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Der Kriminalroman spielt im Jahre 1900. Die Handlung beginnt in Köln und setzt sich fort in Rotterdam, Haag, Delft und Amsterdam. Im Haager Schloss werden dem Rajah von Mataram Diamanten geraubt. Ist das somnambule Medium Lizzie, geführt von fremdem Willen am Raub mitschuldig? Kommissar van Rinschoten ermittelt. Kann ihm der Schriftsteller Dr. Helpert dabei helfen?
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Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Umschlag
Fassadenkletterer unter „Aufsicht“ beim Diamantenraub Zeichnung H.P. 1958/2022
Für Barbara
Vorwort
Die Personen
Orte des Geschehens
1 Auf dem „Kinderdijk“
2 Zwei alte Bekannte
3 Eine unerwartete Begegnung
4 Unter den „Boompjes“
5 Im Rotterdamer „Kasino“
6 Unter fremdem Willen
7 Der Überfall
8 Der Doppelgänger
9 Die Taverne „Zu den drei Seefahrern“
10 Der Tag der Fischer
11 Dunkle Schleier
12 Lizzie
13 Ein neuer Hausgenosse
14 Ein reuiger Verbrecher
15 Die Diamanten des Rajah
16 Ein unterbrochener Urlaub
17 Der blutende Finger
18 Zwischenfälle
19 Licht und neues Dunkel
20 Enttäuschungen
21 Gesine
22 In der eigenen Schlinge
23 Quälende Zweifel
24 Sonnenschein
Kurzvita, Quelle, Werke
Abbildungen und Bildnachweis, Erläuterungen
Dieser Roman wurde im Original in 27 Fortsetzungen in der Unterhaltungs-Beilage „Didaskalia“ der heute nicht mehr existenten „Frankfurter Nachrichten und Intelligenz-Blatt“ erst 1912, also 6 Jahre nach dem Ableben des Autors, veröffentlicht. Durch wen und warum zu diesem Zeitpunkt, ist nicht bekannt. Womöglich befand sich das Manuskript dazu im Nachlass, der wohl von den Schwestern Carl Crome-Schwienings in Celle verwaltet wurde.
Ähnlich wie in den Romanen „Die Elbpiraten“ oder dem „Fund in der Eilenriede“ schrieb Crome-Schwiening wieder einen Kriminalroman, durchsetzt von einer Liebesgeschichte. Die Handlung beginnt 1900 in Köln am Rhein und spielt dann in Holland, in den Städten Rotterdam, Amsterdam und Delft. Die Verbrechen selbst finden im Haag, im königlichen Schloss im Bosch und in Rotterdam an der Brücke zum Hafenbecken Blaak statt.
Der Text des Original-Romanes ist in Fraktur gesetzt und wurde hier in eine heutzutage leserlichere Form übertragen. Die Texttranskription erfolgte vorlagentreu, in die Interpunktion wurde nicht eingegriffen, doch Schreib- und Druckfehler emendiert. Ergänzend wurden Kartenskizzen, Zeichnungen und Photos eingefügt, um die Örtlichkeiten des Geschehens zu illustrieren. Die Bilder werden im Abbildungsverzeichnis nachgewiesen.
Es erschien auch hilfreich, nicht sehr geläufige Begriffe, Ortsangaben etc., näher zu erläutern. Diese Stellen sind mit * gekennzeichnet und am Ende der Schrift beschrieben.
Altencelle, im April 2022Harald Pinl
Blasma, Witwe in Rotterdam, Herbergs-Mutter
Der „Lange“, auch „Bullenbeißer“ genannt, Ganove
Der „Bucklige“, auch „Feilenkönig“ genannt, Ganove
Fergus, Lizzie, die „schöne Unbekannte“, Nichte von Potter
Fergus, Professor: Deckname Potters als Professor für Spiritismus
Grawingk, junger Polizist, ausgebildet im Samariterdienst, an der Polizeiwache Seefischmarkt in Rotterdam
Greve, Kriminal-Unterbeamter
Hein, Führer eines Motorbootes
Helpert, Ernst, Dr., Bibliothekar und Schriftsteller
Hopkins, Anntje, Tante von Gesine und Karel van Rinschoten; Schwester von Tante Betty
Hopkins, Stewart, Amerikaner, Mann von Anntje Hopkins
Houßmans, Polizist am Signalskanal in Haag
Maartje, Bedienerin im Hause der Tante Betty
O’Fleghmore, Peggy, die „rote Peggy“, irische Dirne im Rotterdamer Tivoli, Flamme des „Langen“
Pieter, Kapitän des Ausflug-Dampfers „Maasnymf“
Potter, Bill (alias Prof. Fergus), Onkel von Lizzie, Hypnose-Künstler und Gauner
Potter, J. Clarke, Pfarrer in Frederick (Maryland, USA)
Potter, Lizzie (alias Fergus), Hypnoseopfer ihres Onkels Bill
Rajah von Mataram, Herrscher auf Java
Smeedes (alias Van Linteloo), genannt der „Inder“, Ganove großen Stils auf internationaler Bühne
Soesman, Jan, Deckadresse für Wapstra
Tante Betty, Tante von Gesine und Karel van Rinschoten in Delft
Van Linteloo, alias Smeedes, Dolmetscher in holländischen Diensten
Van Rinschoten, Gesine, Schwester von Karel v.R., aus Delft
Van Rinschoten, Karel, Kommissar der holländischen Geheimpolizei in Rotterdam
Vanderem, Polizist im Polizeipräsidium
Verheeven, Taverneneigentümer und Fuhrunternehmer im Haag
Verheevens Bruder, Hehler in Amsterdam
Wapstra, der „Hässliche“, Ganove
Wouters, Oberwärter im Krankenhaus
Wynberg, Dr.med., Hausarzt von Tante Betty in Delft
Amsterdam, Zentrum
Delft, am Zuidwall
Fluss Ij und Zuiderzee vor Amsterdam
Frederick, Maryland, USA
Haag, Palais im Bosch (Huis ten Bosch)
Köln, Domplatz und Rheinufer
Leyden, Bahnstation
Muiden, Schloss (Muiderslot)
Pampus, Meeresrinne und Fort im Zuiderzee
Rotterdam, Zentrum
„Sie haben noch reichlich Zeit, Herr Doktor! Die flussab kommenden niederländischen Dampfboote haben fast regelmäßig Verspätung!“
Der junge schlanke Mann vor dem „Hotel Ernst“* in Köln, an den der Hotelportier diese Worte richtete, nickte leicht: „Um so besser! Der Abend ist so herrlich, dass es mir auf eine und selbst auf zwei Stunden Verspätung nicht ankommt. Meinen Koffer haben Sie nach dem Büro der niederländischen Reederei schaffen lassen?“
„Der Hausdiener ist soeben damit fort! Glückliche Reise, Herr Doktor!“
Der Portier zog ehrerbietig die goldbordierte Mütze. Das Trinkgeld war reichlich ausgefallen. Wohlgefällig sah er dem mit langsamen Schritten zum Dom hinüberschreitenden Reisenden nach.
Den leichten Mantel über den Arm gehängt, den breiten, grauen Filzhut aus der Stirn zurück auf das lockige blonde Haar geschoben, nahm an diesem letzten Juliabend des Jahres 1900 Doktor Ernst Helpert noch einmal mit Entzücken die herrlichen Umrisse des Kölner Domes in sich auf. Wie hatte in diesen wenigen Kölner Tagen das steinerne Spitzengewand dieses schönsten aller Gottesgebäude auf die Seele des jungen Schriftstellers gewirkt! Eine Flut neuer Gedanken, die sich zu einem großen historischen Werke verbinden sollten, hatten sie hineingerauscht, und dankbar grüßte sein Blick noch einmal, ehe er aus der alten Stadt schied, das erhabene Bauwerk. Dabei fiel sein Auge noch einmal auf die einfache Fassade des „Hotel Ernst“ und, wie von einer plötzlichen Erinnerung festgebannt, blieb er stehen.
„Wie schön sie war!“ murmelte er. „Wer dies stille, blasse Antlitz mit den großen dunklen Augen, die so seltsam scheu und ängstlich blickten, einmal gesehen hat, wird es nie vergessen! Unsinn!“ scheuchte er sich selbst aus dem Sinnen empor, dem er sich hier auf dem offenen Domplatz willenlos hingab. „Wer weiß in welche Gegend der Windrose der morgige Tag sie treibt! Ernst, mein Junge, du bist auf einer Studienreise nach Holland begriffen; was kümmert dich eine schöne Unbekannte, die sich dir einen Augenblick in der zwei Hand breiten Spalte einer Hoteltür zeigte!“
Hotel Ernst am Dom © Rheinisches Bildarchiv Köln
Seine Rechte machte mit dem zusammengerollten Schirm einen leichten Lufthieb, als wolle er die Gedanken ein für alle Mal von sich abwehren, die sich mit dem Bilde der unbekannten Hotelgenossin beschäftigten. Dann wanderte er mit eiligeren Schritten den Weg zu den breiten Rheinkais hinab, dem Landungssteg der niederländischen Boote zu; denn die Domglocke verkündete soeben die achte Stunde. Das war auch die Abfahrtszeit des heute abend nach Rotterdam flussabwärts gehenden Dampfers.
Als er sich dem Landungssteg näherte, war dieser bis auf die beiden mächtigen Rotterdamer Kohlenkähne, aus denen die Dampfer ihre Bunker hier neu füllten, leer. Eine hastige Frage überzeugte ihn, dass seine Befürchtung, sich schon verspätet zu haben, grundlos war. Der Portier hatte Recht. Das Boot verspätete sich und zwar würde, wie man ihm im Kontor des niederländischen Reedereischuppens hart am Kai sagte, vor elf Uhr nachts kaum an eine Abfahrt zu denken sein. Der erwartete Dampfer „Kinderdijk“* sei noch nicht einmal in Sicht und habe hier noch eine tüchtige Ladung Stückgüter und außerdem Kohlen einzunehmen, ehe er seine Talfahrt nach Holland fortsetzte.
Kölner Rheinufer, um 1915
Doktor Helpert blieb einen Augenblick unschlüssig auf dem Kai stehen und blickte auf den Strom hinaus, der zu dieser Stunde noch stark belebt war. Eine flüchtige Sekunde kam ihm der Gedanke, noch einmal in das Hotel zurückzukehren, und er ertappte sich zugleich bei dem Wunsche, noch einmal seiner Unbekannten zu begegnen. Unmutig drehte er sich stracks auf dem Hacken um und schlenderte ziellos in eine der nächstgelegenen Straßen der Stadt hinein.
Aus dem Garten eines Weinschanks tönte Musik. Doktor Helpert trat mit raschem Entschluss in den mit Gästen ziemlich besetzten Garten ein, in dem eine kleine Musikkapelle leidlich anhörbar spielte, und nahm in einer einsamen Ecke Platz. Es kam ihm gar nicht so ungelegen, hier bei einer Flasche Trarbacher* nochmals seine bisherigen Reiseeindrücke Revue passieren zu lassen.
Warme Lebensfreude glomm nach den ersten Gläsern des guten Weines in ihm auf. Licht wie die beiden letzten sonnigen Tage am Rhein, die ersten, die er an dem herrlichen Strome zubrachte, schien die Zukunft vor ihm zu liegen. Als fürstlicher Bibliothekar hatte er in der kleinen Residenz, der er nun für einige Ferienwochen entflohen war, sein gesichertes Auskommen, und seine ersten literarischen Arbeiten hatten ihm neben ansehnlichen Honoraren den ersten jungen Ruhm eingebracht. So stand er mit seinen dreißig Jahren an der Schwelle einer aussichtsreichen Zukunft. Er lächelte vor sich hin, als er daran dachte, und hob übermütig das Glas mit dem goldschimmernden Nass: „Also auf meine Zukunft!“ Und er leerte es bis zur Nagelprobe*.
Zwar stand er einsam in der Welt. Die Eltern waren ihm gestorben und Geschwister hatte er nie besessen. Aber dafür hatte er seine stillen Freunde, die vielen Tausende von Büchern in der fürstlichen Bibliothek und seine anregenden Arbeiten in dem weinumsponnenen Häuschen nahe dem alten Schlosse, in welchem er mit einer alten Dienerin einsam und doch vergnüglich hauste.
In die grünumrankte Tür desselben zauberte seine rege Phantasie urplötzlich ein Bild. Eine schlanke, anmutige Gestalt lehnte darin, und ein von schwarzem Haar umwogtes Antlitz mit großen, bang und fragend blickenden Augen leuchtete ihm entgegen.
„Es hilft nichts!“ dachte Doktor Helpert unmutig. Die schöne Unbekannte im Hotel scheint mich nicht loslassen zu wollen, so lange ich noch den Boden des „billigen Kölln“ unter den Füßen habe. Einen Spuk vertreibt man am besten, wenn man ihm nicht ausweicht, sondern gerade entgegengeht. Gut also – beschäftigen wir uns mit dieser rätselhaften Unbekannten. Ich habe sie zehn Sekunden gesehen, als sie gerade, da ich in den Korridor passierte, die Tür öffnete und heraustreten wollte. Ein Gesicht von wunderbarem Liebreiz und blass, als leide sie – was weiter? Du hast schon manches reizende Antlitz geseh‘n und in der nächsten Minute vergessen. Aber diese Augen mit ihrem seltsamen Ausdruck! Es stand wie Furcht darin geschrieben und zugleich wie ein stilles Flehen: Hilf mir! Und dann die fremde Hand, die sie am Arm zurückzog und die Tür hastig schloss! Ernst! Ernst! schloss der junge Schriftsteller unwirsch seine Gedankenkette. Sie ist vielleicht ein armes, leidendes Geschöpf, und deine Phantasie macht sofort eine Romanheldin daraus. Nun ist’s aber vorbei mit dem Weiberspuk! „Kellner, zahlen!“
Es waren doch ein paar Stunden schnell vorübergegangen und die elfte Stunde nicht mehr fern, als Doktor Helpert aus der Bischofsgartenstraße trat und zur Frankenwerft* hinüberschritt, wo jetzt am Landungssteg mit qualmendem Schlot der niederländische Raddampfer „Kinderdijk“ lag, ein großes geräumiges Schiff, dessen vorderer Mastkran ununterbrochen neue Stücklasten auf das Vorderdeck beförderte, während mittschiffs und hinten auf Laufplanken barfüßige Kohlenträger hin- und hereilten und kohlengefüllte Körbe durch die geöffneten runden Luken in die Kohlebunker des Schiffes entleerten. Als Doktor Helpert an Deck ging und den Decksalon auf dem Hinterdeck betrat, schien er zunächst der einzige Passagier zu sein. Er erstaunte nicht sehr darüber; denn er hatte schon erfahren, dass diese Boote selten mehr als ein Dutzend Kajütspassagiere von Köln ab mit stromabwärts nehmen. Die flachen Ufer des Niederrheins locken den großen Touristenschwarm nicht an, und Hollandreisende, die nicht überflüssige Zeit haben, benutzen die Bahn, die sie um viele Stunden schneller an das Ziel bringt.
Als Doktor Helpert wieder das Deck betrat und dem emsigen Hantieren zuschaute, entdeckte er, dass er doch nicht, wie er geglaubt, der einzige Passagier sei. An die Backbordbrüstung gelehnt stand ein Mann in dunklem Jackettanzug, mit einem runden steifen Hute auf dem Kopfe, eine kurze Maserpfeife* im Munde, der er stoßweise kleine Tabakwölkchen entlockte. Die Lichter auf dem Schiff und die elektrische Bogenlampe* auf dem Landungssteg gaben genügend Licht, um seine Züge erkennen zu können. Sie waren unschön und abstoßend genug. Ein kurzer, borstiger, rötlicher Schnurrbart stand unter einer hakenförmigen Nase, und unter buschigen Brauen hervor blickten hinter halb zusammengekniffenen Lidern zwei kleine stechende Augen. Ein Gefühl des Widerwillens kam über den jungen Schriftsteller. Es kam über ihn wie jüngst bei der Besichtigung eines Naturalienkabinetts, als er den Kopf einer ungewöhnlich großen Kreuzotter betrachtete.
„Hm!“ brummte Dr. Helpert, indem er nach vorn schritt, wo der Kahn noch immer rasselnd seine Arbeit verrichtete. „Der Mann mag ein braver Christenmensch sein; aber die Natur hat jener Seele ein schlechtes Aushängeschild gegeben. Hoffentlich ist sein Gesicht morgen im Decksalon nicht das einzige außer meinem!“
Diese Befürchtung wurde schon in den nächsten Minuten zerstreut. Ein Ehepaar mit ein paar halberwachsenen Sprösslingen kam über die breite Laufplanke an Bord und ging gleich nach unten, wo ihnen der Restaurateur an Bord und dessen Frau, welche die Dienste einer Stewardess versah, die Kojen anwiesen. Doktor Helpert atmete noch befreiter auf, als ein älterer Herr mit klugem Gelehrtenantlitz und zwei Damen, eine ältere und eine jüngere, an Bord kamen und ebenfalls gleich nach unten gingen. Jetzt schien auch die Ladung vollständig an Bord zu sein; denn das Gerassel auf dem Vorschiff hörte auf; die eisernen Deckel fielen wieder zu; die Kohlenluken und die Laufplanken der Kohlenträger wurden vom Boot gezogen. Die Dampfpfeife der Maschine stieß einen langen grellen Ton aus, das Zeichen, dass der Dampfer sich zur Abfahrt rüstete.
Dr. Helpert, der nahe dem Steuerbordradkasten stand, dort, wo der mit einem Geländer versehene Laufsteg das Deck mit der Landungsbrücke verband, sah in diesem Augenblick den Mann mit dem stechenden Blick auf seine Seite herüberkommen und in das Dunkel des Kais hinausspähen. Der Mann schien jemanden erwartet zu haben und sich nun in dieser Erwartung getäuscht zu sehen. Er stieß in einer fremden Sprache einen halbunterdrückten Fluch aus und stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf das Deck. Schon machten sich die Arbeiter auf der Landungsbrücke daran, den Laufsteg ebenfalls vom Schiff zurückzuziehen, als ein Beamter der Reederei ihnen Halt gebot und gleichzeitig das Heranrasseln eines in schnellem Tempo fahrenden Wagens auf dem Steinpflaster des Kais hörbar wurde.
Der Wartende war näher an die Brüstung herangetreten; auch Doktor Helpert sah neugierig auf das jetzt neben dem Lagerschuppen haltende Gefährt, dem ein hochgewachsener junger Mann und eine in einen Mantel gehüllte und den Kopf in einer Kapuze bergende junge Dame entstiegen.
Als die Dame, von dem Begleiter halb geführt, das Deck betrat und das wenige, was von ihrem Antlitz zu sehen war, in den Lichtkreis der elektrischen Lampe kam, fuhr Doktor Helpert zusammen. Dieselben großen traurigen Augen, die den seinen schon einmal im „Hotel Ernst“ mit hilflosem, flehendem Blick begegnet waren, richteten sich auch hier sekundenlang auf ihn. Dann führte der Begleiter der Verhüllten diese zu den Kabinen.
Aber etwas noch hatten die Augen des jungen Mannes, als er in einem seltsamen Gemisch von Schreck und Freude in der Verhüllten seine schöne Hotel-Unbekannte erblickte, bemerkt. Das war ein stummer Gruß, den ihr Begleiter mit dem Hässlichen austauschte. Es war nur auf beiden Seiten ein kurzes Kopfnicken gewesen, unauffällig vielleicht für jeden anderen. Aber Ernst Helperts durch das Überraschende des Erscheinens seiner Unbekannten auf diesem Boote geschärfter Blick hatte jenen Gruß doch aufgefangen.
„Was in aller Welt hatte dieser widrige Kerl mit dem Begleiter des jungen Mädchens zu tun? Wer mag ihr Begleiter sein, und wer ist sie selbst?“
Während diese Gedanken auf den jungen Schriftsteller einstürmten, erbebte das Schiff unter dem Angehen seiner Maschine. Die letzten Taue wurden losgeworfen; die Räder schäumten zu beiden Seiten das Wasser auf; der „Kinderdijk“ steuerte ein paar Dutzend Meter stromaufwärts, beschrieb dann einen kurzen Halbkreis und nahm unter einem Bogen der gewaltigen Eisenbahnbrücke*, die hier den Rhein überspannt, hindurch seine Fahrt stromabwärts.
Nachdenklich ging Doktor Helpert in den Salon auf dem Hinterdeck. Er sah noch, während er sich nach hinten begab, wie der Hässliche in den kleinen Schankraum auf dem Verdeck trat, sich ein Glas Gin mit Bitter* mischen ließ und, nachdem er es getrunken, auf das oberste Deck stieg, dicht hinter der Kommandobrücke, wo neben dem Mann am Rade der Kapitän des „Kinderdijk“ im dicken Nachtmantel stand.
Köln, Eisenbahnbrücke über den Rhein (Dombrücke), um 1900
Mit den vorgeschriebenen Lichtern auf Deck steuerte der Dampfer seiner nächsten Haltestelle Düsseldorf entgegen. Die Nacht war warm, aber dunkel; nur vereinzelt erschien ein heller Stern am mondlosen Himmel. Im Decksalon brannte ein helles Licht. Doktor Helpert hatte für die wenigen Stunden, bis es wieder hell wurde, nicht erst eine Kabine genommen, sondern sich auf einer Bank des Salons ausgestreckt, in dem das eingedrehte Licht in der Glaskuppel unter der niedrigen Decke eine dämmerige Helle verbreitete. Obschon er sich rechtschaffen müde fühlte, wollte kein Schlaf über ihn kommen. Es war eine Art wachen Traumzustandes, in den er geriet und der seine Sinne unaufhörlich mit der blassen Unbekannten zusammenführte, die ein seltsam spielendes Geschick mit ihm in dasselbe Hotel und an Bord desselben Dampfers gebracht hatte. War sie die Gattin ihres Begleiters? Seine Schwester? Eine süße und bange Unruhe hatte ihn ergriffen; er versuchte nicht mehr, sie zu bekämpfen.
Der Mann mit dem borstigen roten Schnurrbart und den stechenden Augen hatte es sich inzwischen auf einer der Holzbänke auf dem Oberdeck bequem gemacht, und es hatte ganz den Anschein, als wollte er die Nacht dort oben zubringen. Er klopfte seine Pfeife aus, füllte sie aus einem kleinen tabakgefüllten Blechkasten, den er aus der Tasche seines Jacketts zog, aufs neue und setzte sie in Brand, ohne indessen den Eingang, der zu den Kabinen hinunterführte, aus den Augen zu verlieren.
Es mochte nicht mehr fern von Mitternacht sein, als ein Mann im Überrock, einen Shawl um den Hals geschlungen und eine Reisemütze auf dem Kopfe, durch jenen Eingang das Deck betrat und sich forschend umsah. In diesem Augenblick musste der Hässliche auf dem Oberdeck wohl etwas von dem Rauche seiner Pfeife verschluckt haben, denn er hustete ein paarmal kurz auf, räusperte sich und spuckte. Gleich darauf stieg der Mann im Überzieher die Treppe zum Oberdeck hinauf und trat zu dem Sitzenden. „Wollen wir nicht lieber hinuntergehen auf die Bank hinter dem Salon?“ fragte er leise in englischer Sprache, indem er mit dem Kopfe eine Bewegung gegen den Kapitän und den Steuermann der „Kinderdijk“ machte, die nur ein Dutzend Schritte von ihnen entfernt waren.
„‘s ist besser hier!“ gab der Angeredete in derselben Sprache zurück. „Der Wind kommt von vorn, und für das, was ich Euch zu sagen habe, Potter, muss ich vor jedem Ohr sicher sein. Die da vorn am Rade können nichts hören, und hier sehen wir wenigstens jeden, der etwa herankommt.“
„So sprecht, Wapstra!“ sagte der ältere, den der Rauchende mit Potter angeredet hatte. „Aber zuvor will ich Euch sagen, dass ich Eurem Rufe nur ungern gefolgt bin. Ich habe genug von dem Misserfolg unserer letzten Arbeit. Wir sind nur haarscharf um das Zuchthaus und vielleicht um noch Schlimmeres herumgekommen.“
„Unnötig, dass Ihr davon sprecht!“ knurrte Wapstra und machte einige kurze paffende Züge aus seiner Pfeife. „Was hinter uns liegt, kümmert mich nicht mehr! Eure verd . . . Zaghaftigkeit war an dem Pech Schuld. Seid versichert, dass ich Euch zu der neuen Arbeit nicht herangeholt hätte, wenn’s ohne Euch und Eure Macht auf Eure Nichte, oder was sie sonst sein mag, ginge – “
„Lasst sie aus dem Spiel, rat ich Euch!“ sagte Potter mit Nachdruck, „und behaltet vor allem Eure Meinung über sie für Euch!“
Ein böses Lächeln zog über Wapstras Gesicht. „Noch immer kratzbürstig, wenn man mal mit einem unüberlegten Wort an Eurer Prinzessin rührt. Wer Euch so lange kennt, wie ich, alter Junge, dem wird’s verteufelt schwer, an reine Wirtschaft zwischen Euch zu glauben. Und bei der Macht vollends, die Ihr über sie habt – “
Potter machte eine Bewegung der Ungeduld. „Habt Ihr mir weiter nichts zu sagen, so hättet Ihr die Kosten für Euer Telegramm sparen können! Zeigt endlich Eure Flagge, Wapstra; nach Euren dringenden Botschaften kann’s kein kleines Stück sein, das Euch durch den Kopf geht!“
In den kleinen Augen Wapstras glomm es auf. „Kein kleines Stück? Ich sage Euch, Mann, es ist das größte. das Männer wie wir unternommen haben. Gelingt es, braucht’s kein neues mehr. Ihr und ich haben genug, um ein Dutzend Jahre wie Fürsten zu leben!“
„Ihr nehmt den Mund gewaltig voll!“
„Noch nicht voll genug!“
„Zum Teufel, dann brennt endlich das Zündkraut* ab, dass ich es erfahre, um was es sich handelt. Ich kann das Mädel da unten nicht lange alleine lassen; die Kabine war von außen nicht verschließbar, und die Stewardess scheint eine der neugierigsten ihres Schlages zu sein. Das Mädel wird zudem immer schwieriger zu behandeln. Ihr Instinkt treibt sie an, aus der magnetischen Macht, mit der ich sie festhalte, sich zu befreien, und wenn ich nicht mit peinlicher Vorsicht jeden fremden Einfluss von ihr fernhalte, so kann’s geschehen, dass sich die Bande meiner Macht über sie lockern. Kramt also endlich aus, Wapstra, oder beim Satan, ich lasse Euch hier stehen, gehe, wenn’s Tag wird, in Duisburg oder sonstwo vom Schiff und lass Euch das Geschäft allein!“
„So hört!“ flüsterte Wapstra und brachte, sich gleichfalls über das Geländer lehnend, seinen Mund nahe an das Ohr seines Genossen. „Seit acht Tagen ist der Rajah von Mataram* Gast der Königin von Holland* in Haag.“
„Wenn das Euer ganzes Geheimnis ist,“ brummte Potter, „so hättet Ihr mich nicht von Köln wegzusprengen brauchen. Das steht in jeder Zeitung.“
„Aber nicht, dass dieser Beherrscher von Lombok*, den die Holländer lange genug bekriegt haben, ehe sie ihn unterdrückten wie die anderen balinesischen Fürsten, seine ganzen Juwelen mitgebracht hat und dass diese Millionen holländischer Gulden an Wert haben,“ zischelte Wapstra.
Potter lachte. „Und diese Millionen-Juwelen des Rajah stecken Euch in der Nase, Mann? Seid Ihr verrückt geworden, um einer solchen Tollheit willen zwischen meine eigenen Pläne zu fahren? Wahrhaftig, Wapstra, wüsste ich nicht, dass es in der neuen wie in der alten Welt wenige solcher ausgemachten Teufelskerle gäbe wie Euch, ich zweifelte an Eurem Verstande.“
„Zweifelt nur eine Weile! Ihr werdet bald genug einsehen, dass es mir nie so ernst gewesen um ein Geschäft wie um dieses. Und jetzt lasst mich aussprechen und unterbrecht mich nicht fortwährend; die Nachtluft wird kühl, und ich trage keinen Mantel wie Ihr. Der Rajah von Mataram ist immer noch ein unsicherer Kantonist, und die Holländer haben zu einer neuen Lombok-Expedition* verflucht wenig Lust. Der Resident von Bali und Lombok* hat den alten Rajah von Mataram so lange mit Einladungen der Königin bombardiert und ihm Wunderdinge von Europa erzählt, bis dieser sich endlich mit einem halben Dutzend seiner Würdenträger aufgemacht hat, um das Wunderland Holland, aus dem die Bedrücker seiner Heimat kommen, aufzusuchen. Natürlich streichen ihm die schlauen Holländer den Honig fingerdick um die Backen; sie zeigen ihm daneben auch gründlich ihre Macht. In Surabaya* spedierten sie ihn auf ein Kriegsschiff, natürlich mit fürstlichen Ehren, und erwiesen sie dem bronzefarbigen Mächtigen auch in Haag. Sie haben ihm für die paar Wochen seiner Anwesenheit das Palais im Bosch* als Wohnung gegeben – “
„Und natürlich eine Ehrenwache!“ fiel Potter ein. „Und da die Regierung natürlich von seinen Juwelen Kenntnis hat und weiß, dass der Rajah aufs neue rabiat wird, wenn er sie nicht sämtlich in seine Bambusresidenz in Mataram zurückbringt, so wird sie ohne Zweifel für eine ganz ausgiebige Bewachung Seiner braunhäutigen Hoheit gesorgt haben!“
„Stimmt!“ sagte Wapstra gelassen. „Der Kerl mag ihnen im Grunde gleichgültig sein, und die holländische Regierung sähe ihn wahrscheinlich lieber heute zu seinen Ahnen, die ihr früher das Leben sauer genug gemacht haben, versammelt als morgen. Aber sie käme in des Teufels Küche, wenn ihm auf seiner Europareise etwas zustieße, und so hält sie alle Hände über ihn!“
Potter blickte Wapstra, der gelassen den Tabak in seiner Pfeife niederdrückte und ihn in ein paar schnellen Zügen zu neuer Glut brachte, verdutzt an. „Wenn Ihr das also wisst, wie kam Euch nur der unmögliche Gedanke – “
„Ob er so unmöglich ist, mögt Ihr selbst gleich entscheiden, Potter! Ich denke, Ihr kennt mich genug, um zu wissen, dass ich an vollkommen ausichtslose Dinge nicht Zeit und Kraft verschwende. Aber sagt, entsinnt Ihr Euch noch an Smeedes?“
„Smeedes?“ wiederholte Potter nachsinnend.
„Ihr habt ihn unter einem anderen Namen gekannt. Weil er die Hälfte seines Lebens in den holländischen Kolonien zugebracht hatte, nannten wir ihn nur den Inder.“
„Der Inder?“ rief Potter überrascht, so laut, dass Wapstra seinen Arm ergriff und mit den mahneneden Worten „Still doch, Mann!“ presste. „Der Inder,“ fuhr Potter flüsternd fort, „ich denke, den sollte ich so wenig vergessen wie Ihr. Wo stand der Galgen, an dem sie ihn aufbaumelten?“
„Vorläufig steht er noch in irgendeinem Walde und grünt lustig fort,“ gab Wapstra zur Antwort. „Als er damals bei der Geschichte drüben, bei der uns der Boden Amerikas zu heiß wurde, dem Detektiv, der ihn verhaften wollte, sein Messer in den Leib rannte, entschwand er mir aus den Augen.“
„Und jetzt habt Ihr ihn wiedergesehen,“ fragte Potter mit jäh erwachtem Interesse.
„Nicht nur gesehen, auch gesprochen,“ nickte Wapstra.
„Wo? In einer unserer Tavernen im Rotterdamer Hafenviertel?“
„Nein! Aber im Haag und in einer Equipage*, die direkt zum königlichen Schloss fuhr!“
Potter fuhr mit einer so unverhohlenen Überraschung aus seiner gebückten Stellung empor, dass sein Kopf eine der eisernen Stangen streifte, die das leichte Dach des Oberdecks trugen und seine Reisemütze auf das Deck hinabfiel. Das Geräusch veranlasste den behäbigen Kapitän des „Kinderdijk“, sich nach den beiden Reisenden umzusehen.
Potter stieg behutsam die Treppe zum Deck hinab und Wapstra folgte ihm. Während jener seine Mütze aufraffte, sagte Wapstra umwirsch: „Seid Ihr nervös geworden, dass Ihr gleich so auffahrt, wenn man Euch mit etwas neuem kommt? Dann nehmt Eure Zunge und Eure Glieder in Acht bei dem, was ich Euch noch zu sagen habe.“
Die Pfeife des Dampfers unterbrach ihn. Lichter tauchten zur Linken auf. Der neue Rheinkai* von Düsseldorf trug sie. Der „Kinderdijk“ hielt seinen Kurs darauf zu. Aus dem Volkslogis des Dampfers* kamen Arbeitsleute an Deck, um beim Anlegen, zum Löschen und Laden der für Düsseldorf bestimmten und hier neu aufzunehmenden Stückgüter bei der Hand zu sein.
Der alte Rheinkai in Düsseldorf, auf einem Geschenkteller, 1840
Wapstra klopfte unmutig seine Pfeife aus; das Bogenlicht* der Anlegestelle warf seinen weißen Lichtschein über das Deck des Dampfers, der jetzt festmachte.
In diesem Augenblick steckte Doktor Helpert, durch das Stoppen der Maschine aus seinem halbwachen Schlummer geweckt, seinen Kopf aus der Tür des Decksalons und ließ den kühlen Nachtwind mit seinem weichen blonden Barte spielen, um alsbald gähnend sein Lager auf der Polsterbank wieder aufzusuchen.
Wapstra zuckte zusammen. Die Hand seines Gefährten hatte sich mit einem schmerzenden Griff um seinen Arm gelegt.
„Habt Ihr gesehen?“ flüsterte Potter heiser. „Van Rinschoten, der geriebendste Kommissar der holländischen Geheimpolizei, ist an Bord!“
„Ihr seid krank, Mann!“ knurrte Wapstra grob. „Van Rischoten sitzt in Rotterdam, und das hier ist ein Passagier, der zufällig in Gestalt und Barttracht einige Ähnlichkeit mit ihm hat. Glaubt Ihr, ich bliebe freiwillig eine Stunde auf einem Schiff, auf dessen Deck der Mann einen Fuß gesetzt hat?“
„Das mit dem Laden scheint noch eine ganze Weile hier fortzugehen,“ sagte Potter sichtlich erleichtert leise. „Ich will einen Augenblick hinabgehen und nach dem Mädel sehen. Erwartet mich, wenn der Dampfer wieder in Fahrt ist.“
Wapstra nickte nur kurz, stopfte sich seine kurze Pfeife aufs neue und nahm seinen Gang auf dem Deck wieder auf.
Im Osten begann der Tag zu grauen; ein leichter Nebel lag auf dem Strom und auf den Wiesenufern. Wapstra, der sich für eine halbe Stunde auf eine Bank des Decksalons geworfen hatte und befriedigt wahrnahm, dass der blonde Fremde, dessen Anblick Potter erschreckt hatte, jetzt fest eingeschlafen war, wie seine ruhigen, tiefen Atemzüge anzeigten, trat wieder auf das Deck hinaus, das unter den Kolbenstößen der mächtigen Maschine des „Kinderdijk“ leise zitterte.
Raddampfer im Frachtverkehr
Er stand am Heck, an dessen Seiten die Ruderkette* sich knarrend hin- und herschob, Potter bereits seiner harrend.
Ein schneller Rundblick überzeugte beide, dass auf dem Hinterdeck alles leer war und niemand ihre Worte vernahm als der kühle Morgenwind und der schweigende Fluss.
„Wie kam der Inder in eine Equipage, und was beim Satan hatte er im Schloss der Königin zu schaffen?“
„Das ist mit einem Dutzend Worte erzählt. Wir haben übrigens auch Zeit für ein paar hundert. Ich hatte in Haag den ‚Langen‘ und den ‚Buckligen‘ aufgesucht; die Zeit war mir lang geworden in Rotterdam, wo der Streik der Hafenarbeiter die Polizei und die Mariniers* übrigens nicht mehr aus den Hafenvierteln herausbrachte. Die wussten auch nichts anderes zu erzählen, als was das Tagesgespräch vom Haag war: Der Rajah von Mataram, und dass die Königin ihn am selben Mittag in feierlicher Audienz im Schloss empfangen wollte. Die Javastraße* war schwarz von Menschen. Kannst dir den braunen Kerl, der Millionen an Juwelen und Diamanten auf seiner missfarbenen Haut trägt, auch einmal ansehen, denk‘ ich, und stell‘ mich zu den anderen Neugierigen. Na, pomphaft genug war’s für Seine Hoheit von Lombok. Dauerte nicht lange, und ein Schwadron Husaren kam im Trab daher und dahinter eine Kalesche*, vierspännig, mit einem aufgeputzten General, dem Rajah, dessen Turban vor Juwelen blitzte und dem um den Hals ein Geschmeide hing, wie es in Europa keine königliche Schatzkammer kennt, und einem anderen Mann in goldbesetzter Uniform. Das sei der Assistent-Resident* von Lombok, der den Rajah nach Holland begleitet habe, so hieß es. Es kamen noch ein paar Wagen voll von solchen Braungesichtern mit bunten Tüchern um den Kopf und einer Art bunten Hemden am Leibe, und im letzten Wagen saß neben einem solchen ein Mann im schwarzen Leibrock* und spiegelblanken Zylinder, auf den ich am allerwenigsten geachtet hätte. Da will’s der Zufall, dass der Wagenzug plötzlich langsamer fährt und der letzte Wagen dicht vor mir hält. Da sieht der Mann im Zylinder plötzlich nach meiner Seite herüber, und in dem Augenblick war’s mir, als fahre der Blitz mir vor die Füße. Denn der feine Bursche da im Wagen, der mit zum Schlosse fuhr, war kein anderer als Smeedes, den ich längst irgendwo aufgeknüpft glaubte; denn dazu reichte sein Schuldregister, das mir bekannt war, vollkommen aus.“
„Weiter!“ drängte Potter, der seine Spannung nicht mehr zu verhehlen vermochte, als Wapstra eine kurze Pause machte.
„Ich blieb wie vor den Kopf geschlagen stehen, als die Menge sich schon verlief, und starrte noch immer dem längst den Augen verschwundenen Wagen nach. War ich denn toll geworden oder die Welt? Ein Mann meines Schlages in einem Wagenzuge mit Ehrengeleite? Etwas konnte ich mir die Sache schon zusammenreimen. Der Smeedes muss damals, als er mit heiler Haut sich an Sing-Sing, dem New Yorker Staatsgefängnis, vorbeidrückte, wieder nach Indien gegangen sein, nach Java oder Sumatra, wo er schon ein ganzes Dutzend Jahre in allen schiefen Winkeln gesteckt hatte. Genug, mit einem Male wusste ich, was ich im Haag zu tun hatte. Und ich ging fest an die Arbeit, sag‘ ich Euch, Potter!“
„Glaub’s!“ sagte dieser kurz. „Aber haltet Euch nicht mit Nebendingen auf. Bin verdammt neugierig, wie der Inder in die Gesellschaft kam!“
„In den Abendblättern stand ein langes und breites von dem Empfang des Rajah zu lesen. Auch von einem Dolmetscher war kurz die Rede. Van Linteloo sollte er heißen, der den Assistent-Residenten begleitete. Holla! dachte ich. Ob nicht dieser van Linteloo heute den Leibrock und Zylinder trug, in dem mein Smeedes steckte. Zuzutrauen war’s ihm; denn er selbst hatte mir gesagt, dass er ein Dutzend der Dialekte von den Sunda-Inseln spreche, und einen gescheiten Kopf hatte er. Wollte mir dieser van Linteloo nicht aus dem Kopf, so wollten es mir die Diamanten des Rajah erst recht nicht. Blixem!* Wenn man die ergattern könnte! Und so strich ich denn zunächst um das Palais im Bosch herum, in dessen einem Seitenflügel sie den Rajah im oberen Stockwerk einquartiert hatten. Natürlich überall die grünen und gelben Uniformen des Jägerregiments, von dem eine Abteilung hier den Postendienst versah. Wetter, dachte ich, sie bewachen die Lombok-Herrlichkeit und ihre Diamanten nicht übel!“
„Und dennoch hieltet Ihr an dem Plan fest?“
„‘s hat schon schwierigere Dinge gegeben, als in ein von Posten und Patrouillen bewachtes Landschloss einzudringen. Und die Örtlichkeit kannt‘ ich genau; hab‘ früher manchen Sonntag, wenn der Park vom Palais im Bosch geöffnet war, mit irgend einem schmucken Gravenhagener Mädchen drin promeniert. Hab‘ auch mal ‘ne feine Art von Versteck dort aufgefunden. In der Nähe des Parkgitters von Willemsoord* steht eine alte mächtige Buche, die bis über Manneshöhe vom Boden auf hohl ist. Mitten in einem Gebüsch steht sie, und am Fuß ist eine Höhlung, gerade groß genug, um auf allen Vieren hineinkriechen zu können. Als ich hineinkroch fühlte ich etwas Lebendiges und fuhr zurück; es waren aber nur ein paar wilde Kaninchen, die schleunigst Reißaus nahmen, als sie merkten, dass mir die Lust noch nicht vergangen war, ihre Wohnung genauer zu inspizieren!“
„Und Smeedes – was ist mit Smeedes?“ rief Potter ungeduldig.
„Zwei Tage strich ich so herum, und ich bin sicher, dass keine Katze ins Schloss im Bosch hinein- und herausgekommen ist, die ich nicht gesehen hätte. Den Mann im Zylinder kriegte ich nicht zu sehen. Fast glaubte ich schon, der helle Gottseibeiuns hätte mich geäfft und mir in jener Stunde ein Trugbild vor die Augen gezaubert. Am Abend des zweiten Tages, es war schon dunkel, schlendere ich missmutig hinüber zur Endstation der Pferdebahn bei der Laan van Nieuwoost-Indie*, um wieder in mein Quartier in der Stadt zurückzukehren. Und just in dem nämlichen Moment, wen seh‘ ich drei Schritte vor mir? Den Mann im Leibrock und Zylinder. Auf fünfzig Schritt im Umkreise war kein Mensch zu sehen. Na, und reputierlich* angezogen war ich auch. So bugsiere ich mich denn mit ein paar raschen Schritten an Smeedes Seite und schlage ihm auf die Schulter: ‚Hallo, alter Junge, wie geht es?‘
Er sieht mich an und tritt einen Schritt zurück. ‚Sie irren sich jedenfalls – ich kenne Sie nicht.‘
So? sage ich höflich in meiner Freude, meinen Mann gefasst zu haben – und ich glaubte, Ihnen drüben einmal in New York begegnet zu sein! Er zwinkert ein bisschen mit den Augen und sagt dann: ‚Noch einmal, sie irren sich. Mein Name ist van Linteloo; ich bin Dolmetscher des Assistent-Residenten auf Lombok und in der Begleitung des Rajah von Mataram hier. Damit fasste er an den Hut und wollte ab. Aber da wir gerade an eine Laterne gekommen waren, halte ich ihn am Arm und sage gemütlich: Nun, mal herunter mit der Maske, Smeedes! Alten Freunden gegenüber zeigt man sein wahres Gesicht. Sieh mich an: Kennst du den Wapstra nicht mehr?