Kulturphilosophie - Albert Schweitzer - E-Book

Kulturphilosophie E-Book

Albert Schweitzer

0,0
10,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit dieser Ausgabe wird Albert Schweitzers Hauptwerk in neuer Ausstattung und mit dem ursprünglichen Titel wieder zugänglich. Schweitzer hat hier erstmals die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben entfaltet und auf die berühmte, bis heute aktuelle Formel zugespitzt: "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will." Diese Ausgabe umfaßt die beiden ersten Bände der Kulturphilosophie: "Verfall und Wiederaufbau der Kultur" sowie "Kultur und Ethik". Ein neues Nachwort von Claus Günzler erläutert die Entstehung des Werks und seinen Zusammenhang mit dem inzwischen aus dem Nachlaß publizierten dritten Band.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Albert Schweitzer

KULTURPHILOSOPHIE

Band I: Verfall und Wiederaufbau der KulturBand II: Kultur und Ethik

Mit einem Nachwort von Claus Günzler

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 

 

Zum Buch

Mit dieser Ausgabe wird Albert Schweitzers Hauptwerk in neuer Ausstattung und mit dem ursprünglichen Titel wieder zugänglich. Schweitzer hat hier erstmals die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben entfaltet und auf die berühmte, bis heute aktuelle Formel zugespitzt: «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.» Diese Ausgabe umfaßt die beiden ersten Bände der Kulturphilosophie: «Verfall und Wiederaufbau der Kultur» sowie «Kultur und Ethik». Ein neues Nachwort von Claus Günzler erläutert die Entstehung des Werks und seinen Zusammenhang mit dem inzwischen aus dem Nachlaß publizierten dritten Band.

Über den Autor

Albert Schweitzer, 1875–1965, ist als Theologe, Philosoph, Musikwissenschaftler und Tropenarzt weltweit bekannt. Viele seiner bei C.H.Beck erschienenen autobiographischen und ethischen Schriften sind zu Bestsellern geworden, etwa «Aus meiner Kindheit und Jugendzeit» (163. Tsd.) und «Zwischen Wasser und Urwald» (225. Tsd.).

Über den Herausgeber

Claus Günzler, geb. 1937, ist Professor em. für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und war bis 2006 Vorsitzender der Stiftung Deutsches Albert Schweitzer-Zentrum in Frankfurt am Main. Er ist Mitherausgeber von Albert Schweitzers Werken aus dem Nachlaß. Bei C.H.Beck erschien von ihm «Albert Schweitzer. Einführung in sein Denken» (1996).

Inhalt

BAND I: VERFALL UND WIEDERAUFBAU DER KULTUR

Vorbemerkung

I. Die Schuld der Philosophie an dem Niedergang der Kultur

Der Zusammenbruch der die Kulturideale begründenden Weltanschauung

Das Unelementare des modernen Philosophierens

II. Kulturhemmende Umstände in unserem wirtschaftlichen und geistigen Leben

Das Überbeschäftigtsein und die Ungesammeltheit des modernen Menschen

Die Unvollständigkeit und Humanitätslosigkeit des modernen Menschen

Die geistige und ethische Unselbständigkeit des modernen Menschen

III. Der ethische Grundcharakter der Kultur

Begriff der Kultur

Die Entstehung der nichtethischen Auffassung der Kultur

Unser Wirklichkeitssinn

Unser geschichtlicher Sinn

Der Nationalismus als Ergebnis unseres Wirklichkeitssinns und unseres geschichtlichen Sinns

Kultur und nationale Kultur

Unser falsches Vertrauen auf die Tatsachen und die Organisationen

Der wahre Wirklichkeitssinn

IV. Der Weg zur Regeneration der Kultur

Von der Unkultur zur Kultur

Das Kraftloswerden von Kulturidealen. Das Auf und Nieder in der Geschichte der Kultur

Reform der Institutionen und Reform der Gesinnungen

Die Schwierigkeiten der Kulturerneuerung

V. Kultur und Weltanschauung

Erneuerung der Weltanschauung und Regeneration der Kultur

Denkende Weltanschauung. Rationalismus und Mystik

Die optimistisch-ethische Weltanschauung als Kulturweltanschauung

Die Erneuerung unserer Gedanken durch das Denken über den Sinn des Lebens

BAND II: KULTUR UND ETHIK

Vorrede

I. Die Krise der Kultur und ihre geistige Ursache

Das Materielle und das Geistige der Kultur

Kultur und Weltanschauung

II. Das Problem der optimistischen Weltanschauung

Abendländische und indische Auffassung der Kultur

Der Kampf um die optimistische Weltanschauung

Optimismus und Pessimismus

Optimismus, Pessimismus und Ethik

III. Das ethische Problem

Die Schwierigkeiten der ethischen Erkenntnis

Die Bedeutung des Denkens über Ethik

Das Suchen nach dem Grundprinzip des Sittlichen

Religiöse und philosophische Ethik

IV. Religiöse und philosophische Weltanschauung

Die Weltanschauung der Weltreligionen

Die Weltanschauung der Weltreligionen und die des abendländischen Denkens

V. Ethik und Kultur in der griechisch-römischen Philosophie

Die Anfänge. Sokrates

Epikureismus und Stoizismus. Resignationsethik

Platos abstraktes Grundprinzip des Sittlichen. Weltverneinungsethik

Aristoteles. Tugendlehre statt Ethik

Das Ideal des Kulturstaates bei Plato und Aristoteles

Seneca, Epiktet, Marc Aurel

Ethische Aussprüche Senecas, Epiktets und Marc Aurels

Die optimistisch-ethische Weltanschauung des Spätstoizismus

VI. Optimistische Weltanschauung und Ethik in der Renaissance und der Nachrenaissance

Fortschrittsglaube und Ethik

Christliches und Stoisches in der neuzeitlichen Ethik

VII. Begründung der Ethik im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert

Hartley, Holbach. Hingabe als aufgeklärter Egoismus

Hobbes, Locke, Helvetius, Bentham

Altruismus als natürliche Anlage. Hume, Smith

Die eng lische Ethik der Selbstvervollkommnung

Shaftesbury. Optimistisch-ethische Naturphilosophie

VIII. Grundlegung der Kultur im Zeitalter des Rationalismus

Mentalität und Leistungen des ethischen Fortschrittsglaubens

Hemmungen der Reformbewegung. Die Französische Revolution

Das Wankendwerden der rationalistischen Weltanschauung

IX. Die optimistisch-ethische Weltanschauung bei Kant

Vertiefte, aber inhaltlose Ethik

Versuch einer ethischen Weltanschauung

X. Naturphilosophie und Weltanschauung bei Spinoza und Leibniz

Spinoza. Versuch einer optimistisch-ethischen Naturphilosophie

Leibniz. Optimistisch-ethische Weltanschauung neben Naturphilosophie

XI. J. G. Fichtes optimistisch-ethische Weltanschauung

Spekulative Philosophie und Gnostizismus

Fichtes spekulative Begründung der Ethik und des Optimismus

Die Undurchführbarkeit der Fichteschen Tätigkeitsmystik

XII. Schiller. Goethe. Schleiermacher

Schillers ethische und Goethes naturphilosophische Weltanschauung

Schleiermachers Versuch ethischer Naturphilosophie

XIII. Hegels überethische optimistische Weltanschauung

Die Ethik in Hegels Natur- und Geschichtsphilosophie

Hegels überethische Weltanschauung. Sein Fortschrittsglaube

XIV. Der spätere Utilitarismus. Biologische und sozialwissenschaftliche Ethik

Beneke. Feuerbach. Laas. Comte. Stuart Mill

Darwin und Spencer

Die Schwächen des biologischen und sozialwissenschaftlichen Utilitarismus

Sozialwissenschaftliche Ethik und Sozialismus. Mechanistischer Fortschrittsglaube

XV. Schopenhauer und Nietzsche

Schopenhauer. Ethik der Welt- und Lebensverneinung

Absorbierung der Ethik durch die Welt- und Lebensverneinung

Nietzsches Kritik der geltenden Ethik

Nietzsches Ethik der höheren Lebensbejahung

XVI. Der Ausgang des abendländischen Ringens um Weltanschauung

Akademische Ethiker. Sidgwick, Stephen, Alexander, Wundt, Paulsen, Höffding

Selbstvervollkommnungsethik. Kant-Epigonen. Cohen, Herrmann

Selbstvervollkommnungsethik. Martineau, Green, Bradley, Laurie, Seth, Royce

Naturphilosophie und Ethik. Fouillée, Guyau, Lange, Stern

Naturphilosophie und Ethik bei Eduard von Hartmann

Naturphilosophie und Ethik bei Bergson, Chamberlain, Keyserling, Haeckel

Die Agonie der optimistisch-ethischen Weltanschauung

XVII. Der neue Weg

Die Undurchführbarkeit der optimistisch-ethischen Weltanschauung

Die Unabhängigkeit der Lebensanschauung von der Weltanschauung

XVIII. Die Begründung des Optimismus aus dem Willen zum Leben

Das pessimistische Ergebnis des Erkennens

Die Welt- und Lebensbejahung des Willens zum Leben

XIX. Das Problem der Ethik auf Grund der Geschichte der Ethik

Ethik der Hingebung oder Ethik der Selbstvervollkommnung?

Ethik und Erkenntnistheorie. Ethik und Naturgeschehen. Das Enthusiastische der Ethik

Ethik der ethischen Persönlichkeit und Ethik der Gesellschaft

Das Problem der vollständigen Ethik

XX. Ethik der Hingebung und Ethik der Selbstvervollkommnung

Die Erweiterung der Hingebungsethik ins Kosmische

Ethik der Selbstvervollkommnung und Mystik

Abstrakte Mystik und Mystik der Wirklichkeit. Überethische und ethische Mystik

XXI. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben

Das Grundprinzip des Sittlichen

Resignationsethik. Ethik der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst und tätige Ethik

Ethik und Gedankenlosigkeit. Ethik und Selbstbehauptung

Mensch und Kreatur

Die Ethik des Verhaltens von Mensch zu Mensch

Persönliche und überpersönliche Verantwortung. Ethik und Humanität

XXII. Die Kulturenergien der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben

Die Kultur als Leistung der Ehrfurcht vor dem Leben

Die vier Ideale der Kultur. Der Kampf um den Kulturmenschen im Maschinenzeitalter

Kirche und Staat als historische Größen und als Kulturideale

Die Versittlichung der religiösen und politischen Gemeinschaft

Nachwort. Von Claus Günzler

Register

BAND I:VERFALL UND WIEDERAUFBAU DER KULTUR

Frau Annie Fischerin tiefer Dankbarkeit

 

 

Die ersten Entwürfe dieser Kulturphilosophie, deren zwei erste Teile jetzt veröffentlicht werden, gehen auf das Jahr 1900 zurück. Ausgearbeitet wurde sie in den Jahren 1914 bis 1917 im Urwald Afrikas.

Für die Besorgung der Druckkorrektur habe ich meiner Frau und meinem Freunde Karl Leyrer zu danken.

Februar 1923

ALBERT SCHWEITZER

I.       DIE SCHULD DER PHILOSOPHIE AN DEM NIEDERGANG DER KULTUR

Wir stehen im Zeichen des Niedergangs der Kultur. Der Krieg hat diese Situation nicht geschaffen. Er selber ist nur eine Erscheinung davon. Was geistig gegeben war, hat sich in Tatsachen umgesetzt, die nun ihrerseits wieder in jeder Hinsicht verschlechternd auf das Geistige zurückwirken. Die Wechselwirkung zwischen dem Materiellen und dem Geistigen hat einen unheilvollen Charakter angenommen. Unterhalb gewaltiger Katarakte treiben wir in einer Strömung mit unheimlichen Strudeln dahin. Nur mit der ungeheuersten Anstrengung werden wir, wenn überhaupt noch Hoffnung vorhanden ist, das Fahrzeug unseres Geschickes aus dem gefährlichen Nebenarm, in den wir es abtreiben ließen, in den Hauptstrom zurückbringen.

Wir kamen von der Kultur ab, weil kein Nachdenken über Kultur unter uns vorhanden war. An der Jahrhundertwende erschienen, unter den mannigfachsten Titeln, eine Reihe von Werken über unsere Kultur. Als gehorchten sie einer geheimen Parole, gingen sie nicht darauf ein, den Stand unseres Geisteslebens festzustellen, sondern interessierten sich ausschließlich dafür, wie es geschichtlich geworden sei. Auf einer Reliefkarte der Kultur zeichnete man uns beobachtete und erfundene Wege ein, die in Berg und Tal des geschichtlichen Geländes aus der Renaissance zum zwanzigsten Jahrhundert führten. Der historische Sinn der Verfasser feierte Triumphe. Die von ihnen belehrte Menge empfand Befriedigung, ihre Kultur als das organische Produkt so vieler, durch Jahrhunderte hindurch wirkender geistiger und sozialer Kräfte begriffen zu haben. Niemand aber nahm das Inventar unseres Geisteslebens auf. Niemand prüfte es auf Adel der Gesinnung und auf Energie zum wahren Fortschritt.

So überschritten wir die Schwelle des Jahrhunderts mit unerschütterten Einbildungen über uns selbst. Was in jener Zeit über unsere Kultur geschrieben wurde, bestärkte uns in dem unbefangenen Glauben an ihren Wert. Wer Bedenken äußerte, wurde erstaunt angesehen. Manche, die auf dem Wege zum Irrewerden waren, hielten inne und lenkten wieder auf die große Straße zurück, weil sie vor dem abseits führenden Pfade Angst hatten. Andere wandelten ihn, aber schweigend. Die Einsicht, die an ihnen arbeitete, weihte sie der Vereinsamung.

Nun ist für alle offenbar, daß die Selbstvernichtung der Kultur im Gange ist. Auch was von ihr noch steht, ist nicht mehr sicher. Es hält noch aufrecht, weil es nicht dem zerstörenden Drucke ausgesetzt war, dem das andere zum Opfer fiel. Aber es ist ebenfalls auf Geröll gebaut. Der nächste Bergrutsch kann es mitnehmen.

Welches aber war der Vorgang bei dem Kraftloswerden der Kulturenergien?

Die Aufklärungszeit und der Rationalismus hatten ethische Vernunftideale über die Entwicklung des Einzelnen zum wahren Menschentum, über seine Stellung in der Gesellschaft, über deren materielle und geistige Aufgaben, über das Verhalten der Völker zueinander und ihr Aufgehen in einer durch die höchsten, geistigen Ziele geeinten Menschheit aufgestellt. Diese ethischen Vernunftideale hatten angefangen, sich in der Philosophie und in der öffentlichen Meinung mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen und die Verhältnisse umzugestalten. Im Laufe von drei oder vier Generationen waren Fortschritte sowohl an Kulturgesinnung wie an Kulturzuständen in einem Maße verwirklicht worden, daß die Zeit der Kultur definitiv angebrochen und in unaufhaltbarem Weitergehen begriffen schien.

Aber um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts fing diese Auseinandersetzung ethischer Vernunftideale mit der Wirklichkeit an abzunehmen. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte kam sie mehr und mehr zum Stillstand. Kampflos und lautlos vollzog sich die Abdankung der Kultur. Ihre Gedanken blieben hinter der Zeit zurück, als wären sie zu erschöpft, mit ihr Schritt zu halten. Wie ging dies zu?

Das Entscheidende war das Versagen der Philosophie.

Im achtzehnten und im beginnenden neunzehnten Jahrhundert war die Philosophie die Anführerin der öffentlichen Meinung gewesen. Sie hatte sich mit den Fragen, die sich den Menschen und der Zeit stellten, beschäftigt und ein Nachdenken darüber im Sinne der Kultur lebendig erhalten. In der Philosophie gab es damals ein elementares Philosophieren über Mensch, Gesellschaft, Volk, Menschheit und Kultur, das in natürlicher Weise eine lebendige, die öffentliche Meinung beherrschende und Kulturenthusiasmus unterhaltende Popularphilosophie hervorbrachte.

Aber die optimistisch-ethische Totalweltanschauung, in der die Aufklärung und der Rationalismus diese starke Popularphilosophie begründeten, konnte auf die Dauer der Kritik des konsequenten Denkens nicht genügen. Ihr naiver Dogmatismus erregte mehr und mehr Anstoß.

Unter den wankenden Bau versuchte Kant ein neues Fundament zu legen, indem er es unternahm, die Weltanschauung des Rationalismus, ohne an ihrem geistigen Wesen etwas zu ändern, den Anforderungen einer tieferen Theorie des Erkennens gemäß umzugestalten. Schiller, Goethe und andere Geistesheroen der Zeit zeigten in guter und böser Kritik, daß der Rationalismus mehr Popularphilosophie als Philosophie sei. Aber sie waren nicht in der Lage, an Stelle dessen, was sie zerstörten, etwas Neues aufzurichten, das mit gleicher Kraft Kulturideen in der öffentlichen Meinung unterhielte.

Fichte, Hegel und andere Philosophen, die sich, wie Kant, bei aller Kritik des Rationalismus zu seinen ethischen Vernunftidealen bekannten, versuchten eine entsprechende optimistisch-ethische Totalweltanschauung auf spekulativem Wege, d.h. durch logische und erkenntnistheoretische Erwägungen über das Sein und seine Entfaltung zur Welt zu begründen. Drei oder vier Jahrzehnte lang gelang es ihnen, für sich und die anderen die kraftspendende Illusion aufrechtzuerhalten und die Wirklichkeit im Sinne ihrer Weltanschauung zu vergewaltigen. Zuletzt aber empörten sich die unterdes erstarkten Naturwissenschaften und schlugen mit plebejischer Begeisterung für die Wahrheit der Wirklichkeit die von der Phantasie geschaffenen Prachtbauten in Trümmer.

Obdachlos und arm irren seither die ethischen Vernunftideen, auf denen die Kultur beruht, in der Welt umher. Eine sie begründende Totalweltanschauung ist nicht mehr aufgestellt worden. Überhaupt entstand keine Totalweltanschauung mehr, die innere Geschlossenheit und Festigkeit aufwies. Das Zeitalter des philosophischen Dogmatismus war vorüber. Als Wahrheit galt nur die die Wirklichkeit beschreibende Wissenschaft. Totalweltanschauungen traten nicht mehr als feste Sonnen, sondern nur noch als Kometennebel von Hypothesen auf.

Mit dem Dogmatismus des Wissens über die Welt war zugleich der Dogmatismus der geistigen Ideen getroffen. Der unbefangene Rationalismus, der kritische Rationalismus Kants und der spekulative Rationalismus der großen Philosophen des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts hatten die Wirklichkeit in doppeltem Sinne vergewaltigt. Sie hatten im Denken gewonnene Anschauungen höher als die Tatsachen der Naturwissenschaft gestellt und zugleich ethische Vernunftideale proklamiert, die die tatsächlichen Verhältnisse in den Gesinnungen und Zuständen der Menschheit durch andere ersetzen wollten. Als die erste Vergewaltigung sich als sinnlos erwies, wurde auch fraglich, ob der andern die bisher zugestandene Berechtigung zukäme. An Stelle des ethischen Doktrinarismus, für den die Gegenwart nur Material zur Gestaltung einer theoretisch entworfenen besseren Zukunft war, trat das liebevolle geschichtliche Verständnis der gegebenen Zustände, dem schon Hegels Philosophie vorgearbeitet hatte.

Bei dieser Mentalität war eine elementare Auseinandersetzung der ethischen Vernunftideale mit der Wirklichkeit wie vordem nicht mehr möglich. Es fehlte die dazu nötige Unbefangenheit. Dementsprechend ging die Energie der Kulturgesinnung zurück. So kam die berechtigte Vergewaltigung der menschlichen Gesinnungen und Zustände, ohne welche das Reformwerk der Kultur nicht vor sich gehen kann, zu Fall, weil sie mit der unberechtigten Vergewaltigung der Weltwirklichkeit verbunden war. Dies ist das Tragische des psychologischen Vorgangs, der sich von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an in unserm geistigen Leben abspielte.

Der Rationalismus war abgetan … mit ihm aber auch die von ihm hervorgebrachte optimistische und ethische Grundüberzeugung von der Bestimmung der Welt, der Menschheit, der Gesellschaft und des Menschen. Weil diese aber noch nachwirkte, gab man sich keine Rechenschaft von der Katastrophe, die eingeleitet war.

Der Philosophie ward nicht klar, daß die Energie der ihr anvertrauten Kulturideen anfing fraglich zu werden. Am Schlusse eines der hervorragendsten, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts erschienenen Werkes über Geschichte der Philosophie wird diese als der Prozeß definiert, in dem sich «Schritt für Schritt, mit immer klarerem und sichererem Bewußtsein, die Besinnung auf die Kulturwerte vollzogen hat, deren Allgemeingültigkeit der Gegenstand der Philosophie selbst ist». Dabei vergaß der Verfasser das Wesentliche: daß nämlich früher die Philosophie sich nicht nur auf die Kulturwerte besann, sondern sie auch als wirkende Ideen in die öffentliche Meinung ausgehen ließ, während sie ihr von der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts an immer mehr zu einem gehüteten, unproduktiven Kapital wurden.

Aus einem Arbeiter am Werden einer allgemeinen Kulturgesinnung war die Philosophie nach dem Zusammenbruch in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein Rentner geworden, der sich fern von der Welt mit dem, was er sich gerettet hatte, beschäftigte. Sie wurde zur Wissenschaft, die die Ergebnisse der Naturwissenschaften und der historischen Wissenschaften sichtete und das Material zu einer zukünftigen Weltanschauung zusammentrug und dementsprechend einen gelehrten Betrieb auf allen Gebieten unterhielt. Zugleich wurde sie immer von der Beschäftigung mit ihrer eigenen Vergangenheit absorbiert. Fast wurde die Philosophie zur Geschichte der Philosophie. Der schöpferische Geist hatte sie verlassen. Mehr und mehr wurde sie eine Philosophie ohne Denken. Wohl dachte sie über die Resultate der Einzelwissenschaften nach, aber das elementare Denken kam ihr abhanden.

Mitleidig blickte sie auf den überholten Rationalismus zurück. Stolz rühmte sie sich, «durch Kant hindurchgegangen zu sein», von Hegel «geschichtliches Verständnis empfangen zu haben» und «in enger Fühlung mit den Naturwissenschaften zu arbeiten». Dabei war sie aber ärmer als der ärmste Rationalismus, weil sie den öffentlichen Beruf der Philosophie, den jener so ausgiebig geübt hatte, nur noch in der Einbildung, aber nicht mehr in der Wirklichkeit erfüllte. Jener war bei aller Naivität wahre, wirkende Philosophie, sie aber bei aller Einsicht nur gelehrte Epigonenphilosophie. Auf Schulen und Hochschulen spielte sie noch eine Rolle; aber der Welt hatte sie nichts mehr zu sagen.

Weltfremd war sie geworden, bei allem Wissen. Die Lebensprobleme, die die Menschen und die Zeit beschäftigten, spielten in ihrem Betriebe keine Rolle. Ihr Weg lief abseits von dem des allgemeinen geistigen Lebens. Wie sie von diesem keine Anregungen empfing, so gab sie ihm auch keine. Weil sie sich mit den elementaren Problemen nicht beschäftigte, unterhielt sie keine Elementarphilosophie, die zur Popularphilosophie werden konnte.

Aus ihrem Unvermögen entsprang ihre Abneigung gegen jedes allgemeinverständliche Philosophieren, die für ihr Wesen so charakteristisch ist. Popularphilosophie war für sie nur eine für den Gebrauch der Menge hergestellte, vereinfachte und dementsprechend verschlechterte Übersicht über die von ihr gesichteten und auf eine kommende Weltanschauung zugeschnittenen Ergebnisse der Einzelwissenschaften. Daß es eine Popularphilosophie gibt, die daraus entsteht, daß die Philosophie auf die elementaren, innerlichen Fragen, die die Einzelnen und die Menge denken oder denken sollen, eingeht, sie in umfassenderem und vollendeterem Denken vertieft und sie so der Allgemeinheit zurückgibt, und daß der Wert jeder Philosophie zuletzt danach zu bemessen ist, ob sie sich in eine lebendige Popularphilosophie umzusetzen vermag oder nicht, kam ihr nicht zum Bewußtsein.

Alles Tiefe ist zugleich ein Einfaches und läßt sich als solches wiedergeben, wenn nur die Beziehung auf die ganze Wirklichkeit gewahrt ist. Es ist dann ein Abstraktes, das von selbst vielgestaltiges Leben gewinnt, sobald es mit den Tatsachen in Berührung kommt.

Was an suchendem Denken in der Menge vorhanden war, mußte also verkümmern, weil es bei unserer Philosophie keine Aufnahme und keine Förderung fand. Eine Leere tat sich vor ihm auf, über die es nicht hinauskam.

Gold, in der Vergangenheit gemünzt, hatte die Philosophie in Haufen liegen. Hypothesen einer zukünftigen theoretischen Weltanschauung füllten als ungemünzte Barren ihre Gewölbe. Aber Speise, um den geistigen Hunger der Gegenwart zu stillen, besaß sie nicht. Von ihrem Reichtum betört, hatte sie versäumt, Boden mit nährender Frucht anzupflanzen. Darum ignorierte sie den Hunger, der in der Zeit war, und überließ sie ihrem Schicksal.

Daß das Denken es nicht fertigbrachte, eine Weltanschauung von optimistisch-ethischem Charakter aufzustellen und die Ideale, die die Kultur ausmachen, in einer solchen zu begründen, war nicht Schuld der Philosophie, sondern eine Tatsache, die sich in der Entwicklung des Denkens einstellte. Aber schuldig an unserer Welt wurde die Philosophie dadurch, daß sie sich die Tatsache nicht eingestand und in der Illusion verblieb, als ob sie wirklich einen Fortschritt der Kultur unterhielte.

Ihrer letzten Bestimmung nach ist die Philosophie Anführerin und Wächterin der allgemeinen Vernunft. Ihre Pflicht wäre es gewesen, unserer Welt einzugestehen, daß die ethischen Vernunftideale nicht mehr wie früher in einer Totalweltanschauung Halt fanden, sondern bis auf weiteres auf sich selbst gestellt seien und sich allein durch ihre innere Kraft in der Welt behaupten müßten. Sie hätten uns zeigen müssen, daß wir um die Ideale, auf denen unsere Kultur beruht, zu kämpfen haben. Sie hätte versuchen müssen, diese Ideale an sich, in ihrem inneren Werte und in ihrer inneren Wahrheit, zu begründen und sie so, auch ohne den Zustrom aus einer entsprechenden Totalweltanschauung, lebensfähig zu erhalten. Mit aller Energie hätte die Aufmerksamkeit der Gebildeten und der Ungebildeten auf das Problem der Kulturideale gelenkt werden müssen.

Aber die Philosophie philosophierte über alles, nur nicht über Kultur. Sie arbeitete unentwegt an der Aufstellung einer theoretischen Totalweltanschauung weiter, als ob sie damit alles wiederherstellen könnte, und überlegte nicht, daß diese Weltanschauung, selbst wenn sie fertig würde, weil nur aus Geschichte und Naturwissenschaft erbaut und dementsprechend unoptimistisch und unethisch, immer «kraftlose Weltanschauung» bleiben würde und nie die zur Begründung und Aufrechterhaltung von Kulturidealen notwendigen Energien hervorbringen könnte.

So wenig philosophierte die Philosophie über Kultur, daß sie nicht einmal merkte, wie sie selber, und die Zeit mit ihr, immer mehr kulturlos wurde. In der Stunde der Gefahr schlief der Wächter, der uns wach erhalten sollte. So kam es, daß wir nicht um unsere Kultur rangen.

II.      KULTURHEMMENDE UMSTÄNDE IN UNSEREM WIRTSCHAFTLICHEN UND GEISTIGEN LEBEN

Ist das Versagen des Denkens der entscheidende Umstand bei dem Kulturniedergang, so wirken daneben noch eine Reihe von Umständen mit, die unserer Zeit die Kultur erschweren. Sie liegen sowohl auf dem geistigen wie auf dem wirtschaftlichen Gebiete und beruhen vornehmlich auf der sich immer ungünstiger herausbildenden Wechselwirkung zwischen dem Wirtschaftlichen und dem Geistigen.

Die Kulturfähigkeit des modernen Menschen ist herabgesetzt, weil die Verhältnisse, in die er hineingestellt ist, ihn verkleinern und psychisch schädigen.

Ganz allgemein gesagt besteht die Entwicklung der Kultur darin, daß Vernunftideale, die auf den Fortschritt des Ganzen gehen, von den Einzelnen gedacht werden und sich in ihnen so mit der Wirklichkeit auseinandersetzen, daß sie dabei die Form annehmen, in der sie die Verhältnisse in der zweckmäßigsten Weise zu beeinflussen vermögen. Die Fähigkeit eines Menschen, Kulturträger zu sein, d.h. Kultur zu begreifen und für die Kultur zu wirken, hängt also davon ab, daß er zugleich ein Denkender und ein Freier ist. Ein Denkender muß er sein, um überhaupt imstande zu sein, Vernunftideale zu erfassen und zu gestalten. Ein Freier muß er sein, um fähig zu sein, seine Vernunftideale auf das Allgemeine gehen zu lassen. Je mehr er selber in irgendeiner Weise von dem Kampf ums Dasein in Anspruch genommen ist, desto ausschließlicher kommen in seinen Vernunftidealen Tendenzen auf eine Verbesserung seiner eigenen Daseinsbedingungen zu Worte. Interessenideale durchsetzen dann die Kulturideale und trüben sie.

Materielle und geistige Freiheit gehören innerlich zusammen.

Die Kultur setzt Freie voraus. Nur von diesen kann sie gedacht und verwirklicht werden.

Bei dem modernen Menschen aber ist sowohl die Freiheit als auch die Denkfähigkeit herabgesetzt.

Hätten die Verhältnisse sich so entwickelt, daß ein bescheidener und bleibender Wohlstand immer weiteren Kreisen zuteil geworden wäre, so hätte die Kultur davon viel größere Vorteile gehabt als von allen materiellen Errungenschaften, die in ihrem Namen gepriesen werden. Diese machen zwar die Menschheit als solche freier von der Natur, als sie früher gewesen war. Zugleich aber vermindern sie die Zahl der unabhängigen Existenzen. Aus dem Handwerkermeister wird durch die Einwirkung der Maschine der Fabrikarbeiter. An Stelle des selbständigen Kaufmanns tritt, weil in dem komplizierten modernen Betriebe sich nur kapitalstarke Unternehmungen behaupten können, mehr und mehr der Angestellte. Auch die Kreise, denen ein größerer oder geringerer Besitz oder eine mehr oder weniger selbständige Tätigkeit erhalten geblieben ist, werden durch die in dem modernen Wirtschaftssystem gegebene Unsicherheit des Bestehenden immer stärker in den Kampf ums Dasein hineingezogen.

Die sich herausbildende Unfreiheit wird noch dadurch gesteigert, daß das Erwerbsleben immer mehr Menschen in großen Agglomerationen vereinigt und sie dadurch von dem nährenden Boden, von dem eigenen Hause und von der Natur losreißt. Damit ist eine schwere psychische Schädigung gesetzt. Das paradoxe Wort, daß mit dem Verlust des eigenen Ackers und der eigenen Wohnstätte das abnorme Leben beginnt, enthält nur zu viel Wahrheit.

Gewiß sind in den Interessenidealen der Vielen, die sich zur Verteidigung ihrer in gleicher Weise gefährdeten Existenzbedingungen zusammentun, Kulturforderungen enthalten, insoweit als sie eine Besserung ihrer materiellen und damit auch ihrer geistigen Zustände erstreben. Aber sie werden der Vorstellung der Kultur als solcher gefährlich, weil für die Fassung, in der sie auftreten, das allgemeinste Allgemeininteresse nicht oder nur unvollkommen mitbestimmend war. Durch die sich widersprechenden Interessenideale, die im Namen der Kultur gegeneinander ankämpfen, wird die Überlegung über Kultur als solche hintangehalten.

Zu der Unfreiheit kommt die Überanstrengung. Seit zwei oder drei Generationen leben so und so viele Individuen nur noch als Arbeitende und nicht mehr als Menschen. Was im allgemeinen über die geistige und sittliche Bedeutung der Arbeit gesagt werden kann, trifft für sie nicht mehr zu. Die gewöhnliche Überbeschäftigung des modernen Menschen in allen Gesellschaftskreisen hat zur Folge, daß das Geistige in ihm verkümmert. Indirekt wird er schon in seiner Kindheit davon betroffen. Seine Eltern, in dem unerbittlichen Arbeitsdasein gefangen, können sich ihm nicht in normaler Weise widmen. Damit kommt etwas für seine Entwicklung Unersetzliches in Wegfall. Später, selber der Überbeschäftigung unterworfen, verfällt er mehr und mehr dem Bedürfnis nach äußerlicher Zerstreuung. Die ihm bleibende Muße in der Beschäftigung mit sich selbst oder in ernster Unterhaltung mit Menschen oder Büchern zu verbringen, erfordert eine Sammlung, die ihm schwer fällt. Absolute Untätigkeit, Ablenkung von sich selbst und Vergessen sind ein physisches Bedürfnis für ihn. Als ein Nichtdenkender will er sich verhalten. Nicht Bildung sucht er, sondern Unterhaltung, und zwar solche, die die geringsten geistigen Anforderungen stellt.

Die Mentalität dieser vielen Ungesammelten und Sammlungsfähigen wirkt auf alle Organe zurück, die der Bildung und damit der Kultur dienen sollten. Das Theater tritt hinter dem Vergnügungs- oder Schaulokale zurück und das gediegene Buch hinter dem zerstreuenden. Zeitschriften und Zeitungen haben sich in steigendem Maße in die Tatsache zu finden, daß sie alles nur in der leichtestfaßlichen Form an den Leser heranbringen dürfen. Der Vergleich des Durchschnitts der jetzigen Tagespresse mit der vor fünfzig oder sechzig Jahren läßt erkennen, wie weit sie sich in diesem Sinne umwandeln mußte.

Einmal mit dem Geiste der Oberflächlichkeit erfüllt, üben die Organe, die das geistige Leben unterhalten sollten, ihrerseits eine Rückwirkung auf die Gesellschaft aus, die sie in diesen Zustand brachte, und drängen ihr die Geistlosigkeit auf.

Wie sehr die Gedankenlosigkeit dem modernen Menschen zur zweiten Natur geworden ist, zeigt sich in der Geselligkeit, die er pflegt. Wo er mit seinesgleichen ein Gespräch führt, wacht er darüber, daß es sich in allgemeinen Bemerkungen halte und sich nicht zu einem wirklichen Austausch von Gedanken entwickele. Er hat nichts Eigenes mehr und wird von einer Art Angst beherrscht, daß Eigenes von ihm verlangt werden könnte.

Der Geist, den die Gesellschaft der Ungesammelten hervorgebracht hat, tritt als eine stetig wachsende Macht unter uns auf. Eine herabgesetzte Vorstellung vom Menschen bildet sich unter uns aus. An den andren und an uns suchen wir nur noch Tüchtigkeit des Arbeitenden und finden uns darein, darüber hinaus fast nichts mehr zu sein.

In bezug auf Unfreiheit und Ungesammeltheit haben sich die Lebensbedingungen für die Menschen der Großstädte am ungünstigsten gestaltet. Dementsprechend sind sie geistig am meisten gefährdet. Waren Großstädte jemals Kulturzentren in dem Sinne, daß in ihnen das Ideal eines als geistige Persönlichkeit gediegenen Menschen entstand? Heute jedenfalls liegen die Dinge so, daß die wirkliche Kultur vor dem Geiste, der von den Großstädten und Großstadtmenschen ausgeht, gerettet werden muß.

Zu der Unfreiheit und der Ungesammeltheit des modernen Menschen kommt als weitere psychische Hemmung der Kultur seine Unvollständigkeit hinzu. Die ungeheure Ausdehnung und Steigerung des Wissens und Könnens führt mit Notwendigkeit dazu, daß die Betätigung des Einzelnen immer mehr auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt wird. Es findet ein Organisieren der Arbeit statt, bei dem die durch Spezialisierung ermöglichten Höchstleistungen der Einzelnen zusammenwirken. Die erzielten Resultate sind großartig. Aber die geistige Bedeutung der Arbeit für den Arbeitenden leidet. Nur ein Teil seiner Fähigkeiten, nicht der ganze Mensch, wird in Anspruch genommen. Dies übt eine Rückwirkung auf sein Wesen aus. Persönlichkeitbildende Kräfte, die in den umfassenden Arbeitsaufgaben liegen, kommen bei den weniger umfassenden, die dementsprechend im allgemeinen Sinne des Wortes geistloser sind, in Wegfall. Der Handwerker von heute versteht seinen Beruf nicht mehr so von Grund auf, wie sein Vorgänger. Er beherrscht die Verarbeitung des Holzes, des Metalles nicht mehr durch alle Phasen hindurch wie jener, weil ihm durch Menschen und Maschinen so und so viel vorgearbeitet wird. Sein überlegen, Vorstellen und Können wird nicht nach immer neuen Seiten in Anspruch genommen. Das Schöpferische und Künstlerische in ihm verkümmert. An Stelle des normalen Selbstbewußtseins, das aus der Arbeit erwächst, in der er stets aufs neue sein ganzes überlegen und seine ganze Persönlichkeit einsetzen muß, tritt die an einem vollendet ausgebildeten Teilkönnen sich Genüge tuende Selbstbefriedigung, die über der Einzelfertigkeit die allgemeine Unfertigkeit übersieht.

In allen Berufen, am meisten vielleicht in der Wissenschaft, tritt die geistige Gefahr des Spezialistentums für den Einzelnen wie für das allgemeine Geistesleben immer deutlicher hervor. Schon macht sich auch bemerkbar, daß die Jugend von solchen unterrichtet wird, die nicht mehr universell genug sind, um ihr die Zusammenhänge der Einzelwissenschaften zum Bewußtsein zu bringen und ihr die Horizonte in ihrer natürlichen Weite aufzubauen.

Und als ob das Spezialisieren und Organisieren der Arbeit, wo es unvermeidlich ist, für die Psyche des modernen Menschen nicht schon nachteilig genug wäre, wird es auch da noch erstrebt und ausgebildet, wo es entbehrlich sein würde. In der Verwaltung, im Unterrichtswesen und in jeder Art von Betrieb wird der natürliche Spielraum der Betätigung durch Beaufsichtigung und Verordnungen so weit als möglich eingeengt. Wie unfrei ist in manchen Ländern der Volksschullehrer von heute, verglichen mit dem von früher! Wie unlebendig und unpersönlich ist sein Unterricht durch diese Beschränkung geworden!

So haben wir durch die Art unseres Arbeitens geistig und als Einzelne in dem Maße verloren, als die materiellen Leistungen der Kollektivität in die Höhe gingen. Auch hier erfüllt sich das tragische Gesetz, daß jedem Gewinn irgendwo ein Verlust entspricht.

Der Unfreie, Ungesammelte und Unvollständige ist aber zugleich noch in Gefahr, der Humanitätslosigkeit zu verfallen.

Das normale Verhalten von Mensch zu Mensch ist uns erschwert. Durch die Hast unserer Lebensweise, durch den gesteigerten Verkehr und durch das Zusammenarbeiten und Zusammenwohnen mit vielen auf engem Raum kommen wir fortwährend und in mannigfachster Weise als Fremde mit Fremden zusammen. Die Verhältnisse lassen es nicht zu, daß wir uns untereinander als Mensch zu Mensch verhalten. Die uns auferlegte Beschränkung in der Betätigung des natürlichen Menschentums ist so allgemein und so alltäglich, daß wir uns an sie gewöhnen und unser unpersönliches Verhalten nicht mehr als etwas Unnatürliches empfinden. Wir leiden nicht mehr darunter, in so und so viel Situationen nicht mehr Mensch für Menschen sein zu dürfen, und kommen zuletzt dazu, es uns da zu versagen, wo es möglich und angebracht wäre.

Naturgemäß wird die Psyche des Großstädters durch die Verhältnisse auch hierin am ungünstigsten beeinflußt und wirkt dann ihrerseits wieder im ungünstigen Sinne auf die seelische Verfassung der Gesellschaft ein.

Die Affinität zum Nebenmenschen geht uns verloren. Damit sind wir auf dem Wege zur Inhumanität. Wo das Bewußtsein schwindet, daß jeder Mensch uns als Mensch etwas angeht, kommen Kultur und Ethik ins Wanken. Das Fortschreiten zur entwickelten Inhumanität ist dann nur noch eine Frage der Zeit.

Tatsächlich bewegen sich Gedanken vollendeter Inhumanität seit zwei Menschenaltern in der häßlichen Klarheit der Worte und mit der Autorität logischer Grundsätze unter uns. Es hat sich eine Mentalität der Gesellschaft herausgebildet, die die Einzelnen von der Humanität abbringt. Die Höflichkeit des natürlichen Empfindens schwindet. An ihre Stelle tritt das mit mehr oder weniger Formen ausgestattete Benehmen der absoluten Indifferenz. Die gegen Unbekannte auf jede Weise betonte Unnahbarkeit und Teilnahmslosigkeit wird gar nicht mehr als innere Roheit empfunden, sondern gilt als weltmännisches Verhalten. Auch hat unsere Gesellschaft aufgehört, allen Menschen als solchen Menschenwert und Menschenwürde zuzuerkennen. Teile der Menschheit sind für uns Menschenmaterial und Menschendinge geworden. Wenn seit Jahrzehnten unter uns mit steigender Leichtfertigkeit von Krieg und Eroberungen geredet werden konnte, als ob es sich um ein Operieren auf dem Schachbrett handelte, so war dies nur möglich, weil eine Gesamtgesinnung geschaffen war, die sich das Schicksal der Einzelnen nicht mehr vorstellte, sondern sie nur als Ziffern und Gegenstände gegenwärtig hatte. Als der Krieg kam, erhielt die Inhumanität, die in uns war, freien Lauf. Und was ist in den letzten Jahrzehnten an feinen und groben Roheiten über die farbigen Menschen in unserer Kolonialliteratur und in unseren Parlamenten als Vernunftwahrheit aufgetreten und in die öffentliche Meinung übergegangen! Vor zwanzig Jahren wurde in einem Parlamente des europäischen Festlandes sogar hingenommen, daß in bezug auf deportierte Schwarze, die man an Hunger und Seuchen hatte sterben lassen, von der Tribüne herab gesagt wurde, sie seien «eingegangen», als handelte es sich um Tiere.

Im modernen Unterricht und in den modernen Schulbüchern steht die Humanität im dunkeln Winkel, als wäre nicht mehr wahr, daß sie das Elementarste bei der Erziehung zur Persönlichkeit ist, und als gälte es nicht, sie unserm Geschlechte, entgegen dem Einfluß der Verhältnisse, zu erhalten. Früher war es anders. Da herrschte sie nicht nur in der Schule, sondern auch in der Literatur bis zum Abenteuerroman herab. De Foë’s Robinson Crusoë reflektiert fortwährend über Humanität. Er fühlt sich ihr so verantwortlich, daß er sich bei der Selbstverteidigung immer Gedanken darüber macht, wie er die wenigsten Menschenleben opfere, und stellt sich so in ihren Dienst, daß sein Abenteurerdasein durch sie einen Inhalt empfängt. Wo ist unter den heutigen Werken dieser Gattung eines mit solchem Gehalte anzutreffen?

Kulturhemmend wirkt auch die Überorganisation unserer öffentlichen Verhältnisse.

So gewiß es ist, daß geregelte Zustände Voraussetzung und zugleich Folge der Kultur sind, so sicher ist auch, daß von einem gewissen Punkte ab das äußere Organisieren auf Kosten des geistigen Lebens geht. Die Persönlichkeiten und Ideen werden dann den Institutionen unterworfen, statt daß sie sie beeinflussen und innerlich lebendig erhalten.

Ist auf irgendeinem Gebiete eine umfassende Organisation geschaffen worden, so sind die Resultate zunächst glänzend; nach einiger Zeit aber nehmen sie ab. Zuerst wurde der schon bestehende Reichtum zur Geltung gebracht; nachher macht sich die Beeinträchtigung des Lebendigen und Ursprünglichen in ihren Folgen bemerkbar. Je konsequenter die Organisation sich ausbaut, desto stärker äußert sich ihre hemmende Wirkung auf das Produktive und Geistige. Es gibt Kulturstaaten, die sich von den Folgen einer weit zurückliegenden, allzu eingreifenden Zentralisierung der Verwaltung weder wirtschaftlich noch geistig erholen können.

Einen Wald zum Park zu machen und als solchen zu unterhalten, mag in mancher Hinsicht zweckdienlich sein. Aber mit der reichen, den zukünftigen Bestand auf natürliche Weise sichernden Vegetation ist es dann vorbei.

Politische, religiöse und wirtschaftliche Gemeinschaften sind heute bestrebt, sich so zu gestalten, daß sie die größtmögliche innere Geschlossenheit und damit den höchsten Grad äußerer Wirkungsfähigkeit erlangen. Verfassung, Disziplin und was sonst noch zum Technischen gehört, werden auf eine früher unbekannte Vollkommenheit gebracht. Das Ziel wird erreicht. Aber in demselben Maße hören alle diese Kollektivitäten auf, sich als lebendige Organismen zu betätigen und treten immer mehr in Analogie zu vervollkommneten Maschinen. Ihr inneres Leben verliert an Reichtum und Vielgestaltigkeit, weil die Persönlichkeiten in ihnen notwendig verkümmern.

Unser ganzes geistiges Leben verläuft innerhalb von Organisationen. Von Jugend auf wird der moderne Mensch so mit dem Gedanken der Disziplin erfüllt, daß er sein Eigendasein verliert und nur noch im Geiste einer Kollektivität zu denken vermag. Eine Auseinandersetzung zwischen Ideen und Ideen oder zwischen Menschen und Menschen, wie sie die Größe des achtzehnten Jahrhunderts ausmachte, findet heute nicht mehr statt. Damals war die Ehrfurcht vor den Meinungen der Kollektivitäten nicht anerkannt. Alle Ideen mußten sich vor der individuellen Vernunft rechtfertigen. Heute ist die stetige Rücksichtnahme auf die in den organisierten Gemeinschaften geltenden Anschauungen selbstverständliche Regel geworden. Für sich und für die anderen setzt der Einzelne voraus, daß mit der Nationalität, der Konfession, der politischen Partei, dem Stande und sonstigen Zugehörigkeiten jedesmal so und so viele Anschauungen zum Voraus und unbeeinflußbar feststehen. Sie gelten als Tabu und sind nicht nur von aller Kritik, sondern auch von der Unterhaltung ausgeschlossen. Dieses Verfahren, in dem wir uns gegenseitig die Qualität als denkende Wesen absprechen, wird euphemistisch als Respekt vor der Überzeugung bezeichnet, als ob es ohne Denken eine wirkliche Überzeugung geben könnte.

In ganz einzigartiger Weise geht der moderne Mensch in der Gesamtheit auf. Dies ist vielleicht der charakteristischste Zug an seinem Wesen. Die herabgesetzte Beschäftigung mit sich selbst macht ihn ohnehin schon in einer geradezu krankhaften Weise für die Ansichten empfänglich, die durch die Gesellschaft und ihre Organe fertig in Umlauf gesetzt werden. Da nun noch hinzukommt, daß die Gesellschaft durch ihre ausgebildete Organisation eine bislang unbekannte Macht im geistigen Leben geworden ist, ist seine Unselbständigkeit ihr gegenüber derart, daß er schon fast aufhört, ein geistiges Eigendasein zu führen. Er ist wie ein Ball, der seine Elastizität verloren hat und jeden empfangenen Eindruck dauernd behält. Die Gesamtheit verfügt über ihn. Von ihr bezieht er als fertige Ware die Meinungen, von denen er lebt, ob es sich um die nationalen und die politischen Gemeinschaften oder die des Glaubens oder Unglaubens handelt.

Seine abnorme Beeinflußbarkeit kommt ihm nicht als Schwäche zum Bewußtsein. Er empfindet sie als eine Leistung. In der unbegrenzten geistigen Hingabe an die Kollektivität meint er die Größe des modernen Menschen zu bewähren. Mit Absicht steigert er die natürliche gesellige Anlage ins Gewaltsame.

Weil wir so auf die Urrechte der Individualität verzichten, kann unser Geschlecht keine neuen Gedanken hervorbringen oder vorhandene in zweckmäßiger Weise erneuern, sondern es erlebt nur, wie die bereits geltenden immer größere Autorität erlangen, sich immer einseitiger ausgestalten und sich bis in die letzten und gefährlichsten Konsequenzen ausleben.

So sind wir in ein neues Mittelalter eingetreten. Durch einen allgemeinen Willensakt ist die Denkfreiheit außer Gebrauch gesetzt, weil die Vielen sich das Denken als freie Persönlichkeiten versagen und sich in allem nur von der Zugehörigkeit zu Gemeinschaften leiten lassen.

Geistige Freiheit werden wir erst wieder erlangen, wenn die vielen Einzelnen aufs neue geistig selbständig geworden sein und zu den Organisationen, in denen sie seelisch gefangen waren, das würdige und natürliche Verhältnis gefunden haben werden. Die Befreiung aus dem heutigen Mittelalter wird viel schwieriger sein als die, in welcher die europäische Menschheit das andere überwand. Damals ging der Kampf gegen geschichtlich gegebene äußere Autoritätsgewalten. Heute handelt es sich darum, die vielen Einzelnen dazu zu bringen, sich aus der selbstgeschaffenen geistigen Unselbständigkeit herauszuarbeiten. Kann es eine schwerere Aufgabe geben?

Noch ist keine Einsicht in unser geistiges Elend vorhanden. Von Jahr zu Jahr wird das Verbreiten von Meinungen mit Ausschaltung des Denkens von den Kollektivitäten immer weiter ausgebildet. Die Methoden des Verfahrens sind zu solcher Vollkommenheit gediehen und haben solche Aufnahme gefunden, daß die Zuversicht, auch das Unsinnigste, wo es angebracht erscheinen sollte, zur öffentlichen Meinung erheben zu können, sich nicht erst zu rechtfertigen braucht.

Im Kriege wurde die Disziplinierung der Gedanken vollständig. Damals setzte sich die Propaganda definitiv an die Stelle der Wahrheit.

Mit der preisgegebenen Unabhängigkeit des Denkens haben wir, wie es nicht anders sein konnte, den Glauben an die Wahrheit verloren. Unser geistiges Leben ist desorganisiert. Die Überorganisierung unserer öffentlichen Zustände läuft auf ein Organisieren der Gedankenlosigkeit hinaus.

Nicht nur in intellektueller, sondern auch in ethischer Hinsicht ist das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit gestört. Mit der eigenen Meinung gibt der moderne Mensch auch das eigene sittliche Urteil auf. Um gut zu finden, was die Kollektivität in Wort und Tat dafür ausgibt, und zu verurteilen, was sie für schlecht erklärt, unterdrückt er die Bedenken, die in ihm aufsteigen. Nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst läßt er sie nicht zu Worte kommen. Es gibt keine Anstöße, über die sein Zugehörigkeitsgefühl zuletzt nicht triumphiert. So verliert er sein Urteil an das der Masse und seine Sittlichkeit an die ihre.

Insbesondere ist er befähigt, alles Sinnlose, Harte, Ungerechte und Schlechte in dem Verfahren seines Volkes zu entschuldigen. Unbewußt schränken die meisten Angehörigen unserer kulturlosen Kulturstaaten ihr Überlegen als sittliche Persönlichkeiten ein, um mit dem Gemeinwesen nicht fortwährend in innere Konflikte zu geraten und über immer neue Anstöße hinwegkommen zu müssen.

Die Gesamtmeinung ist ihnen dabei behilflich, insofern als sie ausstreut, die Handlungen des Gemeinwesens seien nicht so sehr nach den Maßstäben der Sittlichkeit, als nach denen der Opportunität zu bemessen. Aber sie leiden Schaden an ihrer Seele. Wenn unter den modernen Menschen so wenige mit intaktem menschlichem und sittlichem Empfinden anzutreffen sind, so ist es nicht zum wenigsten, weil sie fortwährend ihre persönliche Sittlichkeit auf dem Altar des Vaterlandes opferten, statt in Spannung mit der Kollektivität zu bleiben und Kraft zu sein, die die Kollektivität zur Vollendung antreibt.

Nicht nur zwischen dem Wirtschaftlichen und dem Geistigen, sondern auch zwischen der Kollektivität und den Einzelnen hat sich also eine ungünstige Wechselwirkung ausgebildet. In der Zeit des Rationalismus und der großen Philosophie gab die Gesellschaft den Einzelnen einen Halt durch die Zuversicht auf den Sieg des Vernünftigen und Sittlichen, die sie fort und fort als etwas Selbstverständliches bekannte. Jene wurden von der Gesamtheit getragen, wir werden von ihr erdrückt. Der Bankerott des Kulturstaates, der von Jahrzehnt zu Jahrzehnt offenbarer wird, richtet den modernen Menschen zugrunde. Die Demoralisation des Einzelnen durch die Gesamtheit ist in vollem Gange.

Ein Unfreier, ein Ungesammelter, ein Unvollständiger, ein sich in Humanitätlosigkeit Verlierender, ein seine geistige Selbständigkeit und sein moralisches Urteil an die organisierte Gesellschaft Preisgebender, ein in jeder Hinsicht Hemmungen der Kulturgesinnung Erfahrender: so zog der moderne Mensch seinen dunklen Weg in dunkler Zeit. Für die Gefahr, in der er sich befand, hatte die Philosophie kein Verständnis. So machte sie keinen Versuch, ihm zu helfen. Nicht einmal zum Nachdenken über das, was mit ihm vorging, hielt sie ihn an.

Die furchtbare Wahrheit, daß mit dem Fortschreiten der Geschichte und der wirtschaftlichen Entwicklung die Kultur nicht leichter, sondern schwerer wird, kam nicht zu Worte.

III.     DER ETHISCHE GRUNDCHARAKTER DER KULTUR

Was ist Kultur?

Diese Frage hätte sich der Menschheit, die sich als Kulturmenschheit betrachtete, von jeher aufdrängen sollen. Merkwürdigerweise ist sie in der Weltliteratur bis heute eigentlich nirgends gestellt und noch weniger beantwortet worden. Man glaubte, Kultur nicht definieren zu brauchen, weil wir sie ja hätten. Wo die Frage gestreift wurde, hielt man sie mit Verweisen auf die Geschichte und die Gegenwart für erledigt. Heute aber, wo die Ereignisse selber uns mit Unerbittlichkeit zum Bewußtsein bringen, daß wir in einem gefährlichen Gemenge von Kultur und Unkultur leben, müssen wir, ob wir wollen oder nicht, das Wesen der wahren Kultur zu bestimmen suchen.

Ganz allgemein gesagt ist Kultur Fortschritt, materieller und geistiger Fortschritt der Einzelnen wie der Kollektivitäten.

Worin besteht er? Zunächst darin, daß für die Einzelnen wie für die Kollektivitäten der Kampf ums Dasein herabgesetzt wird. Die Schaffung möglichst gedeihlicher Lebensverhältnisse ist eine Forderung, die an sich und im Hinblick auf die geistige und sittliche Vollendung des Einzelnen, die das letzte Ziel der Kultur ist, aufgestellt werden muß.

Der Kampf ums Dasein ist ein doppelter. Der Mensch hat sich in der Natur und gegen die Natur und ebenso unter den Menschen und gegen die Menschen zu behaupten.

Eine Herabsetzung des Kampfes ums Dasein wird dadurch erreicht, daß die Herrschaft der Vernunft über die Natur sowohl wie über die menschliche Natur sich in größtmöglicher und zweckmäßigster Weise ausbreitet.

Die Kultur ist ihrem Wesen nach also zwiefach. Sie verwirklicht sich in der Herrschaft der Vernunft über die Naturkräfte und in der Herrschaft der Vernunft über die menschlichen Gesinnungen.

Welcher von beiden Fortschritten ist der wesentlichste? Der unscheinbarere: die Herrschaft der Vernunft über die menschlichen Gesinnungen. Warum? Aus zwei Gründen. Erstens stellt die Herrschaft, die wir durch die Vernunft über die Naturkräfte erringen, nicht einen reinen Fortschritt dar, sondern einen solchen, in dem neben den Vorteilen auch Nachteile auftreten, die im Sinne der Unkultur wirken können. Die die Kultur gefährdenden wirtschaftlichen Verhältnisse unserer Zeit gehen zu einem Teil darauf zurück, daß wir uns die Naturkräfte in Maschinen dienstbar gemacht haben. Sodann aber bietet nur die Herrschaft der Vernunft über die menschlichen Gesinnungen die Gewähr dafür, daß die Menschen und die Völker die Macht, die ihnen die dienstbar gemachten Naturkräfte verleihen, nicht gegeneinander brauchen und sich so gegenseitig in einen Kampf ums Dasein bringen, der viel furchtbarer ist als der des Menschen im Naturzustande.

Normales Kulturbewußtsein besteht also nur da, wo die Unterscheidung zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen der Kultur vorhanden ist.

Wohl sind beide Fortschritte geistig in dem Sinne, daß sie auf eine geistige Leistung des Menschen zurückgehen. Dennoch darf man den mit der Herrschaft über die Naturkräfte gegebenen als den materiellen bezeichnen, weil in ihm die Bewältigung und Dienstbarmachung der Materie zustande kommt. Die Herrschaft der Vernunft über die menschlichen Gesinnungen hingegen ist die geistige Errungenschaft im besonderen Sinne, weil sie mit dem Wirken des Geistes auf den Geist, das heißt der überlegenden Kraft auf die überlegende Kraft, zu tun hat.

Worin besteht die Herrschaft der Vernunft über die Gesinnungen? Darin, daß die Einzelnen und die Kollektivitäten ihr Wollen durch das materielle und geistige Wohl des Ganzen und der Vielen bestimmt sein lassen, das heißt ethisch sind. Der ethische Fortschritt ist also das Wesentliche und das Eindeutige, der materielle das weniger Wesentliche und das Zweifelhafte in der Kulturentwicklung. Diese moralistische Auffassung der Kultur mutet rationalistischaltmodisch an. Im Geiste unserer Zeit liegt es mehr, die Kultur als eine natürliche, ach so interessant komplizierte Lebenserscheinung in der Entwicklung der Menschheit aufzufassen. Aber nicht auf das, was geistreich, sondern auf das, was wahr ist, kommt es an. In diesem Falle ist das Einfache die Wahrheit … die unbequeme Wahrheit, mit der wir uns abzuarbeiten haben.

Die Versuche, zwischen Kultur und Zivilisation zu unterscheiden, laufen darauf hinaus, dem Begriff der nichtethischen Kultur neben dem der ethischen Geltung zu verschaffen und ihn mit einem historischen Worte zu decken. Aber nichts in der Geschichte des Wortes «Zivilisation» berechtigt zu diesem Unternehmen. Es bedeutet, seinem herkömmlichen Gebrauche nach, dasselbe wie «Kultur», nämlich Entwicklung der Menschen zu höherer Organisation und höherer Gesittung. In manchen Sprachen ist der eine, in anderen der andere Ausdruck bevorzugt. Der Deutsche spricht gewöhnlich von Kultur, der Franzose gewöhnlich von Zivilisation. Aber die Aufstellung eines Unterschiedes der Bedeutung zwischen beiden ist weder sprachlich noch historisch gerechtfertigt. Man rede von ethischer und nichtethischer Kultur oder von ethischer und nichtethischer Zivilisation, aber nicht von Kultur und Zivilisation.

Wie aber konnte es kommen, daß uns die entscheidende Bedeutung des Ethischen für die Kultur entschwand?

Bei den bisherigen Ansätzen zur Kultur handelt es sich durchweg um Prozesse, in denen die Kräfte des Fortschritts auf fast allen Gebieten beteiligt waren. Große Leistungen in Kunst, Bauwesen, Verwaltung, Wirtschaft, Industrie, Handel und Kolonisation gingen mit einem geistigen Aufschwung, der eine höhere Weltanschauung hervorbrachte, einher. Das Nachlassen der Kulturbewegung zeigte sich sowohl auf dem Gebiete des Materiellen wie auf dem des Ethisch-Geistigen, und auf dem ersteren gewöhnlich früher, als auf dem letzteren. So tritt in der griechischen Kultur der unbegreifliche Stillstand der Naturwissenschaften und der politischen Leistungsfähigkeit schon zur Zeit des Aristoteles ein, während die ethische Bewegung erst in den folgenden Jahrhunderten, in dem großen Erziehungswerk, das die stoische Philosophie in der antiken Welt unternimmt, ihre Vollendung erreicht. In der chinesischen, indischen und jüdischen Kultur ist das materielle Können von Anfang an und dauernd hinter den geistig-ethischen Bestrebungen zurückgeblieben.

In der Kulturbewegung, die mit der Renaissance anhebt, waren bis in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hinein materielle und geistig-ethische Fortschrittskräfte wie im Wettstreit nebeneinander wirksam. Nachher aber ereignete sich, was bisher nie eingetreten war, daß die ethischen Energien nachließen, während die Errungenschaften des Geistes auf dem materiellen Gebiete in der glänzendsten Weise weitergingen. Noch jahrzehntelang erfuhr dann unsere Kultur die großen Vorteile der materiellen Fortschritte, ohne vorerst noch die Folgen des Nachlassens der ethischen Bewegung eindringlich zu verspüren. Man lebte in der durch die ethische Kulturbewegung geschaffenen Situation weiter, ohne sich darüber klar zu werden, daß sie nun unhaltbar geworden war, und ohne auf das, was sich zwischen den Völkern vorbereitete, auszublicken. So kam unsere Zeit, gedankenlos wie sie war, zu der Meinung, daß Kultur vornehmlich in wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Leistungen bestehe und ohne Ethik oder mit einem Minimum von Ethik auskommen könne.

Autorität erlangte diese veräußerlichte Auffassung von Kultur in der öffentlichen Meinung dadurch, daß sie durchgängig auch von Personen vertreten wurde, denen nach ihrer gesellschaftlichen Stellung und nach ihrer wissenschaftlichen Bildung Kompetenz in Sachen des geistigen Lebens zuzukommen schien.