Die Ehrfurcht vor dem Leben - Albert Schweitzer - E-Book

Die Ehrfurcht vor dem Leben E-Book

Albert Schweitzer

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Beschreibung

Angesichts der drohenden atomaren und ökologischen Katastrophe gewinnt Albert Schweitzers Einstellung zum Leben erneut bestürzende Aktualität. Dieses Buch vereinigt die Grundtexte dazu aus den Jahren 1919 bis 1963. Schon 1954 hat Schweitzer in seiner Rede bei der Entgegennahme des Nobelpreises in Oslo erklärt: "�Nur in dem Maße, als durch den Geist eine Gesinnung des Friedens in den Völkern aufkommt, können die für die Erhaltung des Friedens geschaffenen Institutionen leisten, was von ihnen verlangt und erhofft wird... Mögen die, welche die Geschicke der Völker in den Händen haben, darauf bedacht sein, alles zu vermeiden, was die Lage, in der wir uns befinden, noch schwieriger gestalten und uns noch weiter gefährden könnte, mögen sie das wunderbare Wort des Apostels Paulus beherzigen: `Soviel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden.` Es gilt nicht nur den einzelnen, sondern auch den Völkern. Mögen sie in den Bemühen um die Erhaltung des Friedens miteinander bis an die äußerste Grenze des Möglichen gehen, daß dem Geiste zum Erstarken und zum Wirken Zeit gegeben

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ALBERT SCHWEITZER

Die Ehrfurchtvor dem Leben

Grundtexte aus fünf Jahrzehnten

Herausgegeben vonHans Walter Bähr

VERLAG C.H.BECK

Zum Buch

In einer Zeit, die zunehmend von Kriegen, Umweltzerstörung und Hungersnöten bedroht ist, hat Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben nichts an Aktualität eingebüßt. Das Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben ist für ihn an keine bestimmte Religion oder Philosophie gebunden. Es ist die elementare und überlebensnotwendige Richtlinie, die allem Denken und Handeln zugrundeliegen soll. Dieses Buch vereinigt Schlüsseltexte Schweitzers aus den Jahren 1919 bis 1963, die die zentralen Linien seiner Ethik philosophisch und theologisch herausarbeiten.

Über den Autor

Albert Schweitzer, am 14. Januar 1875 im Oberelsaß geboren, studierte Theologie und Philosophie, promovierte in beiden Fächern und habilitierte sich 1902 in Straßburg. Von 1905 bis 1912 studierte er Medizin, um 1913 als Tropenarzt nach Lambarene im heutigen Gabun zu gehen. Im Ersten Weltkrieg als feindlicher Ausländer interniert und dann ausgewiesen, kehrte er 1924 nach Lambarene zurück und lebte und arbeitete dort, von Reisen unterbrochen, bis zu seinem Tod am 4. September 1965.

Inhalt

Einleitung – von Hans Walter Bähr

I: Die Entstehung der Lehre der Ehrfurcht vor dem Lebenund ihre Bedeutung für unsere Kultur

II: Die Ehrfurcht vor dem Leben – Erste öffentliche DarlegungAus der Predigt zu St. Nicolai in Straßburgam 23. Februar 1919

III: Forderungen und Wege

IV: Die Krise der Kultur und ihre geistige Ursache

V: Jugenderinnerungen

VI: Ethik als Leben im Geiste Jesu Christi

VII: Philosophie und Tierschutzbewegung

VIII: Das Problem des Ethischen in der Entwicklungdes menschlichen Denkens

IX: Das Problem des Friedens in der heutigen Welt – Rede bei der Entgegennahme des Nobelpreises in Oslo 1954

X: Humanität

XI: Der Weg des Friedens heute

Ein Dokument zu diesem Text

XII: Rückblick und Ausblick

Zu den Quellen

Einleitung

von Hans Walter Bähr

Das Grundprinzip Albert Schweitzers, seine Forderung „Ehrfurcht vor dem Leben“, gilt allen Bereichen, in denen menschliches Handeln Leben begegnet, es fördern oder schädigen kann, vom mitmenschlichen Leben, dem Verhalten des einzelnen zur Natur bis zu den zentralen Fragen der Zeit, dem Problem des Friedens, den Entwicklungen der Gesellschaft, der Kultur, der Forschung, der Umwelt.

In eindringender gedanklicher Arbeit hat Albert Schweitzer in Afrika und Europa dieses Prinzip aus theologischen und philosophischen Voraussetzungen formuliert. Das Recht des Lebens, seine freie Würde, seine Entfaltung, sein Wert – des Lebens des Menschen und der Natur – sind vielfältige und grundlegende Themen der Gegenwart. Albert Schweitzer hat die ethischen Probleme, die sich hier stellen, immer neu durchdacht; seine Texte in diesem Band, die bis 1963 reichen, geben seine Erkenntnisse wieder, von den Anfängen seiner Niederschriften über christliche Nächstenliebe und Ethik, die er in Straßburg und in Lambarene entwarf, bis zu seiner nachhaltigen Argumentation gegen die nuklearen Versuchsexplosionen. Sein Grundgedanke, von ihm als Theologe, Philosoph und Arzt mit seltener Zeugniskraft entwickelt und vorgelebt, zielt auf Solidarität mit Leben. Er lehrt und verwirklicht seinen Leitsatz, Leben zu achten und nicht zu verletzen, soweit es irgend in den Möglichkeiten steht, er verlangt die Gesinnung der „Ehrfurcht vor dem Leben“, und er weist sie auf. In seinen Manuskripten wird das Prinzip systematisch begründet und beschrieben. Den Beginn bilden Predigten in Straßburg und seine Kulturphilosophie „Kultur und Ethik“ (1923); aus beiden Arbeiten finden sich Ausführungen in unserem Band. In den weiteren Jahrzehnten folgten dann die Beiträge, die hier zum erstenmal gemeinsam vorgelegt werden. Mit seiner Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises 1954 in Oslo und dem Friedensaufsatz von 1963 führen die Texte zu entscheidenden Gesamtproblemen der Lebenserhaltung in der gegenwärtigen Welt. Als ethischer Satz behält das Prinzip „Ehrfurcht vor dem Leben“ für das Tun des einzelnen Menschen und der Gesellschaft seine bleibende Bedeutung.

Im Sommer 1963, fünf Jahrzehnte, nachdem Albert Schweitzer sein Werk in Afrika begonnen hatte, entstand mein Vorschlag, seine Grundtexte über die Ehrfurcht vor dem Leben in einem Buch zu vereinigen und durch diesen Band das Ganze seiner Erkenntnis, ihre Ausformungen, darzustellen. Im nächsten Jahr wurde die nähere Disposition getroffen; zugleich schrieb Albert Schweitzer aus Lambarene, daß er die abschließende Gestaltung mir überlassen wolle, da die Arbeit dort seine Kräfte auch in diesem hohen Lebensalter immer stärker fordere. Neue Bauten wurden damals unter Leitung des neunundachtzigjährigen Mannes errichtet, die Sorge um seine Kranken erfüllte ihn.

Es war die Phase seines Lebens, in der Albert Schweitzer ruhig und gelassen auch Fragen der Fortführung des Spitals in der Zukunft erwog. Am 2. April 1965, wenige Monate vor seinem Heimgang, sprach er in einem Brief an mich noch einmal von der Erwartung, die er mit der Herausgabe seiner ethischen Grundtexte in diesem Buche verbinde; er war zu dieser Stunde von einer großen Gewißheit über den Weg seiner Idee durchdrungen: „Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben fängt an, sich in der Welt durchzusetzen... Ich danke Dir für alles, was Du in meinem Geiste unternimmst.“ So reicht die Geschichte dieses Buches in die drei letzten Lebensjahre Albert Schweitzers hinein, in sein Ringen um den Frieden der Menschheit auf dieser Schwelle, um den Weg der Generationen.

In den Jahrzehnten einer unabsehbaren Problematisierung des Lebendigen durch den Menschen entstand mit Albert Schweitzers Lehre auch der ethische Begriff, der eine weitgefaßte Verantwortung für das Leben im zwischenmenschlichen Dasein und in der Natur umschließt. Das sittliche Grundprinzip Schweitzers steht in Korrelation zu der geschichtlichen und geistigen Entwicklung unserer Zeit, ihren Tendenzen, ihren Hoffnungen und ihren Lasten. Es ist, mitten in dieser Epoche und über sie hinaus, eine ethische Macht, die sich nicht in der Polemik verliert, sondern zu entschiedener Weisung vorstößt, im individuellen Raum und auf Gebieten der Gesellschaft.

Kritische, sachliche Sicht wird an dem Grundsatz Albert Schweitzers weiterarbeiten, unvoreingenommen und mit jener Strenge des Denkens, die Albert Schweitzer in seinen wissenschaftlichen Forschungen erwartet hat. Jede Analyse aber bedarf der Grundtexte dieses Buches, denn erst am Text selbst sind die Einblicke in die Zusammenhänge, in die zeitgebundenen Positionen, in die Gültigkeit und durchaus auch in den Rigorismus einer solchen These möglich. Wie immer die Erörterung über die Deutungen des Satzes der Ehrfurcht vor dem Leben verlaufen mag, so wird er doch in seiner Substanz einer der herausragenden Gedanken der Ethik der neueren Zeit bleiben, einer ihrer großen Erkenntnisakte. Die Argumente können sich wandeln, neue Auffassungen sich öffnen, doch der einmal gefundene Begriff dieser Ethik wird, wie andere ethische Sätze, im Ideengut der Kulturgemeinschaft fortleben und fortwirken. Albert Schweitzer hat diesen Durchbruch geleistet, die Probleme indessen, die Fragen werden sich nicht erschöpfen, sie sind immer neu dem Handeln aufgetragen.

Die Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben steht, wie Albert Schweitzer erklärt hat, in der Nachfolge Jesu Christi, der Ethik Jesu. Theologisches Fundament und ethisch-philosophische Folgerungen sind hier nicht zu trennen, wie überhaupt der Denker Albert Schweitzer nicht in isolierten Dimensionen begriffen werden kann. Wie vielseitig seine wissenschaftlichen Leistungen sich auch entfalten, in der Ordnung und der Sprache der Fakultäten, so stammen sie doch alle aus dem einen, übergreifenden Suchen dieses Mannes. Seinen frühen Entschluß, nach Äquatorialafrika zu gehen, um Hilflosen zu helfen, hat er in Schriften und Briefen in der großen, nicht endenden Richtung gesehen, über die er auch in seinem vierten Hauptwerk, der „Mystik des Apostels Paulus“, schrieb: der ständigen und tätigen Erschließung der Botschaft Jesu im Wandel der Geschichte. Die Manuskripte Albert Schweitzers über das Reich Gottes und das Denken der Menschheit, die sich in seinem Haus in Günsbach in seinem Nachlaß befinden, machen seine gesamte theologische und philosophische Position erneut deutlich; eine erste Veröffentlichung aus diesen Handschriften ist 1967 erschienen (Albert Schweitzer. Reich Gottes und Christentum. Mit einem Vorwort herausgegeben von Ulrich Neuenschwander. Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen 1967). Ein besonderes Dokument sind seine beiden Predigten in Straßburg im Jahre 1919 über die Ehrfurcht vor dem Leben, die durch die erfahrene Herausgeberschaft von Ulrich Neuenschwander zugänglich gemacht worden sind. In diesen Überlegungen, vorgetragen in der Kirche zu St. Nicolai, hat Albert Schweitzer zum erstenmal, nach seiner Rückkehr aus Afrika am Ende des Ersten Weltkrieges, seine Ethik öffentlich dargelegt und sie aus der Kraft seiner Glaubensüberzeugung, dem Evangelium Jesu Christi, entwickelt.

Die Gewißheit, die aus der Botschaft Jesu aufgenommen wird, durchdringt sein ethisches Denken: bis zu unserem Verhalten zur Schöpfung, zum Lebendigen überhaupt, das in den Bereich unserer Verantwortung eintritt. Gegenüber der Einzelgestalt in der Natur haben wir, so weiß die Ehrfurcht vor dem Leben, immer wieder Raum und Freiheit für ethisches Helfen. Albert Schweitzer vertritt unsere sittliche Verpflichtung für lebendige Natur. Schöpfung ist uns nicht zu gedankenlosem Umgang überantwortet, sondern zu einem Handeln, das in dem Spannungsfeld zwischen den Zwangsverläufen der Zerstörung und der möglichen Freiheit ethischen Entscheidens des Menschen seinen Weg bahnt.

Die Erkenntnis Albert Schweitzers wird, durch ihn entdeckt und ausgesprochen, sich nun immer wieder mit Lebensgebieten und dem täglichen Wollen von Menschen verbinden. Schweitzer hat seine Einsicht in vielen Phasen erprobt, nicht in Hast, sondern mit der Ruhe eines langjährigen, selbstkritischen Voranschreitens. In der Realität seiner Lebenserfahrung verkörpert, beansprucht seine Auffassung, wie jede andere klare, ernste Gedankenwelt, das Recht auf objektive Würdigung ihrer Probleme, ihrer Schritte, ihrer Aussagen, ihrer formenden Grundkraft in der Wirklichkeit.

Solchen Begegnungen zu dienen, ist der Auftrag dieses Buches. Möchte es Leser finden, die zu jenem tieferen Verstehen vordringen, das die Sache selbst erlebt und sie aus diesem Bewußtsein in die eigenen Verantwortungen aufnimmt. Der Wahrheitsgehalt dieser Anschauung, im Tun vollzogen, wird auch über ihre Zukunft entscheiden, durch ihn, nicht durch eine Verteidigung, empfängt sie ihre fortdauernde Dynamik. Aus seiner Mitte wendet sich der Satz von der Ehrfurcht vor dem Leben, universell in Geist, Weite und Konzeption, an unser Handeln und Erkennen – in verhaltener Wahrnehmung eines höheren Willens.

I

Die Entstehung der Lehre der Ehrfurcht vor dem Lebenund ihre Bedeutung für unsere Kultur

Lambarene, 21.4.1963

Von meiner frühesten Jugend an fühlte ich mich genötigt, Mitleid mit den Tieren zu haben. Ganz unfaßbar erschien mir, schon ehe ich in die Schule ging, daß ich in meinem Abendgebet nur für die Menschen beten sollte. Darum, wenn meine Mutter mit mir gebetet und mir den Gutenachtkuß gegeben hatte, betete ich heimlich ein von mir selber verfaßtes Zusatzgebet für alle lebendigen Wesen. Es lautete: „Lieber Gott, schütze und segne alles, was Odem hat, bewahre es vor allem Übel und laß es ruhig schlafen.“

Einen tiefen Eindruck machte auf mich ein Erlebnis aus meinem siebenten oder achten Jahre. Mein Kamerad Heinrich Braesch und ich hatten uns Schleudern aus Gummischnüren gemacht, mit denen man kleine Steine schleudern konnte. Es war im Frühjahr, in der Passionszeit. An einem sonnigen Sonntagmorgen sagte er zu mir: „Komm, jetzt gehen wir in den Rebberg und schießen Vögel.“

Dieser Vorschlag war mir schrecklich, aber ich wagte nicht zu widersprechen, aus Angst, er könnte mich auslachen.

So kamen wir in die Nähe eines kahlen Baumes, auf dem die Vögel, ohne sich vor uns zu fürchten, lieblich in den Morgen hinaussangen. Sich wie ein jagender Indianer duckend, legte mein Kamerad einen Kiesel in das Leder seiner Schleuder und spannte sie. Seinem gebieterischen Blick gehorchend, tat ich, unter furchtbaren Gewissensbissen, dasselbe, mir fest gelobend, danebenzuschießen.

In demselben Augenblick fingen die Glocken der Kirche an, in den Sonnenschein und in den Gesang der Vögel hinein zu läuten. Es war das „Erste Läuten“, das dem Hauptläuten, das die Gläubigen in die Kirche rief, um eine halbe Stunde vorausging.

Für mich war es eine Stimme aus dem Himmel. Ich warf die Schleuder weg, scheuchte die Vögel auf, daß sie wegflogen und vor der Schleuder meines Kameraden sicher waren, und floh nach Hause.

Und immer wieder, wenn die Glocken der Passionszeit in Frühlingssonnenschein und kahle Bäume hinausklingen, denke ich ergriffen und dankbar daran, wie sie mir damals das Gebot „Du sollst nicht töten“ ins Herz geläutet haben.

Das Aufkommen der Bewegung des Tierschutzes, das in meiner Jugend stattfand, machte mir einen großen Eindruck. Endlich wagten es Menschen, in der Öffentlichkeit aufzutreten und zu verkündigen, daß das Mitleid mit den Tieren etwas Natürliches sei, das zur wahren Menschlichkeit gehöre, und daß man sich dieser Erkenntnis nicht verschließen dürfe. Ich hatte den Eindruck, daß ein neues Licht in dem Dunkel der Ideen aufgegangen sei und stetig zunehmen werde.

Im Jahre 1893 fing ich an, Philosophie und Theologie auf der Universität Straßburg zu studieren. In diesen Jahren des ausgehenden Jahrhunderts erlebten wir Studenten miteinander etwas Merkwürdiges: das Bekanntwerden der so verschiedenartigen Schriften Nietzsches und Tolstois.

Friedrich Nietzsche, 1844–1900, wurde, kaum daß er sein Studium vollendet hatte, als Professor der klassischen Philologie nach Basel berufen. Aber er begnügte sich nicht mit dem Erforschen der klassischen griechischen Kultur und ihrem Geiste, sondern gab sich auch mit dem Problem der Kultur überhaupt und ihres Geistes ab. Vom Jahre 1880 ab sprach er sich gegen die in Europa mit der griechischen Philosophie und dem Christentum aufgekommene aus. Er warf ihr vor, daß in ihr der Geist der schwachen und ängstlichen Menschen herrsche. Durch sie sei die Ethik, die Liebe zu den Mitmenschen fordert, aufgekommen. Sie schufen diese Theorie, um durch sie beschützt zu werden, wie auch die Hoffnung auf ein seliges Dasein.

Die Ethik der wahren Kultur aber fordert, wie sie sich Nietzsche vorstellt, nur eine stolze und kühne Bejahung des Lebens. Der „Übermensch“ hält sich nicht an die „Sklavenmoral“ der Liebe, sondern an die Herrenmoral des „Willens zur Macht“.

Diese neue Auffassung von dem Wesen der Kultur und der Ethik, von Nietzsche mit großartigem Pathos vorgetragen, machte auf die Menschen jener Zeit, insbesondere auch auf die Jugendlichen, einen großen Eindruck.

Gleichzeitig aber wurden in jener Zeit des zu Ende gehenden Jahrhunderts die Werke Tolstois (1828–1910) bekannt. Der russische Dichter und Denker vertrat in seinen Romanen und Erzählungen eine andere Anschauung als der germanische. Er bejahte die ethische Kultur. Sie war für ihn die tiefe Wahrheit, zu der er in seinem Erleben und Denken gelangt war. In seinen Erzählungen ließ er uns miterleben, wie er zur Erkenntnis des wahren Menschentums und der schlichten Frömmigkeit gelangt war.

So hatten wir, die Jugend des zu Ende gehenden 19ten Jahrhunderts, uns mit zwei verschiedenen Weltanschauungen auseinanderzusetzen.

In dieser Situation erlebte ich eine große Enttäuschung. Ich hatte erwartet, daß die Religion und die Philosophie miteinander kraftvoll gegen Nietzsche auftreten und ihn widerlegen würden. Dies ereignete sich nicht. Wohl sprachen sie sich gegen ihn aus. Aber meinem Empfinden nach vermochten sie es nicht und suchten sie es nicht, die ethische Kultur in so tiefer Weise zu begründen, wie es der Kampf, den Nietzsche gegen sie führte, erforderte.

Als Student kam ich in den letzten Jahren des Jahrhunderts dazu, mich mit der Frage abzugeben, ob unsere Kultur wirklich die erforderlichen ethischen Energien besäße. Dies führte mich dazu, mich mit dem Problem der Kultur und Ethik, wie es für die Philosophie von 1850 an bis zum Ende des Jahrhunderts bestand, beschäftigt zu sein.

Der Lektüre der wichtigsten in diesem Zeitraum in Europa erschienenen philosophischen Werke entnahm ich, daß sie die Kultur und die Ethik eigentlich nicht mehr als Problem empfanden, sondern sie als bestehende geistige Errungenschaften ansahen und übernahmen.

Ich konnte mich auch nicht des Eindrucks erwehren, daß diese Ethik, die man als endgültig ansah, keine große Anforderungen an die Menschen und an die Gesellschaft stellte. Sie war eine „zur Ruhe gekommene“ Ethik.

Als man gegen Ende des Jahrhunderts auf allen Gebieten Rückschau und Umschau hielt, um seine Errungenschaften festzustellen und zu bewerten, geschah dies mit einem mir unfaßlichen Optimismus. Überall schien man anzunehmen, daß wir nicht nur in Erfindungen und im Wissen vorangekommen seien, sondern uns auch im Geistigen und Ethischen auf einer nie zuvor erreichten und nie mehr verlierbaren Höhe bewegten. Mir aber wollte es vorkommen, als ob wir im geistigen Leben vergangene Generationen nicht nur nicht überholt hätten, sondern daß so manche von ihren geistigen Errungenschaften zehrten... und daß gar mancherlei von diesem Besitz uns unter den Händen zu zerrinnen begonnen.

Tief beeindruckte mich, daß ich bei so manchen Gelegenheiten feststellen mußte, daß inhumane Gedanken, wenn sie sich öffentlich kundgaben, nicht zurückgewiesen und mißbilligt wurden, sondern einfach hingenommen wurden. Die „Realpolitik“ gelangte zu Ansehen. Nietzsches „Wille zur Macht“ fing an, seine verhängnisvolle Rolle zu spielen. Die auf so manchen Gebieten ausgegebene Parole „Realpolitik“ bereitete ihm den Weg. Es kam mir vor, als ob eine geistige und seelische Müdigkeit das arbeitsstolze und leistungsstolze Geschlecht befallen hätte.

Mehr und mehr kam ich dazu, mit der Kultur und der Ethik in den letzten Jahrzehnten des 18ten Jahrh. beschäftigt zu sein.

So beschloß ich, in einer eingehenden Studie über den geistigen Zustand der Zeit, in der ich lebte, kritisch zu berichten. Das Werk sollte den Titel „Kultur und Ethik“ führen. Da ich aber den Eindruck hatte, daß wir uns in einer Periode des geistigen Niedergangs befanden, war ich versucht, es „Wir Epigonen“ zu benennen.

Den Sommer 1900 verbrachte ich an der Berliner Universität. Im Hause der Witwe des großen Hellenisten Ernst Curtius traf ich öfters interessante Berliner Wissenschaftler. Eines Tages fanden sich dort zur nachmittäglichen Kaffeestunde die Mitglieder der „Preußischen Akademie der Wissenschaften“ ein, die von einer Sitzung der Akademie kamen. Sie setzten eine Diskussion fort, die sie auf dieser geführt hatten. Plötzlich sagte einer der Herren, als Abschluß des Gesprächs: „Wir sind ja doch alle nur Epigonen.“ Dieses Wort schlug wie ein Blitz neben mir ein. Ich war also nicht der Einzige, der sich bewußt war, daß wir in einer Zeit der Epigonen lebten!

In einem der ersten Jahre des neuen Jahrhunderts nahm ich mir Zeit, die philosophischen Werke über die Ethik der letzten Jahrzehnte mit der Absicht, festzuhalten, was sie über unser Verhalten zur Kreatur zu sagen hatten, durchzugehen.

Die meisten von ihnen betrachteten diese Angelegenheit als etwas Nebensächliches. Nur wenige gingen auf sie ein.

In einigen dieser Werke glaubten die Verfasser sich sogar dafür entschuldigen zu müssen, daß sie es für geboten hielten, den Tieren Teilnahme zu erzeigen, wo sie sich doch auf einer anderen Stufe als wir befänden. Kaum hie und da war in einem der Werke zu lesen, daß man dem Mitleid mit den Tieren größere Beachtung zu schenken habe.

Mir aber stand fest, daß man der Forderung des gütigen Verhaltens gegen die Tiere einen Platz auch in der philosophischen Ethik zuzugestehen habe. Es stünde dieser, meinte ich, gut an, den Freunden des Tierschutzes zu Hilfe zu kommen und ihr Unternehmen vom Standpunkt des Denkens aus zu rechtfertigen.

Im Frühjahr 1913 fuhr ich mit meiner Frau, nachdem ich das Studium der Medizin vollendet hatte, nach Französisch-Äquatorialafrika, um auf der 1872 von der amerikanischen Presbyterianer Missionsgesellschaft in Lambarene gegründeten Missionsstation ein Spital zu gründen. Durch elsässische Missionare, die in jener Gegend tätig waren, hatte ich erfahren, daß man dort eines Arztes dringend bedürfe. Es war die Zeit des Kampfes gegen die Schlafkrankheit, die in Äquatorialafrika furchtbare Verheerungen anrichtete.

In meinem Gepäck brachte ich genug philosophische Werke mit, um an „Wir Epigonen“ weiter arbeiten zu können.

Im August 1914 brach der erste Weltkrieg aus. Dadurch kam ich in Französisch-Äquatorialafrika in eine üble Lage. Als Elsässer besaßen meine Frau und ich die deutsche Nationalität. Dies hatte uns nicht gehindert, in die französische Kolonie zu kommen und hier ein Spital zu gründen. Aber nun, da man sich im Kriege befand und meine Frau und ich Deutsche waren, mußten wir als ennemis angesehen und behandelt werden.

Gleich am Abend des ersten Kriegstages wurde uns mitgeteilt, daß wir uns als Gefangene zu betrachten hätten. Wir durften in unserm Hause bleiben, mußten aber jeglichen Verkehr mit Weißen oder Schwarzen aufgeben. Als Wächter kamen vor unser Haus ein schwarzer Unteroffizier und vier schwarze Soldaten.

Da mir die Arbeit im Spital verboten war, hatte ich nun Zeit, mich mit dem Stoffe, den ich seit Jahren in mir herumtrug, und der durch das Ausbrechen des Krieges aktuell geworden war, dem Problem von „Kultur und Ethik“, zu beschäftigen.

Nunmehr wütete der Krieg als eine Erscheinung des Niederganges der Kultur. „Wir Epigonen“ als Titel des Werkes kam für mich nun nicht mehr in Betracht.

Warum nur Kritik an der Kultur? Warum sich damit begnügen, uns als Epigonen zu analysieren? Die Zeit erforderte nunmehr aufbauende Arbeit.

Nun begann ich nach dem Grunde des geistigen Ereignisses, daß die ethische Kultur, wie es sich aus dem Aufkommen des Krieges ergab, kraftlos geworden war, zu suchen. Mit diesem Unternehmen blieb ich beschäftigt auch als Ende November unsere Internierung aufgehoben wurde. Solches geschah, weil Weiße und Schwarze sich darüber beschwerten, daß sie eines einzigen Arztes auf weit und breit ohne ersichtlichen Grund beraubt sein sollten. Auch hatten sich meine Freunde in Paris bei der Regierung dafür eingesetzt, daß ich anständig behandelt würde.

Neben der Arbeit, die ich nun wieder im Spital zu tun hatte, fand ich doch noch Zeit, weiterhin mit dem Problem des Kraftloswerdens der ethischen Kultur beschäftigt zu bleiben.