darstellte. Ni’yos tiefe innere Verletzlichkeit, seine Andersartigkeit zwangen Jivvin oft zu anstrengender Rücksichtnahme, die ihn insgeheim zu ermüden begann. Schon seit Tagen wollte er Ni’yo zu einer Reise überreden. Gesellschaft, Abwechslung und neue Umgebungen würden ihnen sicherlich gut tun! Er hatte nur noch nicht entschieden, wohin er gehen wollte – und welche Gelegenheit günstig sein könnte, Ni’yo zu fragen.

Jivvin verdrängte die Erinnerung an die Vergangenheit. Wenn seine Gedanken zu schweifen begannen, wurde es höchste Zeit, den Kampf zu beenden. Am Ausgang ihrer Waffenübung gab es wie üblich nicht den geringsten Zweifel: Ni’yo war stärker, schneller, ausdauernder und geschickter als er, selten genug, dass Jivvin es auch nur schaffte, ihn zu verletzen. Er beschloss, noch einige vergebliche tödliche Attacken zu führen und sich dann entwaffnen zu lassen. Das schelmische Funkeln in Ni’yos nachtschwarzen Augen bewies, dass er Jivvins Absicht erkannt hatte. Mit einem Anflug der Frustration, die Jivvin so viele Jahre lang beherrscht hatte, zielte er auf Ni’yos Herz. Ein Angriff, dem sein Liebster gelassen entgehen würde, er wusste es. Doch da …

Ni’yo erstarrte in der Bewegung, sein Blick glitt ins Leere. Jivvin versuchte sich zu bremsen, aber sie standen sich zu nahe. Im allerletzten Bruchteil des Momentes gewahrte Ni’yo die Gefahr und wollte ausweichen. Das Schwert drang durch sein Schlüsselbein, seine linke Schulter, es durchtrennte Knochen und Muskeln gleichermaßen. Ni’yo taumelte zurück, prallte gegen einen Baumstamm und rutschte langsam zu Boden. Er war vollkommen still, sein Gesicht eine Maske eiserner Beherrschung.

Jivvin hatte ihn schon häufig so gesehen, als sie noch Feinde gewesen waren – bei ihren früheren Ehrenduellen, die nichts anderes als Gefechte auf Leben und Tod gewesen waren, hatte Ni’yo oft den Kampf für sich entschieden, indem er sich verletzen ließ, dadurch Jivvin entwaffnen und mit seinem eigenen Schwert tödlich bedrohen konnte. Die starken Heilkräfte der Am’churi, die selbst die fürchterlichsten Wunden rasch und narbenlos verschwinden ließen, erlaubten solchen Leichtsinn. Es gab niemanden, der seinen eigenen Körper so rückhaltlos opferte wie Ni’yo. Diesmal allerdings musste es etwas anderes gewesen sein. Zum allerersten Mal, solange sich Jivvin erinnern konnte, hatte er sich im Kampf von etwas ablenken lassen. Einen solch schweren Fehler begangen, dass er besiegt worden war.

Jivvin starrte mehrmals zwischen seinen leeren Händen, Ni’yo und dem Chi’a in dessen Schulter hin und her. Er hatte gewonnen! Nach all den Jahren, all den unzähligen Kämpfen war er der Sieger geblieben. Einen Augenblick lang genoss Jivvin dieses Triumphgefühl.

Kopfschüttelnd riss er sich zusammen. Ni’yo brauchte Hilfe, und das schnell. Was auch immer der Grund für diesen Fehler gewesen war, es musste jetzt warten.

Jivvin kniete neben seinem Geliebten nieder, der regungslos dasaß. Seine Hände zitterten, er atmete flach – es musste sehr ernst sein, selten zeigte Ni’yo so deutlich, wie schlecht es ihm ging.

„Ich muss es rausziehen“, sagte Jivvin leise.

Ni’yo verzog das Gesicht, nickte aber entschlossen. Er war bleich, Schweiß perlte auf seiner Stirn. Die riesigen dunklen Augen sprachen von Schmerz und etwas, das Jivvin nicht deuten konnte. Angst? Das wäre ungewöhnlich …

„Beeil dich, ich glaube, du hast eine der großen Adern erwischt“, murmelte Ni’yo mit einem leichten Lallen in der Stimme. Jivvin fluchte lästerlich auf Am’churs Namen, überlegte kurz, dann riss er ihm kurzerhand das Hemd vom Leib.

„Ist sowieso kaputt“, erklärte er im Plauderton, ignorierte den verstörten Blick seines Geliebten, setzte einen Fuß auf Ni’yos Brust und umklammerte den Griff seines Chi’as mit beiden Händen. „Ich kaufe dir morgen ein Neues“, fuhr er fort – und zog mit einem Ruck das Schwert aus der Wunde.

Ni’yo stöhnte unterdrückt, versuchte sich aufzubäumen. Doch da hatte sich Jivvin bereits auf ihn niedergeworfen und presste das Hemd gegen Ni’yos Schulter. Blut tränkte den weißen Stoff binnen zweier Herzschläge völlig durch. Ni’yo verdrehte die Augen, zuckte mehrmals krampfhaft am ganzen Leib, dann verlor er die Besinnung.

Jivvin machte sich keine allzu großen Sorgen, er drückte weiter gegen die Wunde und wartete geduldig. Am’churi heilten rasch, Ni’yo sogar noch schneller als alle anderen, da er ein Elfenmischling war.

Nach einigen Minuten nahm Jivvin das Hemd weg und nickte zufrieden: Die Blutung hatte gestoppt, es schien nicht lebensbedrohlich viel geflossen zu sein. So hässlich die Wunde im Moment auch aussah, in zwei bis drei Wochen würde sie verschwunden sein, und schon lange vorher musste er Ni’yo davon abhalten, sich zu überlasten. Seufzend ließ er das nun rot verfärbte nasse Hemd fallen, blickte missbilligend auf all das Blut an seinen Händen, Armen und Kleidung und stapfte schließlich ins Haus, um Bandagen zu holen.

„Immer dasselbe mit diesem Mann“, schimpfte er lächelnd vor sich hin, während er sich selbst und Ni’yo wusch, ihm dann routiniert einen Verband anlegte und den linken Arm in eine feste Schlinge an den Körper band. Um die Wundheilung nicht zu stören, ließ er ihn trotz der Kälte dort liegen, deckte ihn lediglich zu, setzte sich hin und hielt geduldig Wache an seiner Seite. Während er ihre beiden Chi’as reinigte, blickte er immer wieder prüfend in das blasse Gesicht seines Liebsten, um sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Er mochte es, sich um ihn zu kümmern, wenn sein gewöhnlich so starker Gefährte schwach und hilflos war. Sie hätten wohl nie ihren Hass überwinden können, wenn es anders gewesen wäre. Hätten die Schattenelfen ihn nicht so schwer verletzt, dass Jivvin seinen lebenslangen Feind tagelang versorgen musste … Er lächelte verträumt, strich ihm einige der schwarzen Strähnen aus der Stirn, für die ihn diese abergläubischen Bauern fürchteten. Auch Jivvin mit seinen hellbraunen Haaren und Augen wurde schon misstrauisch gemustert, doch noch akzeptiert.

Wie kann man dir nur begreiflich machen, dass du nicht immer den Weg des größten Widerstandes gehen musst? Dass man nicht jeden Kampf gewinnen muss, egal wie hoch der Preis ist, dachte er, und küsste ihn zärtlich auf die Schläfe. Ein Lächeln huschte über die friedlich entspannten Züge. Es war müßig, sich solche Fragen zu stellen, Jivvin kannte die Antwort. Von jung an war Ni’yo mit Folter und Tod bedroht worden, sobald er das geringste Zeichen von Schwäche zeigte – auch von Jivvin. Eine Aura von Gefahr hatte ihn umgeben, die Großmeister Leruam stets als „Schatten der Elfen“ bezeichnete, ohne erklären zu können, was dies wirklich bedeutete. Es war angeblich eine Kraft, die Ni’yo zur gefährlichsten Kreatur der gesamten Welt gemacht hätte, wenn er sich je hätte entschließen können, sie zu nutzen. Dieser Schatten war es, der Ni’yo zu einem Leben als Verstoßener verdammt hatte, einsam, gehasst und gefürchtet von allen, und nur Jivvin, der ihm als Einziger – beinahe – gewachsen war, hatte überhaupt mit ihm gesprochen. Indem sich Ni’yo von der Einsamkeit abgewandt und Jivvin mit Leib und Seele geöffnet hatte, war die bedrohliche Ausstrahlung verschwunden.

Es gab nun nichts mehr, was ihre Waffenbrüder an ihm fürchten mussten. Aber auch keinen Grund, neunzehn Jahre Hass zu vergessen. Jivvin wollte sich nicht dem Spott und Unverständnis seiner Freunde und Waffenbrüder stellen, die seinen Wandel, seine Liebe zu einem – diesem! Mann – nicht begreifen konnten; und Ni’yo kostete es so viel Kraft, sich Jivvin zu öffnen, dass er sich mit den anderen Am’churi nicht auseinandersetzen konnte.

Jivvin erwog kurz, ob er Ni’yo nicht lieber in die Hütte bringen sollte, der Boden wurde auch für ihn zu kühl und unangenehm feucht. Doch die Gefahr, die Heilung zu stören, schien ihm gewichtiger als die Unannehmlichkeit durch Kälte, darum ließ er ihn dort und wartete.

Nach etwa zwei Stunden kam Ni’yo leise stöhnend wieder zu sich.

„Ausgeschlafen?“, neckte Jivvin ihn und grinste über den finsteren Blick, den er dafür erntete. Dann aber wurde er ernst. „Wie konnte das überhaupt geschehen? Du warst einen Moment lang völlig erstarrt.“

Ni’yo setzte sich hoch und lehnte sich gegen den Baumstamm. Noch immer war er bleich wie frisch gefallener Schnee, gleichwohl bewegte er sich, als wäre die Verletzung nichts als ein Kratzer.

„Ich … da war eine Stimme“, erwiderte er zögernd. „In meinen Gedanken. Sie flüsterte meinen Namen.“

„Am’chur?“, fragte Jivvin sofort. Es war nicht ungewöhnlich, dass der Drachengott zu seinen Auserwählten sprach.

Doch Ni’yo schüttelte nachdenklich den Kopf. „Nein, es war eine Frau, da bin ich mir sicher. Eine Göttin vielleicht? Es könnte Muria gewesen sein, aber was könnte sie von mir wollen?“

„Ich hoffe, du findest es schnell heraus“, sagte Jivvin langsam und betont. „Ich muss mich schließlich bei ihr bedanken.“

„Wofür?“

„Für den größten Triumph meines Lebens.“ Er stand auf, mit vor der Brust verschränkten Armen, und blickte kalt lächelnd auf Ni’yo herab, in dessen Augen Erkenntnis aufblitzte – und Furcht. „Ich habe dich endlich besiegt, Ablenkung hin oder her, du musst anerkennen, dass ich diesmal der Gewinner bin.“

Ni’yo nickte bedächtig, starrte ihn dabei unverwandt an.

„Du erinnerst dich gewiss an das Versprechen, das ich dir gegeben habe?“, setzte Jivvin erbarmungslos nach.

„Du würdest mich töten, sobald du mich besiegen könntest“, antwortete Ni’yo heiser.

„Ganz Recht. Ich habe es unzählige Male geschworen, auf Am’chur und jeden anderen Gott Arus. Du weißt, solche Versprechen sind heilig.“

Ni’yo nickte nur stumm, wich unwillkürlich zurück, als Jivvin zu ihm herabfuhr. Kaum ein Fingerbreit trennte nun noch ihre Gesichter. Jivvin hörte seinen viel zu raschen Herzschlag, die hektischen Atemzüge. Er sah die Angst, die Ni’yo zu verbergen versuchte, fühlte sie mit allen Sinnen. „Ich werde dich leiden lassen“, flüsterte er, „du wirst um Gnade betteln, damit ich dich endlich erlöse.“

„Jivvin“, flehte Ni’yo, bevor er sich fing und tief Luft holte.

Jivvin musste sich das Grinsen verkneifen. Ni’yo hatte Schwierigkeiten, zwischen Spaß und Ernst zu unterscheiden, trotz all der Fortschritte, die er im vergangenen halben Jahr gemacht hatte. Für ihn war Jivvins Drohung logisch und konsequent und er würde nichts tun, um sich zu schützen. Er hatte den Kampf verloren, die Ehre der Am’churi gebot, dass er sich der Gnade des Siegers auslieferte.

Jivvin setzte sich auf Ni’yos Oberschenkel nieder, packte ihn mit einem Ruck an den Haaren, presste seinen Kopf gegen den Baumstamm. Er hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass Ni’yo ihm nicht rückhaltlos vertraute, es vermutlich niemals tun würde; dennoch, es schmerzte ihn einen Herzschlag lang.

„Ich werde jeden Moment genießen“, sagte Jivvin drohend. Er weidete sich an dem Anblick von Verletzlichkeit, Angst und trotziger Beherrschung in diesem vertrauten, schönen Gesicht – es war so gut, wenn er diese hilflose Furcht einmal wenigstens für die Dauer eines Herzschlags sehen durfte! – riss Ni’yo zu sich heran und küsste ihn mit all der Liebe und Leidenschaft, die er für ihn empfand.

Ni’yo versteifte sich zuerst in erschrockener Abwehr, dann schmolz er regelrecht in Jivvins Umarmung hinein, erwiderte den Kuss, hungrig nach der Geborgenheit, die Jivvin ihm schenkte. Darauf bedacht, die Wunde zu schonen, hielt Jivvin ihn seitlich an sich gedrückt.

„Ich denke, die Götter werden zufrieden mit mir sein“, flüsterte er atemlos in sein Ohr, bevor er erneut einen Kuss einforderte, an seinen Lippen knabberte und ihre Zungen einander umtanzen ließ, bis Ni’yo sich leise stöhnend in seinen Armen zu winden begann. Nur wenn sie sich liebten, gab Ni’yo seine Beherrschung auf und vertraute sich und seinen Körper Jivvin an.

Er stand auf, hob Ni’yo dabei hoch, der ihm die Beine um die Hüften schlang und sich mit dem unverletzten Arm festhielt.

„Ich werde dich viele Jahre lang foltern, immer wieder und wieder …“

„Du wirst feststellen, dass ich nicht allzu rasch um Gnade flehe“, murmelte Ni’yo. Vertrauen und Wärme war in seinen Blick zurückgekehrt, und das sinnliche Verlangen, das Jivvin so gerne an ihm sah. „Ich kann mich wehren, damit du es weißt!“ Verspielt biss er Jivvin in die Wange, schnappte nach seinen Ohren, der Nasenspitze, was Jivvin lachend abwehrte, bis sie in der Hütte angekommen waren und er seinen Geliebten schwungvoll auf das Bett werfen konnte.

„Das werden wir gleich sehen, wie lange es dauert, bis du bettelst!“, knurrte er drohend, bereits halb aus seiner Kleidung geschlüpft. Ni’yo zog amüsiert die Augenbrauen hoch, eine Geste, die schon immer zu ihm gehört hatte und so deutlich na, wenn du meinst … ausdrückte, dass Jivvin ihm sein Hemd an den Kopf warf. Ni’yo versuchte auszuweichen, kam allerdings wegen seiner verletzten Schulter nicht schnell genug weg. Jivvin genügte dieser Moment der Ablenkung, er packte ihn an den Fußknöcheln und hebelte ihn geschickt aus. Ni’yo wehrte sich mit einem mörderischen Tritt nach Jivvins Kehle, konnte aber nicht voll durchziehen, da er auf die rechte Seite fiel, die freie Hand unter sich begraben, seine Beine fest in der Hand des Gegners. Jivvin warf sich rasch über ihn, bevor Ni’yo noch auf die Idee kam, seinen verwundeten Arm aus der Schlinge zu reißen, und hielt ihn mit seinem Gewicht nieder.

„Schon wieder verloren!“, sagte er grinsend und erstickte jeglichen Protest mit einem langen, gierigen Kuss.

„Du schummelst!“, grollte Ni’yo vorwurfsvoll, doch das Lachen in seinen Augen verriet ihn.

„Hm, ein wenig Kriegslist vielleicht, das ist erlaubt!“ Jivvin befreite ihn von dem restlichen störenden Stoff, streichelte dabei andächtig über den harten Leib, der nur aus schlanken Muskeln, Sehnen und samtig schimmernder Haut zu bestehen schien, drückte ihn dann zurück auf das Bett. Mit einem Arm stützte er ihn im Nacken, um ihm Schmerzen zu ersparen; so rau sie auch sonst miteinander umgingen, beim Liebesspiel berührte Jivvin ihn stets so zärtlich und behutsam, als wäre er zerbrechlich wie ein Stück Pergament. Er wusste, für Ni’yo war Schmerz bedeutungslos, er würde härtere Spiele gewiss dulden. Doch gerade weil Ni’yo Zeit seines Lebens nur Leid und Ablehnung erfahren hatte, reagierte er so stark auf sanftes Liebkosen. Er schnurrte beinahe vor Wohlbehagen unter Jivvins Händen, der sich seitlich zu ihm gelegt hatte und ihm den Rücken streichelte. Jivvin küsste sich seinen Weg den Hals entlang bis hinab bis zu der freien rechten Brustwarze, wo er eine Weile verharrte, bedauernd, dass er die andere wegen der Schlinge nicht erreichen konnte. Er umschloss sie mit den Lippen, saugte sie zwischen die Zähne, spürte, wie hart sie war – genau wie er selbst. Ni’yo berührte ihn dabei unwillentlich mit der linken Hand an der Wange, ein zartes Kitzeln, das seinen Reiz dadurch gewann, dass Ni’yo keine Kontrolle darüber besaß.

„Du hältst schön still!“, mahnte Jivvin, ahnend, dass sein Liebster sich nicht mehr lange von der Armschlinge zurückhalten lassen würde. „Was immer du bewegen willst, die hier – “, er küsste ihm jeden Finger einzeln, „gehören nicht dazu.“

„Und wenn ich mich wehren muss?“, wisperte Ni’yo lächelnd und hinderte Jivvin, sich zwischen seine Beine zu schieben.

„Du darfst dich nicht wehren, weißt du nicht mehr? Du hast verloren!“ Jivvin schnappte sich Ni’yos freie Hand und drückte sie neben seinen Kopf auf die Matratze. Das war riskant, er wusste, damit weckte er Erinnerungen an Albträume, die noch nicht lange genug zurücklagen, um ihre Macht verloren zu haben. Diese eine Nacht, in der Jivvin über ihn hergefallen war und ihn beinahe getötet hätte. Doch vielleicht konnte er so wieder ein bisschen Vertrauen gewinnen? Die dunklen Augen, die sowohl ängstlich als auch verträumt zu ihm aufblickten, luden ihn ein weiterzumachen; darum wagte er es. Er verschränkte ihre Finger, legte den Kopf auf Ni’yos Achsel ab. Jivvin achtete darauf, Ni’yo nicht zu stark niederzuhalten, während er sich eng an ihn schmiegte, auf der Hut vor panischen Abwehrreaktionen. Unaufhörlich streichelte er ihm über Bauch und Hüfte, bis er spürte, wie Ni’yo sich zu entspannen begann. Es dauerte auch sonst immer eine Weile, bis er seine Selbstbeherrschung gänzlich aufgeben konnte und bereit war sich an Jivvin auszuliefern. Er hatte schon früh gelernt, es langsam anzugehen, andernfalls konnte es geschehen, dass Ni’yo unwillkürlich zuschlug. Ihm gefiel es zudem, seinen Geliebten zu verwöhnen.

Als Ni’yo sich leise seufzend unter ihm zu rekeln begann, stützte sich Jivvin auf und beugte sich über ihn, wobei er ihn weiterhin mit einer Hand gefangen hielt.

„Wie ich sehe, magst du es, so grausam misshandelt zu werden“, flüsterte er lächelnd und küsste ihn zärtlich auf den Mund. „Vielleicht muss ich mich ein wenig mehr anstrengen? Nicht, dass ich noch meine Ehre verspiele!“ Die warmen Lippen öffneten sich willig, die Zunge hieß ihn willkommen. Jivvin nahm die Einladung an, genoss es wie stets, seinen Liebsten zu schmecken, ihn mit allen Sinnen wahrzunehmen. Seine Hand glitt tiefer, bis zur Scham, wo er ein wenig mit dem spröden Haar spielte, bevor er die Finger besitzergreifend um das harte, zuckende Glied schloss. Ni’yo öffnete die Augen, die vor Erregung leuchteten, ließ dann laut stöhnend den Kopf nach hinten sinken. Ein Schauder prickelte über Jivvins Körper, als er sein eigenes Verlangen im Gesicht seines Geliebten gespiegelt sah.

„Alles meins!“, hörte Ni’yo ihn murmeln. Unwillkürlich musste er lächeln. Heiße Lippen wanderten über seine Haut, er wusste genau, mit welchem Ziel. Probehalber versuchte er, sich aus Jivvins Griff zu befreien, was dieser sofort zuließ. Dafür drängte er sanft Ni’yos Beine auseinander und rutschte ein Stück tiefer, um ihn noch ein wenig vorzubereiten. Ni’yo atmete tief ein, ließ die prickelnde Erregung zu, die in seinem Unterleib zu glühen begann. Dabei strich er durch Jivvins dichtes braunes Haar, etwas, was er ungemein mochte. Er konnte über Stunden die Finger durch die schulterlangen Strähnen gleiten lassen, und Jivvins raue Wangen liebkosen, wenn der mal wieder keine Lust gehabt hatte, sich zu rasieren. Ni’yo hatte keinen Bartwuchs und nur wenig männliche Körperbehaarung. Eines der vielen Dinge, die er an seinem Körper hasste. Es machte ihn anders. Er wusste, dass seine Waffenbrüder im Tempel oft über diese Besonderheit gelacht, ihn heimlich als Mädchen verspottet hatten. Jivvin war daran nie beteiligt gewesen, einer der zahllosen Gründe, warum Ni’yo ihn so sehr liebte.

Unvermittelt löste sich Jivvin von ihm und biss ihn sanft in den Innenschenkel.

„Träumst du? Oder hab ich dich eingeschläfert?“, neckte er ihn lächelnd. Ni’yo wollte antworten, doch in diesem Moment stülpte Jivvin gierig den Mund über seinen Schaft und saugte kraftvoll.

„Am’chur“, stammelte Ni’yo, drängte sich unwillkürlich in die hitzige Tiefe voran, überwältigt von der Lust, die Jivvins Zungenspiel entfesselte. Schwer atmend rang er um Beherrschung. Dabei belastete er unweigerlich seine verletzte Schulter. Der intensive, reißende Schmerz ließ ihn aufkeuchen, verstärkte allerdings das Pochen in seinen Lenden.

„Alles gut?“, hörte er Jivvin besorgt fragen.

„Hmmm“, wimmerte er anstelle einer Antwort – warum konnte sein Liebster nicht einfach weitermachen mit dem, was sich so gut anfühlte?

Als hätte Jivvin diesen Gedanken gehört, fiel er nun regelrecht in aller Zärtlichkeit über ihn her: Seine Zunge, seine Hände waren überall zugleich, streichelten über seine Hoden, leckten die Lusttropfen, die aus Ni’yos Spitze sickerten, liebkosten seine erhitzte Haut, drängten sich in die Spalte zwischen den Pobacken. Schnaufend verdrehte Ni’yo die Augen, als er Jivvins Zunge an seinem Eingang spürte.

„Du weißt, du … du warst … gar nicht dran“, presste er mühsam hervor.

Den ganzen Winter über hatten sie sich in Geschicklichkeits- und Glücksspielen gemessen, die sie aus allen möglichen Materialien bauten, sowie in körperlichen Wettkämpfen, bei denen Ni’yo sich zumeist die Augen verbinden oder an einer Hand fesseln ließ, damit Jivvin nicht von vorneherein unterlegen war. Der Sieger durfte anschließend im Bett die Oberhand haben. Ni’yo bevorzugte eigentlich die passive Rolle, denn nur dann konnte er die ewige Selbstkontrolle vollständig aufgeben und sich frei fühlen. Frei von allen Zwängen, Erinnerungen, Sorgen. Doch es war auch ein Genuss, Jivvins Gesicht zu betrachten, wenn dieser sich unter ihm langsam in seiner Erregung verlor, mit jedem Atemzug ein wenig mehr, bis er sich seinem Höhepunkt ergab …

Ein angefeuchteter Finger drang in Ni’yo ein. Er wollte hochfahren, sich vor Lust aufbäumen, ohne einen Gedanken an seine Schulter zu verschwenden; aber Jivvin hatte das wohl vorausgeahnt: Er hockte sich auf Ni’yos Hüfte und drückte ihm mit der freien Hand den Kopf seitlich nieder, ohne sich aus ihm zu lösen. Ni’yo konnte sich nicht bewegen, ohne den Arm aus der Schlinge zu reißen. Einen Moment lang spannte er jeden Muskel in seinem Leib an, wollte sich gegen die Unterwerfung wehren, als die Panik das hochkochte, was als Albtraum tief in seiner Seele verschlossen lag. Seine Lider öffneten sich flatternd, obwohl er sie lieber fest zusammengepresst hätte, aus Angst vor dem, was er niemals wieder durchleben wollte. Dann sah er Jivvins Gesicht ganz nah über sich, die wunderschönen nussbraunen Augen, die ihn voller Sorge und Liebe anblickten – und atmete bedächtig aus.

Der Finger in seinem Inneren drang weiter vor, erreichte den Punkt, der einen Flächenbrand der Erregung entfachte.

„Glaubst du wirklich, es kümmert mich, wer eigentlich dran wäre?“, flüsterte Jivvin mit einem Lächeln, das die Lüge in den drohenden Worten verriet. Dabei nahm er etwas Druck von Ni’yos Körper, streichelte ihm über das verschwitzte Haar, statt ihn weiter festzuhalten.

„Wenn ich meine Niederlage eingestehe“, stöhnte Ni’yo und verdrehte vor intensivem Lustschmerz die Augen, als Jivvin einen zweiten Finger hinzunahm und ihn damit fast zum Höhepunkt trieb, „… würdest … du … mich … dann … bitte los … lassen?“

Jivvin grinste schelmisch und legte sich wieder mit mehr Gewicht auf ihm nieder. Er war so erleichtert, dass sein Experiment gut gegangen war, doch das würde er niemals laut sagen.

„Würdest du es denn tun?“, fragte er unbarmherzig und führte einen dritten Finger ein, während er mit der anderen Hand begann, ihm mit viel Nachdruck die Erektion zu massieren. Es war wundervoll mitanzusehen, wie sein sonst so beherrschter Geliebter mit weit aufgerissenen Augen nach Luft schnappen musste und einen für Moment vor lauter Ekstase regelrecht die Orientierung verlor.

„Was?“, wimmerte Ni’yo, hilflos unter ihm zuckend.

„Nun, gestehst du die Niederlage ein? Oder würdest du es nur vielleicht tun?“

„Bitte“, keuchte er, „bitte!“

Zu mehr schien Ni’yo nicht mehr in der Lage zu sein, er japste, zitterte unkontrolliert, stöhnte laut vor kaum zu bändigender Lust. Jivvin spürte, dass Ni’yo kurzatmig wurde. Einen Herzschlag lang haderte er mit sich, ob es wirklich richtig war, ihn so zu fordern, obwohl er starke Schmerzen haben musste – doch er sah kein Zeichen dafür, dass Ni’yo geschont werden wollte, also drängte er alle Gedanken zur Seite und trieb ihn weiter, bis ihm das zuckende Geschlecht in seiner Hand zeigte, dass Ni’yo unmittelbar vor dem Höhepunkt stand.

Unvermittelt hielt er inne, löste sich von ihm, setzte sich aufrecht, den Rücken an die Wand gelehnt, und zog seinen Geliebten zu sich heran. Es dauerte eine Weile, bis das schwitzende, bebende Geschöpf in seinen Armen zur Ruhe kam. Dann aber ließ Ni’yo sich auf seinem Schoß nieder und begann nun seinerseits, zumindest die rechte Hand auf Wanderschaft zu schicken, forderte heißhungrige Küsse ein, saugte an Jivvins Fingern, rieb sich an Jivvins Schaft, der gegen seinen Bauch drückte. Manchmal mochte Jivvin trauern um all das, was er für Ni’yo aufgegeben hatte, doch in Momenten wie diesen, in denen Lust und Zärtlichkeit miteinander verschmolzen und sein Geliebter sich ihm mit Leib und Seele hingab, wusste er, dass er es niemals wieder anders haben wollte. Als Ni’yo über ihn glitt und ihn mit langsamen Hüftbewegungen zu reiten begann, barg Jivvin das Gesicht an seiner unverletzten Schulter, sog tief den Duft dieses Mannes in sich ein, berauschte sich am gleichmäßigen Pulsieren des vertrauten Herzschlags, und versank im Taumel ihres gemeinsamen Höhepunktes.

3.

Es klopfte. Jivvin schreckte aus einem leichten Dämmerschlaf hoch, einen Moment lang völlig desorientiert. Es war dunkel in der Hütte, das Häufchen Glut des Herdfeuers spendete kaum noch Licht. Er spürte Ni’yo an seiner Seite, seine warme Haut, seinen Atem, der über Jivvins Arm strich, wirre Haarsträhnen, die ihn leicht an der Schulter kitzelten. Gerne hätte er ihn jetzt richtig gesehen, nicht nur seine vagen Umrisse; er liebte es, Ni’yo zu betrachten, wenn er sich im Schlaf entspannte, so friedlich wirkte, so vollkommen in jeglicher Hinsicht …

Das Klopfen wiederholte sich, mehr ein zaghaftes Pochen. Ni’yo seufzte leise, drehte sich jedoch nicht einmal um, geschweige denn, dass er erwachte. Ein sicheres Zeichen, dass er sich im Heilschlaf befand. Bevor Erinnerungen – schöne und schreckliche – hochkommen konnten, die Jivvin mit seinem Geliebten in hilflosem Tiefschlaf verband, stand er auf, schlüpfte rasch in Hemd und Hose und ging zur Tür.

Eine Frau stand dort, sie starrte ihn erschrocken an und wich einige Schritte zurück. Sie stammte offensichtlich aus dem Dorf: Ihr Kleid war auf die für diese Gegend typische Weise bestickt und grün gefärbt. Das helle Mondlicht offenbarte für die scharfen Augen eines Am’churi ein junges, rundliches Gesicht, umrahmt von schweren blonden Zöpfen. Es strahlte jene Art von innerer Ruhe aus, die Jivvin bei vielen Landleuten beobachtet hatte. Diese Gewissheit, genau dorthin zu gehören, wo man sich bereits befand, die weder von mühseliger Arbeit, Hungersnot oder Schicksalsschlägen erschüttert werden konnte. Im Augenblick schien die Frau allerdings zwischen Flucht und dem, was auch immer sie hergetrieben hatte, zu schwanken. Jivvin hatte nicht damit gerechnet, mitten in der Nacht einer Bauersfrau gegenüberzustehen, darum dauerte es einen Moment, bis ihm bewusst wurde, wie seine gespannte Haltung und sein Schweigen auf die Ärmste wirken mussten. Hastig versuchte er es mit einem Lächeln, ohne zu wissen, ob sie das überhaupt sehen konnte, und trat mit offen erhobenen Händen einen halben Schritt vor.

„Kann ich … Brauchst du Hilfe?“, fragte er unsicher.

Die junge Frau strich sich zittrig über das Kleid, bevor sie das Lächeln scheu erwiderte, einen Tragekorb vom Rücken nahm und diesen mit verkrampften Fingern vor dem Körper hielt. Jivvin roch Baumharz, anscheinend hatte die Frau Weidenrinde geschnitten. Ob sie glaubte, dass die schmerzlindernde Heilwirkung der Rinde durch Mondlicht verstärkt wurde? Warum sonst sollte sie nachts allein durch den Wald laufen?

„Ich … Euer Freund … Der dunklere Mann …“, stammelte sie zusammenhanglos.

„Ni’yo? Hat er dich erschreckt?“, fragte Jivvin besorgt, sich nur allzu sehr bewusst, wie sein Geliebter auf diese einfachen Menschen wirkte. Noch ein Grund mehr, möglichst bald von hier zu verschwinden.

„Nein! Nein, er …“ Sie griff in den Korb und holte etwas heraus, das in ein weißes Leintuch eingeschlagen war. Eine winzige Holzfigur befand sich darin, die einem Menschen ähnelte. Verblüfft nahm er sie entgegen, als die Frau sie ihm mit gesenktem Blick reichte. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Er hat meinen Jungen gerettet“, flüsterte die Bäuerin, während ihre Finger mit dem Tragegriff spielten. „Ich weiß, dass es stimmt, ich hab gesehen, wie er meinen Kleinen gehalten und auf die Füße gestellt hat, als er ihn mir heimbrachte. Vorsichtig eben, nicht als wollte er …“

Jivvin versuchte vergeblich zu begreifen, was sie ihm eigentlich sagen wollte.

„Viele der anderen sagen, er hätte den Jungen weggelockt und irgendwas an ihm verhext, was die Dunklen so tun, Zauberei und so. Wero, mein Bruder, hat gesagt, er, also dieser Mann, hätte Erenn nur zurückgebracht, damit der uns jetzt Unglück bringen kann. Das ist Unsinn und alle wissen’s, aber’s ist gesagt worden. Wenn’s oft genug gesagt wird, fängt irgendwann einer an es zu glauben und meint, es könnte ja wirklich so sein. Und dann kann keiner mehr dagegen reden. Dann sagen irgendwann alle könnte ja sein und wer weiß, ob es nicht doch so ist.“

Jivvin hatte Mühe, den Worten zu folgen, die wie ein Sturzbach über die Lippen der Frau flossen, aber er begann zu ahnen, wohin das hier führen würde.

„Langsam!“, fuhr er dazwischen. „Ni’yo hat deinen Sohn … gerettet, vor was auch immer, und zu euch ins Dorf gebracht. Und dafür wollen deine Leute ihn angreifen? Verjagen?“

Sie nickte, starrte ihn dabei aus riesigen, erschrocken aufgerissenen Augen an, in denen sich das Mondlicht spiegelte.