Die Elbpiraten - Carl Crome-Schwiening - E-Book

Die Elbpiraten E-Book

Carl Crome-Schwiening

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Beschreibung

In Häfen der Mittelelbe verschwinden in den ersten Jahren nach 1900 von den Elbkähnen nächtens Teile der Ladungen. Schiffer und Polizei stehen vor einem Rätsel. Ist die "Schwarze Bruderschaft" darin verstrickt? Dieser Roman aus dem Magdeburger Schifferleben ist noch mit Liebesgeschichten gewürzt.

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Seitenzahl: 355

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


Umschlag

Nach dem Umschlag der „Elbpiraten“ aus

der Faberschen Buchdruckerei Magdeburg von 1905

Inhalt

Vorwort

Die handelnden Personen

Orte an der Mittelelbe

Dem Strom entgegen

Eine nächtliche Unterredung

Ein Retter in der Not

Die schwarze Bruderschaft

Unerwartete Begegnungen

Geheime Mächte

Das Geheimnis eines Fischerhauses

Zwei bedrückte Herzen

Gluten

Elbpiraten

Was die Löcknitz sah

Im Magdeburger Werftkeller

Die schwarze Hanne

Die Augen der Rache

Die erste Spur

Wetterleuchten

Eine Nacht, die Augen hat

Eine niederschmetternde Entdeckung

Um rotes Gold

Eine schwere Stunde

In höchster Not

Über allem die Liebe

Dankadresse

Quelle und Literaturhinweise

Abbildungsnachweis

Anhang :

Vita und Werke

;

Ortsangaben

;

Glossar

Portrait aus dem Werk „Die Elbpiraten“ von 1905

Vorwort

Bei der Suche nach Schriften über Magdeburger Elbschiffer stießen wir auf den Roman „Die Elbpiraten“ von Carl Crome-Schwiening. Er spielt in den ersten Jahren nach 1900 auf und an der Mittelelbe und spiegelt das Schifferleben zwischen Dömitz an der Mündung der Löcknitz, Tangermünde und Magdeburg wider.

Von dieser Schrift, die 1905 in der in Magdeburg alteingesessenen Faberschen Buchdruckerei gedruckt wurde, sind nur noch wenige Exemplare zugänglich, eines davon in der Staatsbibliothek zu Berlin, das wir digitalisieren ließen. Somit ist die Schrift jetzt auch als digitale Ausgabe in der Bibliothek verfügbar. Auf diesem Digitalisat beruht diese Schrift. Ihre Fraktur wurde in einen moderneren Schrifttyp übertragen, die Rechtschreibung geringfügig an die heutige angepasst und der Text mit überwiegend geographischen Abbildungen illustriert. Ansonsten aber wurden Ausdrucksweise, Wortstellung, Stil und Formen Crome-Schwienings beibehalten, um den authentischen Charakter der Wortfindung um die damalige Jahrhundertwende zu wahren. Für uns Heutige ungebräuchliche Worte werden in Fußnoten und einem Glossar kurz erläutert.

Erweitert wird die Schrift um eine kurze Biographie des Autors Crome-Schwiening. Auf dessen Verbindungen zu Hannover und Celle, wo er auch seine letzte Ruhestätte gefunden hat, soll bereits jetzt hingewiesen werden. Außer dem Glossar schließen sich noch Anmerkungen zu den Örtlichkeiten der Handlung an.

Viel Vergnügen beim Lesen eines Krimis, der in einer „versunkenen Welt“ mit Raub, Mord und – natürlich – Liebe spielt.

Altencelle, im Oktober 2021 Barbara und Harald Pinl

Die handelnden Personen

Bartmann, Johann (Schiffseigner)

Franz (Bootsmann)

Hekke, Lude (Rothaariger; Haupt der Schwarzbruderschaft)

Holub (Bootsmann, Deckname für Reimann)

Karle (der „lange Karle“, Mitglied der Schwarzbruderschaft)

Köthke, Hinrich (Gastwirt in Gaarz)

Rebacker, Wilhelm (Kaufmann und Hehler in Dömitz)

Rebacker, Marie (geb. Wendtland, Frau des Hehlers Rebacker)

Reimann, Ernst (Pionier-Vizefeldwebel a.D., Kriminalkommissar)

Schwarze Hanne (Artistin, Seiltänzerin; Geliebte von Lude Hekke)

Streblow, Meta (Stieftochter von Tampke)

Tampke (alter Fischer)

Tampke, Fritz (Sohn des Fischers Tampke)

Tampke, Gustav / Täve (Sohn des Fischers Tampke)

Wölling, Karl (Schiffseigner aus Tangermünde)

Wölling, Fritz (Sohn von Karl Wölling; Schiffer)

Orte an der Mittelelbe

Baarz (Fischerdorf an der Elbe)

Besandten (Fischerdorf an der Elbe)

Dömitz, mit Zingel und Dömitzer Brücke

Gaarz (Fischerdorf an der Elbe)

Havelberg

Kietz

Lenzen und Lenzener Wische

Magdeburg

Tangermünde

Wittenberge an der Elbe

Een Strom, de föhrt op jeden Schritt ln sinem Water Mudde mit ; So geiht't ok bi de Schifferi : Bi veele Gode is een Slechten bi! Den driwwt wi ut bilang mit Schand un Spott ; De ehrsam Schiffahrt - de bewohr uns Gott! (Schifferspruch.}

Ein Strom, der führt auf jedem Schritt In seinem Wasser Modder mit : So geht’s auch bei der Schifferei : Bei vielen Guten ist ein Schlechter bei! Den trieben wir bisher aus mit Schande und Spott : Die ehrsame Schifffahrt – die bewahre uns Gott!

1. Kapitel Dem Strom entgegen

Am Zingel 1 in Dömitz vorüber wälzte seine schweren, bleigrauen FIuten der Elbstrom zu Tal. Der Aprilmond des zweiten Jahres des neuen Jahrhunderts [1901] war mit sonnigen Blicken erschienen, unter denen weit droben im Land der letzte Schnee schmolz und in tausend Rinnsalen zu den Flüssen und Strömen niedereilte. Längst waren überall in den Elb-Winterhäfen, in denen die vielen Hunderte der großen Elbkähne Zuflucht gesucht vor Eisgang und Eisstoß, die Stätten, wo sie aneinandergelegt die Wintermonate überdauerten, wieder leer geworden. Reges Leben herrschte auf der Elbe. Den schwarzen Qualm gegen den noch immer grauen Frühlingshimmel in dicken Wolken aus den rußigen Schloten ausstoßend, keuchten die Schlepper, drei, vier, fünf der schwerbeladenen Kähne an den Trossen, zu Berg. Einzelne Kähne, tief im Wasser liegend, schwammen, das Steuer voraus, die günstigen Flutverhältnisse benutzend, ohne den großen Mast aufzurichten und die eigene Segelkraft zu benutzen, den Strom hinab. Seit langen Wochen wieder war der Elbstrom frei für die Schiffahrt, und wer als Eigner oder Haupter 2, Bootsmann oder Junge den Strom befuhr, freute sich, dass die schiffahrtslose Zeit wieder vorüber.

In diesem Frühjahr des Jahres 1901 machte die Elbe, die sonst gern ihre feuchten Arme weit in das Land hineinstreckt, es gnädig. Der wie ein gebogener Zeigefinger in den Strom hineinragende Dömitzer Zingel war freilich bis an die oberste Kante seiner Steinböschung bespült und das Gartenland vor dem Dömitzer Scheunenviertel am Zingel, das seine hässlichen fensterlosen Scheunengiebel nach der Elbe hinausreckt, war leicht überschwemmt. Aber man konnte noch, vom Dömitzer Marktplatz herabkommend, auf allerdings schmalem, aber vom Wasser nicht überspülten Wege die gebogene, auf Steingrund ruhende Landzunge, den Zingel, erreichen, und wer gerade an dem gegenüberliegenden höher gelegenen hannoverschen Elbufer zu tun hatte, das schnellaufende Benzinboot des Schwiegersohnes des Dömitzer Badeanstalt-Besitzers als Fähre über den Strom benutzen.

An einem Frühmorgen in der ersten Hälfte des Aprils des genannten Jahres war es, als ein breitschultriger und untersetzter Mann mit ergrautem Bart, der wie ein breiter Rahmen das massive, rasierte Kinn umgab, an der Seite eines hoch gewachsenen, leicht daher schreitenden schlanken Mädchens von kaum zwanzig Jahren von Dömitz her den niederführenden Weg zum Zingel herabschritt. Er war in kaum besserer Tracht, als sie die Fischer aus den Fischerdörfern der Lenzener Wische 3 gemeinhin tragen, und auch seine Begleiterin war einfach gekleidet, aber was sie trug, war in höchstem Maße sauber und gab ihr im Verein mit der eigenen, frischen Jugendlichkeit ein eigenartiges, anmutendes Gepräge.

Der alte Fischer Tampke aus Baarz 4, der mit seiner Stieftochter Meta Streblow jetzt auf dem Steindamme des Zingels stand und den Fluss hinab spähte, ob die Rauchsäule des Schleppzuges, den er erwartete, noch nicht sich zeigen wollte, musste in Dömitz wohlbekannt sein, denn auf dem Wege von dem Fischerdorfe herüber nach der kleinen Stadt und in deren Straßen hatte ihm manch‘ einer vertraulich zugenickt, seine hübsche, schlanke Begleiterin aber mit verwundertem Auge gemessen. Man wusste wohl, dass Tampke von seiner zweiten Ehefrau her, die nun auch schon seit Jahren im Grabe ruhte, eine Stieftochter im Hause hatte, die ihm nun die Wirtschaft führte, aber man sah die Meta so selten außerhalb des kleinen strohgedeckten Häuschens und des anschließenden Gärtchens, dass außerhalb des Dorfes sie kaum jemand von Ansehen kannte. Die sich ihrer aber erinnerten und sie heute auf flinken, elastischen Füßen neben dem Alten einherschreiten sahen, dachten: „Tausend ja – ist das Mädchen groß und hübsch geworden!“

Dem Stiefvater abgekehrt stand Meta Streblow neben ihm. Dicht an ihr vorüber schossen die leise gurgelnden Fluten der Elbe. Diese Fluten waren ihr von Kindheit an vertraut. Ihr Vater war in Tangermünde Schiffseigner gewesen, und schon als kleines Mädchen hatte sie am liebsten neben dem Vater hinten auf dem Kahne gestanden, wenn dieser das schwere Steuer handhabte. Eine schwere Havarie, die der Vater mit seinem Kahne erlitt, brachte dunkle Tage über die kleine Schifferfamilie, die vollends trüb wurden, als er sich auch noch aufs Krankenlager legte, um nicht wieder aufzustehen. Die Großmutter, die in einem der an das alte Gemäuer der inneren Rossfurt in Tangermünde gleichsam angeklebten kleinen Häuschen wohnte, nahm Tochter und Enkelin zu sich, bis sich für die erstere eine Versorgung in Dömitz fand. Die wirtschaftliche, ruhige Frau war dem verwitweten Tampke damals wohl als die beste Versorgerin seines Hauswesens erschienen, denn er hatte sie geheiratet und auch Meta in sein Haus aufgenommen. Die eigenen Söhne hatten längst in den Dörfern der „Wische“ 5 einen eigenen Hausstand gegründet.

An der Elbe von Dömitz bis Gaarz, Baarz und Besandten.Bhf. Bahnhof, W.F. Wagenfähre, Zgl. Ziegelei Nach der Reichskarte 1 : 100.000 (1928)

Inzwischen mochte ein Jahrzehnt verflossen sein. Seit Meta die Dorfschule verlassen hatte und eingesegnet war, verfloss das Leben still und eintönig für sie, vor allem nach dem vor ein paar Jahren erfolgten Tode der Mutter. Aber die hatte ihrem Kinde in jungen Jahren die Lust zur Arbeit eingeflößt, und in Metas Hände ging nun die ganze Hausarbeit über. Ihr wortkarger Stiefvater ließ sie in allem ruhig gewähren. Nur Verkehr mit gleichaltrigen ehemaligen Schulgenossinnen duldete er nicht. Er wollte keine fremden Gesichter in seinem Hause!

In den ersten Jahren war’s Meta wohl schwer geworden, sonntags, wenn Tanz war in Köthkes Saal in Gaarz 6 oder im Gasthofe in Besandten 7, so allein daheim zu sitzen, aber ihre schüchternen Bitten, auch einmal die Freuden der Jugend mitgenießen zu dürfen, hatten ihr eine so rauhe Abweisung des Stiefvaters gebracht, dass sie eine zweite Bitte nie wieder gewagt. Sie lebte vor dem finsteren, verschlossenen Alten in einer beständigen Furcht. Oft kam ihr in der Abgeschiedenheit des finsteren, dicht hinter dem Elbdamm liegenden Fischerhäuschens die Sehnsucht nach dem lichteren Leben da draußen. Aber außer der alten Großmutter, die vergrämt und kränklich in Tangermünde ihre letzten Erdenjahre verlebte, hatte sie niemanden auf der weiten Gotteswelt. Sie war an das finstere, einsame Fischerhaus, an den gefürchteten Stiefvater gebannt.

Auf ihren sonst ernsten, reinen Zügen lag heute ein ungewohnter Schimmer, und ihre Brust ging stärker in der Luft, die hier kühl und herb vom Elbstrom aufstieg. Ihre klaren grauen Augen ruhten auf der Silhouette der langgespannten Dömitzer Elbbrücke 8 und sandten sehnende Blicke weiter stromaufwärts. Es war ihr schier selbst ein Wunder, dass sie hier stand und dass sie ein Stück Elbleben wiedersehen sollte.

„Halt‘ Dich fertig morgen früh! Ich muss in Geschäften nach Tangermünde, und Du kannst mitkommen,“ hatte ihr Stiefvater am gestrigen Abend geknurrt, ehe er wieder, wie zumeist, in die Nacht hinausging, um dann erst mit Tagesgrauen heimzukommen.

In freudiger Erwartung hatte Meta Streblow wenig geschlafen die Nacht. Tangermünde – wo sie geboren, als Kind sich herumgetummelt, in den dunklen Ausfallpforten der hier noch fast unversehrt erhaltenen, jahrhundertealten Stadtmauer Verstecken gespielt hatte, wo ihre alte Großmutter noch lebte, und wo morgen gerade – sie hatte es gestern just im Kalender gelesen – auf dem alten Klosterplatze 9 vor dem in seiner kastellartigen Schöne ehrwürdigen Neustädter Tor das ganze bunte Marktleben des Ostermarktes – das ganze Entzücken ihrer Kinderjahre – sich entrollen würde!

Jetzt wieder dachte sie daran, und der rosige Schimmer auf ihren Wangen vertiefte sich. Auch auf die Fahrt freute sie sich. Dass der alte Tampke sie auf dem Kahne eines Bekannten stromauf machen wollte, anstatt die Bahn zu benutzen, schrieb sie seinem Geiz zu, aber ihr war es doppelt recht. Und dauerte die Fahrt auch bis zum Abend – sie würde schon von weitem die Türme ihrer alten Geburtsstadt über dem Elbstrom aufsteigen sehen, den hohen Kapitelturm und den Gefängnisturm da oben auf der Höhe, wo einst das alte Schloss Kaiser Karls des Vierten stand. Tausend lichte Erinnerungen stiegen, gleichsam durch die Bogen der Dömitzer Elbbrücke da drüben auf dem Strom zu ihr heranflutend, in der Seele des jungen Mädchens auf. Und ein tiefer Seufzer der Erwartung kam von ihren blühenden Lippen.

Die Stimme des alten Fischers Tampke riss sie wieder in die Gegenwart zurück. „Da kommt er!“ hörte sie ihn zu dem Besitzer des Motorbootes sagen, und auch ihre Augen folgten seinem deutend ausgestreckten Arme. Dort unten in der Flussbiegung unterhalb Dömitz konnte man den Schleppzug schon herankommen sehen. Schon sahen die scharfen Augen des jungen Mädchens die Schornsteinabzeichen, die beiden roten Streifen im weißen Felde, der ihn als der Elbe-Dampfschiffahrtsgesellschaft 10 zugehörig erkennen ließ. Mit drei Kähnen im Schlepp schob er mit seinen starken Maschinen durch die Flut, langsam dem Zingel sich nähernd.

Hier hielt selten nur ein Schleppzug an. Aber Meta Streblow kannte ja das Schiffsleben. Dies flinke Motorboot würde sie an den langsam zu Berg fahrenden Schleppzug heranbringen, sich längseit an den Kahn von Tampkes Bekannten legen, und sie würden am breiten Heck an Bord desselben übersteigen. Das Blut des jungen Mädchens rollte rascher durch die Adern, die lange gedämpfte Lebenslust brach sich neue Bahn in ihr, und mit leiser Ungeduld harrte sie des Augenblicks, da der Schleppzug die Höhe des Zingels erreicht haben würde.

Schornsteinsignal „E“ Photo Eckbert Busch

Jetzt konnte sie schon das „E“ zwischen den beiden roten Streifen an den Schloten des Schleppers erkennen – wenige Minuten noch, und er qualmte an ihnen vorüber. Jetzt winkte ihr Stiefvater, und sie sprang zu ihm in das Motorboot, das gleich darauf in flotter Fahrt in den Strom hineinschoss, dann den scharfen Bug gegen die Strömung kehrte, und nun an den letzten Kahn heranglitt.

Auf die Sitzbank des Benzinbootes tretend, schwang sich Meta Streblow leicht an Bord des Kahnes. In seiner gelassenen Ruhe folgte ihr der alte Fischer. Mit ein paar halblaut geknurrten Worten und einem flüchtigen Händedruck begrüßte er den Führer des Kahnes. Der schrie nach dem Bootsmann hinüber, der vorn, die Hände in den Taschen, auf dem Bugdeck des Kahnes stand, den schwarz geräucherten Kalkstummel 11 zwischen den Zähnen, auf den Ruf aber, behend über die schräge Bedachung laufend, hinten erschien.

„Pass op dat Stüer!“ Der Bootsmann nickte nur und trat an des Kahnführers Stelle, der mit Tampke in der kleinen Kajüte verschwand. Das junge Mädchen hatte nur einen Blick auf den Mann geworfen, der nun, den Arm auf den langen Steuerarm gelegt, in ihrer Nähe stand. Aber in diesem kurzen Augenblick war es ihr gewesen, als ob zwischen ihrem Stiefvater und diesem Bootsmann ein blitzartiger Blick des Einverständnisses ausgetauscht wäre.

Aber sie hatte sich wohl geirrt. Mit diesem abstoßenden Schiffsknecht da, dessen bloße Nähe schon Meta wie ewas Unangenehmes empfand, konnte ihren Stiefvater auch nicht die loseste Gemeinschaft verbinden. Unter der alten, fettigen, blauen Schirmmütze zeigte sich strähniges brandrotes Haar, und auf dem blatternarbigen Gesicht mit der starken Hakennase und den wulstigen Lippen hatten List und Verwegenheit ihre Züge eingegraben. Und beides funkelte auch aus den Augen des Bootsmannes, die jetzt aufblitzend das junge Mädchen streiften.

Ein Rot des Unwillens schoss bei diesem keck sie musternden Blick in Metas Wangen. Die Nähe dieses Mannes, der am Ende der Zwanziger stehen mochte, verleidete ihr den Genuss, den der Ausblick rechts und links ihr bereitete. Sie trat so weit von ihm zurück, als es der Raum auf dem hinteren Deck gestattete. Was ging sie der Schiffsknecht an!

Und über den weiten Ausblick, den ihr Platz ihren Augen, die sich an das Enge hatten gewöhnen müssen, gewährte, vergaß sie den Mann hinter ihr am Steuer völlig. Längst hatten sie die Elbbrücke, den zur Linken einbuchtenden Dömitzer Hafen, die ersten Fischerdörfer der Lenzener Wische, die ja nun auch ihre Heimat geworden war, passiert, aber immer neu tranken sich ihre Blicke satt an dem, was der Strom und seine Ufer ihnen bot. Und doch waren es immer wieder dieselben Bilder. Kähne, die an ihnen vorüberschwammen, und deren in frischen Farben leuchtenden Buganstrich sie musterte, leer zu Tal gehende Schlepper, die gleiche eintönige Uferszenerie : links grünes Wiesengelände, am Stromufer hier und da mit reichem Buschwerk besetzt, zur Rechten über den Buhnen ansteigender gelber Sand mit Heidestreifen dazwischen und schweigenden Föhren. Und doch empfand das junge Mädchen das alles wie ein neues Leben, das ihr tausend neue Offenbarungen zu verheißen schien.

„Geh‘ runter, Meta! Unten steht Frühstück für Dich!“

Die harte Stimme des Stiefvaters riss die Träumende in die Wirklichkeit zurück. Meta verspürte keinen Hunger. Gern wäre sie oben geblieben, anstatt in die enge Kajüte des Schiffers da unten hinabzusteigen. Aber sie war gewöhnt, jedem Gebot des Stiefvaters blindlings zu folgen. So stieg sie denn stumm die Stufen der kleinen Holztreppe hinab. Butter, Brot und Landwurst stand für sie bereit und der Schiffer nötigte sie mit ein paar derbfreundlichen Worten, zuzugreifen, während er selbst sich ein Glas aus einer bauchigen Flasche füllte und die Flasche und das Glas dann sorglich wieder in dem kleinen Wandschrank verwahrte.

Meta aß hastig ein paar Bissen. Es drängte sie, wieder aus der engen Kajüte hinauf an Deck zu kommen. Als sie dort auftauchte, sah sie den alten Fischer von dem rothaarigen Schiffsknecht jäh sich abwenden. Um dessen Mund aber zuckte es wie ein höhnisches Lachen. Eine Unruhe, die ihr den ganzen Genuss an der Fahrt zu vereiteln drohte, ergriff sie, als sie wahrnahm, dass jene beiden, wie nun auch der Schiffer wieder hinaufkam, sich benahmen, als habe der eine von der Existenz des anderen keine Ahnung.

Ein paar kurze Worte schickten den rothaarigen Bootsmann wieder nach vorn. Ehe er über die schrägen Bretter des Kahndaches dahinlief, wandte er Meta Streblow voll das Gesicht zu. Sekundenlang traf sie ein funkelnder Blick aus seinen Augen. Wildes Begehren lag darin. Ein Schauer lief dem Mädchen über den Leib und zugleich wallte es zornig in ihr auf.

„Vor dem Bootsmann hätt‘ ich Furcht!“ sagte Meta halblaut zu dem Schiffer. „Der Lude Hekke?“ lachte dieser gutmütig. „Ich habe ihn nur bis Tangermünde angenommen, wo ich auslade. Lang hält der auf einem Kahn überhaupt nicht aus. Schad‘ drum, denn es gibt elbauf und elbab kaum einen zweiten Schiffsknecht, der es ihm gleich täte an Kraft und Gewandtheit. Aber er kann sich selten vertragen mit dem anderen Schiffsvolk, und dann sitzt ihm das Messer lose in der Faust. Sonst versteht er sich auf’s Schifferhandwerk wohl! Ich hab‘ nicht groß über ihn zu klagen gehabt, wenn er auf meinem Kahn war!“

Die Stunden rannen. Das Mittagessen war frugal, aber kräftig. Pökelfleisch mit Sauerkraut und Pellkartoffeln.

„Das versteht der Lude Hekke!“ sagte der Schiffer, der es wie der alte Tampke sich gut schmecken ließ. „Er kocht wie die beste Schifferfrau!“ Meta schob ihren Teller zurück, als der Schiffer ihn neu füllen wollte. Sie empfand plötzlich Ekel vor dem Essen.

„Ich danke!“ sagte sie hastig, „ich habe genug!“

Ein ärgerlicher Blick aus den grauumbuschten Augen des Stiefvaters traf sie. „Meinst, in Tangermünde gibt es Braten und Lampreten 12 bei der Großmutter?“ sagte er hart und höhnisch.

Sie blieb mit gesenktem Kopf sitzen, während die Männer ihre Pfeifen anzündeten. So groß ihre Sehnsucht war, hinaufzugehen auf Deck – sie ahnte, dass der Rothaarige wieder am Steuer stehen würde, und sie wartete lieber, bis der Schiffer selbst hinaufging.

Es begann schon zu dunkeln, als man in die Nähe von Tangermünde kam und die Türme der Stadt auftauchen sah. Während Meta’s Blick an der Silhouette der alten Stadt hing, die hier, nach der Elbseite hin noch ganz den Eindruck eines mittelalterlichen befestigten Platzes macht, waren alle Hände auf dem Kahne in Bewegung. Etwas oberhalb der Fähre und der Einfahrt zu dem schmalen Hafenbecken Tangermündes stoppte der Schlepper und ließ seine Anker zu Grund gehen. Der Kahn, auf dem sie fuhren, wollte hier die Trosse abwerfen und an dem Ausladeplatz an der Hafenbahn, unterhalb des Schlossberges, ankern. Die Bootsleute standen mit den langen Stangen bereit, den schwerbeladenen Kahn, sobald losgeworfen war, aus der Strömung in das ruhigere Uferwasser und an den Platz zu bringen, wo er löschen sollte.

Tangermünde von der Elbe aus Photo Erich Kilian

Das heisere Signal aus der Dampfpfeife des Schleppers und das geschäftige Leben auf dem Kahne selbst hatte Metas Aufmerksamkeit für kurze Zeit wieder ihrer nächsten Umgebung zugelenkt. Die Worte des Schiffers fielen ihr ein, als sie die Kraft sah, mit welcher sich Lude Hekke, der rothaarige Schiffsknecht, gegen die Krücke des Stakens legte, um das von der Trosse befreite Schiff, das mit dem Strom zurückglitt, aus diesem heraus und an den bestimmten Anlegeplatz zu bringen. Er musste eiserne Muskeln besitzen, dieser Mann, und dem, der ihm in Ungutem entgegentrat, ein gefährlicher Gegner sein!

Trotz der kalten Abendluft perlte der Schweiß auf der Stirn des Rothaarigen, als der Kahn endlich am Ufer lag und mit Bug- und Heckanker gesichert war. Während der alte Fischer Trampke sich von dem Schiffer verabschiedet, fiel Metas Blick auf den großen neuen Kahn hinter ihnen, der schon halb gelöscht hatte. In leuchtendem Rot war der Kahn bemalt, mit holzfarbener Bordkante. Auf dem blauen verzierten Namensschilde stand in weißen Buchstaben der Name des Schiffseigners „Karl Wölling Tangermünde“.

Wie ihr Blick noch auf dem sauberen Bugdeck des Kahnes mit dem graugestrichenen Spill ruhte, tauchte aus der kleinen Kajüte der Bootsleute ein hochgewachsener Schiffer auf, die dunkelblaue Tuchmütze auf dem Kopfe, im dunklen Sonntagsgewand. Einen Augenblick begegneten sich die Blicke des Mädchens und des jungen Mannes, aus dessen hübschem gebräunten Antlitz ein paar offene blaue Augen in die Welt leuchteten. Von einer Empfindung überrieselt, von der sie sich keine Rechenschaft geben konnte, senkte Meta die Augen. Jener aber sprang auf das Laufbrett und schritt mit sicherem elastischen Schritt hinüber ans Land, wo er auf dem zur Schlossfreiheit 13 aufwärts führenden Wege, ohne sich noch einmal umzuwenden, verschwand.

Auch auf ihrem Kahn schob Ludde Hekke gerade die Laufplanke zum Ufer hinüber, und Meta hörte ihres Stiefvaters rauhen Ruf, an’s Land zu gehen. Dicht vorüber musste sie an dem bei der Planke stehen gebliebenen Rothaarigen. Ohne dass sie ihn ansah, fühlte sie, dass seine Blicke sie dreist musterten, und wieder schoss ihr das Blut bis unter das am Scheitel leicht gewellte nussbraune Haar. Sie lief fast über das Brett zum Ufer, um dem Blick aus diesen funkelnden Augen nicht mehr ausgesetzt zu sein, und doch nicht schnell genug, um nicht ein kurzes, leises Geflüster, das wie eine gebieterisch gegebene Frage und wie eine beschwichtigend erteilte Antwort klang, noch hinter sich zu vernehmen. Das konnte nur ihr Stiefvater und der Schiffsknecht gewesen sein. Wieder fühlte sie es wie eine leise Angst in sich aufsteigen; diese verschwand jedoch sofort, als der alte Fischer an ihre Seite trat und weniger rauh als gewöhnlich sagte :

„Geh zur Großmutter, Meta, und sieh, ob Du zur Nacht nicht bei ihr bleiben kannst. Ich geh‘ in die Herberge der Schifferbrüderschaft. Frag‘ Dich hin, wenn Du bei ihr kein Quartier findest. Ich lasse Dir dann in der Schifferherberge eine Kammer freistellen. Und morgen wirst Du Dich wohl nicht langweilen. Is‘ ja Markt hier! Da sind ein paar Marktgroschen“ – er drückte dem Mädchen ein paar Geldstücke in die Hand, „und dann merk Dir’s! Morgen nachmittag um 4 Uhr erwartest Du mich oben am Tangerhafen bei der Schleuse; in der Gastwirtschaft ‚Zum Elbhafen‘ hab ich Geschäfte. Brauchst nicht erst nach mir zu fragen. Ich treff Dich schon!“ Er nickte kurz und wandte sich demselben Wege zu, den vorhin der schmucke junge Bootsmann vom Nachbarkahn eingeschlagen. Meta Streblow aber eilte mit raschen Schritten durch die Anlagen an der Stadtmauer hin, deren Büsche zu knospen anhuben, dem Rossfurtturm zu, und wenige Minuten später der alten überraschten, aber das Mädchen in ihrer engen, aus Kammer und Stübchen bestehenden ärmlichen Wohnung willkommen heißenden Großmutter in die welken Arme.

1 Landzunge, die bogenförmig in die Elbe hinein ragt.

2 Lotse, der am „Haupt“ der zu lotsenden Schiffe voraus fährt. Vgl. Anhang.

3 „Wiese“, Feuchtgebiet bei Lenzen, zwischen den Flüssen Elbe und Löcknitz.

4 Fischerdorf , ostelbisch und elbaufwärts von Dömitz

5 Niederdeutsch für Wiese. Gemeint ist die Lenzer Wische.

6 Fischerdorf , ostelbisch und elbaufwärts von Dömitz.

7 Fischerdorf , ostelbisch und elbaufwärts von Dömitz.

8 Eisenbahnbrücke der Strecke Hamburg – Dannenberg – Dömitz - Berlin.

9 Platz in Tangermünde vor dem ehemligen Dominikanerkloster.

10 Zu den Dampfschiffahrtsgesellschaften der Elbe vgl. Glossar

11 Stücke vom Stil weißer Tonpfeifen. Vgl. Anhang.

12 Leckere Neunaugen. Vgl. Glossar.

13 Wohngebiet für Lehnsleute in Schlossnähe. Vgl. Anhang.

Tangermünde: Rossfurt mit Elbtor Ansichtskarte 1927

2. Kapitel Eine nächtliche Unterredung

Langsam stieg der alte Tampke, nachdem er sich von seiner Stieftochter getrennt, den Weg zur Schlossfreiheit hinan, wo früher die Burgmannen in ihren Lehnhäusern 14 wohnten. Finster ruhte sein Auge auf dem unebenen Steinpflaster, über das seine Füße langsam und bedächtig dahinschritten. Die grauen, buschigen Brauen waren zusammengezogen. Ärgerliche Gedanken schienen dem Alten zu schaffen zu machen.

Auf der Höhe der Schlossfreiheit angekommen, ließ Tampke seinen Blick sekundenlang rundum gehen, wie um sich zu vergewissern, dass er auf dem rechten Wege sei. Für die alten denkwürdigen Häuser hier mit ihren vielfachen historischen Erinnerungen hatte er ebensowenig Sinn wie für den schönen alten Turm des Hünerdorfer Tores, 15 in dem einst Grete Minde 16 saß, den er dann zur Linken liegen ließ, um in die Tangermünder Vorstadt Hünerdorf einzubiegen. Hier hatte sich in vergangenen Jahren die wendische Bevölkerung der Stadt angesiedelt, heute wird sie zumeist von Schiffern bewohnt.

In die lange Hünerdorfer Straße, von der nur wenige schmale Quergassen abzweigen, bog der alte Fischer ein, und er hatte bald gefunden, was er suchte : eine Gastwirtschaft mit zur Linken des Flurs liegender großer Gaststube. Ein Blechschild an dem Backsteinhause verkündete in halbverblichener Schrift, dass hier der „Schifferverkehr“ 17 sei und dass Bootsleute hier Logis fänden.

Der morgige erste Markttag des besuchten Tangermünder Osterkrammarktes hatte viel fremdes Marktvolk in die Stadt geführt, das in den wenigen kleinen Herbergen und Wirtschaften Unterkunft gesucht. Der alte Fischer konnte von Glück sagen, dass er eine solche hier für die Nacht noch zugesagt erhielt. Jetzt saß er, ein Glas Stendaler Bier vor sich auf dem Tische, mit aufgestützten Armen in einer Ecke und blickte in die bunte Gesellschaft, die sich hier in der Gaststube zusammmengefunden hatte.

Marktbezieher und Schiffervolk saßen um die Tische herum und auf den an den Wänden sich hinziehenden Bänken. Die ersteren geschwätzig durcheinander schnatternd, die Bootsleute meist schweigsam, die kurze Pfeife oder Zigarre rauchend, und nur ab und zu kurze Worte miteinander wechselnd. Ein Dunst von Bier und Branntwein und dicke blaugraue Tabakschwaden durchzogen die niedrige Schankstube, hinter deren Schanktisch eine wohlbeleibte, unsaubere Frau die Getränke eingoss.

Längst war der Abend hereingebrochen. Meta Streblow war nicht zu dieser Schifferherberge gekommen. Die Großmutter hatte sie also aufgenommen. Dem alten Fischer war’s recht so. Für das Mädchen wäre das hier doch wohl nicht der rechte Aufenthalt gewesen.

Der Zeiger der alten Standuhr wies auf die Neun. Der Fischer ließ langsam die letzten Tropfen aus dem Glase über die Lippen rinnen. Dieser Lude Hekke war pünktlich. Er, Tampke, konnte darauf rechnen, dass in den nächsten Augenblicken eine nervige Hand die Schankstubentür aufreißen würde und ein rothaariger Kopf in dem leichten bläulichen Rauchnebel, der den kleinen Raum erfüllte, erscheinen würde. Die dünnen Lippen des alten Fischers pressten sich zusammen. Wenn der Lude Hekke glaubte, mit ihm nach Gefallen umspringen zu können, dann wollte er ihm den Weg schon weisen! So ließ sich der alte Tampke von keinem Schiffsknecht kommen.

Ein kalter Luftzug drang zu ihm herüber. Da stand der rothaarige Bootsmann schon in der offenen Tür, die er langsam hinter sich zuzog, indessen er einen spähenden scharfen Rundblick durch das Schankzimmer warf. Kaum merklich nickte der Rothaarige ein paar anderen Bootsleuten zu, als er in die Schankstube hineinschritt und sich durch die Gäste dem Schankstande zudrängte. Als er den alten Fischer sah, schien ein Lächeln in dem blattnarbigen Gesicht des Schiffers aufzuzucken. Er sandte jenem einen bedeutungsvollen Blick zu und warf den Kopf nach der Tür zu mit kurzem Ruck in den Nacken.

Das war ein zu deutlicher Wink, aufzustehen und den Bootsmann draußen zu erwarten, als dass ihn Tampke hätte nicht verstehen sollen. Dem stieg über den gebieterischen Wink der Unmut auf, so dass sich in die runzelige Stirn des Graubärtigen zwei tiefe Falten gruben. Der Rothaarige zog den Mund in höhnische Falten, schritt dann aber an Tampke’s Tisch vorüber und zum Schankstand, wo er sich ein großes Glas Schnaps einschenken ließ. Das trug er zu dem Tische, an dem der Fischer saß. Und es hart niedersetzend, nahm er an der Seite des unwillig weiterrückenden Alten auf der Bank Platz, und jener hörte plötzlich an seinem Ohr die leise gezischelten Worte :

„Seht Euch mein Glas an, Tampke! In drei Minuten habe ich es ausgetrunken. Dann geh‘ ich hier aus der Herberge. Und wenn ich Euch dann nicht schon draußen finde, dann ist die ‚schwarze Bruderschaft‘ fertig mit Euch – ein für allemal, merkt’s Euch!“

Meta Streblows Stiefvater hatte bei den ersten Worten Lude Hekkes schon ein heftig abweisendes Wort auf der Zunge, aber die Erwähnung der „schwarzen Bruderschaft“ ließ ihn zusammenzuk-ken. In höchster Überraschung sah er zu seinem Nachbarn auf, der in vollem Gleichmut sein Schnapsglas hob und zur Hälfte leerte. Als er es wieder niederstellte, hatte sich der alte Fischer erhoben und drängte sich dem Ausgange der Schankstube zu. Nun trat ein geringschätziges Lächeln auf die Lippen Lude Hekkes und er murmelte :

„In einer Stunde ist der widerborstige Alte weiches Wachs in meiner Hand!“

Er schüttete den Rest des scharfen Branntweines in sich hinein, als sei es klares Wasser und folgte dann dem Fischer hinaus. Dieser erwartete ihn auf dem schlechtgepflasterten Straßendamm. Nur an wenigen Eckhäusern brannten Laternen, die ein spärlich Licht warfen. Die Nacht war dunkel.

Mit einer hastigen Frage wollte Tampke auf Lude Hekke zutreten, als dieser sichtbar wurde, aber der hob warnend die Hand.

„Nicht hier!“ raunte er dem Alten zu. „Was wir zu besprechen haben, braucht keine Straße zu hören. Ich weiß hier einen Ort, wo wir ungestört reden können. Kommt!“

Schweigend folgte der Alte. Als Lude Hekke wieder zur Schlossfreiheit einbog, flüsterte der Fischer :

„Wollt Ihr zur Elbe hinunter?“

„Schweigt doch,“ murrte der Rothaarige. „Und folgt mir – oder besser, gebt mir Eure Hand, dass ich Euch führe. Hier ins Dunkel bergab geht der Weg. Aber tretet nur ruhig fest zu – es ist ebener Weg unter Euren Füßen!“

Schwarz und drohend ragte vor ihnen der runde Gefängnisturm des Schlossberges auf. Lude Hekke hatte Tampkes Hand ergriffen und zog ihn auf absteigendem Pfad niederwärts. Ein Stück des alten tiefen Grabens der Burg, mit Büschen zum Teil besetzt, läuft hier noch um den Tangermünder Schlossberg. Ein schmaler Weg zieht sich auf dem Grunde desselben hin. Sie mochten die Länge des tiefen Grabens, über dem finstere Nacht lag, halb durchschritten haben, als Lude Hekke stehen blieb, ein paar der noch blätterlosen Stauden zurückbog und Tampke zuraunte, ihm zu folgen. Dicht hinter den Büschen stieg der Schlossberg an. Aber die tastende Hand traf hier wieder auf Quadermauern. Ein gemauerter Gang, breit genug, um einem sich bückenden Manne den Einschlupf zu gestatten, lief hier in das Innere des Schlossberges.

„Kommt nur,“ raunte Lude Hekke Tampke zu. „Der Gang ist trocken und weitet sich nach ein paar Schritten. Hab‘ manche Nacht drin zugebracht. Und drinnen sind wir sicherer vor Lauschern als sonst irgendwo den Elbstrom entlang.“ Er hatte drinnen ein Feuerzeug aus der Tasche genommen und einen Lichtstumpf angebrannt. In der schweren dumpfigen Luft brannte das Licht nur mit kleiner roter Flamme, kaum so viel Schimmer gebend, dass es die Züge der beiden Männer beleuchtete.

„Nun macht’s Euch bequem, Tampke. Hier liegt ein alter Quader an der Steinwand, darauf setzt Euch.“

Er selbst warf sich auf den trockenen Steinboden.

„Horcht!“ mahnte der alte Fischer leise und erschreckt, als ein Rascheln in dem Gange erklang, durch den sie in dieses Versteck gedrungen.

„Nur ’ne Ratte,“ beruhigte Lude Hekke, den Lichtstumpf zwischen ein paar Steinbrocken vor sich auf dem Boden einklemmend. „Es ist hier das einzige Lebende außer uns.“

„So sagt doch endlich, was Ihr von mir wollt!“ knurrte der Fischer, der in seinem Beruf und auf seinen geheimnisvollen Nachtwegen in der Lenzener Wische die tausendfachen Nachtgeräusche längst gewohnt geworden war. „Ihr nanntet vorhin die ‚schwarze Bruderschaft‘!18 Was habt Ihr mit der zu tun und sie mit Euch? Ich denk‘, Ihr betreibt Euer nächtliches Geschäft, wenigstens kannte ich Euch so, nur auf eigene Faust, wenn Ihr auch schon längere Zeit mir keinen Verdienst mehr gegönnt habt!“

Lude Hekke lachte leise auf.

„Ihr seid ein schlauer Fuchs! Und Ihr habt die ‚schwarze Bruderschaft‘ der Schiffer arg über das Ohr gehauen. Still, versucht nicht zu widersprechen, der Lude Hekke weiß, was er sagt! Und wenn sie morgen hier zusammen ist, geschieht es um Euretwillen. Sie will den Vertrag brechen mit Euch, Tampke.“

Der alte Fischer zuckte auf :

„Warum? Gibt’s einen Besseren und Verläßlicheren an der Grenze gegen Mecklenburg hin, als ich einer bin?“

„Mag sein! Aber bisher zogt Ihr die Fettfedern aus dem ganzen Handel und der Bruderschaft blieb ein armselig Teil. Das wird jetzt anders werden. Nun hat die Schwarzbruderschaft auf dem Elbstrome ein neues Haupt; sie wird die Sache im Größeren betreiben, will aber auch darauf sehen, dass ihr ein besserer Lohn bei ihrem gefährlichen Handwerk bleibt. Deshalb ist die ‚schwarze Bruderschaft‘ hier zum Ostermarkt nach Tangermünde zusammenberufen worden und Ihr dazu!“

Immer heftigeres Staunen malte sich in dem faltigen Gesicht des Fischers!

„Woher wisst Ihr das alles, Lude Hekke?“ raunte er mit schwankender Stimme. „Denn die Schwarzbruderschaft zählt Euch nicht zu den Ihren.“

Wieder trat bei dem trübe schimmernden Lichte das höhnische Lächeln auf das Gesicht des Blatternarbigen. Statt aller Antwort streifte er den Ärmel des Rockes und den der wollenen Jacke darunter auf. Eine noch frische Tätowierung zeigte sich auf seinem Arm : ein Anker neben einem Totenkopf. Der alte Fischer war beim Anblick des Zeichens zurückgefahren.

„Die Bruderschaft hat Euch aufgenommen?“ flüsterte er mit allen Zeichen einer großen Überraschung. „Und das hat ihr Häuptling, den sie den Akener Elbtiger nennen, weil ihm keiner gewachsen ist auf dem Elbstrom, zugegeben? Denn ich weiß, er war Euch feind, Lude Hekke!“

Die wulstigen Lippen des rothaarigen Schifferknechtes zogen sich von den derben weißen Zähnen zurück. Ein grausames Lächeln spielte um seinen Mund.

„Einer ist ihm doch gewachsen gewesen, Tampke,“ sagte er langsam, und die beiden Arme des Mannes zogen sich gegen die Schultern zurück, dass die Muskeln faustdick sich spannten. Mit schnellem Blick sah der Fischer zu ihm auf.

„Ihr?“ stieß er heiser hervor. „Ihr, Lude Hekke? Und was – was ist aus dem Akener geworden?“

Die Augen des Rothaarigen gingen zur Seite.

„Der Strom hat ihn geholt – wie so manchen von uns – über Bord, zur Nachtzeit – “

Der Fischer gab keine Antwort. Ein Grauen vor seinem Gegenüber wandelte ihn an. Von der Gewalttätigkeit des Rothaarigen raunte man sich manches in die Ohren, mehr noch von seiner Furchtlosigkeit. „Und die Schwarzbruderschaft nahm nicht Rache an Euch –?“ stammelte er endlich.

„Ihr seht es ja an meinem Arm, welche Rache sie nahm,“ sagte Lude Hekke ruhig. „Ich wusste zu viel von ihr, entweder sie oder ich mit ihr! Ehrlicher Kampf war’s, vor den Genossen, in dem ich den Akener warf – mein Messer war schneller als seins. Die mit Eisendraht an seine Füße gebundenen Steine halten ihn auf dem Elbgrund fest, bis die Flut und die Fische ihn unkenntlich gemacht haben. Aber die Bruderschaft hat noch mehr getan, Tampke – “

Dieser schnellte von seinem Sitze auf.

„Ihr seid – Ihr seid doch nicht ––?“

„Ihr Führer, Tampke! Doch – das bin ich. Ich war’s der die Schwarzbruderschaft von Wallwitzhafen bis Lauenburg zusammenberief hierher nach Tangermünde, der Euch aufforderte, auf Johann Bartmann’s Kahn die Fahrt hierher zu machen.“

„Ihr, Lude Hekke!“ stammelte der Fischer. „D es h a l b traf ich Euch auf dem Kahn an! Und um Euch vor der Zusammenkunft der Schwarzbruderschaft mit mir ins Reine zu setzen, flüstertet Ihr mir auf dem Kahne zu, Euch heut‘ abend in der Schifferherberge zu erwarten?“

„Mag sein,“ meinte der Rothaarige langsam.

„Lude Hekke!“ Der Alte beugte sich nieder und schlug dem auf dem Boden Hockenden vertraulich aufs Knie.

„Wenn Ihr und ich einig seid – Ihr seid der rechte Kerl, die anderen tun zu lassen, was Ihr allein wollt – für uns zwei spränge genug heraus dabei. Verbündet Euch insgeheim mit mir und vertretet meine Sache morgen wie Eure eigene vor der Bruderschaft – “.

„Mich mit Euch verbinden, Tampke,“ sagte Lude Hekke langsam und mit eigentümlicher Betonung des letzten Wortes.

„Der Gedanke ist mir heute auch schon gekommen, als ich Euch am Dömitzer Zingel auf den Kahn steigen sah und sah, dass Ihr nicht allein kamt!“

„Was wollt Ihr damit sagen, Lude Hekke?“

„Ich wusste nicht, dass Ihr eine Tochter hattet, Tampke – ich dachte, Ihr hättet nur den Fritz und den Gustav, den Täve, der uns ein paarmal nachts an der Löcknitz zur Hand ging.“

„Wenn Ihr die Meta meint,“ sagte der Fischer, dessen Brauen sich wieder finster zusammenzogen – „die ist nicht mein eigen Kind. Meine zweite Frau hat sie mit ins Haus gebracht – – “

„Eure Stieftochter also, Tampke. Aber Ihr habt Macht über sie, dünkt mich!“

„Sie folgt mir wie mein eigen Kind,“ sagte der Alte rauh. „Aber ich denk‘, wir sind hier um anderer Dinge willen und nicht, um über Mädchen zu sprechen.“

„Wenn nun aber gerade das Mädchen, von dem wir sprechen, zusammenhinge mit allem anderen – hm?“

„Ihr müsst deutlicher werden, wenn ich Euch verstehen soll, Lude Hekke!“ murrte der Alte. „Was soll’s mit der Meta?“

„Wenn ich nun auch nach den gefährlichen Fahrten, die ich wage, ein Haus haben möchte und ein Weib drinnen, wie die anderen?“ Der Rothaarige hatte sich weit gegen den Fischer vorgebeugt, und seine dunklen Augen blitzten ihn an. „Und wenn es just die Meta, Eure Stieftochter wäre, Tampke, die ich zum Weibe haben möcht‘, wie dann?“

„Macht keine Narrenspossen!“ knurrte der Alte.

„Für Euch zog ich die Meta nicht auf. Und was das andere anbelangt – ich will in den Beutel greifen und tief genug, Lude Hekke, wenn die Schwarzbrüderschaft mir weiter die Waren liefert, die nachts aus den Kähnen –“

„Ums Geld ist mir’s nicht!“ rief der Rothaarige rauh.

„Aber um das Mädchen! Habe sie ein paar Stunden nur gesehen und, hol mich der Schwarze, Tampke – das Mädchen will ich und kein anderes. Und wagt Ihr es, sie mir zu verwehren – – “ er lachte leise und spöttisch auf, während das verwitterte Antlitz des Alten plötzlich fahl wurde – „nun, so mein‘ ich, der Oberste der Schwarzbruderschaft auf dem Elbfluss hätte der Mittel nicht wenige, Euch zu zwingen!“

Der Alte rückte unruhig auf seinem Sitz. Habgier, Furcht und ein Rest besseren Gefühls stritten in seinem Innern. Er verhehlte sich nicht, welche goldenen Früchte ihm eine enge Verbindung mit diesem verwegensten der allen Nachforschungen unfassbar und unsichtbar gebliebenen Elbpiraten eintragen würde. Aber im stillen graute ihm vor der Gewalttätigkeit dieses Mannes, der keine Skrupel kannte, wenn es galt, seine Pläne zu Taten werden zu lassen. Und sein Stiefkind – welches Schicksal wartete seiner, wenn er es zwang, dieses wilden, häßlichen Burschen Weib zu werden?

Lude Hekke, der sein Auge nicht von dem Antlitz des Fischers abgewandt hatte, mochte wohl dessen Gedanken erraten haben, denn er bückte sich, um das Lichtstümpfchen zwischen den Steinen hervorzuziehen, und sagte :

„Ihr wollt nicht! Ich sehe es Euch an! Gut! Nichts hält Euch mehr in Tangermünde. Die Ladung der Schwarzbruderschaft an Euch erkläre ich für hinfällig. Und da Ihr Krieg wollt mit Lude Hekke, so mögt Ihr ihn haben. Sorget nur, dass er Euch nicht teuer zu stehen kommt!“

Die Hand des Fischers griff nach seinem Arm. „Seid doch nicht so eilig! Was Ihr begehrt, ist nicht so leicht. An den Altar schleppen kann ich die Meta nicht – “

„Aber dem Mädchen zureden könnt Ihr, und wie Ihr sonst noch auf sie wirken mögt, in Güte oder in Strenge! Und zugeben, dass ich häufig Euch aufsuche dort unten in Baarz, dass sie an mich gewöhnt wird. Denn jetzt sieht sie mich noch mit üblen Augen an, das hat sie mir wohl gezeigt. Nun, Tampke, die Meta mir zum Weib und Euch den Lude Hekke zum Freund – gilt der Handel? Ich glaub‘, Ihr habt manch‘ schlechteren gemacht im Leben!“

„Wenn Ihr mir nur Zeit lassen wolltet – “

„Bin kein Freund von langer Überlegung. Das wisst Ihr doch. In dieser Sache will ich Euch zu Willen sein. Überlegt’s Euch, ehe Ihr morgen in die Wirtschaft ‚Zum Elbhafen‘ kommt. Ich lauere Euch dort ab. Ein ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ genügt. Und nun kommt – sonst können wir unseren Weg wie die Ratten im Dunkeln suchen!“

Wie zur Bestätigung seiner Worte glühte das Lichtstümpfchen noch einmal auf und erlosch dann plötzlich.

„Sagt‘ ich es nicht? Gebt mir die Hand wieder und bückt Euch, so tief Ihr könnt – langsam, so, nun links halten – da ist schon die Maueröffnung. Und jetzt leise – Ihr wisst doch, dass die Nacht gern tausend Ohren hat!“

Sie standen wieder in dem alten Burggraben hinter den Sträuchern. Ein paar Sekunden lang horchte Lude Hekke nach allen Seiten. Nichts regte sich. Nur ein Turmfalke strich oben von dem Gesims des ragenden Gefängnisturmes mit leise flatterndem Flügelschlag ab.

„Kommt,“ flüsterte der Schiffer, „der Weg ist frei!“

Auf der Schlossfreiheit angekommen, deutete er nach rechts :

„Dahin geht Euer Weg, Tampke, zur Herberge! Ich gehe auf den Kahn zurück. Und vergesst nicht : bis morgen mittag geb‘ ich Euch Zeit! Keine Stunde länger!“

14 Häuser für Lehnsleute, zunächst die Burgmannen, später Höflinge und andere

Adelige, als Wohngebiet „Schlossfreiheit“ mit besonderen Rechten ausgestattet.

15 Mittelalterliches Doppeltor, das Stadt und Burg gegen Norden sicherte.

16 Eigentlich Margarete von Minden. Fälschlicherweise der Brandstiftung beschuldigt und 1619 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Vgl. Anhang.

17 Vgl. Glossar.

18 Geheimbund, der Elbkähne beraubt.

3. Kapitel Ein Retter in der Not

Die sonst von Menschen wenig belebten Straßen Tangermündes zeigten heute am Markttage ein buntes Leben und Treiben. Um den alten Backsteinbau des Rathauses mit den schönen durchbrochenen Rosetten an der Hauptfront zogen sich die Krambuden hin und noch ein Stück in die Langestraße und Kirchstraße hinein. Den Hauptmarkttrubel aber mit den Schaubuden, den Karussells und dem ganzen vieltönigen Marktlärm gab es vor dem Neustädter Tor auf dem Klosterplatze, und die Ruinen des alten Dominikanerklosters, deren noch erhaltene Reste als Speicher und sonstigen landwirtschaftlichen Zwecken dienen, sahen schweigend auf das bunte Gewühl zu ihren Füßen nieder.

Die Jugend Tangermündes aber drängte sich vor allem um eine große Schaubude, die um die drei Käfigwagen einer Wandermenagerie aufgespannt war. Ein heiserer Rekommandeur 19 lockte in den gewagtesten Anpreisungen die Menge in diese „größte und sehenswerteste Menagerie der Welt“, und ein junges Mädchen mit Wangen, deren Magerkeit auch die reich aufgetragene Schminke nicht verdecken konnte, erregte bei der Jugend der kleinen Stadt wahre Schauer, wenn sie eine träge armdicke Schlange, die der Anpreiser als die größte Boa constrictor Indiens, die einem Tiger die Knochen zermalme und ein Reh mit einem Male verspeise, um ihren Hals legte. Diese Bude, zunächst der engen Zufahrtsstraße zu dem niedrigen gewölbten Neustädter Tor aufgeschlagen, war denn auch immer von einer dicht sich ansammelnden großen Menschenmenge belagert.

Meta Streblow hatte den gestrigen Abend und den heutigen Vormittag stille Stunden bei der Greisin verlebt, die selbst schon zu moros 20