Die elternlosen Erlebnisse der unzertrennlichen Fünf - Hana Tooke - E-Book

Die elternlosen Erlebnisse der unzertrennlichen Fünf E-Book

Hana Tooke

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Beschreibung

Unerschrocken, ungewöhnlich, unvergesslich, UNZERTRENNLICH Vor zwölf Jahren wurde Milou mit ihrem Kuscheltier auf dem Dach des berühmtesten Waisenhauses von Amsterdam gefunden. Seitdem hofft sie auf die Rückkehr ihrer Eltern. Doch bevor diese auftauchen, steht der Zuckerhändler Bas Rotman vor der Tür. Er will Milou und ihre vier Freunde adoptieren, um sie auf seinem Schiff schuften zu lassen. Höchste Zeit zu fliehen! Die fünf folgen einer Spur, die in Milous Kuscheltier versteckt war: eine Taschenuhr, in die Koordinaten eingraviert sind. Der Weg zu Milous Familie? Er führt sie durch enge Gassen und über gefrorene Kanäle bis zu einer alten Windmühle. Wo sind ihre Eltern? Was ist damals passiert? Während die fünf nach Antworten suchen, sucht jemand anders längst nach ihnen …

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Seitenzahl: 380

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Über das Buch

Zwölf Jahre lang wartet Milou schon auf ihre Eltern. Zwölf Jahre schon schuften sie und ihre Freunde im Waisenhaus. Bis eines Nachts ein Händler mit einem falschen Lächeln auftaucht und sie alle fünf mit auf sein Schiff nehmen will. Milou wird misstrauisch! Als aus der offenen Naht ihres Kuscheltiers eine Uhr mit eingravierten Koordinaten purzelt, stürzen sich die Kinder in ein unbekanntes Abenteuer …

 

 

 

 

Für meine wundervoll wundersame Familie

WAISENHAUS»KLEINE TULPE«,

AMSTERDAM, 1880

REGELN ZUM AUSSETZEN VON BABYS

REGEL 1:

Das Baby muss in ein Baumwolltuch gewickelt sein.

REGEL 2:

Das Baby muss in einem Weidenkorb liegen.

REGEL 3:

Der Korb mit dem Baby muss auf der obersten Stufe der Eingangstreppe stehen.

All die Jahre, in denen Elinora Gassbeek das Waisenhaus »Kleine Tulpe« nun schon leitete, waren diese Baby-Aussetz-Regeln befolgt worden. Nicht einen einzigen Verstoß hatte es gegeben. Bis zum Herbst 1880. Fünf Babys wurden in jenem Herbst ausgesetzt, und obwohl die Regeln nun wirklich überdeutlich und für jeden sichtbar auf einem Schild an der Tür standen, war keines dieser fünf Babys ordnungsgemäß abgestellt worden.

Das erste Baby kam an einem strahlenden Morgen Ende August, als das Kopfsteinpflaster noch vom Tau glitzerte.

Es hatte kakaobohnenbraune Augen und blonden Flaum auf dem Kopf, war in ein rosafarbenes Baumwolltuch gewickelt und auch ganz korrekt auf der obersten Stufe deponiert worden. Doch die Art und Weise, in der die aussetzenden Eltern gegen Regel Nr. 2 verstoßen hatten, war unentschuldbar. Sie hatten das Kind in eine Werkzeugkiste aus Metall gestopft und eine smaragdgrüne Schleife darumgewickelt, als handelte es sich um ein Geschenk.

»Argh!«, kreischte Elinora Gassbeek und musterte die Werkzeugkiste angewidert. Dann befahl sie einem in der Nähe stehenden Waisenkind, die Kiste wegzunehmen. »Stell sie nach oben.«

Das Waisenkind nickte. »Welchen Namen soll ich an das Bett schreiben, Hausmutter?«

Die Leiterin kräuselte nachdenklich die Lippe. Babys einen Namen zu verpassen war lästig und mühsam, aber leider notwendig.

»Es hat ganz schön viele Finger, Hausmutter!«, stellte das Waisenkind fest.

Das Baby nuckelte an seinem Daumen und machte dabei laute Schmatzgeräusche, die der Hausmutter einen Schauder über den Rücken jagten. Sie zählte die Finger nach. Tatsächlich, es hatte an jeder Hand einen Extradaumen.

»Hm, lauter Finger … lauter Finger … lauter … Lotta … Ach, nenn es Lotta.«

Das zweite Baby kam an einem ungemütlichen Septemberabend, als ein fieser Wind an den Holzfensterläden des Waisenhauses rüttelte.

Ein Waisenkind trat in den Essraum, einen Kohleneimer unter dem Arm wie einen riesigen Blumenstrauß. Aus dem Inneren des Eimers war ein Wimmern zu hören. Als die Leiterin hineinspähte, sah sie zu ihrem Entsetzen ein Baby mit pechschwarzen Haaren darin. Es war in ein Halstuch voller Rußflecke geschlungen und blinzelte zu ihr hoch.

»Das arme Ding ist neben dem Kohlenbehälter abgestellt worden«, sagte das Waisenkind.

»Skandalös!«, schrie Gassbeek, womit sie allerdings nicht das Aussetzen an sich meinte, sondern den Verstoß gegen Regel Nr. 2 und 3.

»Wie soll er heißen, Hausmutter?«, fragte das Waisenkind nervös.

Widerwillig warf Elinora Gassbeek einen zweiten Blick auf das Kohleneimer-Baby, seine rußgeschwärzte Nase und das schäbige Halstuch. Das Tuch sah aus, als könnte es irgendwann einmal knallbunt gewesen sein. Jetzt war es schmuddelig grau mit einem Muster aus dunkelgrauen gewundenen Linien. Wie Maden, dachte die Hausmutter.

»Nenne es … Mads.«

Das dritte Baby kam an einem ungewöhnlich warmen Oktobernachmittag, an dem feine Damen mit Sonnenschirmen durch die sonnendurchfluteten Straßen spazierten.

Elinora Gassbeek saß in ihrem feinsten Puffärmelkleid auf der Bank vor dem Waisenhaus und fuhr vor Entsetzen zusammen, als sie in ihrem Picknickkorb, eingequetscht zwischen Käsebroten und Mandelfingern, ein Baby entdeckte. Es hatte einen Haufen wirrer roter Locken auf dem Kopf und brabbelte vor sich hin.

Kein Baumwolltuch. Kein Weidenkorb. Nicht auf der obersten Treppenstufe!

Die Waisenhausleiterin stieß einen gellenden Schrei aus. Sie klang wie ein Teekessel. Das Picknickkorb-Baby verstummte augenblicklich, seine Augenbrauen zogen sich ängstlich zusammen. Überall in der Straße tauchten neugierige Gesichter an den Fenstern der hohen, schmalen Ziegelhäuser auf. Die herumspazierenden Damen blieben stehen. Elinora Gassbeek riss sich zusammen und bedachte ihre Nachbarn mit einem Lächeln. Ein Waisenkind drängte sich durch die Menschenmenge zu ihr hindurch.

»Vor einer Minute war es da noch nicht drin«, versicherte das Mädchen und hob das Baby vorsichtig aus dem Picknickkorb.

»Schaff es hier weg«, zischte Elinora Gassbeek durch ihre zusammengebissenen Zähne.

»Ja, Hausmutter. Aber … wie soll es heißen?«

Das Waisenmädchen wiegte das Baby, das jetzt ruhig war, in den Armen und strich ihm vorsichtig ein paar Mohnstreusel aus dem Haar. Die Hausmutter erschauderte.

»Nenn es … Mona.«

Das vierte Baby kam an einem düsteren Novembermorgen, als eine dichte Nebeldecke über der Gracht hinter dem Waisenhaus waberte.

Die Lieferantenglocke im zweiten Stock läutete. Ein Boot in der Gracht hatte unten am Haus angelegt und die Klingelschnur betätigt. Als eines der Waisenkinder den Eimer an der Seilwinde hinaufzog, quollen Elinora Gassbeeks Augen hervor. In dem Eimer hockte ein traurig guckendes Baby, das als einziges Kleidungsstück einen Weizensack trug. Unten in den Sack waren zwei Löcher geschnitten, aus dem ungewöhnlich lange Beinchen herausschauten.

Während die Hausmutter das Weizensack-Baby durch die Luke nach drinnen beförderte, fluchte sie ununterbrochen über den Irrsinn, der ihr Waisenhaus heimgesucht hatte.

»Zieh ihm etwas Vernünftiges über«, blaffte sie das Kind an, das neben ihr von einem Bein aufs andere trat.

Sie betrachtete die schiefen Ohren des Babys, seine schlaksig langen Glieder und die weizenblonden Haare, die in alle möglichen Richtungen vom Kopf abstanden. Dann streifte ihr Blick den Aufdruck auf dem Weizensack. Grießmehl, stand da.

»Grieß … Gri … Gi … Nenn es Gisbert«, brummte sie.

Das fünfte und letzte Baby kam in einer Vollmondnacht im Dezember, als Blitze über den Amsterdamer Himmel zuckten.

Elinora Gassbeek hatte ein Waisenkind aufs Dach des Hauses geschickt, damit es einem merkwürdigen Geräusch auf den Grund ging. Dort oben fand es einen sargartig aussehenden Korb, der hinter dem Schornstein klemmte, und in diesem Korb lag ein Baby, das quietschvergnügt vor sich hin gurrte. Seine Haare waren schwarz wie der Mitternachtshimmel und die Augen fast ebenso dunkel.

Behutsam bugsierte das Waisenkind den sargähnlichen Korb ins Haus, wo das Baby sofort zu weinen begann. Vorsichtig, um es bloß nicht zu berühren, wand die Hausmutter dem Säugling das Spielzeug aus der kleinen Faust: eine Katzenmarionette, gefertigt aus allerfeinster Amsterdamer Baumwolle und edelster Antwerpener Seide. Ein leises Ticken drang aus dem Katzenkörper, aber die Hausmutter schimpfte so laut, dass sie es nicht hörte.

»Einfach lächerlich!«

Sie warf die Marionette zurück auf das schwarze Samtkleid, in das das Baby statt einer Decke gehüllt war. In einen Zipfel des Kleides war mit weißem Garn ein Name eingestickt:

Milou.

WAISENHAUS»KLEINE TULPE«,

AMSTERDAM, JANUAR 1892

Die »Kleine Tulpe« war ein ungewöhnlich hohes Haus, eingequetscht in eine lange Reihe ebenso ungewöhnlich hoher Häuser. Aus dem kleinen Fenster des obersten Stockwerks blickte ein Mädchen mit ungewöhnlich dunklen Augen auf die zugefrorene Gracht. Milou beobachtete die Schneeflocken, die langsam nach unten schwebten und sich wie eine Zuckergussschicht auf die kunstvoll verzierten Dächer legten. Auf dem Eis unten in der Gracht versammelten sich immer mehr Menschen mit strahlenden Gesichtern und rot gefrorenen Nasen. Die Fahrräder hatten sie gegen Schlitten eingetauscht, die Holzschuhe gegen Schlittschuhe. Ihr Jauchzen mischte sich mit dem Wiehern der Kutschpferde.

Je mehr die kalte Fensterscheibe von Milous Atem beschlug, desto verschwommener wurde die Sicht. Seufzend wandte sie sich ab. Ein Stück gefrorener Wandfarbe blätterte ab und fiel mit einem leisen Kling neben ihr auf den Boden. Selbst die Dielen des Schlafsaals waren von einer hauchdünnen Frostschicht überzogen, und Milous Augäpfel waren so kalt, dass das Blinzeln wehtat. Der winzige Kamin an der gegenüberliegenden Wand war dunkel und leer, wie immer.

»Halbgefrorenes Waisenkind – das klingt wie ein edles Dessert, Mona, oder?«, sagte sie zu dem rothaarigen Mädchen, das auf dem Bett gegenüber hockte. »Ob das Gassbeeks neuer Plan ist? Wenn sie uns schon nicht als Adoptivkinder verscherbeln kann, dann vielleicht als leckere Eiscreme?«

Mona zog eine Grimasse, dann widmete sie sich wieder der kleinen grauen Ratte auf ihrem Schoß und fütterte sie mit harten Brotkrümeln.

Milou rümpfte die Nase und zog einen Schmollmund. »Halbgefrorene Waisenkinder!«, ahmte sie die heisere Stimme der Hausmutter nach. »Sichern Sie sich ein halbgefrorenes Waisenkind! Die besten halbgefrorenen Waisenkinder in ganz Holland! Nur fünf Cent pro Kugel!«

Monas gerunzelte Stirn glättete sich und ihre Mundwinkel begannen zu zucken, was Milou gleich ein bisschen von innen wärmte.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte sie, plötzlich wieder ernst. Sie wischte eine kreisrunde Fläche in die beschlagene Scheibe und spähte zur Turmuhr am anderen Ende der Straße. »Noch vier Minuten bis zur Wäschekontrolle. Gassbeek zieht uns die Armhaare lang, wenn wir zu spät kommen.«

Ein Prickeln, das am Rand ihrer Ohrmuscheln begann, lief Milou den Rücken hinunter. Es war kein Kälte-, sondern ein Warnschauder.

Schrittgeräusche im Flur! Die Mädchen tauschten einen panischen Blick. Milou sprang vom Fensterbrett, Mona rollte sich rückwärts über ihr Bett, die Ratte fest an die Brust gedrückt. Während Milou sich einen Armvoll Wäsche vom Fußende schnappte, stopfte Mona die Ratte in ihren Picknickkorb – nur eine Sekunde, bevor die Tür des Schlafsaals aufflog.

Der Kopf eines Jungen mit merkwürdig unproportionierten Ohren und blondem Haarwust tauchte im Flur auf, gefolgt von einem schlaksigen Körper mit ellenlangen Gliedmaßen, die aussahen, als würden sie zu mindestens vier verschiedenen Spinnenarten gehören.

»Da seid ihr ja!«, keuchte er atemlos und seine langen Finger nestelten am Saum seines fettfleckigen Hemdes.

»Oh, Gisbert, du bist’s!«, rief Milou erleichtert. »Was ist los?«

Gisbert grinste schief. »Wir haben Besuch!«

In seinen Worten lag so viel atemlose Hoffnung, dass es in Milous Magen zu kribbeln begann, als würde ein Gespenst darin herumflattern. Es gab nur eine Art von Besuch, bei der Gisbert so aufdrehte: adoptionswillige Eltern.

»Besuch«, wiederholte Milou, während Mona leise japste.

Es war Monate her, seit zum letzten Mal jemand in der »Kleinen Tulpe« aufgetaucht war, um sich nach einem Waisenkind umzusehen. Was, wenn heute endlich der große Tag war? Was, wenn Milous Eltern endlich gekommen waren, um sie abzuholen? Sie konnte sich nicht an sie erinnern, natürlich nicht, aber sie hatte so ihre Theorien über sie. Ja, sie hatte sogar ein ganzes Buch voller Theorien! Das steckte im linken Ärmel ihres Kittels. In allen der darin notierten Theorien waren ihre Eltern klug und mutig. Und in allen bis auf einer versuchten sie, zu ihr zurückzukommen. Vielleicht hatten sie es nach zwölf langen Jahren ja jetzt endlich geschafft!

»Beeilung, Milou«, drängte Gisbert.

»Warte kurz.«

Milou kletterte über drei Matratzen, um zu dem Bett zu gelangen, das sie mit Mona und Lotta teilte. Mit zitternden Fingern hangelte sie unter dem Bettgestell nach ihrem sargförmigen Korb, der immer fertig gepackt dastand, für alle Fälle. Obenauf lag ihre Katzenmarionette. Milou strich mit dem Finger über deren Fuß, da, wo in geschwungenen Buchsta-ben die Worte »Bram Poppenmaker« eingewebt waren. Die Marionette umklammerte eine rote, lockige Haarsträhne, die von einer smaragdgrünen Schleife zusammengehalten wurde. Milou legte sie zur Seite und tastete nach zwei Kohlezeichnungen, Porträts von ihr selbst, und einem Werbeplakat der berühmten Pariser Zirkustruppe Cirque de Lumière. Unter diesen Schätzen lag ein säuberlich zusammengefaltetes schwarzes Kleid aus feinstem Amsterdamer Samt.

Gisbert setzte sich neben sie aufs Bett, die langen Beine unter dem Kinn zusammengefaltet. »Milou …«

»Sekunde.«

In seinem Blick las sie, was er von ihrer Hoffnung hielt, eines Tages von ihren Eltern abgeholt zu werden: nichts. Aber er hatte auch nie so empfunden wie sie. Er hatte seine leiblichen Eltern immer gehasst. Milou verstand das. Wenn sie mit nichts anderem als einem schäbigen Weizensack ausgesetzt worden wäre, hätte sie ihre Eltern auch gehasst. Von daher war klar, dass Gisbert ihre Hoffnung nicht nachvollziehen konnte. Aber sie ließ sich davon nicht beirren: Die Frage für sie war nicht, ob ihre Eltern sie holen kämen, sondern wann.

Milou streifte das schwarze Samtkleid über ihren fleckigen Baumwollkittel und strich mit dem Finger über den flauschigen Stoff. Falls die Besucher tatsächlich ihre Eltern waren, würden sie ihre alte Babydecke sicher wiedererkennen. Das Kleid war inzwischen ziemlich eng. Gisbert hatte die Säume und Nähte über die Jahre immer weiter rausgelassen, aber trotzdem würde es bald nicht mehr passen.

Stirnrunzelnd sah er sie an, dann glättete er vorsichtig den Kragen des Kleids. Milou packte die Zeichnungen in den Korb zurück, schnappte sich ihre Katzenmarionette und drückte sie auf ihr trommelndes Herz. Als kleines Kind hatte sie fest geglaubt, dass die Marionette ebenfalls einen Herzschlag hatte. Jahrelang hatte diese Vorstellung sie durch die kalten, schlaflosen Nächte getröstet, doch irgendwann hatte es nicht mehr funktioniert. Da war Milou schlagartig klar geworden, dass sie sich den Marionettenherzschlag nur einbildete.

Aber vielleicht war ja jetzt Schluss mit den kalten, schlaflosen Nächten? Vielleicht würde sie diesen trostlosen Ort heute endlich verlassen?

»Los, wir müssen runter«, drängte Gisbert und lief bereits mit Mona zur Tür.

Milou folgte ihnen. Der Schlafsaal befand sich im vierten Stock des alten, schmalen Grachtenhauses – das hauptsächlich aus dunklen Schatten und losen Bodendielen bestand und von abblätternder Farbe zusammengehalten wurde. Milou stapfte die heimtückisch steile Treppe hinunter, vorbei an der Flickwerkstatt im dritten Stock, der Wäscherei im zweiten und dem Klassenzimmer im ersten. Gisbert überwand das Treppenhaus quasi im Sturzflug, immer drei Stufen auf einmal nehmend, während Mona zu schweben schien, geschmeidig und vollkommen lautlos.

Das Erdgeschoss war der einzige Bereich, der nicht aussah, als würde er zusammenklappen, sobald mal jemand kräftig nieste. Der Marmorfußboden war spiegelglatt gebohnert, die Wände waren in einem charmanten Violett gestrichen und in der Ecke tickte und tockte eine große Standuhr. Eine zusammengewürfelte Kinderschar versuchte gerade, sich in einer Reihe vor der Wand aufzustellen: die Jüngsten am einen Ende, die Ältesten am anderen. Und alle waren sie hektisch dabei, sich präsentabel zu machen: Fettflecken wurden weggerubbelt, Hemden in Hosen gestopft, Unterröcke zurechtgezupft, Strümpfe hochgezogen. Doch trotz aller Bemühungen konnten sie nicht verbergen, was sie waren: schmuddelige, hungrige, verzweifelte Waisenkinder.

Gisbert und Mona glitten in die Reihe, während drei kleine braune Ratten in unterschiedliche Richtungen über den Marmorboden davonschossen. Ein Mädchen mit einer Weste über dem blauen Baumwollkleid rubbelte am Hemdsärmel eines Jungen mit kohlschwarzen Haaren. Sie warf Milou einen besorgten Blick zu.

»Wieso hast du so lange gebraucht?«, fragte Lotta und bemerkte erst jetzt Milous Kleid und die Katzenmarionette. »Egal, hilf mir lieber, den Kohlenstaub von Mads’ Hemd abzubekommen.«

Milou schnappte sich den anderen Ärmel des Jungen und rieb mit der Innenseite ihres Ärmels darauf herum. Aber die Kohle verschmierte nur zu einem undefinierbaren Grauton.

»Gassbeek wollte noch ein Porträt«, sagte Mads entschuldigend, als er ihnen schließlich das Hemd entzog und vorsichtig sein rußgeschwärztes Halstuch zurechtrückte. »Ich hatte keine Zeit mehr, mich umzuziehen.«

»Kein Problem«, sagte Milou. »Es ist nur …«

Das Ohrkribbeln fing wieder an – und diesmal war es ein Tausend-Stecknadeln-Kribbeln. Milou zog Lotta neben Gisbert in die Reihe und stellte sich neben sie. Sie hatte kaum Position bezogen, als ein vertrautes Geräusch aus dem Flur drang, der zum »Verbotenen Bereich« führte.

Klick-klack-klick-klack.

Achtundzwanzig Kinder richteten sich kerzengerade auf, die Glieder wie von unsichtbaren Fäden gehalten.

Klick-klack-klick-klack.

Achtundzwanzig Kinder verfielen in hektische Schnappatmung.

Klick-klack-klick-klack.

Siebenundzwanzig weit aufgerissene Augenpaare starrten auf die gegenüberliegende Wand. Milou linste zwischen den Lidern hindurch zu dem abgedunkelten Flur auf der linken Seite.

Klick-klack-klick-klack.

Die Stiefel der Hausmutter tauchten Sekunden vor ihrem restlichen Körper auf: blank poliertes blutrotes Leder auf Pfennigabsätzen, die genauso spitz zuliefen wie ihr Mund, als er schließlich in Sicht kam.

Alle Monster, die sich Milou jemals für ihre Gutenachtgeschichten ausgedacht hatte, beruhten in irgendeiner Form auf der Gassbeek. Bei der Hausmutter paarte sich das höhnische Grinsen einer Wasserspeierfigur mit den seelenlosen Augen eines Werwolfs und der Juckreiz auslösenden Kreischstimme einer Todesfee. Wäre die Hausmutter nicht die menschliche Verkörperung von Hass gewesen, hätte man sie für eine x-beliebige mittelalte Frau halten können. Doch ihre Fiesheit drang aus jedem Knopfloch und ließ sie geradezu monströs erscheinen.

Aufreizend langsam begann Gassbeek, die Reihe auf und ab zu stolzieren. Mit jedem Klick ihres Absatzes grinste sie, mit jedem Klack verschossen ihre Augen Blitze. Milou hielt den Blick zu Boden gerichtet, den Rücken gerade und die Schultern gesenkt. Auf jeden Fall achtete sie darauf, sie nicht bis zu ihren immer noch kribbelnden Ohren hochzuziehen. Nach einer Weile schnalzte die Hausmutter missbilligend und stampfte mit dem Fuß auf.

KLACK!

Alle achtundzwanzig Kinder zuckten zusammen.

In dem Moment machte die Türklingel erst Ding und dann Dong.

»Unser Besuch ist da. Enttäuscht mich nicht!«, kreischte die Hausmutter und bedachte jedes Kind vorsichtshalber schon mal mit einem abgrundtief enttäuschten Blick.

Dann klickerte und klackerte sie zur Eingangstür, wo sie kurz stehen blieb, um ihre straffe Hochfrisur zu betätscheln und ihren Mund zu einer Grinsefratze zu verziehen.

Die Tür schwang auf und Schneeflocken wirbelten herein. Als die potenziellen Adoptierer über die Schwelle traten, konnte Milou nicht anders: Sie reckte den Hals. Aber von ihrem Platz am Ende der Reihe sah sie nicht mehr als zwei dunkle Umrisse in einer Schneewolke. Sie drückte ihre Katzenmarionette an die Brust, direkt an ihr zappeliges Herz. Ihre Ohren kribbelten erneut, sie atmete ganz flach.

Die Tür schlug zu und Schnee fiel auf den Boden. Zum Vorschein kamen zwei Gestalten in dunklen Mänteln, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Selbst auf die Entfernung konnte Milou erkennen, dass die Mäntel aus Amsterdamer Samt gefertigt waren, das leichte Schimmern des Stoffs ließ keinen Zweifel daran.

Ihre Finger tasteten nach dem kleinen Schildchen am Fuß der Marionette. Konnte das Bram Poppenmaker sein? Hatte er ihre Mutter auch gleich mitgebracht? Sie würde sie wiedererkennen, davon war sie felsenfest überzeugt. Ihre Eltern würden aussehen wie sie selbst. Also anders.

Während die beiden Gestalten an ihren Kapuzen herumnestelten, fühlte sich Milou, als würde die Geisterbesatzung eines ganzen Friedhofs in ihrem Bauch herumflattern. Doch als unter den Kapuzen weder mitternachtsschwarze Haare noch fast schwarze Augen zum Vorschein kamen, verwandelten sich die Geister in Milous Magen in schwere Grabsteine.

Zwei Köpfe mit weißblondem Haar.

Zwei Paar eisblauer Augen.

Zwei ekelhaft lächelnde Münder.

Die weißblonden Fremden schüttelten sich den Schnee von den Mänteln, dann wandten sie sich den aufgereihten Kindern zu. Milou versuchte, ihre bodenlose Enttäuschung beiseitezuschieben. Sie umklammerte ihre Marionette und starrte auf ihre Stiefel.

Das waren nicht ihre Eltern.

»Herzlich willkommen«, zwitscherte Gassbeek und grinste wie eine Marionette mit riesigen Kulleraugen. »Kinder, das hier sind Herr und Frau Fortuyn. Ihr sagt jetzt bitte alle ›Guten Morgen‹!«

»Guten Morgen«, kam es leise und mechanisch aus siebenundzwanzig Mündern.

Milous Zunge fühlte sich an wie von Spinnweben ummantelt. Sie zupfte am Kragen ihres Babydeckenkleides, das so eng saß, dass es ihr die Luft abschnürte. Eine Hand tastete nach ihrer und drückte sie. Milou schenkte Lotta ein schmales Lächeln.

»Kommen Sie ins Warme!«, gurrte Gassbeek, während sie um die Besucher herumtänzelte und sie über den Marmorboden nach drinnen führte. »Die Kinder sind ja so aufgeregt, Sie zu treffen.«

»Und wir sind erst aufgeregt«, sagte Herr Fortuyn.

Er war groß und seine Frau war sogar noch größer. Sie standen mitten im Foyer und ließen ihre Augen über die Kinderreihe schweifen, als stünden sie vor einer Schaufensterscheibe.

»Wie entzückend!«, rief Herr Fortuyn.

»Entzückend … in der Tat!«, quetschte Gassbeek hervor. Ihre Munterkeit schwächelte für einen Moment. »Wie Sie sicherlich in der Anzeige gelesen haben, habe ich die allerfeinsten Waisenkinder Amsterdams im Angebot. Gehorsam, hart arbeitend und wohlerzogen. Die Älteren können sogar schon lesen und schreiben.«

»Herrlich, das ist ja noch schöner, als sich eine neue Handtasche zu kaufen!«, schwärmte Frau Fortuyn. »Schau mal, Bart, was für eine Riesenauswahl.«

Gassbeeks Lächeln kletterte steil ihre gepuderten Wangen hinauf. Milou vergrub ihre Finger im weichen Baumwollstoff ihrer Katzenmarionette.

»Sie können sie gerne genauer inspizieren«, gurrte Gassbeek. »Wir beginnen mit der Kleinsten.«

Das erste Waisenkind, ein kleines Mädchen mit blonden Löckchen und einer beeindruckenden Konstellation von Sommersprossen, trat hastig vor. Die Hausmutter schob ihre Lesebrille auf die Nasenspitze und blinzelte auf ihr Klemmbrett.

»Das ist Janneke«, quäkte sie. »Sie ist etwa drei, kann bis zehn zählen und mit einer Nähnadel umgehen, ohne dass Blut fließt. Janneke ist ausgestattet mit einem Weidenkorb und einem gelben Baumwolltuch.«

Die Fortuyns strahlten zu dem Kleinkind hinunter. »Hallo, Liebes.«

Milou spürte ein Zupfen an ihrem Ärmel. Sie warf einen verstohlenen Blick auf Lotta, die die Fortuyns nachdenklich musterte.

»Ich wette um einen lochlosen Strumpf, dass sie sich für Janneke entscheiden«, wisperte Lotta. »In sieben von acht Fällen wählen Adoptierer das jüngste Kind aus. Wenn es obendrein Sommersprossen hat, erhöhen sich die Chancen noch mal. Mathematisch gesehen sind wir raus.«

»Ist wahrscheinlich auch besser so«, flüsterte Milou zurück und musterte die Fortuyns, die langsam die Reihe abschritten. »Die sehen aus wie Grabräuber.«

Lotta hob fragend die Augenbrauen und Milou beugte sich weiter zu ihr. »Schwarze Stiefel, dunkle Mäntel. Perfekt, um nachts draußen herumzuschleichen, Leichen auszugraben und sie an Medizinlabore zu verscherbeln. Vielleicht nehmen sie ja Gisbert mit seinen schaufelschwingenden Armen.«

Gisbert hustete und warf ihnen einen scharfen Blick zu. Milou sah wieder auf ihre Fußspitzen.

Das Theorienbuch in ihrem Ärmel fühlte sich plötzlich wie Blei an. Vielleicht kamen ihre Eltern ja erst, wenn der schlimmste Teil des Winters vorbei war. Das ergab Sinn. Schließlich war Reisen in dieser Jahreszeit schwierig. Sie musste sich einfach noch etwas gedulden.

»Und wie heißt du, Liebes?«, fragte Herr Fortuyn, der jetzt nur noch ein paar Kinder entfernt von Milou stand.

In Milous Magen begann es wieder zu flattern, als sie sah, wie Mona an ihrem Schürzensaum herumnestelte und zu Boden blickte.

»Das ist Mona«, krächzte Gassbeek, als sie endlich den Namen auf ihrem Klemmbrett entdeckt hatte. »Sie ist ungefähr zwölf. Lese- und schreibkundig. Hat sogar eine ganz passable Handschrift. Und ihre Kochkünste sind unübertroffen. Mona gibt’s im Paket mit einem Picknickkorb, aber leider ohne Decke.«

»Was für wunderschöne rote Haare«, schwärmte Frau Fortuyn und packte Mona am Kinn. »Die erinnern mich an meine Lieblingslippenstiftfarbe. Sag mal, Mona, singst du denn gern?«

Plötzlich war es – bis auf das Ticken und Tocken der Standuhr – totenstill im Foyer. Frau Fortuyn räusperte sich. Mona krümmte die Schultern und kniff die Augen zusammen.

»Oh, es bringt nichts, ihr Fragen zu stellen«, seufzte Gassbeek. »Sie spricht nicht. Und trotzdem …«, ihre Stimme kletterte wieder nach oben, »wird sie eine hervorragende Tochter abgeben. Vor allem eine sehr leise.«

»Ist sie stumm?«, fragte Herr Fortuyn nachdenklich. »Hm, könnte vielleicht ganz vorteilhaft sein, ein leises Kind zu haben …«

»Oh nein, auf keinen Fall, Bart!«, schrie seine Frau. »Was würden unsere Freunde denken? Ich höre sie schon tratschen. Nein, nein, das könnte ich nicht ertragen. Das nächste Kind bitte!«

Mona schob sich zurück in die Reihe und Mads trat eilfertig vor, wobei er seine kohlenverstaubte Hand noch einmal schnell am Hosenbein abwischte. Dann streckte er sie den Fortuyns entgegen, die keine Anstalten machten, ihm die gleiche Höflichkeit zu erweisen.

»Das ist Mads«, erklärte die Hausmutter. »Er ist ebenfalls um die zwölf und von unbekannter asiatischer Herkunft. Er kann alle Hauptstädte der Welt benennen und zeigt ein vielversprechendes Talent in Kalligrafie und Kartografie. Mads gibt’s zusammen mit einem Kohleneimer und …« Sie blickte angewidert auf ihn herab. »… und diesem Halstuch.«

»Ein Künstler?« Herr Fortuyn deutete mit einer Grimasse auf den Kohlestift, der hinter Mads’ linkem Ohr klemmte.

»Mads hat … nun ja … er hat gewisse künstlerische Neigungen.« Gassbeek klang, als hätte Mads andauernd Heißhunger auf tote Frösche. »Auf jeden Fall könnte der Junge nützlich sein, falls mal eine Porträtzeichnung gebraucht wird …«

Herr Fortuyn hob abwehrend eine Hand. »Oh, nicht nötig, wir haben unser Haus gerade neu dekoriert. Weiße Seidentapeten aus Peking und cremefarbene Polstermöbel aus Rom.«

»Kohlenflecke. Unverkennbar«, fügte Frau Fortuyn mit angeekeltem Blick auf Mads’ Halstuch hinzu.

Die beiden schritten weiter die Reihe entlang.

Gisbert stolperte vorwärts, als wäre der Fußboden plötzlich abschüssig, und die Fortuyns wichen ein paar hastige Schritte zurück. Zum Glück gelang es Gisbert, seine Beine zu stabilisieren und seine Arme fest an den Körper zu pressen. Seine Nase färbte sich leuchtend rot.

»Das ist Gisbert«, sagte Gassbeek. »Er ist ungefähr dreizehn. Ein Experte im Schneidern. Handschrift ist … nun ja … Lassen Sie es mich so ausdrücken: Seine Handschrift hat Charakter. Gisbert gibt’s zusammen mit einem Weizensack, dafür aber leider ohne Korb und ohne Tuch.«

»Ich dachte, es wären eher Mädchen, die nähen lernen?«, fragte Herr Fortuyn.

Seine Frau wandte sich an Gassbeek. »Warum ist er noch nicht in der Lehre, wenn er schon dreizehn ist?«

»Weil er tollpatschiger ist als ein dreibeiniger Esel«, seufzte Gassbeek. »Aus jedem Job, den ich ihm beschafft habe, wurde er vorzeitig entlassen. Allerdings macht ihn seine Größe zu meinem besten Spinnwebenbeseitiger. Das ist schon sehr praktisch. Ich könnte Ihnen einen Preisnachlass auf ihn geben.«

Gisbert wurde rot vor Scham und sein Lächeln schwächelte.

Frau Fortuyn schüttelte den Kopf. »Ich denke, das ist nicht nötig. Sieh ihn dir doch an, Bart. Wie sollte ich für eine solche Bohnenstange passende Kleidung finden? Von der katastrophalen Frisur gar nicht erst zu reden. Nein. Ein klares Nein.«

Mit schief hängenden Schultern schlich Gisbert zurück in die Reihe. Milou stieß ein leises Knurren aus. Das Ohrenkribbeln, das sie mahnte, sich zusammenzureißen, ignorierte sie. Sie schüttelte sich die Haare vors Gesicht und spähte durch einen winzigen Spalt in dem schwarzen Vorhang. Die Adoptierer wandten sich gerade voller Begeisterung an Lotta. Die Augen von Frau Fortuyn zuckten leicht beim Anblick von Lottas Weste, aber ihre wunderschönen goldenen Zöpfe, die von smaragdfarbenen Bändern zusammengehalten wurden, schienen das Interesse der Frau wieder anzufachen.

»Lotta, ebenfalls um die zwölf Jahre alt«, schnarrte Gassbeek ihren Klemmbretttext herunter. »Hat mit vier Jahren Rechenlieder beherrscht. Außerdem sind ihr Dinge wie Pythagoras’ Theorem oder die Zahl Pi vertraut. Lotta gibt’s zusammen mit einer leeren Werkzeugkiste, einem rosafarbenen Baumwolltuch und drei smaragdfarbenen Ersatzzopfbändern.«

»Was für einen Nutzen hat es, wenn ein Mädchen Pythagoras kennt?«, spottete Herr Fortuyn.

Lotta ballte die Fäuste zu beiden Seiten ihres Körpers.

»Oh, keine Sorge«, sagte Gassbeek schnell. »Ich versichere Ihnen, dass sie obendrein folgsam ist und sich sehr gut in Haushaltsdingen auskennt. So, wie es sich für ein Mädchen gehört.«

Milou spürte, wie Lotta neben ihr kochte, und sie tauschten einen verstohlenen Blick voller Verachtung.

»Die grässliche Weste muss allerdings verschwinden und das Kleid braucht mehr Rüschen.« Frau Fortuyn beugte sich herunter, sodass ihre Nase auf gleicher Höhe war wie Lottas. »Aber ansonsten bist du ja ein ganz entzückendes Püpp-chen.«

Lottas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

»Sag Hallo, Lotta«, befahl Gassbeek.

»Hallo.« Lottas Stimme klang klebrig süß wie Sirup. Sie hob eine Hand und winkte den Fortuyns mit ihren sechs Fingern zu. Dann entkrampfte sie die andere Faust und winkte ebenfalls, jetzt mit zwölf Fingern.

Eine ganze Weile herrschte Schweigen, während irgendjemand ganz leise die Sekunden zählte. Dann wichen die Fortuyns hastig zur Seite weg. Obwohl Milou wegen ihres pechschwarzen Haarvorhangs nichts sehen konnte, wusste sie, dass sie jetzt an der Reihe war. Zeit für ihre Darbietung.

»Das ist Milou«, sagte Gassbeek und räusperte sich. Doch Milou behielt die Haare vor dem Gesicht. »Sie ist auch so um die zwölf, kann die Märchen der Gebrüder Grimm erzählen und hat eine recht angenehme Singstimme. Milou wird einen kleinen Sarg mitbringen, das merkwürdige Kleidchen, das sie trägt, und eine Marionette.«

»Und wird sie auch ihr Gesicht mitbringen?«, fragte Herr Fortuyn.

»Milou?« Die Hausmutter klackte drohend mit ihrem Absatz. »Nimm sofort deine Haare aus dem Gesicht.«

»Mill-uu?« Frau Fortuyn machte ein nachdenkliches Gesicht. »Was ist das denn für ein Name? Mill-uu?«

»Keiner, den ich ausgesucht hätte«, seufzte Gassbeek. »Es steht Ihnen natürlich völlig frei, ihr einen neuen Namen zu geben.« KLACK. »Nimm deine Haare weg, Mädchen!«

Milous linkes Ohr kribbelte, als würde ein eisiger Luftzug dagegenblasen, doch sie ignorierte es. Sie brauchte ihren »siebten Sinn« nicht, um zu wissen, dass sie einen Riesenärger mit der Hausmutter riskierte.

»Ist sie taub?«, fragte Frau Fortuyn.

»Nein«, fauchte Gassbeek. »Ist sie nicht.«

»Milou?«, flüsterte Lotta. Sie klang verängstigt. »Was machst du da?«

Erneutes Ohrprickeln. Im nächsten Moment packte die Hausmutter eine Faustvoll von Milous Haaren und zog ihren Kopf hoch. Milou schaffte es gerade noch, ihre Fratze wieder aufzusetzen: gerümpfte Nase, gebleckte Zähne. Außerdem, das wusste sie, sahen ihre fast schwarzen Augen wie zwei finstere, leere Löcher aus, denn ihr Kopf war vom Licht abgewandt.

Die Fortuyns schnappten nach Luft.

Milou lächelte. Aber es war kein süßes Lächeln. Keines mit Lachgrübchen. Es war ein Lächeln, das sie sich von der Hausmutter abgeguckt hatte: viele Zähne und keine Seele.

»Guten Morgen«, knurrte Milou mit ihrer besten Werwolfstimme.

Die schreckgeweiteten Augen der Adoptierer huschten über ihr Gesicht, dann über ihr schlecht sitzendes schwarzes Kleid und schließlich wieder nach oben.

Milou erwiderte den Blick durch ihre spinnenbeinlangen Wimpern. Die Fortuyns sahen sich vielsagend an, kräuselten die Nasen und schüttelten wenig verstohlen die Köpfe.

»Wir nehmen den da«, verkündete Frau Fortuyn und deutete auf einen dunkelhaarigen Jungen in der Mitte der Reihe. »Der scheint wirklich niedlich zu sein.«

Milous Herz führte einen kleinen Triumphtanz auf.

Gassbeek drehte noch einmal ihre Faust mit Milous Haaren, dann ließ sie sie los und bedachte sie mit einem öligen Lächeln.

»Eine hervorragende Wahl!«, rief sie entzückt und klickerte und klackerte zu einem Beistelltisch, auf dem ein großes, ledergebundenes Buch lag. »Lassen Sie mich kurz die Adoptionsurkunde ausstellen.« Sie knipste ihr Lächeln aus und wandte sich den Waisenkindern zu. »Der Rest von euch, zurück an die … Schularbeiten.«

Die Standuhr tickte und tackte, Ratten kratzten in den dunklen Ecken herum und die Waisenkinder kehrten auf leisen Sohlen zu ihrer Knochenarbeit zurück.

Auf dem Weg nach oben musste Milou über ihren gelungenen Auftritt lächeln. Sie warf ihren Freunden einen prüfenden Blick zu. Lotta schaute finster drein, Gisbert wirkte fassungslos, Mads versuchte immer noch, die Kohle von seinen Ärmeln zu entfernen, und Mona sah aus, als würde sie am liebsten in einen der vielen Schatten hineinklettern und verschwinden. Milous Lächeln rutschte auf den Boden.

»Das wird sie dir nie verzeihen«, murmelte Gisbert. »Und bestimmt wird sie’s nicht bei Haarescheren und Fingerprügel belassen.«

Milou schluckte. »Was hätte ich denn anderes tun sollen? Ich darf nicht adoptiert werden, das wisst ihr. Deshalb werde ich auch aushalten, was immer die Hausmutter mit mir anstellt.«

Gisbert sah nicht überzeugt aus, aber er lächelte sie zaghaft an. »Ich hoffe, das ist es wert und der Preis ist nicht zu hoch.«

Milou umklammerte ihre Marionette fester und strich erneut über das Schildchen am Fuß. Den leisen Zweifel, der sich wie ein Wurm in ihr Herz zu schlängeln versuchte, schob sie energisch beiseite.

Ja, sie hoffte ebenfalls, dass es das wert war.

Denn Hoffnung war das Einzige, was sie noch besaß.

Milous Theorienbuch

Lotta sagt, dass sich Theorien auf Beweise gründen müssen und dass man mit logischen Schlussfolgerungen jedes Problem auf der Welt lösen kann. Und ich habe Beweise! Ich wurde mit mehr Hinweisen auf meine Herkunft ausgesetzt als jedes andere Waisenkind, das ich kenne. Außerdem hätte meine Familie mich niemals ohne guten Grund verlassen.

Beweise:

Die Werwolfjäger-Theorie:

Meine Eltern sind Werwolfjäger (»siebter Sinn«, Krallenspuren, Vollmond). Sie wurden von Werwölfen gejagt, deshalb haben sie sich in Sicherheit gebracht (auf dem Dach des Waisenhauses). Weil sie Sorge hatten, dass ich verletzt werden könnte (Babys sind ja keine sonderlich praktische Begleitung für Werwolfjäger), beschlossen sie, mich irgendwo abzustellen (Waisenhaus), bis es sicher genug sein würde, um mich abzuholen. Als Zeichen ihrer Liebe hinterließen sie mir Hinweise sowohl auf meine Identität als auch auf ihre: Sie stickten in aller Eile meinen Namen auf die Samtdecke, wobei sie sich in den Finger piksten (weißer Faden, Blutstropfen), und sie gaben mir die Katzenmarionette mit (als Hinweis darauf, dass mein Vater Bram Poppenmaker ist). Wenn ich alt genug bin, um selber als Werwolfjägerin zu arbeiten, werden sie kommen und mich holen. Ganz sicher.

Nach einem kargen Mittagessen – Mona hatte Kohlsuppe gekocht – half Milou Lotta eine Stunde lang, die saubere Wäsche über die Seilwinde nach unten zu hieven, einen Eimer nach dem anderen. Auf dem gefrorenen Kanal wartete bereits ein Schlitten zum Abtransport. Die darauffolgende Stunde luden die zwei Eimer für Eimer schmutziger Wäsche von einem anderen Schlitten. Als die Standuhr begann, sieben Uhr zu schlagen, fühlten sich Milous Arme an wie Nudeln und ihre Hände waren übersät mit Brandwunden von dem Seil.

Lotta wackelte mit ihren zwölf Fingern. »Heiliger Gouda, die sind wie tot. Falls Gassbeek dich heute mit Fingerprügel bestraft, spürst du wenigstens nichts.«

Kurz nachdem die Fortuyns aufgebrochen waren, war Gassbeek in die Stadt gegangen. Sie musste jeden Augenblick zurückkommen. Aber selbst wenn die Hausmutter weg war, füllte ihr bösartiger Geist die schattigen Winkel und zugigen Ritzen der »Kleinen Tulpe«. Keines der Kinder hätte sich gewundert, wenn Gassbeek Augen in den Wänden installiert oder Spione vor den Fenstern postiert hätte. Sobald sie beim Arbeiten auch nur ein winziges bisschen schwächelten oder trödelten, würde Gassbeek davon erfahren, da waren sie sich sicher. Und deshalb rackerten sie mit voller Kraft, so als würde die Hausmutter über ihnen schweben und ihnen endlose Befehle zubrüllen.

Milou fragte sich mit zunehmender Nervosität, welche Strafe Gassbeek wohl für sie vorgesehen hatte. Es musste etwas Furchtbares sein, das sagte ihr ihr siebter Sinn: Ihre Ohren kribbelten schon bei der bloßen Erwähnung der Hausmutter.

»Vielleicht ist sie ja in den Nordseekanal gefallen«, sagte sie hoffnungsfroh, als sie durch das Wäschereifenster zum Hafen blickte, der durch den vielen Rauch in der Luft ganz verschwommen wirkte. »Dann treibt sie vielleicht schon Richtung Ozean.«

»Das bezweifle ich«, sagte Lotta und flocht sich einen losen Zopf neu. »Durch die vielen Unterröcke, die sie trägt, hätte sie gar nicht genug Auftrieb. Die würde ziemlich schnell sinken.«

Die Standuhr gongte noch immer mit dröhnenden Schlägen, und Milou hörte, wie die Waisenkinder mit schnellen Schritten aus den verschiedenen Räumen kamen und nach oben eilten. Sie schloss das Fenster und rieb sich die Ohren.

»Los, komm«, drängte Lotta, schon leicht verzweifelt. »Wir stecken dich ins Bett, bevor deine Ohren dir weismachen wollen, dass die Hausmutter deinen Tod plant.«

Milou folgte ihr aus dem Raum. Die Angst verknotete ihr den Magen. Als sie in den Schlafsaal kamen, scharten sich bereits zehn Kinder mit ausgefahrenen Ellbogen um den einzigen Eimer Wasser. Sie tauchten ihre Zahnbürsten hinein und schrubbten sich hastig die Zähne. Als alle fertig waren, beäugte Milou das Wasser. Es war jetzt leicht gelblich und Spuckeblasen trieben auf der Oberfläche.

Sie ging zum offenen Fenster und fuhr mit ihrer Zahnbürste durch den Schnee auf dem Sims. Mads hockte auf dem Dach, sein Kohlestift schrappte über einen alten Kopfkissenbezug. Er klemmte sich ein Fernglas, zusammengebastelt aus einem Metallrohr und einer alten Lesebrille, vors Auge und richtete es auf den Horizont. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass Milou am Fenster stand. Sie steckte sich die Zahnbürste in den Mund, schauderte, als die Kälte an ihr Zahnfleisch drang, schrubbte kurz und spuckte in den Schnee.

»Genug gelüftet, Mads, du willst uns wohl tiefkühlen.«

»Bin fast fertig. Ich hab das östliche Hafenviertel eingezeichnet, hier, siehst du?«

Milou spähte über seine Schulter auf den Kopfkissen-Stadtplan. »Die kleinen Schiffe auf dem Fluss sind süß. Wenn dein Bein zittert, sieht es aus, als würden sie auf dem Wasser schaukeln.«

Mads strahlte sie an und zitterte weiter. »Es ist kalt, oder? Ich male es morgen fertig.«

Vorsichtig reichte er ihr seine Kartenzeichnerausrüstung und kletterte durchs Fenster nach drinnen. Milou verstaute die Sachen in seinem Kohleneimer und schlängelte sich dann durch die Lücken zwischen den Betten in den hinteren Teil des Schlafsaals. Die Matratzenfedern quietschten, als sich die Kinder hinlegten. Milou schlüpfte zwischen Lotta und Mona ins Bett und zog ihr Theorien-Buch aus dem Ärmel.

»Könnten wir heute mal eine lustige Gutenachtgeschichte haben?«, fragte Lotta. »Ich bin nicht so in der Stimmung für Werwölfe und leichenfressende Dämonen.«

Ringsum tauchten blasse Gesichter unter den Bettdecken auf und nickten zustimmend. Mona fröstelte neben Milou und kuschelte sich näher an sie. Als sie die Ratte an ihre Brust drückte, spürte Milou, wie das Fell sie am Arm kitzelte.

»Ich habe mir eine neue Theorie zurechtgelegt.« Lächelnd öffnete sie ihr selbst gebasteltes Notizbuch. Sofort verschwanden alle düsteren Gedanken an die Hausmutter. Sie blätterte durch die abgegriffenen, vollgekritzelten Seiten. »Die Theorie besagt, dass mein Vater, Bram Poppenmaker, tagsüber Puppenbauer und nachts Heißluftballonpilot ist.«

Als sie ringsum interessiertes Gemurmel hörte, befeuchtete Milou ihre trockenen Lippen und begann mit ihrer Geschichte.

»In einer Mondnacht vor zwölf Jahren segelte eine dreiköpfige Familie über den Himmel von Amsterdam. Sie flogen höher als die Habichte, eleganter als die Stare und schneller als die Falken.«

Lotta hustete dazwischen. »Ähm, also, ich glaube, das trifft nicht ganz zu auf Heißluftballons …«

»Auf diesen speziellen schon.« Milou blätterte um und fuhr in ihrer Geschichtenerzählstimme fort: »Der Ballon war schwarz wie die Nacht und gesprenkelt mit silbernen Punkten. Wie Sterne. Untendran hing die größte Gondel, die man sich vorstellen kann. An ihrem Bug baumelte ein knurrender Werwolf, geschnitzt aus Ebenholz, mit riesigen smaragdgrünen Augen. Und an einem Querbalken des Hecks hing mein Körbchen. Es war so befestigt, dass ich die Sterne über mir funkeln sehen konnte.

Die Poppenmakers waren gerade am Hauptbahnhof vorbei- und über den Königspalast hinweggeflogen, als plötzlich, völlig unerwartet, ein Gewitter aufkam.« Milou senkte die Stimme. »Blitze zackten über den Himmel, Donnerschläge hallten. Von Osten wirbelten orkanartige Böen heran. Meine Mutter zog den Ballon tiefer und hoffte, dem Kern des Unwetters auf diese Weise auszuweichen. Doch der Wind trieb den Ballon gefährlich nahe an die Hausdächer. Mein Korb verkeilte sich hinter einem Schornstein, und als der Ballon weitergetrieben wurde, blieb der Korb hängen.«

Milou machte eine Pause, um die Spannung zu steigern. Als sie hörte, wie die anderen Kinder tief einatmeten und die Luft anhielten, grinste sie hinter ihrem Notizbuch. Die Ratte gab einen empörten kleinen Quietscher von sich, wahrscheinlich hatte Mona sie vor Aufregung zu stark gedrückt. Milou ließ ihre Zuhörer noch ein paar Herzschläge lang zappeln, dann nahm sie den Faden wieder auf.

»Meine Eltern konnten nichts tun. Während der Sturm sie immer weiter von mir fortblies, versuchte meine Mutter verzweifelt, den Ballon zu wenden, und mein Vater überlegte, rauszuspringen und zu mir zurückzulaufen. Aber der Sturm hatte andere Pläne.

Der Heißluftballon wurde immer höher in die Lüfte und über den Ozean getragen, wo er herumwirbelte und kreiselte. Nach ein paar Tagen machten meine Eltern eine Bruchlandung am Nordpol, mitten in einer Familie sehr verwirrter Eisbären. Der Ballon hatte einen großen Riss abbekommen und lag luftleer und schlapp neben der umgekippten Gondel. Zum Glück haben meine Eltern einen messerscharfen Verstand und einen sehr guten Überlebensinstinkt, sodass sie sich in Windeseile ein Iglu bauten. Mein Vater fing Fische mit alten Marionettenfäden und meine Mutter freundete sich mit den Bären an, indem sie ihnen Wiegenlieder vorsang.

Allerdings ist es schwer, in der Arktis Ballonersatzteile aufzutreiben. Obwohl sie schon jahrelang verzweifelt herumflicken, haben sie den Ballon immer noch nicht flottbekommen. Tja, und deshalb konnten sie noch nicht zu mir zurückfliegen.«

»Aber das erklärt doch nicht, warum du in einem Sarg lagst«, bemerkte Gisbert aus dem Bett gegenüber. Seine Stimme klang gedämpft und ein bisschen geisterhaft durch die Bettdecke.

»Hm, ja, an dem Teil der Theorie feile ich gerade noch …«

»Und die Krallenspuren erklärt es auch nicht«, fügte Mads hinzu.

»Ich gebe zu, dass es nicht die überzeugendste meiner Theorien ist, aber …«

Milou verstummte. Ihr linkes Ohr begann wie wild zu kribbeln. Sie blickte zur geschlossenen Schlafsaaltür. Einen Herzschlag später vernahm sie ein vertrautes Geräusch aus dem Flur dahinter.

Klick-klack-klick-klack.

Fast gleichzeitig begannen die Bettdecken zu rascheln und die Kinderköpfe tauchten wieder ab. Winzige Nagetierfüßchen sausten über Milous Arm und Kopf. Monas Ratte suchte das Weite. Milou hörte einen zarten Lufthauch, ausgestoßen aus einem kleinen Mund, dann erlosch zischend die einzige Kerze im Raum.

Klick-klack-klick-klack.

Bettgestelle quietschten unter zitternden Körpern.

Klick-klack-klick-klack.

Die Hausmutter betrat den Raum und bahnte sich ihren Weg zwischen den Betten hindurch. Hier und da blieb sie stehen.

Klick-klack-klick –

Durch ein Loch in der Filzdecke sah Milou die Stiefelspitzen der Hausmutter neben ihrem Bett. Als sich die Spitzen zu ihr drehten, erst die eine, dann die andere, kribbelten ihre Ohren so sehr, dass es fast nicht mehr auszuhalten war.

»Aufstehen!«, keifte Gassbeek und riss Milou die Decke weg. »Lotta und Mona, ihr auch.« Dann klopfte sie unsanft auf die zwei zitternden Klumpen im Bett gegenüber. »Und Gisbert und Mads ebenfalls.«

»Warum sie?«, fragte Milou. Ihr Herz überschlug sich fast, als sie aus dem Bett stolperte.

Doch die Hausmutter grinste nur ihr typisches Grinsen – viele Zähne, keine Seele – und klickerte und klackerte aus dem Raum.

Im fahlen Mondlicht, das durch die schäbige Gardine drang, kletterten ihre Freunde aus den Betten. Ihnen allen stand die Angst ins Gesicht geschrieben.

Was hatte die Hausmutter mit ihnen vor?

Gassbeek wartete im Foyer auf sie. Dreckige Schuhabdrücke liefen quer über den Marmorboden – den Boden, den Gisbert und Mads am Nachmittag blitzblank geschrubbt hatten. Solche auffälligen Spuren hätten sie doch nicht übersehen, oder? Ob die Hausmutter sie deshalb herunterzitiert hatte?

Die fünf stellten sich in einer Reihe auf, zitternd in ihren dünnen Nachthemden und unter Gassbeeks stechendem Blick. Ein merkwürdig öliger Geruch hing in der Luft. Er kitzelte Milou unangenehm in der Nase.

»Euer Verhalten heute war unentschuldbar«, begann Gassbeek und ihr Blick bohrte sich nacheinander in alle fünf Kinder.

Milou runzelte die Stirn. »Aber ich war doch die Einzige, die sich schlecht benommen hat, Hausmutter.«

Gassbeeks Blick wurde noch härter. »Ihr fünf seid jetzt zwölf Jahre hier. Ich hatte noch nie Waisenkinder, die länger als zehn Jahre geblieben sind. Und egal, wie sehr ich versucht habe, euch anzupreisen, ihr habt immer alles darangesetzt, als die unadoptierbaren Gören zu erscheinen, die ihr nun mal seid. Und du, Milou, bist das hoffnungsloseste kleine Monster, das mir jemals untergekommen ist. Kein Wunder, dass deine Eltern dich nicht haben wollten!«

»Das stimmt nicht …«, begann Milou und tastete nach der beruhigenden Ausbeulung in ihrem Ärmel: dem Theorien-Buch, in dem massenhaft Beweise für die Liebe ihrer Eltern standen. Aber da war keine Ausbeulung. Mist, sie musste das Buch unter ihrem Kopfkissen vergessen haben!

Zitternd holte sie Luft. Ein Streit mit Gassbeek würde es nur noch schlimmer machen. Ihre Freunde sahen auch so schon verzweifelt aus – und alles wegen ihr. Die Hausmutter würde sie alle fünf bestrafen, nur um sie, Milou, zu ärgern.

Milou streckte die Hände aus. »Bitte, schlagen Sie mich. Nur mich. Ich bin diejenige, die sich schlecht betragen hat. Die anderen haben nichts falsch gemacht.«

Gassbeeks Gesicht verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. »Oh, heute wird es keine Prügel geben. Ich habe nämlich festgestellt, dass Prügel das Problem nicht löst. Nein, ich habe etwas anderes mit euch vor. Ich habe beschlossen, dass ihr meine Gastfreundschaft lange genug ausgenutzt habt.«

Milous Herz trommelte. »Wie meinen Sie das?«

»Das Gesetz schreibt vor, dass Waisenkinder bis zum Erwachsenenalter bleiben können«, sagte Lotta. »Sie können uns nicht einfach rauswerfen. Das Kinderbüro würde das gar nicht zulassen.«

»Ach, das Kinderbüro sorgt sich nur um den Papierkram«, schnaubte Gassbeek. »Für die seid ihr bloß Namen und Nummern in einem Buch. Solange die Zahlen am Ende stimmen, schauen die nicht so genau hin. Ich werde das schon entsprechend regeln.«

»Aber das ist illegal!«, rief Lotta.

»Ich gebe euch eine letzte Chance zur Wiedergutmachung«, übertönte die Hausmutter Lottas Einwand. »Ich erlaube euch, an einer allerletzten Vorstellungsrunde teilzunehmen. Wer da nicht vermittelt wird, fliegt raus.«

»Das können Sie nicht tun!«, bettelte Mads. »Wir verhungern doch da draußen. Oder erfrieren.«

»Das hättet ihr euch früher überlegen müssen.«

»Bis zur nächsten Vorstellungsrunde können Wochen vergehen«, sagte Lotta und wandte sich an die anderen. »Vielleicht könnte Mads uns ein paar Sommersprossen auf die Gesichter malen? Jedenfalls müssen wir uns richtig ins Zeug legen.«

Milou ließ die Hausmutter nicht aus dem Blick. Sie wusste, noch bevor diese weitersprach, dass das noch nicht alles gewesen war. Sie sah es an der fiesen Art, wie Gassbeek die Mundwinkel verzog. Milou betrachtete noch einmal die Schuhabdrücke. Jetzt fiel ihr auf, dass sie viel zu groß für Kinderschuhe waren. Und nicht spitz genug für die Stiefel der Hausmutter. Außerdem waren es zwei unterschiedliche Sohlen, wie sie bei genauerem Hinsehen feststellte.

»Tatsächlich musst du gar nicht so lange auf die nächste Vorstellungsrunde warten, Lotta, Schätzchen«, sagte Gassbeek. »Denn sie findet jetzt statt. Genau jetzt.«

Der seltsame Ölgeruch mischte sich mit dem Gestank nach Asche und Rauch, als Gassbeek sie den dunklen Flur entlang zum Essraum führte. Egal, ob adoptiert oder verstoßen – sie alle fünf würden das Waisenhaus noch heute Nacht verlassen. Milous Eltern würden eines Tages hier aufkreuzen und feststellen müssen, dass ihre Tochter nicht mehr da war.

Milou drückte sich die Katzenmarionette wie eine Rüstung vor die Brust und redete sich ein, dass das Pochen, das sie spürte, von der Puppe kam und nicht etwa ihr eigenes Herz war, das so heftig wummerte, dass es für zwei gereicht hätte. Ob es besser war, bei dieser neuen Familie zu leben, wo auch immer das war? Oder sollte sie darauf setzen, rausgeschmissen zu werden, und ihre Eltern auf eigene Faust suchen?

Kleinlaut folgte sie Gassbeek und den anderen in den Essraum, an dessen Wänden sich lange, schmale Tische aneinanderreihten.

»Hier sind sie«, verkündete Gassbeek den Besuchern, die hinter ihrem Rücken standen, sodass Milou sie nicht sehen konnte. »Kinder, stellt euch in einer Reihe auf.«

Am anderen Ende des Raums knisterte ein Feuer im Kamin und Milou fragte sich, was das wohl für Adoptierer waren, dass Gassbeek so einen Aufwand betrieb. Das unerwartete Kaminfeuer erklärte allerdings nicht den Ölgeruch, der noch immer in der Luft hing und unangenehm in Milous Nase kitzelte.

»Jetzt aber schnell.« Gassbeek packte Milou am Arm und schob sie in die Reihe, bevor sie sich mit raschelndem Seidenkleid wieder zu den Besuchern umdrehte. »Wie gewünscht sind es die ältesten Kinder, die ich habe.«