Die englische Gouvernante - Anna Staub - E-Book

Die englische Gouvernante E-Book

Anna Staub

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Beschreibung

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Diese Erfahrung muss auch die Gouvernante Marianne Morton machen, als sie ihre Schwester zu deren Bräutigam in den wilden amerikanischen Westen begleitet. Eigentlich hatte sich Marianne Morton mit ihrem tristen Dasein als Gouvernante schon abgefunden, doch dann bringt ihre jüngere Schwester Amelia sich durch einen unpassenden Flirt in Verruf. Zur Rettung der Familienehre soll Amelia einen reichen Amerikaner heiraten. Um ihre vergnügungssüchtige Schwester von weiteren Skandalen abzuhalten, beschließt Marianne sie an die amerikanische Westküste zu begleiten. Doch der Weg nach San Francisco führt auch durch das kleine Nest Green Hollow im Wilden Westen. Eine Stadt, in der man Etikette für das Schild auf der Whiskeyflasche hält und Männer sich halbnackt in aller Öffentlichkeit prügeln. Die gestrenge Engländerin findet sich nur schwer in der neuen Welt zurecht, aber einer Sache ist sie sich ganz sicher: Von Männern wie diesem Josh Sullivan hält man sich besser fern!

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Prolog: Eine abenteuerlustige, englische Dame aus den richtigen Kreisen

Für eine anständige Frau gehört es sich nicht, auf alles eine Antwort zu haben

Du bist doch immer so moralisch!

Na wenn Sie mich so charmant darum bitten…

Es gibt edle Damen in Green Hollow?

War denn da überhaupt noch jemand bei Verstand?

Wundervoll, Sie sind mein Held!

Tach Hoheit!

Das Einzige, was mir hilft, mich zu beruhigen, ist Gin!

In Green Hollow ist niemand allein

Sie haben doch sicher viele Verehrer geha-

Ich fürchte, meine Lektion zu Loyalität ist bei den meisten nicht angekommen

Geben Sie mir vorher Bescheid, damit ich es nicht verpasse

Na denn, viel Glück bei der Bekehrung der Sünderinnen

Wollen Sie unseren Nachwuchs für einen Boxkampf trainieren?

Ein wahrer Gentleman!

Vielen Dank, ich habe keinen Anfall

Natürlich heißt eine Hausherrin Konkurrenz im eigenen Heim nicht gut

Ich denke, es ist eine logische Beschäftigung für Männer

Was denken Se, von wem seine Söhne ihre Macken jeerbt haben?

Mann kann sich dort amüsieren

Ist die Prärie so ein gefährliches Pflaster?

Hinter einer Gouvernante steht normalerweise kein Gentleman, der sie auffängt

Ja, Mizz Annie, haben Zie Onkel Zozh wieder lieb?

Nur einen Petticoat hat sie drunter

Willst du etwa kochen?

Also für die Bedürftigen!

Ich könnte schwören, dass ihr Mann meinen alten Flanellunterrock trägt

Das Zeug wärmt durch

Ich wollte Ihnen nur die Tür aufmachen …

Eine echte Lady erkenne ich aus hundert Meilen Entfernung

Ich habe immer noch Bissspuren auf der Zunge …

Dieses Rezept ist wohl eins der bestgehütetsten Geheimnisse von Green Hollow

Sie sehen mir aber gar nicht wie ein fetter Stubentiger aus

Aber glaub bloß nicht, dass ich so ein Nachthemd anziehe …

Ein Sullivan weiß, was er tut

Ich mag es, wenn Sie sich gehenlassen

Vielleicht stellt er sich nur zu sehr an

Du könntest Sie kompromittieren …

Des is künstlerische Freiheit

Wem geht ein Licht auf?

… und so sank ihr müdes Haupt an seine breite Brust …

Wirklich lecker Kuchen!

Reverend Brinkley würde jede Frau nehmen

Mit so einem Milchbart nehme ich es allemal auf

Ist es sehr schlimm, eine alte Jungfer zu sein?

Vom Boden essen, haben wir zum Glück nicht nötig

Die Männer nehmen alles, was ihnen über den Weg läuft

Wenn Sie sich erschießen lassen, bringe ich Sie um!

War mir ein Vergnügen, mich revanchieren zu dürfen

Man gewöhnt sich nur daran, sich Sorgen zu machen

Wollen wir doch mal sehen, mit wem wir das Vergnügen haben

Das ganze bornierte Pack würde der Schlag treffen

Sie ist eine ziemlich schlagfertige Gegnerin

Nein, die Erkenntnis sticht mich

Wir haben doch alle das gleiche unterm Korsett

Das is der Papierstreifen auf den Whiskyflaschen, oder?

Wieso?

Davys neueste Aufführung?

Epilog: Aber ich habe nicht vor, mein Knie freiwillig zu beugen

Danksagung

Außerdem erhältlich:

Für alle, die so viel Geduld mit Green Hollow und mir hatten

Green Hollow III - Die englische Gouvernante

von

Anna Staub

Alle Namen, Personen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright© 2016 by Anna Staub

Bildmaterialien © by Anna Staub

Impressum

V.i.S.d.P.

Autorencentrum.de

Ein Projekt der BlueCat Publishing GbR

Gneisenaustr. 64

10961 Berlin

E-Mail: [email protected]

Tel.: 030 / 61671496

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Übersicht

Green Hollow: Fiktive Klein-Stadt im Colorado-Territorium um 1876

Gemstone: Örtlicher Saloon und gleichzeitig Bordell

Charles Sullivan Sr.: Familienoberhaupt der Sullivans, Besitzer der Black Creek Ranch, Vater von:

Lukas „Luke“ Sullivan: Ältester Sullivan-Bruder

Steffiney „Finney“ Sullivan: Frau von Luke, ehemalige Krankenschwester von Doc Dave

Gemeinsame Kinder: Rory und Richard Sullivan (Zwillinge)

Joshua „Josh“ Sullivan: Zweitältester Sullivan-Bruder

William „Bill“ Sullivan: Dritter Sohn von Charles Sr., war verheiratet mit der verstorbenen Josephine

Charlotte „Charly“ Sullivan: Frau von Bill, ehemalige Lehrerin

Gemeinsame Kinder: Prudence „Prudie“ Sullivan, Matilda Sullivan

Charles „Charlie“ Sullivan Jr.: Jüngster Sullivan-Bruder

Dr. David „Doc Dave“ McAbberty: Arzt von Green Hollow

Trudi McAbberty: Doc Daves Frau

Reverend John Brinkley: Pfarrer von Green Hollow

Bess Aldridge: Einwohnerin von Green Hollow und Kirchenvorsteherin

Jim Aldridge: Bess' Mann

Mr. Malbeth: Bürgermeister von Green Hollow

Liz und Harry Plockton: Besitzer von Plockton's Warehouse

Harriet Plockton: deren 13-jährige Tochter

Eugenia Straight: Ältere Witwe, Hypochonderin und Einwohnerin von Green Hollow

Miss Henny: Oberstes Freudenmädchen im Gemstone

Jimmy Paltrum, Michael Smitherson, Davy Slane, Frank Brunsberger, uvm.: der hoffnungsvolle Nachwuchs von Green Hollow

Mary-Sue Brandon: ehemalige Einwohnerin von Green Hollow, reiche Witwe aus San Francisco

Verstorbene Personen:

Prudence Sullivan: Frau von Charles Sullivan Sr.

Josephine Sullivan: Frau von Bill Sullivan

Prolog: Eine abenteuerlustige, englische Dame aus den richtigen Kreisen

Sandlehill Manor, Surrey/England, 27. Dezember 1875

Meine liebe Nichte,

in Anbetracht der Lage entsage ich der Höflichkeit und komme direkt zum Grund meines Briefes. Es schmerzt mich, dies schreiben zu müssen, aber Amelia hat sich als ebensolch faule Frucht wie ihre Mutter erwiesen. Doch was soll man vom Spross einer Schauspielerin erwarten? Dein Vater ist nach Deiner Mutter mit jeder Ehe tiefer gesunken und nun dürfen wir die Scherben seiner Unvernunft aufsammeln, während er im Grab liegt. Doch Dein Onkel drängt zum Aufbruch. Ich fasse mich also kurz.

Während der Weihnachtsfeier für die Pächter, die Dein Onkel in seiner Großzügigkeit ausgerichtet hat, erdreistete sich Amelia, mit einem der Pächtersöhne davonzuschleichen. Dein Onkel fand sie in einem Zustand in den Ställen, den ich als Dame nicht beschreiben möchte.

Selbst für so liebende Verwandte, wie wir es euch gewesen sind, steht außer Frage, dass Amelia uns verlassen muss. Wir können ihre Ehrlosigkeit nicht dulden, ohne unseren Ruf zu gefährden. Doch in unserem Unglück war das Schicksal uns trotzdem hold. Ausgerechnet in Gestalt von Sir James Grangefield. Ich habe seine zügellose Abenteuerlichkeit nie geschätzt, aber wie dem auch sei: Er besitzt einen Freund namens Ashworth. Dieser heiratete ehrbar, aber leider eine Dame ohne Mitgift. Ihm selbst stand als jüngerer Sohn kein Erbe zu. Eine ganz ähnliche Geschichte wie die Deiner Eltern. Doch Mr. Ashworth wanderte nach Amerika aus, anstatt seiner Familie auf der Tasche zu liegen. Er hat mit einer Goldmine in Kalifornien sein Glück gemacht, und sucht nun für seinen Sohn eine Frau. Eine abenteuerlustige, englische Dame aus den richtigen Kreisen.

Es war schnell beschlossen, dass Amelia diese Dame sein würde. Du machst mir sicher keine Vorwürfe. Selbst Du, als ältere Schwester, warst nicht in der Lage ihre niederen Tendenzen zu zügeln.

Es wird Dich beruhigen, dass euer Bruder Amelia begleitet. Nachdem Roberts Medizinstudium ein so unrühmliches Ende fand, wird es nicht schaden, wenn er England vorerst verlässt.

Euer Onkel, großzügig wie er ist, wird sämtliche Ausgaben für die Reise übernehmen. Niemand erwartet, dass Du Deine Stellung in Fernham Hall aufgibst. Ich will Dir dennoch nicht verschweigen, dass Dein Onkel auch Dir die nötigen Mittel zukommen lässt, wenn Du Deine Geschwister begleiten willst. Amelia könnte eine moralische Stütze gebrauchen, so ganz allein unter Roberts Aufsicht …

Ich möchte Dir nichts nahelegen, sah mich aber in der Pflicht, Dich über alles zu informieren.

Deine sich sorgende Tante,

Lady Morton

Für eine anständige Frau gehört es sich nicht, auf alles eine Antwort zu haben

Meine liebe Nichte …

Marianne lächelte amüsiert, als ihr Blick auf die Begrüßung des Briefes fiel, den man ihr in der Küche zusammen mit ihrem Lunch übergeben hatte.

Es gab wohl nur einen Grund, warum die ehrenwerte Lady Morton sie so betitelte. Tante Isobell war schlichtweg ihr Name entfallen. Was allerdings nicht verwunderlich war. Sie arbeitete seit zehn Jahren als Gouvernante und in dieser Zeit hatten sie einander nur äußerst selten zu Gesicht bekommen.

Seufzend schob Marianne ihre Brille höher die Nase hinauf. Sie war neugierig, was ihr das zweifelhafte Vergnügen einer Korrespondenz mit ihrer Tante bescherte. Ein Blick auf die Standuhr sagte Marianne, dass sie noch eine halbe Stunde Zeit für sich hatte. Sie lehnte sich auf dem unbequemen Holzstuhl zurück und begann ihre Lektüre.

Doch mit jeder Zeile verwandelte sich ihr Amüsement mehr und mehr in Entsetzen. Am Ende saß sie kerzengerade auf dem Stuhl und ihr Blick flog nur so über die Zeilen. Sie konnte kaum glauben, was dort stand. Doch solch eine infame Lüge würde nicht einmal Tante Isobell in die Welt setzen, um ihre ungeliebte Verwandtschaft loszuwerden. Vor allem nicht, wenn ein derartiger Skandal auf den Ruf ihrer eigenen Familie zurückfallen würde. Zitternd ließ sie den Brief sinken.

Und darüber hinaus …

Marianne schluckte heftig. Amelia hatte in ihrem letzten Brief diese Geschichte bereits erwähnt. Ihre Schwester hatte davon geschrieben, dass sie in den Ställen mit einem der Pächtersöhne zusammengetroffen war. Allerdings hatte sich das bei ihr viel unschuldiger angehört. Auch dass Onkel Reginald sich darüber dermaßen aufgeregt hatte, dass um ein Haar Cousin Edward vorzeitig zum Erbe von Sandlehill geworden wäre. Diesen Teil hatte Marianne allerdings der Übertreibung zugeschrieben.

Schließlich schreckte das Klappen der Zimmertür sie aus ihren Gedanken auf. Als Harry Fernham von einem Dienstmädchen in das Studierzimmer geschoben wurde, streckte Marianne den Rücken durch. Eine Gouvernante hatte stets ein tadelloses Vorbild zu sein.

„Und? Womit wollen Sie mich jetzt quälen, Miss Morton?“, nörgelte der rothaarige Junge los, kaum dass sich die Tür geschlossen hatte. Heute hatte Marianne allerdings nicht die Kraft, ihren üblichen Prinzipien von Pflicht und Anstand zu folgen.

„Tu, wonach dir der Sinn steht“, antwortete sie abwesend, bevor sie hinzufügte: „Solange es nicht die Einrichtung, deine oder meine Gesundheit beschädigt und in diesem Raum stattfindet.“

Der junge Fernham schien sein Glück kaum fassen zu können. Nachdem er eine Weile stocksteif dagestanden hatte, zog er mehrere Bücher aus dem Regal. Marianne wandte sich beruhigt ab.

Sie konnte nur hoffen, dass Amelia wohl auf war, nach … nach … all dem. Doch dass ihre Schwester in ihrem üblichen gutgelaunten Ton von dem Vorfall berichtet hatte, beruhigte Marianne. Anscheinend schlug Amelia auch in dieser Hinsicht ganz nach ihrer Mutter und genoss derartige … Aktivitäten. Aber was hatte sich Amelia bloß dabei gedacht, freiwillig auf etwas Derartiges einzugehen?

Marianne ließ ihren Blick hilflos durch das Studierzimmer wandern. Doch alles, was ihr an seelischer Unterstützung zur Verfügung stand, waren eine Kanne kalter Tee, ihr Stickzeug sowie die Reste ihres Mittagessens. Und der renitente Harry, der gerade mehrere Seiten aus „Jane Eyre“ herausriss.

„Harry, ich sagte: Nichts, was die Einrichtung beschädigt!“, wies sie ihren Schüler zurecht.

„Bücher sind keine Einrichtung!“, kam es trotzig zurück.

Marianne seufzte innerlich auf. „Bücher sind kein Mobiliar, aber sie gehören zur Einrichtung. Ein Wort, das ein Synonym für Ausstattung ist und man kann einen Raum sehr wohl mit Büchern ausstatten.“

Harry schaute sie verblüfft an und schob trotzig die Unterlippe vor. „Vater sagt, für eine anständige Frau gehört es sich nicht, auf alles eine Antwort zu haben. Sie schweigt oder stimmt dem Mann zu. Er will bestimmt nicht, dass ich von jemandem unterrichtet werde, der nicht anständig ist!“

Marianne schnappte nach Luft. Musste sie sich jetzt schon von einem Siebenjährigen drohen lassen? Doch sie beschloss, zu schweigen. Lord Fernhams Ansichten waren keine Seltenheit und sie konnte nicht noch mehr Ärger gebrauchen. Dennoch war sie nicht bereit kleinbeizugeben und erhob sich. Nach einem kurzen Gerangel, bei dem sie einen derben Hieb in den Bauch einsteckte, nahm sie ihrem Schützling das halbzerrupfte Buch ab.

Mit einem mitleidigen Blick betrachtete Marianne ihren Schüler, der jetzt die restlichen Bücher nutzte, um eine Art Kartenhaus daraus zu bauen. Immerhin, diese Tätigkeit würde sie bei Bedarf vor seinen Eltern als architektonisches Experiment rechtfertigen können. Doch selbst Harry würde lernen müssen, dass man nicht immer tun und sagen konnte, wonach einem der Sinn stand.

Und Amelia hätte es genauso gut wissen sollen als eine Dame von Stand! Erst recht, wenn dieser Stand auf den wackligen Füßen einer zweifelhaften Abstammung und dem Fehlen einer Mitgift ruhte! Ihre Schwester hatte sich mit diesem Verhalten jede Aussicht auf eine ehrbare Heirat genommen.

Für eine Weile kämpfte Marianne mit ihrer Selbstbeherrschung und schließlich vergrub sie das Gesicht in den Händen. Von nun an würde ihre Schwester als gefallenes Mädchen gelten und Tante Isobells Plan schien in der Tat der einzige Ausweg aus diesem Dilemma zu sein.

Ihr Blick glitt wieder zu dem Brief, der auf dem zerkratzten Tisch lag. Der letzte Absatz war unmissverständlich. Ihre Tante wollte die Möglichkeit nutzen, um die drei Kinder ihres toten Schwagers und seiner drei ebenso toten Frauen mit einem Schlag loszuwerden.

Auch wenn sie, Marianne, sich von diesem Wunsch nicht angesprochen fühlen musste. Mit 14, nach dem tödlichen Kutschunfall ihres Vaters und ihrer zweiten Stiefmutter, war sie mit Rob und Amelia in die Obhut ihrer Tante gegeben wurden. Mit 19 Jahren hatte sie das Haus von Sir Reginald Morton und seiner Frau wieder verlassen. In Ermangelung einer Mitgift oder wenigstens Schönheit hatte sie eine Stelle als Gouvernante angenommen. Es war ein recht trostloses Dasein, aber immerhin blieb sie ihren Verwandten nichts schuldig.

Amelia allerdings … Sie war ihre Schwester und sie fühlte sich verantwortlich für sie.

Hinter ihr verkündete ein lautes Krachen, dass Harry wohl nie ein begnadeter Architekt werden würde. Nervös begann sich Marianne die Schläfen zu massieren. Rob sollte Amelia begleiten, aber Gott, sie und Tante Isobell wussten, dass das keine Vorsichtsmaßnahme war, sondern ein Glücksspiel. Ihr Bruder hatte äußerlich zwar keine Ähnlichkeit mit seinem Vater, aber was den Hang zu Eskapaden anging, war er ein würdiger Erbe.

Marianne stand auf und trat ans Fenster. Hinter der Glasscheibe breitete sich der Park von Fernham Hall aus. Normalerweise war die Ruhe der Natur ihr immer eine Hilfe dabei, ihr Gemüt zu beruhigen. Marianne schätzte die einsamen Spaziergänge durch den Park sehr. Die Möglichkeit auf dem Land leben zu können, hatte den Ausschlag gegeben, trotz des unausstehlichen Harry die Stelle bei Lord Fernham anzunehmen. Doch heute waren über dem grauen Januarnebel lediglich die Spitzen der Trauerweiden unten am Teich zu sehen. Unwillkürlich fröstelte Marianne.

Lord Fernham hatte sie erst vor wenigen Tagen wissen lassen, dass er gedachte, Harry im nächsten Jahr auf eine Schule zu schicken, wo der Junge eine richtige Ausbildung erhalten sollte. Die Betonung, die der Lord auf die Worte "richtige Ausbildung" gelegt hatte, war unmissverständlich gewesen. Ihre Bemühungen lagen in seinen Augen kaum über dem Niveau eines Kindermädchens.

Marianne schnaubte auf. Sie hätte den gelackten Lord Fernham gerne einmal erlebt, wenn er mehr als eine halbe Stunde mit seinem Sprössling verbringen müsste.

Dennoch, in einem Jahr würde sie sich eine neue Stelle suchen müssen. Vielleicht wieder im verhassten London, wo man schon morgens um fünf Uhr nicht mehr schlafen konnte, weil die Milchwagen über das Pflaster polterten.

Und könnte sie wirklich in aller Ruhe auf Fernham oder in London sitzen, wenn Amelia und Rob einer ungewissen Zukunft am anderen Ende der Welt entgegenfuhren? Dort, wo es immer noch wilde Ureinwohner gab, die die Eisenbahn überfielen und jeder Mann sich mit Alkohol und Waffen den animalischen Seiten seines Charakters hingab.

Marianne lehnte ihren Kopf gegen die Fensterscheibe. Trotz seiner Fehler würde Rob nicht zulassen, dass Amelia etwas geschah, aber er hatte reichlich laxe Vorstellungen von Anstand und Moral. Und die Ashworths, ihre einzige Hoffnung in Sachen Amelia, schienen eine Menge darauf zu geben, wenn sie eine Braut im weit entfernten England suchten.

Für eine Weile starrte Marianne hinaus in den Park. Immerhin gehörte dieses Kalifornien schon seit mehr als 20 Jahren zu den Vereinigten Staaten. Etwas Zivilisation musste inzwischen auch dort Einzug gehalten haben. So viele Menschen hatten in diesem Land ihr Glück gemacht …

Doch was sollte jemand wie sie dort tun? Sollte sie auf ewig als unerwünschter Anhang im Hause ihrer Schwester leben und deren Kinder erziehen? Abhängig von der Gnade dieses Mr. Ashworth, den alle nur vom Hörensagen kannten?

Unwillkürlich wanderte Mariannes Blick zur Zeitung von gestern, die man ihr gnädigerweise überlassen hatte. Es hatte einen Artikel über neue Goldfunde in Amerika gegeben und welch logistische Aufgaben diese Siedlungen mit sich brachten, die dort plötzlich aus dem Boden schossen.

Fast verstohlen wanderten ihre Gedanken zu ihrem alten Kindheitstraum. Doch genauso schnell wischte sie die Idee wieder beiseite. Sie hatte ein Hotel führen wollen, als sie zwölf Jahre alt gewesen war, kein Boardinghouse für betrunkene Minenarbeiter. Der Gedanke daran, wie jemand wie sie mit solchen Leuten fertig werden sollte, war einfach zu albern. Sie war zu alt für solche Hirngespinste.

Dennoch … Amelia musste wohl oder übel den Weg in dieses Land antreten. Marianne kannte sich selbst gut genug, also wozu das Unvermeidliche hinausschieben? Sie hatte viel zu viel Verantwortungsbewusstsein, um ihre Geschwister allein nach Amerika gehen zu lassen. Selbst dort musste es Menschen geben, die Wert auf die Ausbildung ihrer Kinder legten. Und eine große Stadt wie San Francisco war sicher nicht so gefährlich wie die unkultivierten Weiten und Minenstädte. Sie würde auch dort als Gouvernante Arbeit finden, um Amelia in ihrer neuen Heimat beistehen zu können.

Ihre Entscheidung war getroffen. Marianne atmete tief durch und drehte sich zu ihrem Schüler um. „Harry, würdest du mir bitte den Atlas bringen? Wir werden heute etwas über Amerika lernen.“

Du bist doch immer so moralisch!

"Marianne, ich sterbe vor Hunger! Können wir bitte in den Speisesaal gehen?"

Mit einem Seufzen schaute Marianne von ihrer zerlesenen Ausgabe von „Die Frau in Weiß“ auf. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, sie hätte den Mut und das Durchsetzungsvermögen ihrer Namensvetterin in diesem Roman.

"Ich habe nicht die geringste Ahnung, wohin Rob verschwunden ist", antwortete sie müde und widmete sich wieder ihrem Buch. Doch die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Die endlose Reiserei sorgte dafür, dass sie fast ständig müde war und es ihr inzwischen selbst an Interesse für die täglich wechselnde Umgebung mangelte. Nicht einmal das gut geführte Green Hotel hatte ihre Aufmerksamkeit wecken können. Seit ihrer Ankunft in New York vor mehreren Wochen waren sie unterwegs, obwohl sie längst in San Francisco sein könnten. Doch ihre Geschwister hatten sich in den Kopf gesetzt, so viel wie möglich von Amerika zu sehen, bevor sie nach Kalifornien reisten.

„Der gute Reginald hat keine Ahnung, wie lang und wie kostspielig eine Reise durch Amerika ist. Wir haben als Kinder nicht gerade im Luxus gebadet auf Sandlehill, also warum sollten wir diese Chance nicht nutzen, etwas von der Welt zu sehen?“ Ihr Bruder hatte bei dieser Aussicht breit gegrinst und sich wie üblich durchgesetzt. Und so waren sie von einem Staat in den anderen gefahren und hatten sich bereits zwei Mal telegrafisch Geld von Onkel Reginald anweisen lassen. Jedes Mal mit der Ausrede, dass der schlechte Ausbau des Straßen- und Schienennetzes sie viel Zeit und Geld kostete.

Mariannes Einwand, dass ihr Onkel diesen Plan sicher bald durchschauen würde und sie am Ende noch auf dem Trockenen saßen, hatten ihre Geschwister natürlich wieder mit einem Lachen beiseite gewischt.

In gewissen Dingen konnte Marianne ihre Geschwister durchaus verstehen. Vielleicht hätte sie die Reise selbst genießen können, wenn sie nicht ins Ungewisse geführt hätte. Je weiter sie in den Westen des Kontinents vorgedrungen waren, umso öfter fragte sie sich, ob hier wirklich jemand Bedarf für eine Gouvernante hatte. Ihre Zukunft schien ihr ungewisser denn je. Marianne wäre schon froh gewesen, wenn sie gewusst hätte, wann Rob gedachte wieder aus diesem Green Hollow aufzubrechen, in das es sie verschlagen hatte. Nur weil Sir James ihm einen Floh ins Ohr gesetzt hatte, dass es hier alte Bekannte von ihm gab.

Marianne hatte es rührend gefunden, dass Lord Grangefield nach Liverpool gekommen war, um sie zu verabschieden und ihnen einige gute Ratschläge über Amerika zu geben, bevor sie das Dampfschiff bestiegen hatten. Doch für diese blödsinnige Bemerkung, dass es in irgendeinem Nest im Colorado-Territorium besondere Attraktionen und Freunde gab, hätte sie den alten Abenteurer am liebsten eine Gardinenpredigt gehalten wie Harry Fernham.

"Können wir nicht allein in den Speisesaal gehen? Wir müssen das Hotel doch nicht einmal verlassen.“ Amelias Stimme riss Marianne ein zweites Mal aus ihren Gedanken.

"Wir können nicht ohne männliche Begleitung in der Gegend herumspazieren. Wer weiß, was für Menschen sich hier herumtreiben. Gerade du solltest darauf bedacht sein, dass dein Ruf nicht noch mehr Schaden nimmt."

Eine Dame hatte tunlichst nicht die Beherrschung zu verlieren, aber Marianne kam nicht gegen den ungeduldigen Tonfall an, der in ihrer Stimme mitschwang.

"Mein Ruf, mein Ruf. Wenn ich das schon höre." Amelia klang so unzufrieden wie selten. "Ich habe wirklich nichts dagegen, endlich Tante Isobells Klauen entronnen zu sein, aber was war schon dabei?“ Sie schmiss sich undamenhaft in einen großen Ohrensessel. „Wenn Isobells Goldjunge sich mit einer Bauernmagd vergnügt hätte, würde niemand auch nur ein Wort darüber verlieren.“

Marianne zog scharf den Atem ein. Genau dieser Gedanke war auch ihr seit Tante Isobells Brief öfter durch den Kopf gegangen, aber sie würde Amelia nicht auch noch in ihrem Verhalten bestätigen!

„Du hast solch ein Glück gehabt, Amelia!" Eine Weile nach dem Erhalt des Briefes war Marianne der Gedanke gekommen, was passieren würde, wenn aus dieser Liaison ein Kind hervorging. Doch auf der Überfahrt hatte Amelias verschmutzte Leibwäsche ihr immerhin diese Sorge genommen. „Ein Mann hat auch nicht die Konsequenzen solcher … solcher …"

"Sag‘s ruhig: Vergnügungen." Amelia war eitel Sonnenschein, wenn sie jemanden provozieren konnte.

"Zumindest hat ein Mann keine Konsequenzen davon zu tragen, eine Frau dagegen schon. Allein deswegen hättest du dich nicht so gehen lassen sollen." Marianne stand ärgerlich auf.

Amelia runzelte die Stirn. "Konsequenzen? Mit meinem kaputten Ruf kann ich ganz gut leben."

Abrupt hielt Marianne in ihrem Marsch durch das Zimmer inne. Es dauerte einige Momente, bevor ihr das ganze Ausmaß dieses Kommentars aufging.

"Kaputter Ruf? Du denkst, das wäre alles? Amelia, du … hättest ein Kind bekommen können! Wie hättest du dafür sorgen wollen in deinem Alter ohne Auskommen", brachte sie schließlich heraus.

"Ich hab diesen Burschen ja nicht vorher geheiratet.“

Konnte es wirklich sein, dass ihre Schwester nicht die geringste Ahnung davon hatte, was im Pferdestall passiert war? Und was für Folgen es haben konnte? Andererseits … Marianne schluckte unbehaglich. Wäre Amelias unstandesgemäße Mutter, ihre zweite Stiefmutter, nicht gewesen, sie wüsste heute nicht mehr über eheliche Pflichten als ihre kleine Schwester. Das Bett gab ein leises Quietschen von sich, als Marianne sich darauf fallen ließ.

"Und du glaubst, dass dich das vor allen Konsequenzen schützt, wenn du den Burschen nicht heiratest?", fragte sie perplex. Amelia nickte mit einem boshaften Grinsen.

"Ich habe die gute Tante schon mit 16 gefragt, woher Kinder kommen, weil ich sie ärgern wollte. Sie meinte, dass Babys dann kommen, wenn man verheiratet ist. Vorher hätte eine Dame keine Kinder."

Für einen Augenblick ließ Marianne alle englische Zurückhaltung fahren. Mit einem Jaulen schlug sie die Hände vors Gesicht. Amelia hatte wirklich nicht die geringste Ahnung, was sie getan hatte.

Ihre Schwester kam zu ihr hinüber und tätschelte ihre Schulter. "Reg dich doch nicht auf. Ich verstehe sowieso nicht, warum alle um ein paar Küsse und einen hochgerutschten Rock so ein Theater machen."

Marianne riss den Kopf hoch. "Was?"

"Ja, dann hat er halt meinen nackten Oberschenkel gestreichelt", lamentierte Amelia belustigt weiter. Sie schien den Ernst der Lage wirklich nicht zu erfassen. Aber vielleicht war die Lage unter Umständen auch nicht so ernst wie gedacht.

"Amelia? War das der erste Mann, den du geküsst hast?" Marianne war fassungslos.

"Natürlich. Und ich hätte nicht gedacht, dass es solchen Spaß macht. Diese steifen Gentlemen können ja nichts weiter, als einem Punsch bringen, aber John hat sofort Nägel mit Köpfen gemacht. Irgendwie hat mir das gefallen." Amelia lächelte versonnen.

"Also hat er aber nicht … Also …" Marianne wusste kaum, wie sie die entscheidende Frage stellen sollte. Vor allem nicht, wenn Amelia nicht einmal wusste, worauf sie hinauswollte.

"Er hat dir nicht weh getan?", fragte sie vorsichtig und ihre Schwester lachte wieder.

"Himmel, du bist noch prüder als ich dachte. Wie soll er mir beim Küssen wehtun? Meinst du vielleicht, er hat mich gebissen?"

Wäre das Thema nicht so ernst gewesen, hätte Marianne über Amelia gelacht. Sie hielt sich nach einem Kuss für eine Expertin in Liebesdingen und hatte dabei so wenig Ahnung. Doch so war sie einfach nur dankbar, dass ihr Onkel in diese unselige Affäre gestolpert war, bevor Schlimmeres hatte passieren können. Stöhnend fuhr Marianne sich über die Haare. Tante Isobell hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, herauszufinden, was wirklich passiert war. Mit etwas Diskretion hätte Amelias Ruf keinen Schaden genommen und es wäre gar nicht nötig gewesen, sie in die Verbannung zu schicken.

"Ach komm, Marianne. Wir sind endlich von Tante Isobell weg, ich werde einen reichen Mann heiraten und dieser Mr. Ashworth meinte in seinem letzten Telegramm doch, dass sich auch jemand für dich findet. Frauen sind hier rar, da nimmt bestimmt jemand auch dich. Vielleicht ein alter Witwer oder so."

"Vielen Dank für das Kompliment", erwiderte sie trocken. Sie stand auf, um sich an ihrer Reisetruhe zu schaffen zu machen. Zum Vorschein kam ein in Leder gefasster Flachmann und diesmal war es Amelia, die einen schockierten Ausruf von sich gab.

"Marianne!"

Doch die ließ sich von ihrer kleinen Schwester nicht beeindrucken und nahm einen kräftigen Schluck. Nach all diesen Eröffnungen hatte sie das dringend nötig.

"D-das gehört sich nicht!", stammelte Amelia und jetzt konnte Marianne sich ein Lachen nicht verkneifen. "Das sagst ausgerechnet du mir?" Eilig stopfte sie die kleine Flasche in ihr schwarzes Retikül und verstaute es unter ihren Röcken.

"Ja, nein, aber … du bist doch immer so moralisch!"

"Selbst die beste Gouvernante braucht ab und zu ein bisschen moralfreie Zeit", antwortete Marianne. Nach einigen Momenten fing Amelia an zu kichern und ließ sie sich neben ihrer Schwester auf der Truhe nieder. "Ich mag dich bedeutend lieber, wenn du nicht so steif bist.“

Doch dieser kurze Moment der Unbeschwertheit, den Marianne sich gegönnt hatte, war vorbei.

"Ich frage mich wirklich, wo Rob steckt", murmelte sie und ging hinüber zum Fenster. Doch die dunkle Hauptstraße von Green Hollow war menschenleer. Musste sie sich Sorgen um ihren Bruder machen?

"Im Gemstone", war die geradezu selbstverständliche Antwort von Amelia.

Marianne zog überrascht die Augenbrauen nach oben. "Bitte wo?"

"Na dieser Herrenclub von dem Sir James ihm erzählt hat."

Natürlich, ein Herrenclub! Sie konnte nur hoffen, dass Rob sich bei den hiesigen Gepflogenheiten nicht in Schwierigkeiten brachte.

Eine Stunde später hatte sich Mariannes Hoffnung verflüchtigt und obendrein knurrte ihr der Magen. Als es auf neun Uhr zuging, riss ein Klopfen die beiden Frauen aus ihren Gedanken.

„Gott sei Dank“, entfuhr es Marianne, bevor sie laut hinzufügte: „Komm herein, wir sind noch auf.“

Der Mann, der allerdings gleich darauf erschien, war keinesfalls Rob. Marianne wurde blass, als sie sich von stechenden blauen Augen taxiert sah. Viel mehr war von dem Gesicht ihres Besuchers nicht zu sehen. Er hatte einen dunklen Filzhut tief in die Stirn gezogen und der buschige Bart ließ kaum etwas von seiner Mimik sehen.

„N’Abend, die Damen. Heißen Sie Morton?“, fragte er, während er im Türrahmen lehnte.

Marianne stand gegen jede Benimmregel der Mund offen, doch Amelia hatte sich schnell wieder im Griff.

„Wer will das wissen?“, fragte die Jüngere geistesgegenwärtig.

„Vince“, antwortete der Fremde grinsend. „Hilft Ihnen aber sicher nicht weiter. Kennen Sie ‘nen Robert Morton?“

Marianne seufzte innerlich und erhob sich. „Was ist mit unserem Bruder?“

„Ist knapp bei Kasse. Er bat mich, hier ein bisschen Geld für ihn abzuholen“, war die Antwort.

Marianne atmete erleichtert auf. Sie konnte kaum glauben, dass sie das dachte, aber wenn es weiter nichts war.

Mit einem kühlen Blick maß sie ihr Gegenüber. Sie glaubte diesem Mann zwar unbesehen, dass Rob es geschafft hatte, sich in die Pleite zu spielen, aber man konnte nie wissen. Erst recht nicht hier!

„Würden Sie bitte vor der Tür warten, Mr. Vince?“, bat sie höflich. Robs Bote wandte sich mit einem Schulterzucken ab und schloss die Tür von außen. Gleich darauf begann Marianne, sich wieder an ihrer Reisetruhe zu schaffen zu machen.

„Hast du wirklich vor, diesem Burschen unser Geld zu geben?“, fragte die Jüngere aufgeregt, während Marianne zwischen ihren Unterröcken und einigen Groschenromanen eine Börse hervorholte. Doch bei Amelias Frage zögerte sie. Nein, es wäre nicht klug einem fremden Mann ihre Reisekasse anzuvertrauen. Aber welche Möglichkeit hatte sie denn? Sie konnte sich doch nicht mit diesem Fremden sehen lassen!

Andererseits … Gute Sitten und gesunder Menschenverstand gingen nicht immer Hand in Hand. Nervös strich sich Marianne über die Stirn. Sie hatte den ganzen Tag damit zugebracht, Amelia zur Räson zu bringen, ohne aus der Rolle zu fallen. Sie hatte höflich lächelnd ertragen, dass der Mann neben ihr in der Postkutsche ständig den braunen Saft seines Kautabaks auf ihren Rocksaum spuckte, weil eine Frau in ihrer Position sich nicht zu beschweren hatte. Ihr knurrte der Magen, weil es sich nicht gehörte, allein zum Essen zu gehen. Für heute hatte sie genug davon, sich korrekt zu benehmen, nur damit am Ende irgendein dahergelaufener Cowboy mit ihrem Geld verschwand!

„Nein.“ Damit angelte sie nach Amelias Retikül und verstaute einige Scheine darin. „Ich werde Mr. Vince begleiten.“

„Ooooh Marianne!“ Die Begeisterung war Amelia anzuhören. „Ich komme natürlich mit dir.“

Für einen Moment zögerte Marianne. Ihr wäre in der Tat wohler, wenn sie nicht alleine mit diesem wandelnden Vollbart wäre, aber im Ernstfall wäre Amelia im Hotel sicherer.

„Du kannst in der Zeit zu Abend essen“, beschloss sie und hoffte, dass dieses Zugeständnis ihre kleine Schwester ablenken würde.

Was es leider nicht tat. Es folgte eine mit unterdrückten Stimmen geführte Diskussion, doch schließlich gab Amelia verärgert nach. Marianne wies sie an, Mr. Truebottle, den Hotelbesitzer, um Hilfe zu bitten, sollte sie in einer halben Stunde nicht zurück sein.

Mit zitternden Fingern warf sich Marianne ihren Umhang über. Sie war sich ziemlich sicher, dass dies eine schlechte Idee war, aber sie konnte Rob unmöglich seinem Schicksal überlassen. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was man im Colorado-Territorium mit Männern tat, die ihre Spielschulden nicht bezahlen konnten.

Der ominöse Mr. Vince versuchte sie mit halb amüsierter, halb ärgerlicher Miene davon abzubringen, ihn ins Gemstone zu begleiten. Allerdings gab er auf, als ihre Entschlossenheit nicht ins Wanken geriet.

Na wenn Sie mich so charmant darum bitten…

Kurz darauf standen Marianne und Vince vor dem Herrenclub. Flottes Klavierspiel drang nach draußen und eine Schwingtür gab den Blick in einen großen Raum frei, an dessen anderer Seite eine geschwungene Treppe nach oben führte. Drinnen waren einige Männer zu sehen und Frauen, deren freizügige Kleidung Marianne dazu brachte, unwillkürlich einen Schritt zurückzutreten.

Am liebsten hätte sie kehrt gemacht, aber Mr. Vince hielt ihr galant die Schwingtüren auf. An einem der Tische konnte sie Robs dunklen Lockenkopf erkennen. Marianne atmete noch einmal tief durch und betrat das Gemstone. Wie erwartet verkehrten in diesem Club nur Männer. Allerdings waren die Bediensteten ausnahmslos weiblich, selbst das Mädchen hinter der Bar.

Die junge Frau war von Marianne dermaßen fasziniert, dass sie so lange Whisky in ein Glas goss, bis dieses überfloss. Erst als die braune Flüssigkeit ihr auf die Füße tropfte, wachte sie aus ihrer Erstarrung auf und fluchte.

Mr. Vince deutete mit einer Kopfbewegung auf Robs Tisch und ging dann an die Theke.

Marianne zwang sich, den Raum mit ruhigen Schritten zu durchqueren. Erst als sie ihrem Bruder eine Hand auf die Schulter legte, sah er auf. Seine Überraschung war nicht zu übersehen. Rob sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umfiel. "Bist du völlig verrückt geworden? Was willst du denn hier?"

Marianne blinzelte überrascht. Er schickte ihnen diese seltsame Gestalt aufs Hotelzimmer, aber dann regte er sich darüber auf, dass sie in das Gemstone kam?

Während die beiden anderen Männer am Tisch sie taxierten, redete Rob weiter. „Was soll der Unsinn? Warum hast du Vince nicht einfach das Geld gegeben?"

"Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich einem Fremden unser Geld anvertraue", antwortete sie perplex und versuchte den Kleineren von Robs Gefährten zu ignorieren. Er drückte in einer kuriosen Geste seine Zunge von innen gegen die Wange und schaute sie auffordernd an.

"Wieso nicht? Deswegen hatte ich ihn zu dir geschickt. Was fällt dir ein, hierher zu kommen? Sonst erstickst du doch fast an deiner Moral." Rob schien keine Zeit verlieren zu wollen. Unsanft riss er ihr das Retikül aus der Hand und wühlte einige Scheine hervor. Nur um gleich darauf ärgerlich zu fragen: „Haben wir keine Dollarnoten mehr?“

„Nur in deinem Koffer und ich habe keinen Schlüssel dafür“, antwortete Marianne beherrscht. Sie war auf Rob mindestens so ärgerlich wie er auf sie, aber es gehörte sich nicht, ihn vor anderen Männern bloßzustellen.

"Meine Herren!“ Ihr Bruder zählte einige Pfundnoten ab. "Das müsste dem Gegenwert Ihres Dollar entsprechen." Die Scheine flatterten auf den Tisch. "Ich wünsche einen guten Abend." Damit griff er nach seinem Hut und dann führte er Marianne Richtung Tür.

Nur Augenblicke später ließ Rob sie allerdings los, als ein lautstarkes „Was sollen das?“ ertönte. Marianne fuhr überrascht herum, als es einen lauten Knall gab. Zu ihrem Entsetzen hielt einer der Männer ihren Bruder an der Kehle gepackt und drückte ihn auf den Tisch.

"Hör mal zu, Freundchen. Ich hab keine Ahnung, was das ist." Dabei hielt er ihm die Pfundnoten unter die Nase. "Entweder gibst du uns richtiges Geld oder du wirst es bereuen. Mit Danvers und Dellis legt man sich nicht an."

Die anderen Männer im Raum beobachteten das Geschehen amüsiert, während die Frau hinter der Bar rief: "Danvers, lass das oder ich find jemanden, der dich rausschmeißt, du alter Säufer!"

Es war mehr ein Reflex aus Kindertagen, als das Marianne wirklich wusste, was sie tat, als sie auf die Kontrahenten zuging. "Sir, bitte, mein Bruder hat Ihnen richtiges Geld gegeben. Es gibt überhaupt keinen Grund-“

Weiter kam sie nicht, denn gleich darauf segelte dieser Mr. Danvers quer durch den Raum, stolperte rückwärts über einen Stuhl und ging mit einem beträchtlichen Krach zu Boden. Rob hatte ihn mit einem Tritt in den Magen von sich befördert.

"Um Gottes Willen, Rob!" Marianne wollte nach vorne stürzen, doch der andere Mann war schneller. Er erwischte ihren Bruder am Kragen und versetzte ihm einen Faustschlag gegen das Kinn.

Sie war nicht mehr in der Lage sich zu rühren. Noch nie in ihrem Leben war sie Zeugin von derartiger körperlicher Gewalt geworden. Dennoch kam sie nicht umhin sich zu wundern, mit welchem Können Rob dem anderen einen so heftigen Hieb versetzte, dass dieser in die Knie ging. Inzwischen war der andere Mann aber wieder auf den Beinen und gleich darauf sah sich ihr Bruder mit zwei Gegnern konfrontiert.

"Verflucht nochmal! Seid ihr wahnsinnig geworden?" Eine resolute Frauenstimme durchschnitt den Lärm. Schwere Schritte eilten die Treppe hinter Marianne hinunter.

"Josh, sieh zu, dass du diese Hornochsen auseinander bekommst! Und du Vince, steh da nicht rum und halte Maulaffen feil!", verlangte die Stimme.

Doch Mr. Vince trank erstmal in aller Seelenruhe seinen Whisky aus. Unentschlossen machte Marianne einen Schritt nach vorne. Eigentlich wusste sie, dass sie nicht zwischen die Männer gehen konnte, aber sie konnte doch auch nicht einfach zuschauen, wie ihr Bruder verprügelt wurde!

Plötzlich fühlte Marianne sich um die Taille gepackt. Ihr entwischte ein erschreckter Aufschrei und gleich darauf wurde sie auf den Treppenstufen abgestellt. Für einen Moment glaubte sie sich hier oben in Sicherheit, bis sie den Mann bemerkte, der vor ihr stand. Er war groß und schwarzhaarig und trug nichts als eine derbe Hose. Auf seinem nackten Oberkörper zeichnete sich eine gezackte Narbe ab. Marianne wollte einen Schritt zurückweichen, doch dieser zudringliche Mensch hielt sie fest.

"Was zum- Was glauben Sie hier zu tun?", fuhr er sie an.

Mariannes Herz schlug so heftig, dass ihr das Blut in den Ohren rauschte. "Sie sind kein Gentleman! So fasst man eine Dame nicht an!“, stammelte sie, während sie auf die kräftigen Hände an ihrer Taille starrte. Sie war noch nie dermaßen vertraulich von einem Mann berührt wurden. Vor allem nicht von einem, den sie noch keine Minute kannte!

Der Blick des Fremden folgte dem ihren, und als er begriff, was ein Gentleman nicht tat, schien er sich köstlich zu amüsieren. "Verzeihen Sie, Mylady. Ich hätte Ihnen natürlich meinen Arm anbieten sollen, um Sie aus dem Getümmel zu geleiten. Ich fürchte nur, die Raufbolde hätten auf die Konventionen keine Rücksicht genommen und Ihnen derweil die Zähne ausgeschlagen.“

„Es wundert mich, dass Sie so viele mehrsilbige Worte kennen, wo Sie anscheinend nicht einmal in der Lage sind, sich vernünftig anzuziehen!“ Marianne war so verletzt über die Ironie seiner Worte, dass sie ihre Manieren vergaß. "So tun Sie doch etwas!"

Doch ihre Empörung entlockte dem Herrn lediglich ein Lachen. „Na, wenn Sie mich so charmant darum bitten, kann ich nicht widerstehen.“

Damit winkte er Vince zu und die beiden stürzten sich ins Getümmel. Rob kassierte zwar noch einen Hieb, doch schließlich gelang es ihm und Mr. Vince den drahtigen Dellis in den Griff zu bekommen. So konzentrierte sich Mariannes Aufmerksamkeit auf die verbliebenen Kämpfer. Sie zuckte zusammen, als der dunkelhaarige Mann einen so heftigen Schlag abbekam, dass seine Lippe aufplatzte.

Bis eben war er bemüht gewesen, seinen Kontrahenten lediglich zur Räson zu bringen, doch nach diesem Treffer schlug die Laune um. Für einen Moment hielt der Dunkelhaarige inne, und da er kein Hemd trug, konnte Marianne sehen, wie sich jeder einzelne Muskel in seinem Körper spannte. Er holte zu einem wuchtigen Schlag aus und Danvers ging zu Boden. Rob und Vince hatten inzwischen den zeternden Dellis vor die Tür geworfen.

Marianne hörte plötzlich eine tiefe, aber eindeutig weibliche Stimme hinter sich. "Und Sie sind, wenn ich fragen darf?" Neben ihr tauchte eine rothaarige Frau auf, die eine Art Morgenmantel trug, der nicht einmal die Knie bedeckte. "Ich hoffe, Sie sind nicht für diesen Schlamassel verantwortlich."

"Marianne Morton, aber das war ich nicht", stammelte sie immer noch irritiert von dem Bild, das sich ihr bot. Und zugegeben auch von der Dame, die ohne die geringste Scham ihre nackten Oberschenkel einem Dutzend Männer präsentierte.

Während Vince noch einen Whisky an der Bar orderte, waren Rob und sein Helfer zu ihnen gekommen. Marianne fühlte sich von einem Paar dunkelblauer Augen fixiert. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, was es bedeutete, dass der Mann vor ihr so unzureichend bekleidet war. Und die blutige Lippe sowie die Narbe auf seinem Bauch trugen nicht gerade dazu bei, ihr Unwohlsein zu mildern. Abrupt senkte sie den Blick, denn die nackte Brust ihres Gegenübers war ihr so peinlich, dass ihr Herz anfing zu rasen.

"Was haben Sie sich nur dabei gedacht, allein hierher zu kommen? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?", stellte der Fremde sie zur Rede, während er seine lädierte Hand schüttelte, um den Schmerz zu vertreiben. Seine gute Laune hatte unter dem Schlag wohl erheblich gelitten.

Marianne biss sich auf die Lippen, um sich nicht zu weiteren unpassenden Spitzfindigkeiten hinreißen zu lassen. Mit solchen Gesellen wechselte man besser so wenige Worte wie möglich. Hilfesuchend wandte sie sich zu Rob um.

"Ja, wirklich Marianne, was hast du dir nur dabei gedacht hierher zu kommen?", fragte der spöttisch und sie schnappte empört nach Luft. Unwillkürlich ballte sie ihre Hände zu Fäusten.

Mit einem Grinsen wandte Rob sich seinem Helfer zu und versetzte ihm einen freundschaftlichen Schlag auf den Rücken, während er ihm die Rechte entgegenstreckte. "Vielen Dank für Ihre Hilfe."

Marianne glaubte nicht richtig zu sehen, als Robs linke Hand während dieses Dankes blitzschnell tiefer zur Hosentasche des Fremden wanderte. Ihre Augen weiteten sich, als sie kurz etwas Grünliches aufblitzen sah. Dann hatte Rob seine Hände wieder in seinem Jackett vergraben. Schon als Kind hatte ihr Bruder jede Menge Taschenspielertricks beherrscht, aber er würde doch nicht …

"Nehmen Sie es meiner Schwester nicht krumm. Sie wissen ja, wie Frauen sind. Sie benutzen ihren Kopf nicht allzu oft."

Die rothaarige Frau neben Marianne machte eine plötzliche Bewegung. Sie hatte Rob am Kragen gepackt und lächelte ihn an. "Ich würde dir gerne Manieren beibringen, Freundchen, aber jetzt sieh zu, dass du deine Schwester hier rausbringst."

Marianne glaubte, sich verhört zu haben. Hatte diese Frau es gewagt, ihrem Bruder zu drohen und ihn des Hauses verweisen? Vor den Augen ihres Mannes, dessen Aufgabe dies doch eigentlich wäre?

Rob zog sie von den Treppenstufen. "Ich bin noch nie so charmant irgendwo hinausgeworfen wurden. Nach wem müsste ich fragen, wenn ich Interesse an Benimmunterricht hätte?"

Die Dame des Hauses musterte ihren Bruder und grinste. "Für dich Mrs. Henny."

Gleich darauf wurde Marianne von Rob nach draußen geführt, aber ihr entgeisterter Blick hing immer noch an dem seltsamen Paar. Von Bekleidung schienen beide nicht viel zu halten. Das Letzte, was sie sah, bevor die Schwingtüren sich hinter ihr schlossen, war, wie Mrs. Henny vorsichtig die aufgeplatzte Lippe ihres Mannes untersuchte.

Es gibt edle Damen in Green Hollow?

Mit einem leisen Schmerzenslaut stellte Josh seine Kaffeetasse auf den Tisch. Der blutige Riss in seiner Unterlippe hatte sich zwar geschlossen, aber er würde sicher noch ein paar Tage etwas davon haben.

"Muss ja hoch hergegangen sein bei Henny", bemerkte Charlie grinsend, während ihr Vater Josh musterte. Das Familienoberhaupt konnte sich kaum daran erinnern, wann sein zweiter Sohn zum letzten Mal mit zerschlagenem Gesicht am Frühstückstisch erschienen war.

"Wie sollte es, wenn du nicht dabei warst?", erwiderte Josh trocken.

Charlie lehnte sich mit verschränkten Armen und einem herausfordernden Blick in seinem Stuhl zurück. In diesem Moment wurde deutlich, dass er in der letzten Zeit zwar nicht mehr an Größe, aber einiges an Muskelmasse zugelegt hatte. Doch ihr Vater unterbrach die brüderliche Stichelei, bevor sie richtig in Fahrt kam.

"Was war los? Wenn ausgerechnet du mit einer geplatzten Lippe nach Hause kommst, muss doch irgendwas passiert sein."

Josh winkte ab und griff nach der Pfanne mit dem Speck. "Danvers ist mal wieder über die Stränge geschlagen."

Charlie lachte auf. "Was denn? Haben sie den alten Säufer schon aus dem Knast gelassen? Ich dachte, er wäre Lukes Erzfeind."

"Der schlägt sich mit jedem, wenn sich die Gelegenheit bietet. Angeblich ist das Gefängnis in Denver überfüllt und man hat ihn wegen guter Führung entlassen", antwortete Josh. "Irgendein verrückter Engländer hat mit ihm und einem anderen Herumtreiber Karten gespielt. Die beiden fühlten sich wohl übers Ohr gehauen und sind auf ihn losgegangen.“

"Und da musste mein großer Bruder mit seinem Gerechtigkeitssinn natürlich dazwischen gehen", spottete Charlie.

"Im Gegenteil, das alles passierte nur auf den Wunsch einer edlen Dame hin", kam es scherzhaft zurück und jetzt lachte der Jüngste laut auf.

"Es gibt edle Damen in Green Hollow? Ich weiß nicht, wo du verkehrst, aber bei Henny treffe ich nur …"

"Charlie, verdammt!", fuhr Mr. Sullivan dazwischen. Sein jüngster Sohn sah zwar nicht mehr wie ein kleiner Junge aus, aber an Benehmen mangelte es ihm immer noch. "Henny und ihre Mädchen mögen nicht das sein, was man als Damen bezeichnet, aber ich will in meinem Haus kein abfälliges Wort über sie hören!"

Für einen Moment sah es aus, als wollte Charlie Widerworte geben. Mit 23 Jahren war er nicht mehr so einfach bereit, sich den Wünschen seines Vaters unterzuordnen wie mit 18. Doch Josh hatte an einem Sonntagmorgen nicht die geringste Lust auf einen Familienstreit. Die letzte Zeit war anstrengend genug gewesen. Er war die ganze Woche mit seinem Vormann unterwegs gewesen, um den Rinderbestand zu prüfen. Zu seinem Ärger war die Zahl der Tiere geringer ausgefallen als erwartet und gestern hatte er sich nur ein wenig von der Arbeit erholen wollen. Wozu er am Ende auch nicht gekommen war, dank diesem verrückten Geschwisterpaar.

"Du wirst dich wundern. Gerade gestern habe ich im Gemstone eine wahre Dame kennengelernt", schaltete er sich mit einem amüsierten Unterton ein, um das Gespräch in eine weniger brenzlige Richtung zu lenken. Unwillkürlich machte sich in seinen Händen ein warmes Gefühl breit, als er daran dachte, wie er ihre schmale Taille umfasst hatte.

Sein Schachzug gelang. Sein kleiner Bruder lachte zweifelnd auf und sein Vater schaute ihn prüfend an. Wahrscheinlich fragte er sich, ob sein zweitältester Sohn bei der Prügelei nicht doch mehr Schäden als eine blutige Lippe davongetragen hatte.

"Eine Dame? Im Gemstone?" Der Unglauben war Charles Sullivan deutlich anzuhören, während Charlie Jr. einwarf: "Die hat er sich im Whiskyrausch wahrscheinlich zusammenphantasiert."

"Unsere liebe Schwägerin wollte sich damals auch dort um eine Arbeit bewerben. Wenn du damit sagen willst, dass Finney keine Dame ist, dann lass es lieber nicht Luke hören", feixte Josh. Diesmal brachen alle drei Männer in amüsiertes Lachen aus bei dieser Erinnerung.

"Also jetzt raus mit der Sprache. Wer ist diese ominöse Dame?", verlangte Charles Sullivan schließlich zu wissen.

Josh grinste immer noch bei der Erinnerung an die steife Engländerin. Sie hatte ihn mit ihrer scharfen Erwiderung überrascht, allerdings war diese Geistesgegenwart wohl nur Zufall gewesen.

"Sie gehörte zu diesem Engländer und war wirklich ganz die feine Lady. Nur Entsetzen über unsere nicht vorhandenen Manieren und sittsame Schweigsamkeit, als ihr Bruder ihr die Leviten gelesen hat. Sie hat ihn dort gesucht und nicht gemerkt, dass sie sich von Orten wie dem Gemstone besser fernhält." Josh schüttelte mitleidig den Kopf, bevor er nach seiner Kaffeetasse griff und sie in einem Zug leerte.

Gleich darauf hörte man Türenklappen und eine ziemlich große und eine ziemlich kleine Silhouette erschienen im Türrahmen zum Flur.

"Guten Morgen allerseits!", begrüßte Finney sie strahlend, während Luke zwei geflochtene Weidenkörbe neben dem Kamin abstellte.

"Guten Morgen, wie kommen wir denn zu der Ehre?" Charles Sullivan war überrascht über den frühen Besuch und erhob sich, um seiner Schwiegertochter einen Kuss auf die Wange zu geben.

Luke schnitt hinter dem Rücken der beiden eine Grimasse. "Meine holde Gattin ist der Meinung, dass wir uns nach so langer Abstinenz mal wieder in der Kirche blicken lassen müssten.“

Dafür erntete er einen halb ärgerlichen, halb amüsierten Blick von seiner Frau, die sich über die Weidenkörbchen beugte. "Wir waren seit der Geburt der Zwillinge nicht mehr dort und du hast dich lange genug um deine Christenpflichten gedrückt." Sie blinzelte ihrem Mann zu. „Oder ist es dir lieber, wenn John Brinkley weiter Hausbesuche bei uns macht?“

Luke stöhnte nur theatralisch auf. Finney hatte inzwischen zwei Wollmützen auf dem Kaminsims abgelegt und schaute zu ihrem Schwiegervater auf. "Ich dachte, dass Prudle auf die beiden aufpassen könnte, wenn wir mit euch zur Kirche kommen", sagte sie, während aus einem der Weidenkörbchen ein leises Glucksen drang.

Josh war nicht entgangen, dass es seinen Vater einige Mühe gekostet hatte, in die Hocke zu gehen, um einen Blick auf seine Enkelsöhne werfen zu können.

"Ich werde sie am besten gleich mal fragen gehen", beschloss Finney in ihrer resoluten Art. Sie lächelte Josh warm zu und fuhr Charlie im Vorbeigehen durch die Haare, bevor sie in die Küche verschwand.

Jetzt zog es auch Josh zu seinen kleinen Neffen. Luke hatte Rory aus seinem Körbchen gehoben und ihn aus mehreren Lagen Decken geschält. Der Kleine grinste seinen Vater erleichtert an, als er sich wieder frei bewegen konnte. Begeistert begann er, mit den Armen zu rudern.

"Gib ihn mir", verlangte Charles Sullivan mit unüberhörbarem Stolz. Gleich darauf schlang Rory seine Ärmchen um den Hals seines Großvaters, während Luke sich daran machte auch seinen anderen Sohn aus den Decken zu befreien.

"Wundert mich, dass Finney ihre beiden Goldschätze freiwillig aus den Augen lässt", sagte Josh amüsiert, während er die beiden pummeligen Jungen musterte. Luke hatte Richard auf dem Boden abgesetzt, wo er sich sofort seiner neuesten Lieblingsbeschäftigung widmete. Er begann auf dem Bauch herumzurobben, doch sein Vater verstellte ihm in weiser Voraussicht den Weg zum Kamin.

"Wahrscheinlich wird sie nach der Hälfte des Gottesdienstes unruhig und will wieder zurück", erwiderte Luke grinsend über die Verliebtheit seiner Frau in ihre Kinder. Allerdings entging ihm Joshs spöttischer Blick, da er vollauf damit beschäftigt war zu beobachten, wie Rory jetzt neben seinem Bruder abgesetzt wurde. Josh war klar, dass Luke nicht weniger vernarrt in seine Söhne war als seine Frau, auch wenn er sich diesen Umstand nicht so gerne anmerken ließ. Gleich darauf erschien Finney mit Prudle im Türrahmen.

"Morgen Mr. Luke", grüßte die inzwischen völlig ergraute Haushälterin. "Na, ham Se sich endlich entschließen können, die beeden mal ausse Augen zu lassen?", fragte sie mit einem Zwinkern und beugte sich zu den Zwillingen hinunter. "Groß sind se widder jewurden." Nachdem Prudle auf die Uhr geschaut hatte, machte sie eine scheuchende Handbewegung. "Nu los, wenn Se alle in de Kirche wollen. Ich pass uff die Kleenen schon uff."

Gleich darauf liefen alle durcheinander, um Jacken und Hüte zusammenzusuchen und sich von den Zwillingen zu verabschieden.

War denn da überhaupt noch jemand bei Verstand?

„Du hast wirklich vor, mich vor diesem Bauerntölpel bloßzustellen?“ Robs Stimme zitterte vor Wut und mit einem unzufriedenen Blick wandte sich Marianne vom Spiegel ab. Dass das braune Taftkleid sie noch unscheinbarer als sonst aussehen ließ, konnte sie nicht ändern. Wohl aber, dass Rob sich völlig versündigte!

Bei ihrer Rückkehr ins Hotel hatte er den Schwestern lachend das Bündel Banknoten gezeigt. Sie wären sowieso knapp bei Kasse. Marianne hatte ihm geistesgegenwärtig das Geld abgenommen. Jeder von ihnen hatte seine kleinen Laster, aber Stehlen hatten sie nun nicht nötig!

Mit Genugtuung dachte sie an Robs überraschten Blick, als sie das Bündel im Ausschnitt ihres Kleides verstaut hatte, um es vor seinen flinken Fingern zu schützen.

„Ich habe nicht vor, dich bloßzustellen, aber ich werde ihm das Geld zurückgeben. Wir werden ihn sicher im Gottesdienst treffen“, verkündete Marianne entschlossen.

Ihr Bruder funkelte sie wütend an. „Ganz allein? Ohne meinen Schutz? Wo bleibt deine Moral?“

Rob kannte ihre Schwachstelle, ihren Sinn für Ehre und Anstand, aber Marianne hatte nicht vor, sich manipulieren zu lassen. „Dank dir war ich bereits gezwungen, mich mit einem fremden Mann auf der Straße sehen zu lassen. Es wird meinem Ruf nicht abträglich sein, wenn ich in der Kirche für mein sündhaftes Verhalten um Vergebung bitte.“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus.

Während Rob sie mit offenem Mund anstarrte, brach ihre Schwester in Lachen aus. Ohne einen weiteren Blick an ihren Bruder zu verschwenden, zog Marianne Amelia aus dem Zimmer. Die plapperte den ganzen Weg über davon, wie gespannt sie auf den verwegenen Josh Henny war.

Marianne biss sich auf die Lippen. Es brachte sie auch heute noch zur Weißglut, wie er sich über sie lustig gemacht und dann gescholten hatte, als wäre sie ein dummes, kleines Mädchen.

„Es gibt überhaupt keinen Grund, auf solch einen Mann gespannt zu sein“, wies sie Amelia zurecht.

„Aber allein diese Narbe, von der du erzählt hast! Er muss schon viele Abenteuer erlebt haben!“

Spätestens jetzt bereute Marianne es, dass sie in ihrer Aufregung so viele Einzelheiten preisgegeben hatte. „Solch eine Verletzung zeugt allenfalls davon, wie leicht dieser Mann sich körperlicher Gewalt bedient. Das spricht nicht gerade für ihn. Gestern Abend mag es unumgänglich gewesen sein, aber er ist offensichtlich geübt in solchen Auseinandersetzung.“

Amelia verdrehte die Augen. „Du bist hier noch schlimmer als in England mit deinen Moralvorträgen.“

Marianne zog es vor zu schweigen. Ihre Geschwister nahmen sowieso keine ihre Warnungen ernst und machten sich allenfalls über sie lustig. Vielleicht übertrieb sie in letzter Zeit ein wenig, aber hier in Amerika war alles so anders. Ihre Manieren schienen das Einzige zu sein, was sie noch im Griff hatte.

Kurz darauf ließ Marianne ihren Blick über die Gemeinde von Green Hollow schweifen, die sich in der Holzkirche versammelt hatte. Sie konnte feststellen, dass sie sich zu viele Sorgen um ihre Garderobe gemacht hatte. Die anwesenden Frauen trugen zwar saubere, aber noch einfachere Kleider als sie.

Eine Ausnahme bildete eine äußerst hübsche, blonde Frau in der Bankreihe gegenüber. Sie trug ein modisches schwarz-graues Stadtkleid. Neben ihr saß ein wirklich entzückendes kleines Mädchen, das Marianne ungeniert zuwinkte.

Als der dürre, rothaarige Pfarrer die Predigt begann, bemühte Marianne sich seinen Worten zu folgen, aber schon bald schwirrte ihr der Kopf.

"Vor Kurzen feierten wir noch Weihnachten und bald freuen wir uns wieder auf das Osterfest. So stehen wir hier und jetzt zwischen Leben und Tod und Tod und Leben."

Marianne drängte sich der Gedanke auf, dass der Herr Pfarrer wie Harry Fernhams verstimmte Trompete klang.

"Selbst das Weihnachtsfest ist gleichbedeutend mit dem Tod. Mit Jesus Einkehr in diese Welt starb seine Göttlichkeit. Und zu Ostern stirbt er selbst, nur um ewig zu leben. So ist Geburt doch irgendwie Tod und der Tod eigentlich mit dem Leben gleichzusetzen.“

Marianne verdrehte die Augen über so viel Leben und Sterben in einer Stunde.

"… der Verurteilung durch Pontius Pilatus starb für viele die letzte Hoffnung. Doch das Volk hatte eben diesen Tod selbst herbeigeführt. Nur das Leben konnten sie selbst nicht herbeiführen. Also … Jesus Christus Leben konnten sie nicht herbeiführen. Mann und Frau sind natürlich in der Lage Leben herbeizuführen. So es unserem Schöpfer gefällt. Und manchmal gefällt es ihm sehr oft." Sein Blick streifte die blonde Frau und deren Mann, bevor er sich besann, dass dies nicht Thema der Predigt war.

Was für eine Welt war dieses Amerika, wenn sogar die Geistlichen in der Kirche über Zeugung und Empfängnis redeten? Doch die letzte lautstarke Kundgebung des Pfarrers lenkte Mariannes Gedanken wieder in eine andere Richtung.

"Das Volk verurteilte seine eigene Hoffnung zum Tode und so frage ich Sie: War denn da überhaupt noch jemand bei Verstand?"

"Das frage ich mich regelmäßig, wenn ich hier sitze", erklang es leise hinter Marianne.

Sie war so verwirrt über diese Respektlosigkeit, dass sie sich umdrehte. In der Bank hinter ihr stieß eine zierliche Frau ihrem Mann einen Ellenbogen in die Rippen.

"Das kannst du dich fragen, wenn wir draußen sind", zischte sie, aber ihre grünen Augen funkelten vor unterdrücktem Gelächter.

Einen Moment später drehte sich Marianne hastig zurück. Der Mann erinnerte sie erschreckend an Robs Helfer. Es schien tatsächlich mehr als einen von dieser Sorte in Green Hollow zu geben!

Nach dem Gottesdienst versuchte Marianne diesen Mr. Henny unter den Besuchern auszumachen. Doch er hatte die Kirche anscheinend schon verlassen. Hoffentlich würde sie ihn draußen erwischen!

Endlich waren sie an der Reihe, sich von dem rothaarigen Pfarrer zu verabschieden, doch so einfach kamen sie nicht davon.

„Wie ich sehe, hatte ich heute unerwarteten Besuch. Wäre mir das bewusst gewesen, hätte ich Sie natürlich persönlich begrüßt, meine Damen. Mein Name ist John Brinkley und ich bin der Pfarrer dieser Gemeinde.“ Während seiner Rede hatte der Blick des Geistlichen auf Amelia geruht. Die war jedoch so in den Anblick der Cowboys draußen versunken, dass sie die Worte des Pfarrers nicht hörte.

Marianne nickte nur, doch der Reverend ließ sich anscheinend nicht so einfach abschrecken. „Dürfte ich fragen, mit wem ich das Vergnügen habe? Hat es einen Zuzug gegeben, der mir nicht bekannt ist?“

Da Marianne entschlossen war ihren Plan umzusetzen, wollte sie nicht noch mehr Zeit vergeuden. „Haben Sie vielen Dank, wir sind auf der Durchreise. Ich bin Marianne Morton und dies ist meine Schwester Amelia. Wir kommen aus England und sind auf dem Weg nach San Francisco.“

John Brinkleys Blick wandte sich widerwillig ihr zu. „Es enttäuscht mich zu hören, dass wir zwei so vorbildliche Damen wieder ziehen lassen müssen.“

Unversehens schaltete sich eine grauhaarige Dame mit strengem Blick ein, die eben an den Pfarrer herangetreten war. „Aus England? Nicht möglich! Haben Sie je die Königin kennengelernt?“

Marianne war verblüfft über diese Frage. „N-nein, leider nicht. Mein Onkel ist lediglich ein Baronet.“

„Ein Baronet! Von Adel …“, hauchte die Dame ehrfürchtig, während die Augen des Pfarrers immer größer wurden. „Welche Ehre für unsere bescheidene Kirche, nicht wahr Mrs. Straight?“

Doch trotz der Begeisterung des Pfarrers und der seltsamen Mrs. Straight kam Marianne nicht umhin, immer wieder einen Blick aus der Tür zu werfen. Auf der anderen Seite des Vorplatzes hatte sie zwei schwarzhaarige Männer erspäht. Sie war sich sicher, dass einer von ihnen Mr. Henny war.

„Ich hatte gehofft, hier einen Mann zu finden“, antwortete sie abwesend, während sie beobachtete, wie Mr. Henny sich einen Pistolengürtel um die Hüften schnallte. Erst mit einiger Verzögerung ging ihr auf, wie ihre Bemerkung geklungen haben musste. Doch der Reverend lächelte zustimmend. Anscheinend hielt er seine Kirche für den richtigen Ort, um einen Mann zu suchen. Die alte Dame schien in ihrer Begeisterung darüber, dass sie der Verwandten eines Baronets gegenüberstand, nicht einmal gehört zu haben, was Marianne gesagt hatte.

„Verzeihen Sie“, fuhr sie lauter als nötig auf. „Wenn Sie uns entschuldigen wollen, ich muss dringend mit Mr. Henny reden.“ Damit zog Marianne Amelia hinaus.

Der entsetzte Blick des Geistlichen entging ihr trotzdem nicht. Anscheinend war Mr. Henny kein Mann, mit dem man Umgang pflegen sollte. Dennoch, sie musste ihm sein Geld zurückgeben.

Wundervoll, Sie sind mein Held!

Während Marianne mit Amelia durch die kalte Winterluft schritt, verließ sie fast der Mut. Sie hatte noch nie einen Mann angesprochen. Sie kam sich unfassbar aufdringlich vor, als sie sich hinter Josh Henny räusperte. "Entschuldigen Sie, Mr. … Mr. Henny? Dürfte ich …"

Der Angesprochene drehte sich um und schaute sie verwundert an. Seine Begleiter und die zwei Damen aus der Kirche allerdings ebenfalls. Als der jüngste Mann der Gruppe in lautes Prusten ausbrach, wäre Marianne am liebsten im Boden versunken.

"Hast du uns irgendwas zu beichten, Josh? Vielleicht … eine kleine Eheschließung?"

"Halt den Mund, wenn Erwachsene reden", forderte Mr. Henny nicht unfreundlich, aber bestimmt.

Nach der Rüge ihres Helfers fand Marianne immerhin ihre Stimme wieder. "Verzeihen Sie mir meine Aufdringlichkeit, Mr. Henny, aber wie es scheint …"

Der amüsierte Blick ihres Gegenübers machte sie nervös. Das und die Erinnerung an das Bild, das er so ganz ohne Hemd abgegeben hatte.

"Gestern Abend … Wie es scheint, haben Sie Ihr Geld verloren. Mein Bruder sammelte es auf, vergaß in dem Durcheinander allerdings, es Ihnen zurückzugeben. Deswegen erlaubte ich mir Sie anzusprechen, auch ohne Ihnen formell vorgestellt wurden zu sein." Marianne atmete tief durch, nachdem sie den schlimmsten Teil hinter sich gebracht hatte.

Während ihre Zuschauer sie mit einer Mischung aus Amüsement und Entgeisterung betrachteten, schob Josh Henny mit einem schiefen Grinsen seinen Hut in den Nacken. "Dem können wir ja Abhilfe schaffen. Mit wem habe ich denn das Vergnügen?"

"Marianne Morton." Doch im nächsten Moment sah sie sich mit der ausgestreckten Hand von Mr. Henny konfrontiert. In England hätte ein Mann so etwas nie gewagt. Man hatte zu warten, bis diese Geste von der Frau ausging, um sie nicht zu belästigen!

"Freut mich, Miss Morton. Mein Name ist Josh Sullivan. Nur so am Rande …", entgegnete er mit einem Zwinkern. Doch bevor Marianne sich entscheiden konnte, ob sie auf diese rustikalen Manieren eingehen sollte, schaltete Amelia sich ein. Ihre jüngere Schwester griff beherzt nach der Hand von Josh … Sullivan???!!!

Entsetzt riss Marianne den Kopf nach oben. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich blamiert, aber noch mehr schockierte sie die Tatsache, dass dieser Josh sich dermaßen entblößt in Gegenwart von Mrs. Henny aufgehalten hatte, wenn er gar nicht mit ihr verheiratet war. Er war ein Wüstling, der sich in den Betten fremder Frauen tummelte! Dieser Mann ließ anscheinend keine Sünde aus.

"Amelia Morton, wenn ich so frei sein darf", warf ihre Schwester mit einem koketten Lächeln ein. "Nehmen Sie es meiner Schwester nicht übel, aber sie ist sehr steif. Wahrscheinlich hat sie Angst, sich mit ‚gutem Aussehen‘ anzustecken."

Marianne war so mit ihrer Erkenntnis beschäftigt, dass ihr Amelias Beleidigung glatt entging.

"Es freut mich, auch Sie kennenzulernen, Miss Amelia."

Zu Mariannes Beruhigung hatte Mr. Sullivan heute nicht seinen aufdringlichen Tag. Er ignorierte diese unmögliche Bemerkung und ließ die Hand ihrer kleinen Schwester so schnell wieder los, dass diese einen Flunsch zog.

Hastig griff Marianne nach Amelias Retikül und begann darin zu kramen. Schließlich hielt sie Josh Sullivan das Bündel Banknoten entgegen.

"Wie ich schon sagte, Mr. … Sullivan, mein Bruder … Es ging alles so schnell gestern …“ Im nächsten Moment spürte sie ein Kribbeln, als Mr. Sullivan das Geld nahm und ihre Hände sich streiften.

"Vielen Dank für Ihre Mühe, Miss Morton. Ich hoffe, Sie haben sich von der Aufregung erholt.“

„Danke, ja.“ Marianne hatte das Gefühl, dass dieser Schürzenjäger sich immer noch über sie amüsierte. Sie wollte sich verabschieden, doch Amelia hatte nicht vor, schon die Segel zu streichen.

"Mr. Sullivan?“ Amelias Stimme hatte einen schmeichelnden Unterton. "Meine Schwester berichtete mir von Ihrer Heldentat und ich frage mich, ob wir Ihre Hilfe noch einmal in Anspruch nehmen dürfen?"

Mr. Sullivan neigte kurz den Kopf. "Natürlich."

"Wundervoll, Sie sind mein Held. Für heute."

Marianne glaubte ihren Ohren nicht zu trauen, bei Amelias unverhohlenem Flirtversuch. Aus den Augenwinkeln nahm sie den spöttischen Blick der kleinen, rothaarigen Frau wahr, während die blonde Dame mit einem amüsierten Lächeln den Kopf schüttelte. Und jetzt erst fiel Marianne auf, dass besagte Dame einen recht beachtlichen Bauch vor sich hertrug, der nur zu gut von ihrer eigentlichen Indisposition zeugte.

"Ihr Name ist Sullivan", fuhr Amelia ärgerlich fort. Ihr frisch ernannter Held machte so gar keine Anstalten, auf das Kompliment einzugehen, außer sich ein Lachen zu verbeißen. "Ich frage mich, ob Sie mit einem Charles Sullivan verwandt sind. Sie müssen wissen, dass meine Geschwister und ich einen Umweg auf uns genommen haben, um ihn zu sehen. Mein zukünftiger Schwiegervater kannte ihn und ich wollte es nicht versäumen, ihm die Aufwartung zu machen.“