Die Engel von Berlin - Hanna Lucas - E-Book
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Die Engel von Berlin E-Book

Hanna Lucas

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Beschreibung

Ihre Freundschaft ist das Licht in der Dunkelheit: »Die Engel von Berlin« ist ein bewegender Roman über eine außergewöhnliche Frauen-Freundschaft, die Geschichte zweier Pfadfinderinnen zur Zeit des 2. Weltkriegs. 1931: Für die lebenslustige Martha aus London ist Berlin eine faszinierende Stadt. Die häusliche Annegret lernt die Engländerin am Alexanderplatz kennen, mit ihr soll sie eine Gruppe junger Pfadfinderinnen im Grunewald leiten. Obwohl die beiden Frauen kaum unterschiedlicher sein könnten, entsteht eine tiefe Freundschaft, die durch den Krieg und Annegrets Mann auf eine harte Probe gestellt wird. Während Annegret Kinder vor der Deportation zu retten versucht, unternimmt Martha in London alles, um ihrer Freundin zu helfen. Aber dann nehmen die Luftangriffe der Deutschen auf London zu und damit ändert sich die Sicht vieler Engländer. Voller Schuldgefühle, nicht mehr getan zu haben, kehrt Martha 1945 aus London ins zerstörte Berlin zurück, will helfen, diese Stadt wieder aufzubauen. Dabei sucht sie nicht nur nach ihrer verschollenen Freundin, sondern auch nach der einen Liebe, die sie über all die Jahre nicht vergessen konnte ... Kenntnisreich und hoch atmosphärisch führt Hanna Lucasʼ Roman ins Berlin der 30er und 40er Jahre und verwebt die Geschichte der Kinder-Transporte nach England mit einer Frauen-Freundschaft, die mehr als eine Prüfung zu bestehen hat zu einem großen, dramatischen Roman.

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Hanna Lucas

Die Engel von Berlin

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

1931: Für die lebenslustige Martha aus London ist Berlin eine faszinierende Stadt. Die häusliche Annegret lernt die Engländerin am Alexanderplatz kennen, mit ihr soll sie eine Gruppe junger Pfadfinderinnen im Grunewald leiten. Obwohl die beiden Frauen kaum unterschiedlicher sein könnten, entsteht eine tiefe Freundschaft, die durch den Krieg und Annegrets Mann auf eine harte Probe gestellt wird. Während Annegret Kinder vor der Deportation zu retten versucht, unternimmt Martha in London alles, um ihrer Freundin zu helfen. Aber dann nehmen die Luftangriffe der Deutschen auf London zu und damit ändert sich die Sicht vieler Engländer.

Voller Schuldgefühle, nicht mehr getan zu haben, kehrt Martha 1945 aus London ins zerstörte Berlin zurück, will helfen, diese Stadt wieder aufzubauen. Dabei sucht sie nicht nur nach ihrer verschollenen Freundin, sondern auch nach der einen Liebe, die sie über all die Jahre nicht vergessen konnte …

Inhaltsübersicht

Motto

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

TEIL 1

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

TEIL 2

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

TEIL 3

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Anmerkung der Autorin

Danksagung

»Wenn die Guten nicht kämpfen, siegen die Schlechten.«

Platon

 

»Versucht, die Welt ein bisschen besser zurückzulassen, als ihr sie vorgefunden habt.«

Lord Baden-Powell, Gründer der Pfadfinderbewegung

 

 

Inspiriert durch wahre Begebenheiten.

Prolog

Berlin, Sommer 1945

Erschüttert stand Martha vor den Trümmern dieser Stadt. Sie spürte wieder dieses tiefe Schuldgefühl in ihrem Magen, das sie aus London nach Berlin getrieben hatte. So direkt nach dem Krieg. »Du bist total crazy«, hatten sie alle in London zu ihr gesagt. »Berlin wiederaufbauen, das sollen die schön selber machen.«

»Dit is mir schnurzpiepe«, hörte sie plötzlich eine Kinderstimme auf einem der Schuttberge neben sich. Ein kleiner Junge stand da und kramte ein silbernes Tablett aus den Trümmern. »Was hab ick für’n Glück. Jehört jetz’ mir. Das tausch ich ein!« Ein zweiter Junge stand neben ihm und nickte. »Die janze Welt hat uns im Stich jelassen, sagt meine Mutter. Wir müssen kieken, wo wir bleiben.« Beide gingen mit ihrer Beute aus Marthas Blickfeld.

Martha sah sich weiter um. Schuttberge, so weit das Auge reichte. Eine Stadt, die weinte. Eine Stadt, die kaum mehr atmen konnte. Gebäude, die aussahen wie schreiende Fratzen. Martha hielt ihre Fotokamera in der Hand, fest umklammert, als gebe sie ihr Halt. Die Sonne schien, der Geruch nach Staub und Verwesung drang in ihre Nase. Sie trug ihr neues rotes Kleid, das sie in London vor ihrem Abflug geschneidert hatte. Es schien diese Tristesse zu verhöhnen, noch nie fühlte sie sich so fehl am Platz. Das Gefühl, man müsse den Schutt schnell beiseiteräumen, damit die Stadt endlich wieder Luft bekäme, überrollte sie. Bloß wie sollte man das jemals schaffen?

Hatte die Stadt ihre einstige Schönheit für immer verloren? Wie konnte überhaupt ein Mensch hier überlebt haben?, durchfuhr es Martha, und ihre Sorge um ihre Lieben, nach denen sie forschen wollte, wuchs.

Immer wieder waren es dieselben Fragen, die in ihr pochten. Hätte ich mehr tun können, um dies alles zu verhindern? Und konnte ein Mensch das hier überstanden haben, ohne innerlich für immer zu zerbrechen?

Sie nahm ihre Fotokamera zur Hand und fotografierte.

Kapitel 1

London, 2022
Laura

Ich werde diese Fotos nie wieder aus meinem Kopf bekommen, dachte ich. Die Uhr von Big Ben schlug eindringlich, die Töne berührten etwas in mir. Mein Körper vibrierte, während ich auf der Westminster Bridge stand und auf das alte Gebäude sah. Seit mir meine Mutter diese alten Schwarz-Weiß-Bilder gezeigt hatte, nahm ich meine Umgebung mit anderen Augen wahr. Meine Mutter stand neben mir in ihrem Kaschmirmantel, die kurzen Haare ordentlich frisiert und leicht antoupiert. Sie betrachtete die roséfarbenen Blüten eines Baumes. Ich folgte ihrem Blick. Die Frühlingssonne ließ die Blüten leuchten. Wie schön und hässlich zugleich konnte die Welt sein? Ich wollte die Vergangenheit in der Gegenwart suchen, was hatte ich mir da vorgenommen? Und das in meinem desolaten Zustand. Noch dazu eine Reise nach London zusammen mit meiner Mutter. Ich begann die Straße zu überqueren, doch da hupte es. Ich zuckte zusammen, trat einen Schritt zurück. Ein schwarzes Taxi war auf mich zugefahren, das ich nicht registriert hatte. Die falsche Seite, ich hatte auf die falsche Seite gesehen, und das hätte mich fast das Leben gekostet. Meine Mutter stand nur da, gefangen in einer anderen Welt. Jetzt blinzelte sie, sah auf. »Pass auf, Laura. Du musst auf dich aufpassen. Sonst tut es keiner.«

Würde ich meine Mutter auf dieser Reise endlich verstehen lernen? Und vor allem mich selbst? Würde ich wieder Vertrauen in das Leben finden, in mein Leben, das gerade über mir zusammengebrochen war wie ein zu leichtfertig gestapeltes Kartenhaus? Würde ich Vertrauen in mich finden?

Ich wollte es schaffen. Ich musste es schaffen. Auch war meine Neugierde durch diese alten Fotografien geweckt. Durch ihre Andeutungen. Und erneut fragte ich mich, was es mit diesem Sam auf sich hatte, den wir in London treffen sollten.

Kapitel 2

Berlin, Schöneberg, 2022, eine Woche zuvor
Laura

Dumpf drangen die Stimmen der Nachbarn durch die alte Wohnungstür ins Treppenhaus. Ich stand im vierten Stock. Gemurmel, mein Kopf dröhnte. Was machte ich hier vor verschlossener Tür mit meinen Koffern? Ich erinnerte mich an meinen Auszug vor fast zwanzig Jahren. Im Flur roch es muffig, ein Geruch, wie ihn Altbauten gewöhnlich ausströmen. Es war ein wunderschöner Altbau mit hohen Decken und Stuck. Eines jener Häuser in Berlin, die viel erlebt hatten. Ich stellte meine beiden Koffer ab. Meine Hände schmerzten. Wie schaffte sie das immer noch? So ganz ohne Aufzug.

Ich klingelte erneut, aber sie schien nicht da zu sein. Dabei hatte ich ihr am Telefon erzählt, dass ich kommen würde.

Die Haustür unten war offen gestanden. Vielleicht hatte sie die Klingel nur nicht gehört? Ich steckte meinen Schlüssel, den ich trotz all der Jahre immer noch besaß, ins Schloss, die Wohnungstür knarzte, der vertraute Duft von Kaffee strömte mir entgegen. Filterkaffee. Die besten Bohnen. »Guter Kaffee ist Gold wert«, sagte sie immer. »Besonders im Krieg, das hat meine Mutter immer gesagt«, fügte sie dann stets hinzu.

»Mama, bist du da?«, rief ich, legte meine Jacke ab, hing sie an den Kleiderhaken, hielt inne, horchte.

Stille. Die Wohnung roch nach ihrem Parfum, blumig und fein. Der lange Flur sah ordentlich aus wie immer. Murmeln hatte ich hier gespielt. In den Ritzen der Dielen rollten sie so schön. Aber immer spielte ich alleine. Spät hatte sie mich bekommen, wie Großmutter sie. Wie ich – fast ein Kind bekommen hätte mit Ende 30. Wieder drängten sich Tränen hervor, ich blinzelte sie weg. Betrat die Wohnküche, in der das alte beigefarbene Küchenbuffet stand. In der modernen Spüle eine leere Tasse. Wo konnte sie sein? Mir wurde kalt, meine Hände zitterten. Ich spürte die Erschöpfung der letzten Tage, ging die anderen Räume ab, dann in mein altes Jugendzimmer und blieb überrascht stehen. Mehrere Kisten und Kartons stapelten sich hier, standen herum, versperrten den Weg zu meinem Bett. Zum Gästebett, das es mittlerweile geworden war.

 

Letzte Woche rief sie mich an. Der Altbaukeller stehe unter Wasser, ob ich ihr helfen könne. Ich konnte wirklich nicht. Ich war beim Frauenarzt, tränenüberströmt.

Der Nachbar von gegenüber hatte ihr die Kisten, die man noch retten konnte, hochgetragen, erfuhr ich später von ihr per Textnachricht. Sie wirkte kurz angebunden.

Genau sechs Tage war das nun her. Sechs Tage und 22 Stunden.

Ich ging zu meinem Teenagerbett, zog die gehäkelte Überdecke ab. Schnell kroch ich unter die Daunendecke und rollte mich zusammen. Der Duft meiner Kindheit umgab mich, fühlte sich geborgen an. Konnte man Düfte erinnern? Ich schlang die Arme um meinen Körper und sehnte mich nach meinem Kind.

»Es tut mir leid, das Herz schlägt nicht mehr«, hatte er gesagt. Ich hatte nicht damit gerechnet. Dachte, ich bin eine gesunde Frau. Gut, fast 40, aber das ist doch normal heutzutage. Spätgebärend hatten sie mich genannt. Dabei hatte ich noch nicht geboren. Risikogruppe. Ich wurde beäugt wie schwer krank. Dabei war ich schwanger, glücklich und voller Vorfreude. Angefüllt mit Liebe, wie ein Glas mit Honig. Mit einem Schlag war es umgeschüttet worden. Aber nicht zerbrochen, nicht ausgelaufen, zum Glück. Der Honig ist klebrig und fest und hält in mir. Und jetzt weiß ich nicht mehr wohin mit all meiner Liebe.

»Ich hoffe, Sie sind nicht alleine?«, hatte der Arzt noch gesagt. Zu den Untersuchungen war Alex nie mitgekommen, weil er immer genau dann einen wichtigen Klienten hatte.

»Tapfer sein«, erinnerte ich mich an die Worte meiner Mutter. »Wir Frauen schaffen alles. Auch alleine.«

Nun lag ich hier und war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde. Ein sensibles Kind hatten sie mich immer genannt. Meine Mutter, die Nachbarn. Meinen Vater gab es nur auf einem unscharfen Foto, mehr Familie hatte ich nicht. Und, nein, mutig war ich noch nie gewesen, woher auch? Wie sollte ich es plötzlich sein?

So sehr hatte ich mir dieses Baby, meine eigene kleine Familie, gewünscht. Viel mehr als Alex, das war immer klar gewesen. Ich hatte ihn überredet, ihm von der Vorstellung von uns zu dritt vorgeschwärmt. Zu lange hatten wir die Zeit als Paar genossen. Unser Geld für teure Kleidung und Urlaube in Miami, Kanada, Mexiko, auf Kuba und den Seychellen ausgegeben. »Mit Kind wirst du das alles nicht mehr machen können«, hatte er gesagt. »Und deinen Job musst du dann auch an den Nagel hängen.«

Dort hing er jetzt bereits. Zu früh hatte ich in der Agentur stolz verkündet, schwanger zu sein. Den Anschlussvertrag hatte ich nicht mehr bekommen.

 

Mein Blick fiel auf etwas Weißes, Gehäkeltes, das auf dem Nachttisch lag. Daneben die Häkelnadel und der Rest Baumwolle. Ein Babymützchen. Ich nahm es in die Hand, strich mit meinen Fingern über das Rippmuster. Es fühlte sich fest und kühl an. Es hätte das Kleine sicher gut vor Zugluft geschützt. Meine Mutter hatte angefangen, für mein Baby zu häkeln, durchfuhr es mich. Sie hatte sich so gefreut. Mehr, als sie es zeigen konnte. Ich hatte es ihr bei meinem letzten Besuch schon nach acht Wochen gesagt, der eigenen Mutter konnte man es doch sagen, dachte ich, auch wenn man sonst nicht losplatzen durfte mit der freudigen Neuigkeit. Das bringt nur Unglück, hatte eine Freundin einmal behauptet. Doch ich hatte es nicht geschafft. Bis zur zwölften Woche stillzuschweigen und es für mich zu behalten. Kurz vor dem Frauenarzttermin habe ich meinen engsten Freundinnen von meinem Baby erzählt. Anne hat schon ältere Kinder, hatte sich mit mir gefreut, mich in den Arm genommen und sich vorsichtig nach Alex erkundigt. »Wie hat er es denn aufgenommen, dass du schwanger bist?« Und auch Melanie hatte gefragt: »Wollte er wirklich ein Kind?« Sie haben es alle gespürt. Hatte er nur Ja gesagt aus Angst, mich sonst zu verlieren?

»Er hat sich gefreut«, hatte ich erwidert und versucht, meiner Stimme einen festen Klang zu geben. Dabei hatte ich sein Gesicht vor Augen, das Freude zeigte, die aber nicht echt aussah. Erneut fuhr ich mit dem Finger über die gehäkelte Babymütze. Spürte die Struktur des Musters. Ich fühlte mich leer, ausgehöhlt, wie eine Hülle. Fünf Jahre waren Alex und ich zusammen. Und erst jetzt merkte ich, dass auf ihn, auf seine Liebe, kein Verlass war. Dass ich mit meinem Kind auch unsere Liebe verloren hatte.

Übermannt von den vielen Gedanken, die nicht aufhören wollten, um mein Kind und Alex zu kreisen, wieder und immer wieder, gab ich nach, schloss meine Augen und hoffte auf einen Moment der Ruhe. Diese Unruhe machte sich wieder in mir breit. Wie die letzten Jahre immer häufiger. Seit sechs Tagen bekam ich oft keine Luft mehr, mein Herz raste, so wie jetzt. Ich zog die Decke höher und versuchte, ruhig und tief zu atmen.

 

»Da bist du ja schon«, drang die Stimme meiner Mutter zu mir. Ich musste geschlafen haben, schlug die Augen auf. Wie spät war es? Meine Mutter stand in ihrem leichten Sommermantel vor mir, blickte mich mit großen, mitleidigen Augen an. Unter dem Mantel trug sie einen Rock und eine Bluse, war gekleidet wie eine vornehme ältere Dame. Sie setzte sich nicht zu mir, strich mir nicht über den Kopf.

»Es geht vorbei«, sagte sie und versuchte, tröstend zu klingen. »Alles geht vorbei. Dein Alex war auch nicht das Gelbe vom Ei.«

Ich schlug die Decke zurück, setzte mich auf, fuhr mir übers Gesicht. Sie mochte noch keinen meiner Männer. Zugegeben, besonders lange hatten meine Beziehungen nie gehalten. Immer wieder war ich Single gewesen. Aber Alex, da dachte ich, den mochte sie. Weil er sie wie eine Dame behandelte.

»Möchtest du frischen Bohnenkaffee?«, unterbrach sie die Stille. Ein »Gerne« entwich meinen Lippen.

»Der hilft immer«, fuhr sie fort. »Und ich habe Nusskranz für uns gekauft.«

Beim Bäcker war sie. Natürlich.

»Den magst du doch so, der baut dich wieder auf«, sagte sie und ging in den Flur, eine Tüte raschelte.

»Schön wäre es«, flüsterte ich.

 

Wir saßen in der Wohnküche, am Tisch neben dem beigefarbenen Küchenbuffet, und aßen schweigend. Die Porzellantassen klirrten beim Abstellen auf der Untertasse. Der Kaffee schmeckte mir zu stark. Ich fühlte mich schwach. Konnte sie mich nicht einfach mal in den Arm nehmen? Die Pendeluhr tickte.

»Ich kann nicht mehr«, sagte ich schließlich, ohne darüber nachzudenken. »Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.«

»Unsinn«, erwiderte Mama. »Merke dir eines, Laura, es geht immer weiter. Du bist stark, stärker, als du denkst.«

»Ich fühle mich aber nicht so.«

»Glaube mir. Auch ohne ein eigenes Kind kannst du glücklich werden. Und vielleicht klappt es ja noch irgendwann.«

Ich sah sie an. Ihre hellblauen Augen wirkten trüb, ihre beinahe durchsichtige Haut zeigte zarte Falten. Wann war meine Mutter nur so gealtert?, dachte ich. Sie wurde vergesslich in letzter Zeit, das hatte sie selbst gesagt, und ich hatte es auch schon bemerkt.

Fast trotzig schüttelte ich den Kopf. »Du wohnst hier in deiner Wohnung in Schöneberg und bekommst nicht mit, wie es draußen zugeht. Es gibt so viele einsame Menschen, auch in meinem Alter, und so wenige, die beziehungsfähig sind. Und vermutlich bin ich selbst es auch nicht.«

»Für irgendjemanden bist du genau richtig.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mehr.«

Sie nahm einen Schluck Kaffee. Stellte die Tasse ab, sah mich forschend an: »Muss ich mir ernsthaft Sorgen machen?«, fragte sie jetzt leiser.

Mein Mund fühlte sich trocken an. Ich schluckte, aber der Kloß in meinem Hals wollte sich nicht bewegen. Meine Achseln zuckten, ohne meinen Befehl. Um ehrlich zu sein, ging es schon mehrere Monate so. Dass ich unzufrieden war mit meinem Leben. Erst durch die Nachricht, dass ich endlich schwanger war, hatte ich wieder Hoffnung geschöpft.

Sie seufzte, schüttelte den Kopf, sah auf ihren Teller. »Das habe ich mir gedacht.«

»Was?«

»Dass dich das verzweifeln lässt. Ich kenne dich. Du hast es dir zu sehr gewünscht. Es als Glücklichmacher erkoren. Ich verstehe es ja. Ein Kind zu verlieren …« Sie hielt inne.

Überrascht sah ich sie an.

Sie griff zur Kanne. »Möchtest du noch Kaffee, er wärmt dich.«

»Nein, danke.« Ihre Hand ließ die Kanne wieder los. Ich sah meine Mutter an und fragte vorsichtig: »Hattest du auch eine Fehlgeburt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber meine Mutter, deine Großmutter, hat viele Kinder verloren. Und das hat etwas mit ihr gemacht.«

Verblüfft sah ich sie an. »Viele Kinder?« Selten hatte sie über meine Großmutter gesprochen. Ich hatte sie kaum erlebt. Als ich fünf Jahre alt war, erlitt sie bei uns im Wohnzimmer einen Herzinfarkt und starb. Es war ein schwüler, heißer Tag, sie kam direkt von einem Hundefriseurtermin, der anstrengend gewesen war und lange gedauert hatte.

Obwohl ich erst fünf war, erinnere ich mich gut an damals, daran, wie ihr Hund, ein Mischling, ein ehemaliger Straßenhund, kläffte, wie man mich in mein Zimmer schickte und der Arzt gerufen wurde. Neugierig sah ich durch den Türspalt meiner angelehnten Tür in den Flur, in dem ein großer Spiegel hing. Darüber konnte ich sie sehen. Die Leiche. Meine erste Leiche, meine Großmutter. Wie sie still auf unserem Wohnzimmersofa lag. Die Hände hatten sie ihr gefaltet, aber sonst sah sie aus, als schliefe sie und träumte. Und ich weiß noch, wie ich als Kind dachte, sterben kann schön sein. Man liegt friedlich da, und es geht einem für immer gut. Man wird nicht mehr ausgeschimpft, muss nie mehr Gemüse essen.

Ich erzählte meiner Mutter davon, was ich damals über das Sterben dachte. Nervös sah sie mich an, stellte ihre Kaffeetasse klirrend ab und stand auf. Wortlos verließ sie die Küche, kam dann zurück und sagte: »Ich hab was für dich, das dir vielleicht helfen wird. Manchmal ist es ganz gut, dass Erinnerungen hochgespült werden. Es lag all die Jahre im Keller. Komm.«

Verblüfft stand ich auf und folgte ihr in mein altes Zimmer. Sie ging zu den Kartons aus dem Keller, öffnete einen davon und kramte eine Holzschatulle hervor. Sie setzte sich damit auf mein Bett und bedeutete mir, mich neben sie zu setzen. Vorsichtig öffnete sie die Schatulle und nahm zwei alte Fotoalben heraus.

Nun legte sie mir eines davon in den Schoß. Verwundert sah ich sie an, befühlte den Baumwolleinband mit meinen Fingern, spürte den Stoff, schlug den Deckel auf.

Schwarz-Weiß-Aufnahmen einer Stadt. Ich erkannte die Straßen von Berlin. Unsere Straße. Schöneberg. Auf der linken Seite eine Häuserzeile, auf der rechten Albumseite dasselbe Motiv in Trümmern. Zerbombt, nach dem Krieg. So ging das weiter. Links Berlin in seiner ganzen Pracht. Mit schwarzer Tinte waren handschriftlich die Jahreszahlen darunter geschrieben. Links 1931, also einige Zeit vor dem Krieg, rechts das gleiche Motiv, 1945, in Trümmern. Links heile Welt, rechts daneben exakt die gleiche Einstellung der Kamera, aber so vieles zerstört. Wer hatte sich die Mühe gemacht, wer war an genau diese Stellen erneut getreten? Da hatte jemand den richtigen Blick. War meine Großmutter Fotografin gewesen? Die Fotos sahen professionell aus. Hatte ich das visuelle Talent von ihr geerbt? Ich war Bildredakteurin, wählte Bilder aber lediglich aus, verschickte sie, nahm sie nicht selbst auf. Links die Siegessäule mit der »Goldelse« vor dem Reichstag, rechts die Siegessäule mit dem Engel an ihrem heutigen Ort. Auf dem Großen Stern, in Tiergarten. Ich erinnerte mich. Der »Engel von Berlin« war umgesetzt worden von den Nazis, der Engel hatte alles überlebt. So viele dagegen nicht. So erschütternd viele.

Auf einem anderen Foto standen Kinder auf riesigen Schutthaufen, sie sahen ernst aus, aber sie spielten, und eines lächelte. Frauen mit Kopftüchern und Schürzen trugen Steine weg. Was mussten sie alles zuvor erlebt haben?

Wie war es meiner Mutter als Kind in diesen Trümmern ergangen? Und meiner Großmutter?

Ich blickte in das faltige Gesicht meiner Mutter, die auf die Bilder sah.

»Ich habe nie verstanden, wie so viele Deutsche damals zu Nazis werden konnten«, sagte ich spontan. »Ich glaube, das versteht heutzutage kaum jemand.«

Sie nickte. »Die Sicht von außen, vom Ausland aus, von England, die mir meine Mutter einmal erzählt hat, sie hat mir geholfen, es ein wenig zu verstehen.«

Neugierig sah ich sie an. »Haben deine Eltern eigentlich mit Hitler sympathisiert?«, entfuhr mir. »Ich weiß eigentlich so gut wie nichts über meine Großeltern.«

Sie sah vor sich hin, als würde sie nachdenken, wiegte dabei leicht den Kopf hin und her und sagte: »Es ist nicht alles schwarz und weiß wie diese Bilder. Das müsst ihr verstehen.«

War ich zu schnell vorgeprescht?, überlegte ich. »Wer hat denn diese Fotos gemacht?«, fragte ich vorsichtiger, um sie zum Reden zu bringen. »Die müssen doch schon ewig im Keller liegen. Wieso zeigst du sie mir erst jetzt? Doch nicht nur, weil sie hochgespült wurden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es hat sich jemand aus London gemeldet«, sagte sie jetzt leise.

Irritiert sah ich sie an. »Aus London?« England. Die Sicht vom Ausland aus, dachte ich. »Und wer?«

»Sam. Er müsste inzwischen ungefähr dein Alter haben.« Sie verschloss ihre Lippen.

»Wer ist Sam?«

»Das ist eine lange Geschichte.« Ich sah sie fordernd an. Sie seufzte. »Gut. Ich erzähle sie dir. Vielleicht weißt du dann auch wieder, wie stark du bist, wie stark jede Frau ist. Und dass wir immer versuchen sollten, die Welt ein kleines Stück besser zu machen. Das kannst auch du. Jede von uns.«

TEIL 1

1931–1937

Kapitel 3

Berlin, Schöneberg, 1931

Sie musste ihn heute endlich fragen. Annegret stand aufgeregt und etwas durcheinander vor dem beigefarbenen Küchenbuffet in ihrer Wohnküche. Der Duft nach Kaffee und Kuchen erfüllte den Raum. Sie sah durch das milchige Glas des Schranks. Der geöffnete Brief lehnte neben der Zuckerdose im oberen Regalfach. Wie er wohl reagieren würde?

Nervös strich sie ihre Hände an ihrer Schürze ab, darunter trug sie ihr gutes Kleid. Die langen blonden Haare hatte sie zu einem Knoten geflochten.

Annegret atmete durch, drehte sich zum Backofen, bückte sich, um durch das kleine Ofenfenster zu spähen. Ein Glück. Noch war die Kuchenoberfläche weder gerissen noch zu braun, sondern sah wunderbar goldgelb aus. Braun durfte er nicht werden.

Der Käsekuchen sollte perfekt sein für Friedrich, gerade heute.

Sie ließ die Backofentür geschlossen, damit der Kuchen weiter ausdampfen konnte. Nicht zu heiß, dafür lieber länger backen, das war ihr Trick gegen Risse im Käsekuchen. Beschwingten Schrittes ging sie in die Wohnstube, die alten Dielen knarzten. Sie hatten Annegret schon als Kind getragen.

Annegret betrachtete den Holztisch, den sie eben schon gedeckt hatte. Mit der weißen, selbst gehäkelten Tischdecke, dem Porzellan, das ihnen Friedrichs Mutter zur Hochzeit geschenkt hatte, ein Strauß roséfarbener Pfingstrosen stand in der Mitte in einer Vase. Sie roch an den Blumen, die schon ein wenig hingen. Wie herrlich sie dufteten. Sonntags ließen sie es sich immer gut gehen.

Die Sonne schien durch die frisch geputzten Fensterscheiben. Annegret löste den Knoten ihrer Schürze, legte sie ab, faltete sie. Sollte sie es Friedrich beim Kuchenessen sagen oder besser danach, draußen, beim Sonntagsspaziergang? Sie konnten immer besser über wichtige Dinge reden, wenn sie gingen. Annegret war sich unschlüssig, wie so oft.

»Mmmhm, wie das duftet.« Friedrich streckte seinen Blondschopf lächelnd herein. Auch er trug seine Sonntagssachen, seine blauen Augen leuchteten. »Oh, sogar Blumen, habe ich etwa unseren Hochzeitstag verpasst?«, scherzte er. Annegret lachte, schüttelte den Kopf. Dieser Mann brachte sie oft zum Lachen. Ihr Hochzeitstag war erst letzten Monat gewesen, und Friedrich hatte ihr Blumen mitgebracht. Er trat lächelnd ein, dieser große, stattliche Mann. Er war größer als die meisten Männer, die sie kannte, war ihr damals beim Tanzen sofort aufgefallen. Und er hatte sie angesehen, nur sie. Ihre Mutter hatte ihn noch kennengelernt und war ganz entzückt gewesen von ihm. »Das ist ein anständiger Mann, Annegret. Du kochst und backst gut, das wird ihn überzeugen. Du darfst jetzt keinen Fehler machen. So einen findest du nie wieder.«

»Die Pfingstrosen haben mir gestern beim Einkaufen so gefallen, die gab es in dem kleinen Blumenladen um die Ecke, weißt du, dann hab ich sie einfach gekauft. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist«, fügte sie mit schlechtem Gewissen hinzu.

»Sie sind schön.« Er sah plötzlich ernst aus. Was hatte er denn? Zum Glück lächelte er gleich wieder, vermutlich hatte sie sich nur getäuscht.

»Du verfügst alleine über unser Haushaltsgeld, und du machst das sehr gut«, sagte er lächelnd.

»Danke.« Sie freute sich.

Friedrich kam zu ihr, legte seine Arme um ihre Hüften, zog sie zu sich und sah sie liebevoll an. Er roch angenehm nach Rasierschaum und Seife. »Du bist wundervoll, Annegret. Ich will, dass es dir immer gut geht. Ich liebe dich.« Sie fühlte seinen muskulösen Oberkörper dicht an ihren gepresst, er gefiel ihr wie noch nie ein anderer Mann. Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust, spürte sein Herz pochen.

»Und ich dich, Friedrich«, flüsterte sie. Dann löste sie sich sanft, sah ihn an. Er gab ihr einen Kuss und fragte dann augenzwinkernd: »Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, bekomme ich jetzt ein Stück von deinem Käsekuchen?«

»Natürlich. Setz dich, ich hole ihn. Und der Kaffee müsste auch durchgelaufen sein.«

 

Der Kuchen war Annegret wieder einmal gelungen. Er schmeckte leicht nach Zitrone und Vanille, war schön fluffig. Annegret bekam für ihre Häkelarbeiten, die sie für Nachbarn und Bekannte anfertigte, manchmal Lebensmittel. Erst letzte Woche ein paar Zitronen.

Sie redeten über dies und das. Friedrich erzählte von dem kleinen Jakob, der unter ihnen wohnte, mit dem er im Hof neulich Fußball spielte. Er sei so ein schlauer Junge. Annegret nickte, sie mochte ihn auch. Und schon war der Kaffee alle und der Kuchen aufgegessen, und Annegret hatte nicht die richtigen Worte gefunden, es Friedrich zu sagen. Sie hoffte so sehr, dass er einverstanden sein würde.

Gemeinsam machten sie sich auf zu ihrem Sonntagsspaziergang durchs Bayerische Viertel in Schöneberg. Friedrich setzte seinen Hut auf, trat vor, schloss ihre Wohnungstür, eine alte Holztür ab, dann gingen sie das Treppenhaus hinunter. Die Stufen ächzten.

Zwei Stockwerke unter ihnen wohnte der fünfjährige Jakob mit seinen Eltern und seiner Schwester. In dem Moment ging die Tür auf, und Jakob, mit kurzen Hosen und Hosenträgern, kam zur Tür herausgestürmt, rief gut gelaunt in die Wohnung: »Fang mich doch, du Eierloch!«, dann zwinkerte er Friedrich zu und rannte weiter, die Treppen hinunter. Seine ein Jahr jüngere Schwester Melina streckte ihren Kopf mit geflochtenen Zöpfen heraus und rief mit ihrer feinen Stimme: »Feigling, Feigling!« Dann registrierte sie Friedrich und Annegret und machte die Tür schüchtern wieder zu.

Friedrich lachte. »Ein echter Mittelstürmer.« Annegret lächelte auch, und wieder dachte sie sehnsüchtig, wie schön es wäre, auch so einen kleinen Wirbelwind mit Friedrich zu haben. Oder eine kleine Tochter, die so schüchtern war wie Melina. Sie musste Geduld haben, das wusste Annegret.

Die Bäume in der Belziger Straße blühten weiß, die Sonne tauchte an diesem Tag alles in wunderschönes Licht. Eingehakt ging Annegret neben Friedrich her und registrierte sehr wohl die bewundernden Blicke der anderen Damen. Sie war stolz auf ihren Mann und glücklich mit ihm. Deshalb wollte sie auch nicht, dass er es nicht gut finden würde, wenn sie ging.

Nachdem sie über ein neu eröffnetes Café in ihrem Kiez geplaudert hatten, fasste sie sich ein Herz. »Friedrich, ich muss dir etwas sagen«, begann sie, wollte ihm von dem Brief und seinem Inhalt erzählen.

»Ich dir auch«, rutschte es aus ihm heraus. Und erneut wirkte er so ernst. »Zuerst du«, fügte er rasch hinzu.

Annegret redete weiter. »Ich hoffe, du freust dich für mich.«

»Bestimmt, was gibt es?« Neugierig sah er sie an.

»Du weißt doch, dass ich früher so gerne im Wald war, mit den Pfadfinderinnen in einem Lager.«

»Ja, das hast du mir erzählt.«

»Ich habe meine alte Leiterin kürzlich beim Einkaufen getroffen. Und da hat sie mich gefragt, ob ich eine Gruppe Mädchen anleiten möchte. Zusammen mit einer anderen Pfadfinderin«, fügte sie schnell hinzu. »Meine Leiterin traut mir das zu.«

Friedrich sah sie erstaunt an. »Du? Als Leiterin? Entschuldige, das sollte nicht abwertend klingen. Im Gegenteil. Ich bin stolz auf dich. Und ich traue es dir auch zu.«

Annegret fiel ein Stein von Herzen, so hatte sie sich seine Reaktion gewünscht. »Das heißt, du findest das gut?«

»Natürlich. Wenn es dir Freude bereitet.«

»Ach Friedrich, das tut es mit Sicherheit. Du bist der Beste.« Sie umarmte ihn kurz, löste sich dann wieder und sah ihn an.

Er lächelte verhalten. »Hast du daran etwa je gezweifelt?«

»Nein, das habe ich nicht.« Sie spürte die besondere Verbindung, die sie beide hatten. »Das bedeutet aber auch, dass ich drei Wochen kaum zu Hause sein kann, weil ich die Zeit mit den Mädchen auf dem Zeltplatz im Wald verbringe. Du wirst dich in der Zeit selbst versorgen müssen.«

»Oh.« Er machte ein gespielt ernstes Gesicht. Sagte einen Augenblick nichts. Dann lachte er. »Da findet sich schon eine Lösung, meinst du nicht? Und Suppe gibt’s bei Oskar.«

Annegret war erleichtert. »Und wir haben auch so hilfsbereite Nachbarn, wenn etwas sein sollte.« Die Hausgemeinschaft war wirklich toll. Ein Grund, der Annegret nach dem Tod ihrer Mutter auch dazu bewogen hatte, weiter in ihrer Wohnung in Berlin-Schöneberg zu bleiben. Mit ihrem bescheidenen Erbe konnte sie sich die Miete eine Zeit lang leisten, und die Hochzeit mit Friedrich war ja auch schon abgemacht gewesen. Sein Verdienst als Tischler reichte aus, um die Miete und ein, wenn auch bescheidenes, Leben zu finanzieren. Wie er einmal erwähnte, könnte er damit auch eine Familie ernähren.

Sie spazierten weiter durchs Bayerische Viertel, in dem viele wohlhabende Leute lebten, aber auch einfache wie Annegret und Friedrich. Wissenschaftler, Ärzte, Geschäftsleute, es gab prunkvolle Häuser, viel Grün, der perfekte Stadtteil Berlins, um Kinder großzuziehen. Aber solange sie selbst keine bekamen, freute sich Annegret auf die Mädchen im Pfadfinderinnenlager.

Einer von der Partei, in Uniform, kam ihnen entgegen. Friedrich grüßte. Der Mann auch. Er ging vorbei, und Annegret roch seinen unangenehmen Schweißgeruch.

»Kennst du den?«, fragte Annegret verwundert. Sie mochte diese braunen Uniformen nicht, die immer mehr trugen.

»Flüchtig.«

Beruhigt ging Annegret an seiner Seite weiter. »Was wolltest du mir erzählen?«, fragte sie.

»In unserer Tischlerei muss einer entlassen werden«, sagte Friedrich jetzt fast beiläufig, als sie am Bayerischen Platz ankamen. Aber sie hörte es an seiner Stimme, dass es ihn bedrückte.

Erschrocken blieb Annegret stehen, drehte sich zu ihm um. »Aber doch nicht du, Friedrich, oder?« Sie spürte plötzlich einen Kloß im Hals.

Er blieb stehen, sah zu Boden, fuhr mit seinen Schuhspitzen einen Kreis in den sandigen Weg. »Ich hoffe nicht. Ich weiß es nicht.«

Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte. Er wirkte angespannt.

»Die anderen haben Familie«, fügte er leise hinzu.

Betreten sah er sie an. »Annegret, ich hoffe es nicht, aber es kann sein, dass es mich trifft.«

Annegrets Kopf dröhnte. Keine Kinder, keine Familie. Sie waren jetzt schon zwei Jahre verheiratet, und sie hatte ihm noch immer kein Kind geschenkt. Was, wenn sie keine Kinder bekommen konnte?

»Du verlierst vielleicht deine Arbeit, weil ich nicht schwanger werde?«, fragte sie tonlos nach.

»Wir werden schon noch ein Kind bekommen, da bin ich mir ganz sicher.« Er drehte sich zu ihr, nahm ihr Gesicht in seine Hände, sah ihr in die Augen. »Hörst du? Wir werden ein Baby bekommen, ganz sicher.«

Annegrets Herz klopfte. Er klang so sicher. Dennoch konnte es sein, dass er seine Arbeit verlieren würde. Wie so viele Menschen. Viele Unternehmen konnten ihre Arbeitnehmer nicht mehr entlohnen, mit verheerenden Folgen. Die Weltwirtschaftskrise hatte das Land fest im Griff. Die Arbeitslosigkeit in der Republik war in den letzten Jahren rasant angestiegen.

»Ich möchte nicht, dass du dir Sorgen machst«, sagte er ernst. »Ich habe zur Not schon was anderes in Aussicht.«

»Und was?«

»Das sage ich dir, wenn es so weit ist.« Er ließ sie los, sie setzten ihren Spaziergang fort, redeten aber nicht mehr.

Was sagte man einem Mann, dessen Stolz derart verletzt sein musste? Noch dazu, wenn es der eigene Ehemann war. Annegret machte sich Sorgen um ihn. Zur Not würde sie eine Stelle als Köchin annehmen, beschloss sie, kochen und backen konnte sie gut.

»Schau, wie die Vögel singen«, lenkte Friedrich ab. Eine Amsel zwitscherte auf einem blühenden Ast. »Wie die Bäume blühen. Es ist Frühling, bald Sommer, das gibt Hoffnung. Du gehst in dein Pfadfinderinnenlager, das wird dich schnell auf andere Gedanken bringen, und wenn du wiederkommst, weiß ich mehr wegen meiner Stelle.«

Hoffentlich, dachte sie. Hoffentlich ändert sich nichts. Sie mochte keine Veränderungen, sie bedeuteten oft nichts Gutes.

Kapitel 4

London, 1931

Ein unscharfer Blick durch ein Kameraobjektiv. Dann wurde schwungvoll scharf gedreht. Man sah das teigige Gesicht eines älteren Mannes mit Hut. Eine viktorianische Melone, wie sie in London viele trugen. Martha tauchte kopfschüttelnd hinter der Kamera auf, blickte auf sein griesgrämiges Gesicht und sagte forsch: »Cheese, Mr. Smith, die Mundwinkel etwas nach oben, sonst sehen Sie auf dem Foto aus wie eine saure Gurke.«

»Was für ein unverschämtes Frauenzimmer«, wetterte er.

Die Luft im Studio war stickig und verbraucht.

 

»Martha!« Die Stimme von Mr. Longsdale, der aus dem Hinterzimmer dazugetreten war, klang schrill wie eine Schulglocke. Martha löste sich von der Kamera, sah zu ihm. »Aber er zerstört mein Bild.«

»So eine Frechheit, das hab ich ja noch nie erlebt«, wetterte Mr. Smith und rückte seine Melone zurecht.

Mr. Longsdale hob beruhigend die Arme. »Es ist nicht Ihr Bild, sondern sein Bild, wie oft denn noch, bitte schön«, zischte er Martha zu.

»Aber ich bin die Fotografin!«

»Noch sind Sie gar nichts.«

»Bin ich doch.«

Longsdale hatte mittlerweile einen hochroten Kopf bekommen, ertrug ihre Widerworte offenbar nicht mehr. Seine spärlichen Haare trug er über seine Glatze gekämmt, die verrutschten, so erregt schien er. Der Ruf seines Fotostudios galt ihm viel, es war beliebt im Londoner East End. Für einfache Porträtfotografie.

»Entschuldigen Sie, werter Mr. Smith«, flötete er. »Ich hätte mich nie darauf einlassen dürfen, ein Weibsbild auszubilden, ich weiß nicht, welcher Teufel mich da geritten hat.« Er lachte, als habe er einen köstlichen Scherz gemacht. Dann wandte er sich mit sauertöpfischer Miene an Martha.

»Ich mache das Foto höchstpersönlich. Gehen Sie beiseite, Miss Thompson. Gehen Sie am besten gleich ganz, ich habe die Nase voll von Ihren Verrücktheiten. Sie vergraulen mir die Kundschaft.«

Martha funkelte Mr. Longsdale wütend an. »Und ich habe die Nase voll von diesen eintönigen Aufnahmen. Da sieht ja jedes Foto aus wie das andere. Als ob es nichts Besonderes gibt im Leben.«

»Was erwarten Sie denn?«

»Viel mehr!« Sie stellte sich vor ihn. Schnappte ihre Jacke, die zu dem neuen roten Sommerkleid passte, das sie sich selbst geschneidert hatte. Auch sie trug gerne Hut, aber nur ausgefallene Exemplare. Heute hatte sie lediglich ein rotes Band in ihr modisch kurz geschnittenes braunes Haar gewickelt. Aus Geldmangel nähte sie sich selbst oft die neueste Mode, sogar Hüte hatte sie selbst hergestellt. Martha liebte es, aufzufallen wie ein Paradiesvogel, trug gerne Ausgefallenes, hohe Schuhe und bunte Kleider. Man lebt nur einmal, war ihre Devise.

»Sehr gut, dann sind wir uns ja einig«, tönte Longsdale.

»Das sind wir.« Sie lächelte Mr. Smith zu, ging hocherhobenen Hauptes aus dem kleinen Fotostudio.

Frische Luft schlug ihr entgegen. Die Sonne blendete. Martha nahm einen tiefen Atemzug, sie blinzelte. Das konnte es wirklich nicht sein. Ein Leben in so einem muffigen Fotostudio. Doch dann lächelte sie. Aber sie liebte die Fotografie, so einfach wollte sie ihren Traum nicht aufgeben.

Autohupen. Zwei junge Kerle in einem Cabrio neben ihr grinsten Martha zu. Sie kam bei den Männern gut an, lächelte zurück und ging mit kokettem Schwung weiter, ließ die Jungs links liegen. Die Männer johlten und brausten davon.

Die Kündigung würde Ärger geben zu Hause, aber das war Martha egal. Mit ihrem Vater stritt sie eh fast jeden Tag; wobei das auch kein Wunder war, so wie der ihre Mutter behandelte.

 

Beim Abendessen herrschte eisige Stille. Marthas ältere Schwester Joan, die zum Essen zu Besuch war, warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Es gab Shepherd’s Pie, einen Auflauf mit knuspriger Kartoffelbreikruste, heute allerdings nur mit Gemüse. Joan mochte ihn so, und ihr Vater vergötterte Joan. Sie hatte einen Anwalt geheiratet und erwartete gerade ihr erstes Kind mit ihm.

»Martha«, presste ihr Vater hervor. »Was soll aus dir nur werden. Kein Mann ist dir recht zum Heiraten, und jetzt verlierst du auch noch deine Lehrstelle, weil du so aufmüpfig bist. Immer ist irgendwas.«

Ihre Mutter legte beschwichtigend die Hand auf seinen Arm.

Martha konnte sich mal wieder nicht zurückhalten. »Es ist halt auch immer was. Ich kann so was doch nicht immer einfach akzeptieren.«

»Doch, genau das wirst du.«

»William, bitte«, sagte ihre Mutter. »Woher das Kind das nur hat«, sagte sie, als säße Martha nicht am Tisch.

»Von unserer deutschen Großmutter«, warf Joan ein. »Zumindest sagt ihr das doch immer.«

Ihr Vater pflichtete ihr bei und sah seine Frau vorwurfsvoll an. »Das kann gut sein. Aus deiner Familie. Sie war ja auch so ein vorlautes Frauenzimmer, wie mir deine Mutter nach unserer Hochzeit gesagt hat.«

»Ach William. Ich bin doch auch nicht so«, sagte ihre Mutter leise.

»Aber die Deutschen sind so«, entgegnete er. »Sie sind vollkommen verrückt. Anders kann man es sich nicht erklären, dass sie diesen Wicht anhimmeln und seinen Ideen nacheifern.«

Martha wandte ein: »Also, anhimmeln tu ich keinen.« Es war der perfekte Zeitpunkt, über ihre neuesten Pläne zu berichten. »Ich will mich selbst davon überzeugen. Ich gehe nach Berlin.«

Stille. Dann donnerte eine Faust auf den Tisch. Ihr Vater schrie: »Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Was willst du denn bei denen?«

»Ein Pfadfinderinnenlager leiten, als Girl Guide. Ich wurde gefragt, meine Leiterin kennt eine Leiterin in Berlin, sie haben einen Engpass. Und ich spreche Deutsch. Erst hatte ich zwar abgelehnt, aber jetzt, wo mich keine zehn Pferde mehr in dieses miefige Studio zu Mr. Longsdale bekommen, ist das doch die perfekte Lösung. Ich reise nach Berlin. Ich will sowieso die Welt kennenlernen.«

Ihre Schwester sah sie mit großen Augen an. Neid funkelte in ihren Augen. »In Berlin, da geht es doch so zu«, wandte sie ein, aber man hörte ihrer Stimme an, dass sie insgeheim Lust hätte, auch dorthin zu reisen.

»Was meinst du?« Martha lächelte, stützte die Ellbogen auf, aß zufrieden ihren Pie weiter.

»Das Nachtleben. Man hört so einiges«, sagte Joan jetzt leise, mit kurzem Blick auf ihre Eltern.

Martha grinste sie an und zwinkerte ihr zu. »Ich werde berichten. Aber ich gehe ja vor allem in den Grunewald. Ich freue mich besonders auf die Kinder. Die sind nicht so kompliziert. Man kann einfach durch den Wald rennen mit ihnen, spielen, Späße machen.« Sie sah vorfreudig lächelnd vor sich hin. »Ihr könnt mich nicht mehr davon abbringen. Ich gehe nach Berlin.«

Martha liebte Kinder, sie hatte schon zweimal als Girl Guide ein Mädchenlager geleitet. Die Mädchen liebten ihre verrückten Ideen. Und Martha mochte an Kindern, dass sie nicht so angepasst waren wie die meisten Erwachsenen.

Sie selbst war als Kind jeden Sommer zu den Girl Guides ins Pfadfinderinnenlager in London gegangen, auch noch als junge Frau. Und sie hatte es geliebt. Im letzten Sommer hatte sie dort Simon kennengelernt, einen attraktiven jungen Mann. Er war der Sohn der Familie, die das Zeltlager leitete.

Simon machte viel Sport, wusste, dass er gut aussah, machte ihr Komplimente. Martha zog ihn auf, machte sich rar, aber kurz vor Ende der Ferien nahm sie seine Hand und ging mit ihm zum Baden an einen See. Er küsste sie, streifte ihr den Badeanzug ab, und Martha ließ ihn neugierig gewähren, genoss seine Leidenschaft, seine starken Hände, die ihren Körper erforschten. Sie verlor ihre Unschuld, aber ohne sich schuldig zu fühlen. Was sollte sie sich aufsparen, wer wusste schon, wann sie sich jemals so richtig verlieben würde? Und eigentlich wollte sie sich auch gar nicht an einen Mann binden. Simon aber hatte sich in Martha verliebt und dachte, sie wären ein Paar. Er lief ihr nach, aber bei ihrer Abreise hatte er begriffen, wie Martha tickte. Man konnte es ihr nicht übel nehmen, erst recht nicht, wenn sie begann, so entwaffnend zu lachen.

Marthas Gedanken rasten und sie nahm die Gespräche am Tisch kaum wahr. Vielmehr redete vor allem ihr Vater, mit Joan. Berlin. So viel hatte Martha über die goldenen Zeiten in Berlin gelesen. Die zwar schon vorbei sein sollten, wie einige sagten, aber so ganz konnte Martha das nicht glauben. Oder sie wollte es nicht. Unbedingt wollte sie in diese Stadt mit ihren Varietés, dem aufregenden Nachtleben und den galanten Männern. Und ihr Vater konnte sie nicht daran hindern. Einer Martha Thompson Berlin zu verbieten war, wie eine Katze in einen Käfig zu sperren.

 

Ihr Vater hatte fertig gegessen, legte lautstark sein Besteck ab und stand plötzlich auf. »Martha, ich habe es mir überlegt. Wenn du nach Berlin gehst, brauchst du nicht mehr zu uns nach London zurückzukommen.«

»William!«, entfuhr es ihrer Mutter, und auch sie legte erschrocken ihre Gabel nieder. Mehr sagte sie aber nicht, sie schwieg, wie so oft.

Martha stand ebenso auf, aber entschlossen, ruhig. Ein Lächeln konnte sie gerade noch zurückhalten. »Beruhige dich, Dad. Ist nicht gut für deinen Blutdruck. Ich bin mir sicher, du überlegst es dir noch, wenn du mich vermisst. Und, jede Wette, du wirst mich vermissen.«

Mit diesen Worten drehte Martha sich um, verließ entschlossen lächelnd den Raum und schlug energisch die Küchentür hinter sich zu.

Kapitel 5

Berlin, Alexanderplatz, 1931

Annegret stand mit zwei Pappschildern in der Hand am Alexanderplatz und fühlte sich, als wäre sie Teil eines Ameisenhaufens, der aufgewühlt worden war. Auf dem einen Pappschild stand »Stamm Grunewald«, auf dem zweiten »Martha Thompson«. Eine Frau eilte an ihr vorbei, rempelte Annegret im Gehen an. »Können Se nich uffpassen, hier komm icke«, sagte die Frau ignorant, ging weiter in ein Geschäft, vor dem Annegret stand.

»Entschuldigung«, erwiderte Annegret überrumpelt. Suchend sah sie sich um. Dabei war es noch zu früh. Annegret war mal wieder überpünktlich gewesen. Sie ließ ihre Schilder kurz sinken, beobachtete die Menschen, die sich hier tummelten. Die Autos, die quer über den Platz fuhren, die Straßenbahnen, die kreuzten. Die »Rote Burg«, ein riesiges Backsteingebäude mit roter Klinkerfassade und wuchtigen Ecktürmen, dominierte den Alexanderplatz, es flößte Annegret jedes Mal Respekt ein. Darin befanden sich das Polizeipräsidium Berlins und einige Ämter. Gegen den Alex war ihr Kiez in Schöneberg ein verschlafenes Nest. Dennoch mochte Annegret den Alex, auch wenn es vielleicht schönere Plätze in dieser Stadt gab. Aber hier spürte man das Leben, die Großstadt, Berlin. Sie liebte ihre Heimatstadt, die Berliner Schnauze, die genauso auch herzlich sein konnte. Und geradeheraus, das mochte sie besonders. Annegret ging suchend weiter, die Straßenbahn kam auf sie zu. Rasch trat sie von den Schienen, die hier am Alex mitten über den Platz liefen. Die Bahn hielt quietschend an, spuckte Menschen aus, von denen jeder in eine andere Richtung lief. Vielleicht war es doch nicht der perfekte Ort, um die Kinder mit ihren Eltern einzusammeln und diese Britin zu treffen. Aber die Eltern der Kinder lebten in ganz Berlin verstreut, einige in Mitte. Sie sah auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten.

Annegret freute sich auf den Wald. Auf die Natur. Sie stand jetzt vor dem verabredeten Laden, hielt die zwei Pappschilder wieder höher. Drei Wochen würde sie mit der Neuen zusammen die Mädchen anleiten, Abenteuer bestehen, zusammen kochen und singen. Eine Britin sollte die andere Leiterin sein. Als Annegret das vor ein paar Tagen erfahren hatte, hatte sie einen Moment innegehalten. Sie sprach kein Englisch, die Mädchen in dem Alter ganz sicher auch nicht, das konnte was werden. Aber natürlich, die Pfadfinderbewegung hatte ihren Ursprung in England, ganz sicher gab es öfter einen Austausch. Annegret zuppelte an ihrer Strickjacke herum. Heute hatte sie ihre langen blonden Haare wieder zu Schnecken hochgesteckt. Mädchen mochten das. Annegret hoffte sehr, dass sie sich mit der Britin irgendwie verständigen konnte. Zur Not mit Händen und Füßen. Und verstehen mussten sie sich auch.

Annegret hielt das Schild nun höher, ging im Geiste die Gerichte durch, die sie für Friedrich vorgekocht hatte. Die nächsten Tage würde er nicht verhungern. Sie hatte ihm seine beiden Lieblingseintöpfe vorgekocht. Rosenkohleintopf mit Berliner Knackern und Pichelsteiner Eintopf. Danach würde er im »Oskars« Kartoffel- oder Erbsensuppe bekommen; und auch die Nachbarin von gegenüber hatte versprochen, ihm mal etwas Warmes zu kochen. Er würde klarkommen. Die Wohnung war frisch geputzt und ordentlich, die Wäsche erst mal gewaschen. Was Annegret weitaus mehr Sorgen bereitete, war, dass er sie jetzt brauchte. Denn gut ging es ihm nicht mit der Angst, seine Arbeit zu verlieren, das hatte sie sehr wohl gespürt. Auch wenn er versucht hatte, es zu überspielen. Mit den Händen hatte er ihr Gesicht gehalten, sie angesehen und dabei beteuert, wie sehr er sie liebe.

 

»Bin ich hier richtig? Mein Name ist Goldmann«, sagte eine männliche Stimme. Annegret drehte sich zu der ihr unbekannten Stimme und blickte auf einen netten Herrn im Anzug. Er musste Ende 20 sein, hatte schöne braune Augen, schwarze Haare, eine gerade, feine Nase und trug einen Hut.

»Kommt darauf an, wohin wollen Sie?«, entgegnete sie lächelnd.

»Zu den Pfadfindern«, erklang nun ein helles Stimmchen neben ihm. Ein zierliches Mädchen mit langen braunen Zöpfen blickte Annegret aufgeweckt an. Sie hielt ein Stofftier, einen Plüschaffen, in der Hand und trug einen Rucksack auf dem Rücken. Annegret lächelte sofort. »Dann bist du bei mir richtig. Ich bin Annegret. Wie heißt du denn? Warte …« Sie überlegte, hatte ihre Liste dabei, kannte die Vornamen aber schon auswendig. Das war wichtig für die Kinder, das wusste sie genau. Nur die Nachnamen hatte sie sich nicht eingeprägt.

»Wilma oder Fanny?«, riet sie. Die beiden Achtjährigen, also die Jüngsten, hießen so, und Fanny sah sehr klein aus, sie war bestimmt nicht älter als acht.

»Ich bin die Fanny«, sagte die Kleine stolz, »meine Mama fand den Namen so schön.«

»Da hat sie recht, deine Mama. Ist sie auch hier?« Annegret sah sich kurz um.

»Nein, sie ist im Himmel«, sagte Fanny tapfer, aber am Vibrieren ihrer Stimme konnte Annegret hören, wie weh ihr das tat. Annegret warf Fannys Vater einen entschuldigenden Blick zu. »Mein Beileid.« Dann kniete sie sich zu der Kleinen. »Das tut mir sehr leid, Fanny.«

Fanny zwirbelte mit den Fingern ihren einen Zopf und nickte nur.

»Es ist noch nicht allzu lange her«, sagte ihr Vater mit belegter Stimme. Er drückte sein Mädchen an sich und sah Annegret bittend an. »Könnten Sie vielleicht besonders gut auf meine Fanny aufpassen?«

»Natürlich, das werde ich. Darauf können Sie sich verlassen.« Annegrets Herz öffnete sich sofort für dieses zarte Mädchen. So früh die Mutter zu verlieren, was gab es Schlimmeres?

Fannys Vater lenkte ab. »Ganz schön was los hier am Alex.«

Annegret ging sofort darauf ein. »Ja, hier ist immer ein Trubel. Im Wald wird es dann ruhiger.« Sie wandte sich an Fanny. »Das wird schön, Fanny, bist du denn schon mal bei den Pfadfindern gewesen?«

»Nein, noch nie. Aber mein Papa früher.«

»Ach wirklich? Auch in Berlin?«, fragte Annegret nach.

Der rückte seinen Hut zurecht, lächelte. »Ja, auch im Grunewald. Ich dachte mir, das ist jetzt vielleicht genau das Richtige für Fanny. Ich führe einen kleinen Buchladen am Ku’damm und habe nicht so viel Zeit für sie.«

»Ganz bestimmt ist es das Richtige. Ich war auch schon als kleines Mädchen bei den Pfadfindern. Wir hatten jede Menge Spaß. Und wir haben Eichhörnchen beobachtet. Magst du Eichhörnchen?«

»O ja, und wie!« Fanny strahlte wieder. Ihr Vater zwinkerte Annegret dankbar zu. Ein sehr sympathischer Mensch. Was für ein Los, ein so kleines Mädchen fortan alleine großziehen zu müssen.

Andere Eltern kamen auf Annegret zu, stellten ihr ihre Mädchen vor. Alle zwischen acht und dreizehn Jahren, alle mit Rucksäcken. »Meine Anni mag keine Kartoffeln«, sagte eine Mutter besorgt. »Ich weiß auch nicht, warum.«

»Das ist doch kein Problem, da finden wir dann was anderes.« Annegret nickte Anni zu. Ein blondes Mädchen, das sehr ruhig wirkte. Dann drängten sich die Eltern von Wilma zu ihr. »Wilma hat Angst im Dunkeln«, sagte ihre Mutter. »Aber sie will unbedingt zelten.«

Wilmas Vater mischte sich ein. »Du verweichlichst das Kind viel zu sehr.«

»Nein, Anton, das ist ganz normal in dem Alter«, verteidigte die Mutter ihre Tochter.

»Und sie ist ja auch nicht alleine im Zelt«, beeilte sich Annegret zu schlichten. Sie lächelte Wilma an, die wirklich ängstlich wirkte. Aber eher so, als hätte sie Angst, dass sich ihre Eltern hier vor allen streiten würden. »Und einen Teddy oder eine Puppe hast du doch sicher auch, Wilma, oder?«

»Ja, meinen Bibo.« Das Mädchen deutete auf ihren Rucksack.

»Na dann.« Annegret lächelte aufmunternd.

Wo blieb diese Martha nur? Sie sollte die Eltern der Kinder doch auch kennenlernen. Und ihre Sorgen. Jedes Kind war etwas Besonderes, alle wirkten sehr lieb und wohlerzogen.

Dass sich das ändern konnte, wenn sie von zu Hause weg waren, wusste Annegret. Sie hielt das Schild mit der Aufschrift »Martha Thompson« etwas höher.

»Geht es endlich los?«, fragte der Vater von Wilma ungeduldig.

»Wir müssen leider noch warten, die zweite Gruppenleiterin müsste jeden Moment kommen.«

»Ach, so ist das. Aber nicht, dass sie den Kindern Unpünktlichkeit beibringt«, wetterte er los.

»Anton«, versuchte seine Frau ihn zu beruhigen.

»Nein, ganz bestimmt nicht. Sie kommt aus London, vielleicht hat ja ihr Schiff oder ihr Zug Verspätung, aber dafür kann sie ja nichts.«

»Aus London? Keine Deutsche?« Schon wieder wurde seine Stimme höher. Annegret und Fannys Vater warfen sich einen kurzen Blick zu.

Herr Goldmann mischte sich ein. »Das macht doch nichts.«

Wilmas Vater funkelte ihn an. »Wer sind Sie denn?«

»Nathan Goldmann.« Er reichte ihm seine Hand. Doch die Miene von Wilmas Vater verfinsterte sich schlagartig, er nahm die Hand nicht. Stattdessen wandte er sich an Annegret. »So war das nicht abgemacht«, presste er hervor.

»Was genau meinen Sie?« Sie sah ihn herausfordernd an. Seine Frau zog ihn am Arm etwas zurück. »Anton, bitte. Wir müssen uns beeilen, dein Termin.«

»Was? Ach Gott, ja, ich komme.« Er kniete sich zur kleinen Wilma, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und strich ihr übers Haar. »Schön brav bleiben. Und sei nicht immer so eine Hannefatzke, mein Kind.«

Die Eltern verabschiedeten sich nach und nach, und auch Herr Goldmann drückte seine Fanny noch mal fest an sich und dankte Annegret. »Sie machen das wunderbar, das habe ich schon gemerkt.«

»Danke.« Sie lächelte ihn an und er sie.

»Ich muss jetzt leider auch.« Bedauernd sah er zu Fanny.

»Kein Problem, Fanny ist bei mir sicher. Und Miss Thompson wird gleich da sein.«

Er nickte, lächelte ihr zu, verabschiedete sich herzlich von Fanny und ging. Annegret sah ihm nach. Ein attraktiver Mann. Er würde sicher nicht lange allein bleiben. Dann wandte sie sich den Kindern zu und schlug vor, ein Ratespiel zu spielen, um sich die Zeit des Wartens zu vertreiben. »Ich sehe was, was du nicht siehst.« Hier am Alexanderplatz gab es so viel zu sehen, dass die Mädchen sofort Feuer und Flamme waren.

Kapitel 6

Martha staunte, als sie mit ihrem Koffer und ihrer Kamera um den Hals ihren Blick von der Bushaltestalle am Rand des Platzes über den großen Alexanderplatz wandern ließ. Geschäftsleute, Flaneure, Mütter mit ihren Kindern, die schnellen Schritts den Platz passierten, Martha freute sich auf die Stadt. Sie rückte ihren Hut zurecht, eine Haarsträhne kitzelte. Sie pustete sie sich aus dem Gesicht, nahm ihre Kodak Retinette und fotografierte die Gebäude. »Kaiser-Wilhelm-Straße« las sie auf einem Schild. Sie sog diese neue, aufregende Stadt mithilfe ihrer Kamera in sich auf, die Sonne schien und tauchte alles in ein wundervolles Licht. In der S-Bahn vom Bahnhof aus hatte Berlin schon beeindruckend ausgesehen, große imposante Gebäude, breite Straßen, viel Grün für eine Großstadt.

Mit dem Hut, ihrem roten Kleid und hohen Schuhen war Martha nach der Londoner Mode gekleidet. Fasziniert sah sie sich die Kleidung der Berliner an, die vor ihr kreuzten, betrachtete deren Mode, die der britischen sehr ähnlich war. Für die Reise hatte sie sich schön zurechtgemacht. Sie liebte es, bewundernde Blicke auf sich zu ziehen. Auch die der Damenwelt, zumindest von solchen, die ein modisches Auge besaßen. Man lebte nur einmal, warum sollte man dann wie ein Kartoffelsack herumlaufen, war ihre Devise. Sie hängte sich ihren Fotoapparat um den Hals, ging weiter auf den Platz zu, sah sich nach dem Geschäft um, an dem sie ihre Gruppe treffen sollte. Aber der Platz war so groß und unübersichtlich, Straßenbahnen fuhren hier mittendurch, es gab nett aussehende Cafés, verschnörkelte Stühle standen davor, mehrere Ladengeschäfte.

»Sorry, could you help me?«, fragte sie einen älteren Mann mit Schiebermütze, der sie daraufhin argwöhnisch musterte. Martha versuchte es auf Deutsch, ihr britischer Akzent war deutlich zu hören. »Wissen Sie, wo das Berlin-Haus ist?«

»Kenn ick nich.« Er ging weiter. Nicht gerade auskunftsfreudig, dieser Herr, dachte sie.

»Hello?«, rief Martha einer jungen Frau zu, die ein paar Meter vor ihr kreuzte. Diese blickte zwar auf, aber auf Marthas Frage zuckte sie nur bedauernd die Schultern, ging weiter. Besonders freundlich schienen die Berliner zu Fremden nicht zu sein. Lag es an ihrem Akzent? Oder kannte dieses Berlin-Haus keiner? Wieso hatte man es ihr dann als Treffpunkt genannt? Entschlossen nahm sie ihren Koffer und marschierte mitten über den Platz. Der Zug von Hamburg aus hatte Verspätung gehabt, wie viel es inzwischen war, wusste Martha nicht. Eigentlich hatte sie ja einen zeitlichen Puffer eingeplant, doch vielleicht war auch der bereits verstrichen. Das Leben pulsierte um sie herum, ein kleiner Junge in Hitler-Jugend-Uniform ging an der Hand seiner Mutter an ihr vorbei. Martha kannte diese Uniformen aus der Zeitung. Sie wurden kürzlich in der Daily Mirror mit der Scouts-Uniform verglichen. Dabei hatten die englischen Pfadfinder ja überhaupt nichts zu tun mit der Hitler-Jugend. Absurd. Der Junge sah zu ihr, grinste spitzbübisch, streckte ihr plötzlich die Zunge heraus. Martha tat es ihm gleich. Sein verdutztes Gesicht ließ sie auflachen. Im Grunde waren Kinder doch alle gleich. Sie freute sich schon auf ihre Pfadfinderinnengruppe. Sie liebte es, herumzualbern, noch einmal selbst Kind zu sein. Regeln galt es zwar einzuhalten, aber sie zu brechen machte mehr Spaß.

Dummerweise hatte sie vergessen, eine Uhr einzustecken, und gerade war auch keine Uhr in Sichtweite. Eigentlich hatte ihr Vater ihr immer eine Taschenuhr mitgegeben, wenn sie in ein Pfadfinderinnenlager gegangen war. Ihr Vater. Sie hielt inne. Bei dem Gedanken an ihren letzten Abend in London wurde ihr schlecht.

 

Der Abschied von ihrem Vater war kühl ausgefallen. Die letzten Tage bis zur Abreise hatte sie ihn soweit es ging gemieden. Seine schlechte Laune, seinen Ärger, dass sie ihm seit ihrem 21