Die Einstellung - Doron Rabinovici - E-Book

Die Einstellung E-Book

Doron Rabinovici

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Beschreibung

August Becker ist der Star unter den Pressefotografen, seine Porträts sind unverwechselbar. Im aktuellen Wahlkampf um die Kanzlerschaft erhält er von einer liberalen Wochenzeitschrift den Auftrag, den Spitzenkandidaten einer populistischen Partei zu fotografieren. Ulli Popp hetzt gegen Migranten, gegen Frauen, gegen unabhängige Medien. August Becker soll den Mann hinter der Fassade von Fürsorglichkeit entlarven, seine Brutalität, seinen Zynismus, er soll den unaufhaltsam scheinenden Siegeszug seiner Partei stoppen. August verachtet Popp, er nimmt den Auftrag an, und tatsächlich gelingt ihm ein Schnappschuss, von dem er überzeugt ist, dass er den Ausgang der Wahl entscheidend beeinflussen wird – bis sich von einem Tag auf den anderen alle Gewissheiten ins Gegenteil verkehren.
Mit Witz, Ironie und Fabulierlust erzählt Doron Rabinovici in seinem neuen Roman von einer immer stärker polarisierten Gegenwart, einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft. Es geht um die Relativierung von Fakten, die Anziehungskraft des Autoritären, die Macht der Bilder. Es geht um den Kampf eines Populisten gegen einen Fotografen, der genau weiß, dass jede Aufnahme Zeugnis einer Einstellung ist.

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Seitenzahl: 284

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Titel

Doron Rabinovici

Die Einstellung

Roman

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44 b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

eISBN 978-3-518-77236-2

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Nicole

Motto

Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wahrheit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im Voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht.    Hannah Arendt

Die Einstellung

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Dank

Informationen zum Buch

1

Ohne sein Bild keine Geschichte, nicht ein Satz, nicht ein einziges Wort. Breitbeinig, einen Fuß ein wenig vorgeschoben, stand August da und nahm ihn ins Visier. Das Gesicht im Fadenkreuz des Suchers. Es galt, den richtigen Moment zu erwischen, aber er war nur einer von vielen, die es auf den Mann, der da vor ihnen saß, abgesehen hatten. Um ihn herum das Knattern und Klicken der Apparate.

Das Gesicht des Politikers sprang einem jetzt überall entgegen, von Plakaten, aus Zeitungen und von den Bildschirmen. Es war noch nicht lange her, da hatten sich die meisten über diesen Mann und seine Sprüche mokiert, doch mittlerweile war ihnen das Lachen vergangen. Immer wenn es so aussah, als sei er diesmal mit seinen Gemeinheiten, seiner Niedertracht zu weit gegangen, nahm die Zahl jener zu, die sich von ihm angesprochen fühlten. Je abwegiger seine Behauptungen waren, desto ausführlicher wurde über ihn berichtet, und keinen ließ er kalt.

Kein glatter Schönling saß da vorne, auch kein Blässling, sondern ein stattlicher Mann, hochgewachsen und stämmig, ein – wie seine Jünger gerne sagten – ganzer Kerl mit gesundem Teint, als käme er gerade von einer Bergtour oder aus dem Sonnenstudio, ein Kumpeltyp mit kantigem Gesicht und einem breiten Lächeln, das immerzu verwegen und ein wenig spöttisch wirkte. Ulli Popp war dafür bekannt, auf einer Kundgebung volksnah, bei einem Galadinner charmant und vor Firmenvorständen weltgewandt aufzutreten. Welcher Art sein Publikum auch war, immer hinterließ er den Eindruck, mit sich im Reinen zu sein, und es war nicht nur seine Lebendigkeit, seine Energie, die alle um ihn herum ansteckte, sondern wie selbstgewiss er erschien. Sogar hier, in diesem sterilen Hinterzimmer eines Gasthauses, in dem Popp eine Pressekonferenz abhielt, zog er selbst jene, die ihn ablehnten, in seinen Bann, das war für August nicht zu übersehen.

Der Raum war gesteckt voll, alle gierten danach, jede seiner Aussagen festzuhalten. In der ersten Reihe ein jüngerer Kollege, der die Kamera kurz senkte und August zunickte. Schräg hinter ihm Marion Ettl, eine Journalistin, die nicht nur durch ihre scharfen Fragen aufzufallen wusste. Sie hatte sich auf ein Fensterbrett hochgeschwungen; die Beine übereinandergeschlagen, den Rücken durchgestreckt saß sie da, und August spähte aus dem Augenwinkel zu ihr hinüber.

Popp sagte, er spreche aus, was das einfache Volk denke, weil die Elite verschweige, was das ganze Land bedrohe, denn da rolle ein Tsunami heran, der alles mitreißen werde, und wer davon nichts hören wolle und die Menschen in Sicherheit wiege, verrate die Interessen aller, der gesamten Nation, und dann nahm er ein Wort in den Mund, das die meisten hier aufhorchen ließ. »Lügenpresse«, sagte er, und Popp schmunzelte dabei ein wenig, als meinte er die Beschimpfung der Anwesenden gar nicht ernst, als wäre dieses Wort nur ein Kosename, eine ironische Tändelei –, und genau in diesem Augenblick drückte August auf den Auslöser und schoss eine ganze Serie von Fotos. Danach hielt er kurz inne, um sich im Display die Aufnahmen anzuschauen. Der übliche Kontrollblick, reine Routine, um mögliche Fehleinstellungen zu korrigieren, aber nun, als er die einzelnen Aufnahmen überprüfte, geschah etwas, das ihm noch nie passiert war. August war von seinen eigenen Bildern abgestoßen. Das war nicht, worauf er aus war. Und plötzlich wollte er nur noch weg.

Er schlängelte sich durch die dichten Reihen der anderen aus den verschiedenen Redaktionen, drängelte vorbei an einer Kollegin mit Fotoapparat, dann wich er den Beinen von Marion Ettl aus, die ihn so verwundert anschaute, dass er prompt über das Mikrofonkabel eines Radioredakteurs stolperte. Am anderen Ende des Raums bemerkte auch Popp die Unruhe und blickte in seine Richtung, aber da war August schon draußen auf der Straße und wusste im nächsten Moment selbst nicht mehr, was in ihn gefahren war. Aber er wollte nicht noch einmal hinein und an allen anderen vorbei, und es war ja auch gar nicht notwendig, Popp unbedingt heute abzulichten. Er stand nicht unter Zeitdruck, und niemand hatte ihn zu diesem Pressetermin geschickt. Er war aus eigenem Antrieb hergekommen, weil er gedacht hatte, er müsse sich auf eine Aufgabe vorbereiten. Was für eine Schnapsidee! Seit wann brauchte er Vorstudien, um seinen Job ordentlich zu machen? Vielleicht war es Selma gewesen, die ihn dazu verleitet hatte.

Ohne sein Bild keine Geschichte, nicht ein Satz, nicht ein einziges Wort, hatte Selma gesagt. Sie arbeitete auch sonst am liebsten mit ihm, August Becker, zusammen, aber bei diesem Thema, meinte Selma, gebe es für sie keine andere Wahl. Niemand außer August, so Selma, käme für sie in Frage. Wenn sie sehe, welche Fotos andere von Ulli Popp machten, dann vergehe ihr die Lust, einen Artikel über ihn zu schreiben, denn sie wolle nicht zu denen gehören, die diesen Blender immer so glanzvoll und groß aussehen ließen. Seine Aufnahmen, das war August nach diesen Worten klar geworden, mussten vollkommen anders werden und Popp so einfangen, wie er noch nie zu sehen gewesen war.

Selma hatte in der Redaktionskonferenz berichtet, was sie vorhatte. Sie müssten, hatte sie erklärt, das Magazin mit Ulli Popp aufmachen. Popp sei der Mann, der das ganze Land in Atem halte; zumindest seit Beginn dieses Wahlkampfs. Es sei nicht mehr möglich, auszublenden, welche Gefahr da drohe. Sie wolle über Ulli Popp und dessen Kampagne einen langen Artikel schreiben. Ein Raunen war durch den Raum gegangen. Einer der jungen Kollegen hatte geseufzt, es bringe doch nichts, Popp zu verteufeln. Aber Bruno, der Chefredakteur, hatte eingewilligt. Er vertraue auf Selmas Gespür. Es brauche jedoch herausragende Fotos von dem Mann. Und bitte keine Polemik, ein sorgfältiges Porträt solle es werden, so Bruno. Niemand war verwundert gewesen, als Selma daraufhin gemeint hatte, sie wolle die Aufgabe ebendeshalb nur mit August Becker gemeinsam angehen.

Kaum hatte Selma ihm von ihrem Vorhaben erzählt – ohne sein Bild keine Geschichte, nicht ein Satz, nicht ein einziges Wort –, war August von einer Unruhe erfasst worden. Er hatte beschlossen, auf eigene Faust loszugehen. Ohne es ihr zu sagen. Deshalb war er zu Popps Pressekonferenz aufgebrochen, von der er, als er die Schnappschüsse auf dem Display seiner Kamera gesehen hatte, geradezu geflüchtet war.

Nicht wenige meinten, es bringe ohnehin nichts, noch einen weiteren Artikel über Ulli Popp zu schreiben, und ein junger Redaktionskollege aus der Kultur, für den er eine Bilderserie von einer gefeierten Theateraufführung geschossen hatte, meinte zu August, Selma habe sich doch verrannt. »Wer jede Woche den Teufel an die Wand malt, darf nicht überrascht sein, wenn er einem erscheint.« Popps Wähler seien nichts als besorgte Bürger. Jeder andere Protest werde doch ignoriert. »Nur wer Ulli Popp wählt, kann sich sicher sein, gehört zu werden.«

Am Tag nach der Pressekonferenz war er mit Selma verabredet. In einem Kaffeehaus trafen sie den Schriftsteller Avi Weiss, der ein Manifest gegen Popp verfasst hatte. Die Erklärung war von Dutzenden Intellektuellen unterschrieben worden. Selma zückte ihren Notizblock und einen Stift, um mitzuschreiben; sie legte ihr Mobiltelefon auf den Tisch, um das Gespräch aufzuzeichnen. August sollte Weiss fotografieren.

»Manche«, begann Selma, »werfen Ihnen vor, aus Popp einen Nazi zu machen.«

August senkte die Kamera und betrachtete das Gesicht des Schriftstellers. Dieser Avi Weiss kannte wahrscheinlich keinen jener alten Nazis, und wenn doch, dann bestimmt nicht so gut wie August, dessen Großvater einer dieser ganz normalen Männer gewesen war, die einst die Kohns, die Rubinsteins oder die Levys niedergemacht hatten. Wenn es nach den Regeln seines Großvaters und dessen Kameraden gegangen wäre, dürfte es diesen Avi Weiss, jenen Dichter beschnittener Zunge, gar nicht geben. Auch in Selmas Familie gab es solche Großväter nicht. Selma Kaltak war als Flüchtlingskind in dieses Land gekommen, und August wusste, wie nah es ihr ging, wenn sie die Hassreden eines Ulli Popp hörte. Dann kamen in ihr die Erinnerungen an all die Ulli Popps auf, die gegen das gehetzt hatten, was ihr und den Ihren lieb gewesen und längst vernichtet war. Sie redete nie davon, und nur wer genau aufpasste, konnte den leichten Anflug eines Akzents bei ihr ausmachen; sie war in den Neunzigern mit ihren Eltern und Geschwistern aus Bosnien hergekommen.

»Der Opa ist ein Nazi«, hatte Augusts Mutter manchmal geflüstert und dann »ein Scheißnazi« hinzugefügt. Irgendwann hatte sie es aufgegeben, mit ihrem Vater über Politik zu reden. »Das wird sich bald biologisch lösen«, hatte Paul, Augusts Vater, immer behauptet. Diese Ehemaligen würden doch irgendwann alle gestorben sein. So hatte August seinen Vater oft reden gehört, gerne hatten er und Augusts Mutter die antifaschistischen Lieder gesungen, Bella Ciao und Die Moorsoldaten, Nachklänge ihres studentischen Engagements. Die Vergangenheit lag im Dunkeln, nur die Zukunft schien ganz licht und so klar, dass sie die Gegenwart bereits aufhellte. Mittlerweile war die Gewissheit, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, wieder verblasst. Nichts mehr war übrig von der einst so strahlenden Zuversicht … Aber was hatte der grummelige Greis, der sein Opa gewesen war, mit jenem Schreihals Ulli Popp zu tun?

Avi Weiss' laute Stimme riss August aus seinen Gedanken. Der sagte gerade: »Wer will heutzutage schon ein Nazi sein? Die gehören auf die Liste bedrohter Tierarten. Wenn Sie einen finden, dann decken Sie ihn warm zu, umsorgen und nähren Sie ihn. Das ist ja eine beinah ausgestorbene Rasse.«

Selma bohrte nach: »Nur um ganz sicherzugehen: Sie klingen, als würden Sie glauben, dass er es zwar nicht sein will, aber es im Innersten eben doch ist.«

»Und Sie klingen, als wollten Sie das unbedingt von mir hören«, antwortete Weiss und dann: »Was weiß ich von seinem Innersten? Ich bin doch nicht sein Therapeut. Ich will es auch nicht werden.«

»Möchten Sie sein Fotograf sein?«, fiel ihm August ins Wort.

Avi Weiss schaute ihn mit großen Augen an, als bemerkte er ihn erst jetzt, worauf August auf den Auslöser drückte.

Eine Familie ging an ihnen vorbei, offenbar Touristen, der Mann in Jeans, T-Shirt und Lederjacke, hinter ihm sein jugendlicher Sohn und dann seine Frau mit Kopftuch, einen kleinen Buben an der Hand. Von allen Tischen starrten Gäste auf diese Gruppe.

»Entschuldigung, was meinen Sie?«, fragte der Schriftsteller.

August rückte ganz nah an ihn heran, beugte sich ihm entgegen, bis das Objektiv nur noch fünfzig Zentimeter von ihm entfernt war, worauf der Autor unweigerlich zurückwich, das Gesicht angespannt, die Augen verengt, den Anflug eines Zuckens im Mundwinkel, ein Lächeln aus Unsicherheit, und genau das fing August ein. Dann schaute er kurz auf das Display und sagte dabei: »Soll ich ihn fotografieren? Oder besser gesagt: Würden Sie es tun?«

Selma ging dazwischen: »Na klar. Warum sollte Herr Weiss Popp nicht fotografieren?«

»Na, dann mach doch die Geschichte mit ihm«, so August. »Niemand glaubt, ein Pianist zu sein, nur weil er ein Klavier besitzt, aber kaum hat einer eine Kamera, meint er schon, er ist ein großer Fotograf.«

»Kehren wir bitte zu den Fragen zurück«, sagte Selma.

»Aber er hat ja recht. Ich bin Schriftsteller, nicht Fotograf. Und die Frage ist relevant. Was bringt es denn, ein Bild ums andere von diesem Mann zu machen, bis einem das Grausen kommt? Seine Masche besteht ja genau darin, zwischen Lichtgestalt und Feuerteufel zu schillern.«

»Da hast du's«, nickte August.

»Aber du hast doch solche Typen schon oft fotografiert«, widersprach sie: »Zum Beispiel diesen Glatzkopf damals, der sich vor den Reportern aufstellte und dabei wie ein Schimpanse wirkte, der die Brust herausstreckt und dazu grinst, als wolle er Bananen quer essen. Einfach wunderbar war diese Aufnahme damals, und um ihn herum diese Meute, und er winkt ihr zu – den Arm erhoben.«

August unterbrach sie: »Es war kein Hitlergruß!«

»Aber die Gesichter der Fotografen, das Leuchten in ihren Augen. Im Grunde hast du ihn dadurch zur lächerlichen Gestalt gemacht, zum Abklatsch ihres Geknipses.«

August zuckte mit den Schultern: »Das war damals anders. Viel schlimmer als Popp sind doch diejenigen, die so ein Arschloch wählen. Wäre er doch nur ein echter Nazi!«

»Wäre er doch nur ein echter Nazi? Du wünschst dir einen Nazi?«, stieß sie so laut hervor, dass die Gäste an den anderen Tischen verstört aufschauten und der Ober sie kurz musterte.

»Ja, dann wüsste ich, wie ich ihn einfangen soll. Aber Popp ist wie ein Untoter, der kein Spiegelbild hat. Den kannst du mit keiner Kamera festhalten. Der sagt ja, die wahren Nazis seien die Muslime.«

Avi Weiss nickte: »Der will ein Freund Israels sein. Wenn es sein muss, lässt der sich öffentlich beschneiden.«

Selma winkte ab und sagte in Richtung des Schriftstellers: »In Wirklichkeit arbeitet August bereits an dem Foto von Popp.«

»Wieso bist du dir da so sicher?«

Selma lächelte: »Ich war bei Popps Pressekonferenz. Ich bin später gekommen, aber ich habe dich dort noch gesehen. Du hast mich nicht bemerkt, so fokussiert warst du auf deine Kamera. Du hast deine Fotos geschossen, hast sie dir angeschaut und bist sofort verschwunden. Mittendrin. Du hast ihn also schon gut getroffen, oder?«

»Nein. Die sind nichts geworden.«

Selma legte den Kopf schräg: »Unsinn … jetzt zeig doch mal her. Lass sehen!«

»Nein«, wehrte August ab, worauf der Schriftsteller fragte: »Ist das nicht ein wenig unprofessionell? Ich meine … Sie sind doch Fotograf, oder?«

»Zeigen Sie mir etwa Ihren unfertigen Text?«

»Und ob er ein Fotograf ist«, stellte Selma klar und richtete sich im Sessel auf, »es gibt nicht wenige, die viel darum geben würden, von August Becker porträtiert zu werden.«

Der Schriftsteller hob die Augenbrauen und zog die Mundwinkel herab: »Ach so … Sie sind der August Becker? Echt? Sie sind der Fotograf August Becker?«

Das Klicken der Spiegelreflexkamera war Augusts Antwort.

2

Früher hätte er nicht gezögert. Er hatte sie alle fotografiert. Filmstars und Arbeitslose, Intellektuelle und Mächtige, Gläubige und Freisinnige, Arme und Reiche, Eltern und ihre Wunderkinder, Boxer, Läuferinnen, Schwimmer, Trapezkünstler, Schlangenmenschen, Puffmütter und Zuhälter, Huren und Strichjungen, aber auch Serienmörder und Nazis. Er war keinem ausgewichen. Auch nicht den Extremisten. Er hatte die Kamera auf sie gerichtet, jeder Hetzer war von ihm abgelichtet worden und nicht bloß einmal, sondern immer wieder. Selma schwärmte heute noch davon, wie er dieses Großmaul oder jenen Scharfmacher mit einem Knopfdruck ins rechte Licht gesetzt hatte. Er war nie unbedacht vorgegangen. Aber nun war alles anders.

Während er darüber nachdachte, wie er Selma erklären sollte, dass er dieses Mal nicht mit ihr arbeiten würde, hielt er nach seinem Motorroller Ausschau, doch ihm fiel nicht mehr ein, wo er geparkt hatte. »Trottel«, schimpfte er in sich hinein, »Idiot … Arschloch!« Wieder einmal war er knapp dran. Immer blieb er zu lange vor dem Monitor sitzen, bearbeitete die Aufnahmen nach, tüftelte an jeder Einzelheit und konnte sich nicht losreißen. Ständig hatte er das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben. Noch ehe die Artikel zu Ende geschrieben waren, schickte August seine Fotos schon in die Redaktion. Er lieferte die Bilder unversehens ab und lieferte sich ihnen aus. Das Objektiv bot keinen Schutz. Es spiegelte einem nur vor, alles durch einen kleinen Dreh von sich wegrücken zu können. Aber das täuschte. Der Apparat war wie eine Wolke, die einen vergessen lässt, wie stark die Sonne scheint, bis man verbrannt ist.

Nein, das Bild von Ulli Popp, so dachte er, während er nach dem Motorroller Ausschau hielt, wollte er einfach nicht machen. Aber den Auftrag rundweg ablehnen? Er musste mittlerweile froh sein, wenn er engagiert wurde. Er konnte es sich nicht mehr leisten, wählerisch zu sein – aber wo hatte er den verdammten Roller abgestellt? Das Gefährt gehörte zu August wie seine Kamera. Damit fuhr er von einer Location zur nächsten, von einem Termin zum anderen. Den alten Kombi benutzte er nur, wenn es aufs Land ging, denn in der Stadt fand er dafür kaum einen Parkplatz.

Vor zwei Wochen war er mit dem Wagen unterwegs gewesen. Er war gerade erst losgefahren, da nahm ihm ein Taxifahrer den Vorrang. Danach zwängte sich ein SUV in seine Fahrspur. Die Straße war ein Kampfgebiet. Die Karosserie war eine Rüstung. Alle hinterm Steuer wurden zu Feinden. Als er dort, wo er einen Auftrag ausführen sollte, ankam, schnappte ihm ein Mercedes den Parkplatz weg, und der Fahrer, eine fettige Glatze mit Schnauzer, tiefbraunem Teint und Brille mit Goldrand streckte ihm auch noch den Mittelfinger entgegen, worauf August ihm »Arschloch« nachrufen wollte, aber da sah er in einer Querstraße eine Lücke, in die er sein Auto hineinquetschte; nicht ganz regelkonform, doch immerhin behinderte er niemanden. Er schulterte die Fototasche und rannte zum Termin, und da stand schon das Ekel aus dem Mercedes, der Kahlkopf mit schwarzem Schnurrbart, der ihm eben noch den Stinkefinger gezeigt hatte, vor demselben Hauseingang, aber nun war der Mann wie ausgewechselt, nickte ihm zu, hielt ihm die Tür auf und lächelte verschmitzt, als wären sie zwei Jugendliche, die einander gerade einen lustigen Streich gespielt hatten. »Bitte, nach Ihnen …«, keuchte er und tat dabei so kapriziös freundlich, wie er vorher grob gewesen war. Aber nun bestand August darauf, dem Kerl den Vortritt zu lassen, doch der beugte seinen Glatzenschädel vor, wies ihm mit derselben Vehemenz, mit der er August eben noch seine Verachtung gezeigt hatte, den Weg und machte mit der Hand eine großmütige Geste, als wollte er August sogleich durch das Tor schieben, wenn auch vielleicht nur, um ihm hernach umso besser einen Hieb in den Nacken versetzen zu können.

Einige Minuten später wusste August, mit wem er es zu tun hatte. Das also war der international renommierte Terrorexperte, den er bei diesem Termin fotografieren sollte. Ein früherer Geheimagent, ein Spezialist aus dem Nahen Osten, so einer konnte einen wie ihn, August, zum Frühstück vertilgen. Der Körper des Mannes war gedrungen und erinnerte an einen Pitbull-Terrier, ein Energiebolzen.

Ganz unvoreingenommen trat ihm der Mann nach dem Duell um den Parkplatz wohl auch nicht mehr entgegen. August glaubte sein Misstrauen zu spüren, vielleicht fürchtete der Sicherheitsexperte, dass sich dieser Fotograf jetzt an ihm rächen und unvorteilhafte Bilder von ihm schießen würde. Aber es war wie immer, wenn August den Fotoapparat auf jemanden richtete, denn er wurde plötzlich ganz ruhig und sagte zum Glatzkopf nur: »Menschenkenntnis …«, worauf der Mann ihn fragend musterte. Doch als August erklärte: »Das verbindet uns. Das ist es, was wir beide in unserem Beruf brauchen«, hellte sich die Miene des Terrorexperten auf, und er lächelte bitter.

Die Kamera war Augusts Tarnkappe. Hinter ihr wurde er zu einem anderen und gewann alle für sich. So unsicher August im Alltag auch sein mochte, mit ihr wurde er locker, und mit ihr lockte er das Innerste aus den anderen hervor. Er nahm sie für sich ein und konnte brillieren. Mit der Kamera fand er Zugang zu allen. Es war eine Verwandlung. Kaum betrachtete er Menschen durch das Objektiv, zog er sie an sich und fand für jeden die richtige Einstellung.

Mit dem Motorroller war August am liebsten unterwegs. Auf zwei Reifen konnte er gar nicht anders, als in Balance zu bleiben. Wenn seine Kollegen ihn darauf sahen, sagten sie: »Heute kommt August wieder mit seiner Rosinante.« Er selbst hatte dem Gefährt diesen Namen gegeben. Mit Rosinante konnte er jeden Stau hinter sich lassen, doch vor allem war es kein Problem, dafür einen Parkplatz zu finden – nur den Parkplatz und seine Rosinante später wiederzufinden, das bereitete ihm Schwierigkeiten. Aber er kam einfach schneller ans Ziel damit, und während er die Spur wechselte, dabei ganze Kolonnen überholte und durch enge Gassen knatterte, hörte er über den Kopfhörer im Helm die neuesten Nachrichten, nahm einen Anruf aus der Redaktion entgegen, wählte danach Tim, seinen Sohn, an, überlegte im Anschluss an das Gespräch schon, wie er die letzten Fotos bearbeiten würde, und kaum war er von Rosinante abgesprungen, plante er die nächsten Aufnahmen. Genauso war es auch an diesem Tag vor zwei Stunden gewesen, als er Selma angerufen hatte, um ihr zu sagen, er sei bald da, sie möge mit Weiss schon ins Kaffeehaus gehen und dort auf ihn warten. Er sei unterwegs.

»No stress«, antwortete Selma und begann noch einmal von jenem anderen Projekt zu reden, von Ulli Popp, dem Politiker, der die ganze Nation in seinen Bann schlug – und sie wiederholte noch einmal, was sie zuvor bereits klargestellt hatte. Ohne sein Bild keine Geschichte! So hatte sie noch nie zu ihm gesprochen. Es war bisher auch nicht notwendig gewesen.

Normalerweise war es Kevin, der Fotoredakteur, der bestimmte, welcher Fotograf einen Journalisten begleitete. Kevin war zuständig – und er hegte keine besondere Vorliebe für August, denn der Fotoredakteur wollte immer nur Aufnahmen, die den gängigen Schablonen und Klischees entsprachen. Mit Augusts schrägem Blick und seinen eigentümlichen Einstellungen konnte er wenig anfangen. Er suchte das Gefällige, das Augenscheinliche, während Selma und August auf das Unscheinbare, das Verhohlene und Verkappte setzten, das einem erst beim zweiten Hinschauen auffiel.

Verzichten konnte der Fotoredakteur auf ihn aber nicht. August Becker war ein Begriff, wenn auch einer wie aus einer verklungenen Zeit, als August noch in fremde Länder geschickt worden war, um Bilder für das Forum zu machen. Längst war das zu teuer für die Zeitschrift geworden. Zwar war das Forum immer noch das Flaggschiff der liberalen Qualitätsmedien im Land, eine kritische Wochenzeitschrift mit Reportagen über heimische Zustände und internationale Politik, mit ökonomischen Analysen, mit einem umfangreichen Kulturteil und mit Meinungskommentaren auf feinem Hochglanzpapier, aber auch das Forum litt unter den Veränderungen der letzten Zeit. Mittlerweile reichte es den Redaktionen, im Internet herauszufinden, welcher Fotograf gerade an Ort und Stelle war, um einige Fotos zu schießen und dann sogleich elektronisch abzusenden; wobei meistens gleich auch Videos und Audios mitbestellt wurden – und zwar zum selben Preis. Zu jedem Thema gab es einen Datenpool an Aufnahmen. Agenturen boten alles auf Vorrat an. Mit einem Klick waren Ansichten von einem Kultlokal in Kobe zu haben, von einer lauschigen Laube in Montevideo, von einem geheimnisvollen Guru in Rajasthan … Fixanstellungen für Fotografen existierten kaum mehr.

Früher war August beinah stolz darauf gewesen, freier Mitarbeiter zu sein, doch mittlerweile nicht mehr. Die Bilderflut hatte das Ansehen seines Berufes nicht gerade gehoben. Es ging nicht mehr um die Vision eines Fotografen. Nun waren alle bereit, Geld zu sparen und jenes Bild einzukaufen, das billig zu haben war. Wenn sie überhaupt zahlen mochten und nicht gleich um ein honorarfreies Foto baten.

Augusts Bilder waren unverwechselbar. Ein wahrer Kenner wusste mit einem Blick, was ein echter Becker war, denn August kam denen, die er mit der Kamera festhielt, so nahe wie kaum jemand sonst. Er hatte Stil – und zwar nicht nur einen eigenen, sondern auch noch einen guten, und er hatte dafür schon viele Preise eingeheimst. Manche seiner Arbeiten waren sogar auf der Titelseite internationaler Magazine erschienen, doch auch die große Ära dieser Zeitschriften war vorbei.

Die Krise der Zeitungen und die ihrer Fotografen gehörten zusammen. Nicht nur verdienten die meisten in Augusts Metier nun weniger, sie mussten zugleich viel mehr für ihre Ausrüstung, für Digitalkameras, für Computer und Bearbeitungsprogramme ausgeben, um mithalten zu können, zumal es für jeden, der ein Smartphone besaß, mittlerweile viel einfacher geworden war, ein passables Foto zu schießen. Hinzu kam, dass sich August – im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen – hartnäckig weigerte, jene Jobs anzunehmen, die lukrativ waren. Er wollte nicht auf Hochzeiten und Firmenfeiern knipsen. Er verachtete Werbeaufträge. Es ging ihm nicht um geschönte Ansichten. Nicht einmal Buchprojekte interessierten ihn. Seine Leidenschaft gehörte den Presseporträts, und dabei blieb er. Unverdrossen.

Kevin hatte ganz andere Interessen. Die Fotos im Forum sollten illustrativ sein und das Heft schmücken. Wer dieses liberale Blatt aufschlug, sollte ein edles Produkt in den Händen halten. Die Bilder mussten den Eindruck abrunden. Kevin hatte August eines Tages einen ganzen Katalog, eine Handlungsanleitung mit genauen Angaben übergeben, was er von ihm erwartete. Wie viel aus welchen Perspektiven und in welchen Formaten August bei einer Pressekonferenz, einem Interview, für ein Feature oder während einer Reportage zu knipsen hatte; ungeachtet dessen, was im jeweiligen Setting – an Ort und Stelle – überhaupt möglich war.

Der Fotoredakteur war einst selbst Fotograf gewesen, aber irgendwann dazu ausersehen worden, im Büro zu bleiben und festzulegen, wer für welche Geschichte eingesetzt und welche Fotos dem jeweiligen Text beigegeben werden sollten.

Selma rebellierte gegen Kevins Vorstellungen. Alle in der Redaktion wussten, dass August und sie ein eingespieltes Team waren. Nie hatte sie seine Aufnahmen gegen seine Absichten verwendet. Ein falsches Wort, eine irreführende Bildunterschrift verkehrte jeden Sinn. Selbst in der Wochenzeitschrift, für die Selma und er arbeiteten, konnte das geschehen, obwohl das Forum für seine Sorgfalt und Integrität oft gelobt wurde. Vor wenigen Jahren hatte August in der Börse Aktienhändler abgelichtet, Sakko und weißes Hemd, Krawatte, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen vor ihren Bildschirmen, und einer von ihnen reckte den Arm hoch, schrie irgendetwas. Das Foto war danach immer wieder erschienen, einmal unter dem Titel »Börse im Höhenflug«, danach mit der Schlagzeile »Kurssturz an allen Märkten« und schließlich zum Artikel »Analysten wieder optimistisch!«

Jedes Foto war nur ein Ausschnitt, behauptete aber, das Ganze zu sein. Verlangte die Redaktion eine Aufnahme von syrischen Frauen, konnte August die einer jungen Mutter in Jeans und blondierter Mähne, einer Ärztin aus Aleppo mit Bubikopf, einer Studentin mit feuerrotem Haar anbieten, doch für den Artikel wurden nur die Frauen mit Kopftuch genommen.

Welche Auswahl konnte je die ganze Wahrheit sein? August war klar: Ohne Standpunkt keine Perspektive. Jedes Foto barg ein Geheimnis, und nicht einmal er, der Fotograf, durchschaute es ganz, aber im Unterschied zu anderen übersah er es nicht, sondern hielt es mit seiner Aufnahme fest. Das war seine besondere Fähigkeit. Für ihn war jenes Foto gut, das wiedergab, worauf es in einer Geschichte ankam. Wie oft war es August passiert, dass er erst bei der Ausarbeitung und Vergrößerung bemerkte, was das Wesentliche war, das er eingefangen hatte. Und oft verstand er es nicht, bis der Artikel erschienen war.

Seine Aufnahmen verliehen Selmas Texten einen eigenen Glanz, und seine Fotos gewannen mit ihren Worten an Sinn. Selma und er waren zu einer Symbiose geworden, die manche glauben ließ, sie stünden einander auch privat nahe. Aber Selma war mit Dino Ahmetović, einem Künstler, zusammen, der vielen im Land genauso fremd blieb wie Selma Kaltak. Sie waren beide einstige Flüchtlingskinder. Dinos Werke brauchten keine Bildunterschrift, nur knappe Titel, und die wählte Dino ganz allein.

Augusts Aufnahmen waren ein Dokument. Der Apparat gab wieder, was zu sehen gewesen war, und im Grunde war es das, was ihn von Anfang an fasziniert hatte – bereits damals, als der Vater ihm, dem Achtjährigen, seine erste Kamera, eine AKArette geschenkt hatte. Und je mehr er vom Fotografieren verstand, umso unglaublicher schien ihm die Verwandlung zwischen jenem Moment, als er auf den Auslöser drückte, und jenem, in dem er das Positiv sah. Das war für ihn ein Zauber, der auch im Laufe der Jahre nicht verschwand.

Wie stolz war er gewesen, als der Vater ihm die alte AKArette überreicht hatte. Er lief durch die Wohnung und knipste alles und alle, obwohl an jenem Abend noch gar kein Film eingelegt war. Doch bereits am nächsten Morgen zeigte ihm der Vater, wie die Rückwand aufgeklappt werden konnte, er zog die kleine Kurbel an der Seite heraus, steckte eine Rolle in die Patronenkammer, spannte die kleine Lasche, die hervorlugte, zur Stachelwalze und steckte sie in den engen Schlitz der Aufwickelspule, passte die Perforierungen in die Zahnräder ein und wickelte den Zelluloidstreifen mit dem Transporthebel ein wenig auf. »Schau, August«, sagte Vater und dann: »Siehst du? So.«

Die Fotografie war Vaters Hobby. Er zeigte seinem Sohn, wie die Blende und die Verschlusszeit einzustellen, wie die Entfernungen zu schätzen waren. »Schau, August. Du darfst die Leute nicht abschneiden. Und denk nach, was im Licht sein soll. Siehst du? So.« Nur die einfachsten Grundlagen, um die Kamera verwenden zu können, mehr nicht, keine Theorie, von der der Vater zwar durchaus eine Ahnung hatte, doch er überließ es der Neugier des Kindes, die Technik zu erkunden, und genau diese väterliche Zurückhaltung war es, die August anspornte. Bald darauf durfte er mit in die Dunkelkammer, die der Vater im Keller eingerichtet hatte. Der kleine Raum war für den Buben ein geheimnisvoller Ort, ein Refugium. Dorthin mitzukommen, zunächst die schmale, schwere Tür zu öffnen, dann durch den schwarzen Vorhang zu schlüpfen, war ein unvergleichliches Ritual. Der Weg durch die Lichtschleuse war ein Schritt in eine andere Welt. Hier waren die beiden Männer der Familie unter sich. Der Geruch der Fixierermischung und der scharfe Essigdunst des Unterbrechers stachen dem Kleinen in die Nase. Das Rotlicht, in dem alle Geräte aufglühten. Eine Zone kindlicher Lust und Erregung.

Zuerst war die Kamera nicht mehr als ein Spielzeug, aber eines Tages nahm der Zwölfjährige den Apparat mit auf einen Schulausflug. Bei dieser Fahrt wurde er, der bis dahin unter den Kindern eher ein Außenseiter gewesen war, zum Star der ganzen Klasse. Alle bewunderten seine AKArette, beneideten ihn um seine Kenntnisse. Sie wollten alle fotografiert werden, und er sagte ihnen, wie sie sich aufstellen sollten, und machte seine Bilder.

Der Klassenlehrer war von den Fotos, die er in der nächsten Woche mitbrachte, begeistert. Alle baten ihn um Abzüge und waren bereit, dafür zu zahlen. August war zum Fotografen geworden. Seine Eltern waren stolz auf ihn. Der Vater sagte: »Siehst du? So.«

Nur der Großvater schüttelte den Kopf, weil August auf jedem Familienausflug die Kamera mitnahm und ständig irgendwo auf dem Bauch lag, um einen Käfer oder eine Blume abzulichten. Außerdem bemerkte er, wie sich der Blick seines Enkels änderte. Es war, als habe er eine Sonnenbrille auf. Die Augen gehörten nun nur noch der Kamera. Er schaute nicht mehr zu seinem Opa hoch. Durch den Sucher gewann er an Distanz. Alle Kontraste um ihn herum wurden deutlicher.

Sie standen in der Klamm, vor ihnen der Wasserfall, unter ihnen das schäumende Tosbecken, und der Großvater rief: »Jetzt hör doch auf. Jetzt hör doch mal. Jetzt hör doch mal auf!« Aber August richtete die Kamera auf ihn, rannte voraus, blieb stehen, wandte sich um, knipste, wartete, bis er vorbeigegangen war, um ihn dann wieder zu überholen, ein unaufhörliches Gewusel um seine alten Beine, und da geschah es – der Großvater ließ für einen Moment sein Bein stehen, sodass der Enkel darüber stürzte und auf einen Stein aufschlug. Die Kamera knallte auf den Felsen, und weil August beim Vor- und Zurückrennen den Lederriemen vom Nacken genommen hatte, fiel ihm seine AKArette aus der Hand und schlitterte über den Boden, während er nach vorne rutschte und aufpassen musste, nicht selbst über den Rand zu kippen. Erschrocken schaute er hinab in den Abgrund, in das Tosen der Gischt, ehe er sich umdrehte, um seine Kamera zu suchen, aber da stand schon der Großvater über ihm und streckte die Hand aus, um dem Enkel aufzuhelfen. Von der AKArette keine Spur, und da machte der Alte eine kleine Bewegung mit dem Kopf, wies hinunter in die Schlucht, sodass August mit einem Schlag klar wurde, die Kamera war verloren, ja, womöglich hatte er sie mit seinen Füßen selbst hinuntergestoßen in die Stromschnellen, die er eben noch fotografiert hatte, doch das Bild war für immer weg, und nicht nur dieses, alle Aufnahmen waren verschwunden, alles fortgespült.

August weinte nicht. Er starrte in das Wasser, dorthin, wo eben die AKArette untergegangen sein musste, dann aber schaute er den Alten an, fixierte ihn, den Opa, der den Buben, dieses ungestüme Kind, nun trösten wollte, der ihn anlächelte, um ihm etwas Nettes zu sagen, aber gerade, als er dem Enkel auf die Beine helfen wollte, entfuhr dem ein Wort, sprach er den geheimen Code aus, den er bei seiner Mutter oft schon aufgeschnappt hatte, wenn sie über ihren Vater in Zorn geraten war, stieß August es im gleichen Ton hervor, wie er es von ihr kannte, obgleich er es in Wahrheit überhaupt nicht kannte, denn er hatte ja keine Ahnung, was es eigentlich bedeuten sollte, als er in der Klamm, die er mit dem Opa schon oft durchwandert hatte, »Scheißnazi« flüsterte,