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Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Diese Erfahrung müssen auch die Einwohner von Green Hollow machen, als sie auf der Suche nach einem neuen Lehrer für ihre kleine Dorfschule sind. Green Hollow braucht im Sommer 1871 nichts dringender als eine neue Lehrkraft für den hoffnungsvollen Nachwuchs der kleinen Stadt. Da kommt die Bewerbung von Charles van Halen gerade recht. Dem jungen Mann wird es sicher gelingen Ordnung in das Schulhaus zu bringen. Als Charly van Halen Einzug in Green Hollow hält, erfahren allerdings nicht nur der Bürgermeister und die Schüler am eigenen Leib, dass die neue Lehrkraft immer für eine Überraschung gut ist. Ausgerechnet der zurückgezogene Bill Sullivan sieht sich mehr als einmal gezwungen der unkonventionellen Person beizustehen.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Inhaltsverzeichnis
Übersicht
Prolog
Wenn Mr. Van Halen erst mal hier ist…
Können Sie nicht lesen?
Damit haben wir Blacky im Handumdrehen vom Dach geholt!
Ich stelle andauernd solche Sachen an…
Oh ja, das ist sie!
Wenn Sie doch keine Verwendung mehr dafür haben…
Was haltet ihr davon, wenn wir hinausgehen und verstecken spielen?
Die kriegt doch alleine nichts hin…
Sind Sie sich da ganz sicher?
Glauben Sie, dass alle Männer so treulos sind?
Meine Frau ist vor fünf Jahren gestorben.
Wie war Josephine denn?
Deine Haare!
…wie ein männlicher Lehrer!
…ich freu mich schon auf Dad's Gesicht…
Sie machen einfach nur zu viel Aufhebens…
Es gibt nicht nur scharfe Gegenstände, sondern auch scharfe Mädchen.
Was soll das Theater?
Ich wollte doch nur etwas Holz nachlegen…
…es wird nicht wieder vorkommen…
Was bedeutet es, wenn ein Mann dich küsst?
Ein Eckchen. Nur wir sind bescheiden!
Lass uns offen miteinander sein, Bill.
Aber Ihre Arbeit ist doch sicherlich auch nicht einfach.
Nur ein Kratzer.
Bitte nicht, Charly.
…falls er herkommt.
Wieso noch mehr Zeit verlieren?
Solange ich weiß, woran ich bin…
Deine Chaoten-Charlotte!
Hat es Verletzte gegeben?
Sie könnten ihn einfach…
Ich kann es jetzt ein wenig verstehen.
Erinnerst du dich noch an diese Stelle?
Leseprobe Green Hollow III
Danksagung
Außerdem erhältlich:
Green Hollow II – Die neue Schulmeisterin
von
Anna Staub
Alle Namen, Personen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Copyright© 2013 by Anna Staub
Bildmaterialien © by Anna Staub
Impressum
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10961 Berlin
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Tel.: 030 / 61671496
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Green Hollow: Fiktive Klein-Stadt im Colorado-Territorium um 1870
Gemstone: Örtlicher Saloon und gleichzeitig Bordell
Charles Sullivan Sr.: Familienoberhaupt der Sullivans, Besitzer der Black Creek Ranch, Vater von:
Lukas „Luke“ Sullivan: Ältester Sullivan-Bruder und verheiratet mit:
Steffiney „Finney“ Sullivan: Frau von Luke, ehemalige Krankenschwester von Doc Dave
Joshua „Josh“ Sullivan: Zweitältester Sullivan-Bruder
William „Bill“ Sullivan: Dritter Sohn von Charles Sr., war verheiratet mit Josephine
Charles „Charlie“ Sullivan Jr.: Jüngster Sullivan-Bruder
Dr. David „Doc Dave“ McAbberty: Arzt von Green Hollow
Trudi McAbberty: Doc Daves Frau
Reverend John Brinkley: Pfarrer von Green Hollow
Bess Aldridge: Einwohnerin von Green Hollow und Kirchenvorsteherin
Jim Aldridge: Bess' Mann
Mr. Malbeth: Bürgermeister von Green Hollow
Liz und Harry Plockton: Besitzer von Plockton's Warehouse
Harriet Plockton: deren 9-jährige Tochter
Eugenia Straight: Ältere Witwe, Hypochonderin und Einwohnerin von Green Hollow
Miss Henny: Oberstes Freudenmädchen im Gemstone
Verstorbene Personen:
Prudence Sullivan: Frau von Charles Sullivan Sr.
Josephine Sullivan: Frau von Bill Sullivan
Jim Reed: Silberminenbesitzer von Green Hollow, Lukes bester Freund
Anzeige im Virginian Chronicle vom 18. Mai 1871
Green Hollow/Colorado-Territorium: Lehrer gesucht!
Die Stadt Green Hollow sucht zum 15. August des Jahres 1871 einen vollständig ausgebildeten Lehrer, der zugleich als Sonntagsschullehrer zu fungieren hat. Das Einkommen beläuft sich bei guten Qualifikationen auf 300 Dollar pro Jahr, eine Unterkunft wird unentgeltlich bereitgestellt. Bewerber senden ihre Interessensbekundungen an Bürgermeister Malbeth, Main Street, Green Hollow/Colorado.
„Davy Slane! Wenn Mr. Van Halen erst mal hier ist, dann wird er dir deine Streiche schon austreiben! Mach sofort deine Schwester los!“
Bess Aldridge wusste sich so langsam keinen anderen Rat mehr, als dem renitenten Neunjährigen zu drohen. Davy hatte ganze Arbeit geleistet, indem er die langen, blonden Zöpfe seiner kleinen Schwester mit Stecknadeln an der Rückenlehne ihres Stuhls befestigt hatte. Mit dem Ergebnis, dass die Versuche der kleinen Elizabeth sich zu erheben ins Leere liefen. Immer wieder fiel sie auf ihren Stuhl zurück, was sie schließlich in ein mehr wut- als schmerzerfülltes Heulen ausbrechen ließ.
Normalerweise konnte Mrs. Aldridge den hoffnungsvollen Nachwuchs von Green Hollow während der Sonntagsschulstunden, die sie vertretungsweise übernahm, ganz gut zur Räson bringen. Doch nach acht Wochen als Aushilfslehrerin waren selbst ihre Nerven zum Zerreißen gespannt.
„Wer is denn Mr. Van Halen?“, fragte Davy grinsend ohne die geringsten Anstalten zu machen, seine Schwester aus ihrer misslichen Lage zu befreien.
„Mr. Van Halen ist der neue Schulmeister, der nächste Woche hier ankommt und er wird sicher Mittel und Wege haben, sogar dir Benehmen beizubringen!“ Und damit versuchte die geplagte Aushilfslehrerin sich selbst daran, die Stecknadeln aus dem Stuhl zu ziehen. Was sie einige Mühe kostete. Davy hatte die zweckentfremdeten Nähutensilien mit aller Kraft in das Holz getrieben, um seine Schwester dingfest zu machen.
Gleich darauf begann glücklicherweise die Kirchenglocke zu läuten. Das Zeichen dafür, dass der Gottesdienst und auch die Sonntagsschulstunde beendet waren. Mit einem überaus erleichterten Gesichtsausdruck scheuchte Bess ihre Schützlinge aus dem Schulhaus.
Mrs. Aldridges hoffnungsvolle Vermutungen über die Durchsetzungsfähigkeit des neuen Schulmeisters sollten natürlich im Eilverfahren die Runde durch Green Hollow machen. Nur natürlich nicht als hoffnungsvolle Vermutungen, sondern als in Stein gemeißelte Wahrheiten.
„…und er soll furchtbar streng sein! Hat Mrs. Aldridge letzten Sonntag selbst gesagt“, wurde Finney Sullivan zwei Tage später durch Harriet Plockton kundgetan. Die Neunjährige thronte weit über dem Boden auf einem Stapel Mehlsäcke im elterlichen Laden, während ihre Mutter einen karierten Stoff in ein Stück Packpapier einschlug.
Miss Finney, wie Mrs. Lukas Sullivan immer noch genannt wurde (ungeachtet der Tatsache, dass sie verheiratet und damit längst keine Miss mehr war), zwinkerte Liz Plockton zu. „Ich frage mich nur, woher Mrs. Aldridge das wissen will. Hat sie Mr. Van Halen schon kennengelernt? Vielleicht ist euer neuer Lehrer am Ende doch ganz nett. Man sollte sich nie auf Vorurteile verlassen. Vor allem nicht auf die Vorurteile von anderen Leuten. Bilde dir lieber deine eigene Meinung, wenn Mr. Van Halen da ist.“
„Pffff!“, machte die kleine Besserwisserin. „Miss Frocker war ein alter Drachen und bestimmt hat der Bürgermeister wieder so jemanden ausgesucht, der uns Ordnung beibringen soll.“
Doch ihre Mutter ließ sie gar nicht weiter reden. „Kind! So etwas sagt man nicht! Miss Frocker hat sich sehr viel Mühe gegeben, euch etwas beizubringen!“, fiel Liz ihrer kleinen Tochter scharf ins Wort, während sie Finney das verschnürte Paket über den Tresen reichte.
„Ja, sie hat sich Mühe gegeben, aber geschafft hat sie es nicht“, antwortete Harriet ungerührt vom Tadel ihrer Mutter.
Mrs. Sullivan musste sich auf die Lippen beißen, um nicht in lautes Lachen auszubrechen.
„Auf dein Zimmer, junge Dame! Sofort!“, rief Mrs. Plockton reichlich ungehalten auf diese freche Antwort hin. Die kleine Unruhestifterin kletterte auch ganz folgsam von ihrem Thron herunter und verschwand durch die Tür, die das Haus der Plocktons mit dem Laden verband. Allerdings nicht, ohne hören zu lassen: „Was denn? Hat Pa doch selbst gesagt!“
Luke Sullivan hatte Plockton's Warehouse gerade rechtzeitig betreten, um den letzten Teil des kleinen Disputs mitzubekommen und gesellte sich jetzt zu Liz und seiner Frau.
„Na, was hat Pa denn genau gesagt?“, fragte er grinsend, während er den Arm um Finneys Taille legte und sie an sich zog. Mrs. Sullivan, die ein gutes Stück kleiner war als ihr baumlanger Mann, lächelte vergnügt und legte ihm eine Hand auf die Brust. „Harry war anscheinend so unvorsichtig in Gegenwart seiner neunmalklugen Tochter Zweifel an Miss Frockers Fähigkeiten als Lehrerin aufkommen zu lassen.“
Liz Plockton rollte mit den Augen, als Luke anfing zu lachen. „Naja, dann hoffen wir mal, dass Mr. Van Halen in dieser Beziehung mehr Können beweist als seine Vorgängerin. Vielleicht ist er ja sogar in der Lage, Harriet beizubringen, wann man besser den Mund hält, um keinen Stubenarrest zu riskieren.“
Der neue Schulmeister von Green Hollow war schon vor seinem Eintreffen ein Objekt von derartigem Interesse, dass seine Fähigkeiten sogar in weniger ehrbaren Etablissements als Plockton's Warehouse diskutiert wurden. Noch am selben Abend war er das Gesprächsthema Nummer Eins im örtlichen Saloon und Freudenhaus.
„Alles was die Kinder brauchen, ist eine feste Hand. Und die wird der Van Halen ja hoffentlich haben. Die alte Frocker hat trotz ihres Gebrülls da nie Ruhe reingebracht. Frauenzimmer halt“, stellte Harry Plockton fest, der sich auf den Tresen stützte und seinen Whisky im Glas kreisen ließ.
„Ich frage mich wirklich, was für eine Art Mann Mr. Van Halen ist. Er weiß doch, dass es zu seinen Pflichten gehört, den Sonntagsschulunterricht zu übernehmen?“, mischte sich jetzt auch Reverend Brinkley ins Gespräch ein, der sich an einem Glas Milch festhielt und fragend zum Bürgermeister hinüber sah.
„Weischer, weischer“, nuschelte der daraufhin zustimmend und nickte die nächsten fünf Minuten inbrünstig. „Ischn jungscher Kerl, frisch vonne Schule. Oder Kolletsch, wie se dasch nenn.“
Miss Henny, die noch eine Runde nachschenkte, zog bedauernd die Augenbrauen in die Höhe, als sie die Runde betrachtete, die sich heute Abend im Gemstone versammelt hatte. Harry Plockton war ja ganz annehmbar, aber der hielt es wie Luke Sullivan, seitdem dieser verheiratet war. Im Saloon genehmigte man sich allenfalls einen Drink. Andere Bedürfnisse wurden im wahrsten Sinne des Wortes nur daheim befriedigt. Und weder der alte Malbeth noch John Brinkley waren besonders bemerkenswerte Liebhaber.
„Na das höre ich gern. Junge Männer sind uns hier immer willkommen. Gibt es denn auch eine Mrs. Van Halen?“, schaltete sich das oberste Freudenmädchen des Gemstone schließlich mit einem anzüglichen Lächeln ein und lehnte sich auf den Tresen, um den Männern so einen Einblick in ihr beachtliches Dekolleté zu gewähren.
„Gibtisch, gibtisch. Wir ham den beiden dasch kleine Häuschen nebn Friedhof zur Verfüschung geschtellt“, nickte Bürgermeister Malbeth freudig in Richtung von Miss Hennys Busen.
Diese Antwort gefiel der Dame allerdings gar nicht und zur Strafe richtete sie sich mit einem unzufriedenen Blick wieder auf.
„Aber Kinder hatter anscheind nisch“, versuchte der Bürgermeister seinen Fauxpas wieder gut zu machen, doch Miss Hennys gute Laune war ihr nachhaltig verdorben. Wenn Mr. Van Halen sein Ehegelübde genauso ernst nahm wie beispielsweise Harry Plockton oder Luke Sullivan, dann sah sie dunkle Zeiten auf das Gemstone zukommen.
Charlotte Van Halen war das, was man im Allgemeinen eine Schönheit nannte. Sie war groß und schlank, aber mit den entsprechenden Rundungen an den richtigen Stellen. Aus ihrem Gesicht leuchteten strahlend blaue Augen über einer kleinen, geraden Nase und auch am Rest ihrer Züge, wie den perfekt geschwungenen Lippen und den hohen Wangenknochen, war nichts zu mäkeln. Eingerahmt wurde das ebenmäßige Oval ihres Gesichts von goldblonden Locken.
Die junge Dame zog normalerweise die Mehrzahl der Blicke auf sich, egal wohin sie ging. Trotz der Tatsache, dass ihr zur wahren Vollkommenheit ein vornehm-blasser Teint fehlte. Doch daran würde sich in Green Hollow sicherlich niemand stören. Schon eher an der Tatsache, dass die junge Dame nicht wie erwartet die Ehefrau des neuen Schulmeisters war.
Dass Miss Charlotte eben noch nicht verheiratet war, konnte laut ihrer Mutter nur an dem bereits erwähnten Makel des goldenen Hauttons liegen.
Charlotte hatte eine ganz andere Theorie, warum bis jetzt noch kein Mann um ihre Hand angehalten hatte. An Verehrern mangelte es ihr nicht, aber sobald diese die junge Frau näher kennengelernt hatten, ergriffen sie samt und sonders die Flucht. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Aber bisher hatte Miss Van Halen diesen Umstand immer mit einem Schulterzucken abgetan. Sie war glücklicherweise nicht auf einen Mann angewiesen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Ihr verstorbener Vater hatte genug beiseitegelegt, um Charlotte einen Collegeabschluss zu ermöglichen. Sie war also weder dumm noch hässlich und betrachtete sich schon deswegen als gesegnet. Ein Mann, und noch dazu einen, den sie lieben würde, das wäre mehr als man verlangen konnte!
Und nun, da man ihr auch eine feste Stelle als Lehrerin angeboten und sie ein sicheres Auskommen hatte, blieb nichts mehr zu wünschen übrig. Als sie die Anzeige in der Zeitung entdeckt hatte, wusste sie zwar nicht, wo Green Hollow, Colorado lag, aber eine alte Landkarte ihres Vaters hatte dieser Bildungslücke Abhilfe geschaffen.
Ihre Mutter war ziemlich entsetzt gewesen, als Charlotte ihr eröffnete, dass sie gedachte, fast 1.500 Meilen entfernt von ihrer Heimat eine Arbeit anzunehmen. Die frischgebackene Lehrerin sah darin allerdings kein Problem, nachdem sie einige Erkundigungen eingeholt und diverse Landkarten studiert hatte. Den Verwandten und Freunden konnte man Briefe schreiben und die Reise würde auch nicht allzu schwierig werden. Man könnte ganz bequem mit dem Zug in Richtung Westen reisen. Bis zu einem Ort namens Denver käme man mit der neuen Eisenbahn und von dort aus wäre es lediglich eine Tagesreise mit der Postkutsche bis nach Green Hollow.
Mrs. Alberta Van Halen hatte ihr Bestes gegeben, um ihrer Tochter diese Schnapsidee auszureden. Eine junge Frau in den wilden West-Territorien als Lehrerin erschien ihr nicht als besonders vernünftig und es wunderte sie, dass der Bürgermeister sich auf so etwas einließ. Aber Charlotte war in ihrer gutmütigen, zuversichtlichen Art überzeugt, dass das alles nicht so schlimm werden konnte. Und da Mrs. Van Halen ihr einziges Kind unmöglich allein auf diese gefahrvolle Reise gehen lassen konnte, hatte sie deren Wunsch schließlich nachgegeben.
Charlotte war so begeistert von dem Gedanken, ein eigenes Auskommen zu haben, dass ihr die Schwierigkeiten im Vergleich zu diesem Vorzug verschwindend gering erschienen. Erst recht, nachdem mehrere Schulen in Virginia sie abgelehnt hatten. Ihre Zeugnisse hatten die Prüfungskommission sehr beeindruckt. Ihr Auftreten dann leider nicht mehr so sehr.
Einer ihrer Onkel hatte sogar nicht ganz unberechtigte Zweifel daran geäußert, dass sie in der Lage dazu wäre, ihre Mutter und sich selbst zu versorgen. Doch Miss Van Halen war wild entschlossen allein zurechtzukommen.
Und sie war sich sicher, dass sie auf die Hilfe ihrer neuen Nachbarn in Green Hollow zählen konnte. Bürgermeister Malbeths Briefe waren recht nett gewesen. Er hatte mehrmals beteuert, wie sehr sich die Gemeinde auf ihr Kommen freuen würde.
Mit einem fröhlichen Lächeln lehnte sich Charlotte in den Sitz der Postkutsche zurück. Sie hatte ihre Mutter heute in Denver zurückgelassen, die dort überprüfen wollte, dass ihre Habseligkeiten auch wirklich ihren Weg nach Green Hollow fanden. Mrs. Alberta wachte mit Adleraugen darüber, dass alles ordnungsgemäß auf die angemieteten Kutschen verladen wurde. Zwar musste ein Großteil des Erbes dafür aufgewendet werden, aber nachdem Mrs. Alberta sich einmal entschlossen hatte, ihre Tochter in den Westen zu begleiten, scheute sie keine Kosten oder Mühen. Einen offenen Lastenkarren und eine geschlossene Kutsche hatte man für den Transport von Mrs. Van Halen und dem Hausrat angemietet. Während Charlotte mit der Postkutsche voraus fuhr, würde ihre Mutter mit den langsameren Wagen folgen.
Es würde nicht mehr lange dauern, bis Miss Van Halen Green Hollow erreichte. Mr. Malbeth hatte der jungen Lehrerin geschrieben, dass er sie vor dem Green Hotel erwarten würde, um ihr ihr neues Haus zu zeigen. Ein eigenes Haus, das man ihr zu Verfügung stellte! Charlotte war sich sicher, ihr Vater wäre stolz auf sie gewesen.
Nicht nur Bürgermeister Malbeth hatte sich berufen gefühlt, den neuen Schulmeister von Green Hollow persönlich zu begrüßen. Auch Trudi McAbberty, die als Frau des hiesigen Arztes als eine Autorität galt, genauso wie Reverend Brinkley und Harriet Plockton als Vertreterin der zukünftigen Schülerschaft von Mr. Van Halen, standen vor dem Green Hotel und erwarteten gespannt die Ankunft der neuen Lehrkraft.
Das Erste, was dieses eigentümliche Begrüßungskomitee zu sehen bekam, als die Mittwochs-Postkutsche um Punkt 16 Uhr vor dem Hotel zum Halten kam, war allerdings nicht der erwartete energische, junge Mann. Eine blonde Frau, die mehr aus der Kutsche fiel als stieg, lenkte vorerst alle Aufmerksamkeit auf sich. Anscheinend hatte sich ihr Kleid verhakt und entwickelte sich zu einer ernsten Gefahr für die Unversehrtheit der jungen Dame. Denn die konnte es einfach nicht aus dem Türscharnier lösen, in dem es festhing, und verhedderte sich immer mehr darin.
Es war Bürgermeister Malbeth, der sich schließlich erbarmte und diesem seltsamen Schauspiel ein Ende bereitete. Mit einem „Darf isch ma, Miss?“ machte er den teuren Stoff aus dem Scharnier los und erntete dafür ein erfreutes Lachen von der jungen Person und einen herzlichen Dank.
Mr. Malbeth war ja kein Kostverächter und die junge Dame war ein appetitlicher Happen, aber jetzt interessierte ihn in erster Linie der neue Lehrer, den er angestellt hatte. Er versuchte vergeblich um den voluminösen Rock des Frauenzimmers herum in die dunkle, enge Kutsche zu spähen, bis sich plötzlich eine schmale Hand in sein Sichtfeld schob.
„Sie müssen sicher Mr. Malbeth, der Bürgermeister, sein, nicht wahr?“, fragte die blonde Frau mit glockenheller Stimme. „Ich bin Charlotte Van Halen.“
Der Bürgermeister schien im ersten Moment nicht ganz sicher zu sein, was er aus dieser Ankündigung machen sollte. Schließlich schüttelte er der jungen Frau trotzdem die Hand, bis ihm schließlich ein Licht aufging.
„Willkomm, herzlisch willkomm. Sie sin bestimmt das jungsche Frauschen von unsern Mr. Van Halen. Wo is denn Ihr Mann, Madam?“
Jetzt war es an Charlotte verwirrt dreinzuschauen, während Malbeth ihr unablässig die Hand schüttelte und anscheinend gar nicht mehr aufhören wollte.
„Mein Mann?“, fragte sie schließlich vorsichtig. „Aber ich bin nicht verheiratet…“
Diese Nachricht löste nicht nur beim Bürgermeister Erstaunen aus, sondern auch beim Rest des Begrüßungskomitees, dem die Erklärung von Malbeth durchaus logisch erschienen war. Es war Harriet, die sich als Erste wieder im Griff hatte und vortrat. „Doch Miss, sind Sie ganz sicher. Oder sind Sie die Schwester von unserem neuen Schulmeister?“
Charlotte Van Halen sah verblüfft auf das kleine Mädchen hinunter. Doch der Bürgermeister und der Rest dieser seltsamen Gruppe lachten plötzlich erleichtert auf.
„Malbeth, was haben Sie denn da wieder angestellt? Sie müssen den armen Mr. Van Halen ja völlig missverstanden haben. Es ist MISS und nicht MISTRESS Van Halen. Seine Schwester wird ihm den Haushalt führen. Können Sie denn nicht lesen?“ Mrs. Trudi machte ihren Ansichten mit der üblichen Eloquenz Luft, während Charlotte verzweifelt von einem zum anderen schaute.
Was ging hier eigentlich vor und von welchem Mr. Van Halen sprachen diese Leute? Miss Charlotte konnte sich keinen Reim auf diese verworrenen Reden machen. Sie hatte Mr. Malbeth doch ganz deutlich geschrieben, dass sie mit Mrs. Van Halen hierher kommen würde. Damit war doch klar, dass diese Dame nur ihre Mutter sein konnte, wenn sie…
Plötzlich zeichnete sich auf dem hübschen Gesicht der jungen Frau ein Entsetzen ab, das nun auch die gutgelaunte Gruppe vor ihr in ihrem Gelächter innehalten ließ.
„Das tut mir so furchtbar leid…“, flüsterte Miss Van Halen. „Das ist alles meine Schuld! Mein Vater hat mich immer Charly genannt. Von Charlotte. Ich werde von meiner Familie nur so angesprochen und bin es auch gewohnt, Briefe so zu unterzeichnen.“
Es dauerte einige Augenblicke bis Bürgermeister Malbeth und seinen Begleitern die ganze Tragweite dieser Eröffnung bewusst wurde. Charly Van Halen war nicht Charles, sondern Charlotte.
Wieder war es Harriet, die schließlich das Wort ergriff. Sie war auch die Einzige, die immer noch breit lächelte. „Dann sind Sie also unsere neue Schulmeisterin. Miss Finney hat also doch Recht gehabt mit ihren Vorurteilen.“
Charlotte hatte bis eben noch flehentlich von einem zum anderen geschaut, doch jetzt zog das blonde Mädchen ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. „Was für Vorurteile?“, fragte sie verwirrt.
„Miss Finney hat gesagt, dass ich keine Vorurteile gegenüber unserem neuen Lehrer haben sollte. Die Leute sind am Ende meist ganz anders, als man denkt. Naja, und Sie sind nun wirklich ganz anders, als wir alle gedacht haben.“ Charlottes zukünftige Schülerin schien sich herrlich über die Situation zu amüsieren. Allerdings war sie da auch die Einzige. Doch noch bevor Miss Van Halen etwas sagen konnte, hatte der Blondschopf sich verabschiedet und lief davon.
Zurück blieben der Bürgermeister, der Pfarrer und Mrs. McAbberty, die jetzt kurzerhand die Situation in die Hände nahm, da man von den Männern anscheinend nichts erwarten konnte. Sie stellte sich der jungen Dame vor und reichte ihr die Hand, um dann den Kopf zu schütteln. „Da haben Sie ja was Hübsches angestellt, Herzchen. Was sollen wir denn jetzt mit Ihnen anfangen?“
Charlotte knetete indes unruhig ihre Hände. „Es tut mir wirklich, wirklich leid, aber Sie müssen mir glauben, dass ich Sie nicht mit Absicht getäuscht habe. Mir passieren öfters solche Dinge. Ich bin einfach… einfach zu tollpatschig. Aber ich habe meine Zeugnisse und mein Diplom in meinem Gepäck. Daran können Sie sehen, dass meine Noten genau die sind, die ich Ihnen geschrieben habe. Ich meine, ob ich nun ein Mann oder eine Frau bin, tut doch nichts zur Sache. Am Ende. Oder?“ Mit einem reichlich verzweifelten Lächeln schaute die blonde Frau in die Runde.
„Nuja, nuja…“, stotterte der Bürgermeister schließlich. „Aber Se sind ne jungsche Frau un wir könn Se nisch allein in dem Haus wohn laschen. Un wir dachten, dass jetz ma jemand kommt, der bei den Kindern so rischtich durschgreift.“ Malbeth sah reichlich hilflos aus, doch zumindest in einem Punkt konnte seine neue Schulmeisterin ihn beruhigen.
„Oh, aber ich werde doch nicht alleine wohnen. Meine Mutter, Mrs. Van Halen, ist mit unserem Hausrat auf dem Weg hierher und wird in wenigen Tagen eintreffen. Und was die Kinder angeht: Ich bin mir sicher, dass wir bald die besten Freunde sein werden.“
Am Ende war Bürgermeister Malbeth gegen so viel guten Willen und Beredsamkeit machtlos, auch wenn seine Vorstellung von Unterricht nicht gerade die war, dass die Lehrerin gut Freund mit den Kindern war. Er zuckte mit den Schultern und schaute flehentlich zu Mrs. Trudi und dem Pfarrer. „N neuen Lehrer wern wir wohl uff die Schnelle nisch kriegen un die Schule muss ja wieder loschgehen…“
Auch die rundliche Arztgattin und der Pfarrer nickten zustimmend, während Letzterer eifrig beipflichtete: „Und die Sonntagsschule nicht zu vergessen. Ich meine, Mrs. Aldridge sollte schnellstens von dieser Aufgabe entbunden werden, um sich wieder anderen kirchlichen Diensten zuwenden zu können. Ihre helfende Hand fehlt an allen Ecken und Enden.“
„Das ist alles schön und gut, aber solange Miss Van Halen allein hier ist, kann sie nicht in dem Haus wohnen. Eine junge Dame ohne Begleitung… Das schickt sich nicht“, warf jetzt Trudi McAbberty ein. Miss Van Halen wollte schon widersprechen, dass sie sehr gut auf sich allein aufpassen könnte, aber sie kam gar nicht zu Wort. Der rothaarige Pfarrer hatte auch für dieses Problem sofort eine Lösung parat. „Nun, ich würde Miss Van Halen gern Unterschlupf in meinem Pfarrhäuschen gewähren. Die Kirche bietet allen Seelen in Not ihren Schutz an und meine geistliche Stellung macht mich über alle Zweifel erhaben.“ Es war sogar für den geistig nicht allzu regen Bürgermeister offensichtlich, dass der Reverend Gefallen an der neuen Schulmeisterin gefunden hatte. Sein begehrlicher Blick sprach Bände und schien so gar nicht über alle Zweifel erhaben. Malbeth wollte schon Einspruch gegen dieses Angebot einlegen, doch Mrs. Trudi war schneller.
„Das kommt gar nicht in Frage. Erinnern Sie sich noch daran, was die Leute alles getratscht haben, nur weil die gute Finney sich vor Luke Sullivan geworfen hat, um ihn vor dieser Kugel zu bewahren? Nein, ich denke Miss Van Halen sollte bei Eugenia Straight bleiben, bis ihre Mutter hier eintrifft. Die alte F… Ich meine, Miss Frocker hat dort auch zur Untermiete gewohnt und Eugenia wird sicher nichts dagegen haben, Miss Van Halen in deren altem Zimmer unterzubringen.“
Der Bürgermeister stotterte eine Zustimmung, und bevor Charlotte so recht wusste, wie ihr geschah, hatte Green Hollows Gemeinderat auch schon über sie und ihre Zukunft entschieden.
„Ja, Miss, dann herzschlisch willkomm in Green Hollow!“ Lächelnd streckte ihr der Bürgermeister nochmal die Hand entgegen, die die junge Frau nun erleichtert ergriff. Selten war eine ihrer kleinen Schusseligkeiten so glimpflich für sie ausgegangen.
Miss Van Halens Zimmer bei der Witwe Straight, die im Herzen der kleinen Stadt wohnte, bot einen großzügigen Ausblick über Green Hollows Hauptstraße. Interessiert ließ die Lehrerin den Blick über ihre neue Heimat schweifen. Rechts neben dem Haus der Witwe befand sich das Green Hotel und ein Stück die Straße hinunter, auf der anderen Seite, sah sie ein großes Haus mit einer Art Scheune, das laut des riesigen Schildes Plockton's Warehouse war. Gegenüber davon wohnte der örtliche Arzt, Dr. McAbberty, dessen Frau sich ja gestern so nett um ihre Unterbringung gekümmert hatte.
Charlotte ließ ihren Blick weiter in die andere Richtung wandern, bis er schließlich an einem großen Gebäude mit dem Namen „Gemstone“ hängen blieb. Sie hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handelte, aber da so früh am Morgen bereits einige Männer dieses Haus verließen, war es vielleicht eine Art Pension. Nun, einerlei, sie musste sich beeilen und sollte nicht die Zeit verträumen. Die seltsame Witwe Straight hatte ihr gestern gesagt, dass es um Punkt acht Uhr Frühstück geben würde. Wenn sie bis dahin nicht am Esstisch wäre, dann müsste sie sich selbst um ihre Mahlzeit kümmern. Miss Van Halen seufzte. Und das konnte dann nur in einer weiteren Katastrophe enden. So gut ihre Noten am College auch gewesen waren, in der Küche war sie, wie in den meisten anderen Bereichen des täglichen Lebens, eine Katastrophe. Und auch wenn Miss Charly von der anstrengenden Fahrt in der Postkutsche gestern reichlich erschöpft war, war die Neugier auf ihr neues zu Hause doch größer als der Wunsch, sich einen Tag Ruhe zu gönnen. Als sie die Treppen zum Esszimmer hinunter eilte, lag bereits wieder ein fröhliches Lächeln auf ihrem Gesicht. Weder der Gedanke an ihre eigenen Unzulänglichkeiten noch die Erschöpfung konnten ihre Unternehmungslust dämpfen.
„Guten Morgen, Mrs. Straight“, grüßte sie gutgelaunt, als sie die letzten zwei Stufen ausließ und von der Treppe sprang. Was ihr einen missbilligenden Blick der Witwe eintrug.
„Morgen, morgen… Was kümmert mich morgen, wenn doch nur schon heute herum wäre“, knurrte die Dame des Hauses und verschwand mit einer Kaffeekanne im Esszimmer. Miss Charly schaute ihr verblüfft nach, denn sie konnte sich keinen Reim auf diese seltsamen Worte machen, die in so gar keinem Zusammenhang mit ihrem Gruß zu stehen schienen.
Schulterzuckend ließ sie es dabei bewenden und gesellte sich zu der Witwe an den Esstisch, wo sie sich akribisch über ihre Tagespläne ausfragen lassen musste. Doch da Charlotte von Natur aus ein mitteilsamer Mensch war und keinen Grund sah, warum sie Eugenia Straight nicht von allem erzählen sollte, was sie vorhatte, berichtete sie gutgelaunt, dass Mr. Malbeth ihr heute die Schule und ihr zukünftiges Heim zeigen wolle.
Bei der Erwähnung des Hauses zog Mrs. Straight dann allerdings ein bitteres Gesicht und Charlotte musste gleich darauf eine Strafpredigt über sich ergehen lassen, dass es unschicklich wäre, als junge, alleinstehende Frau in der Postkutsche zu reisen. Ohne Begleitung!
Auch wenn Miss Van Halen dem plötzlichen Gedankensprung vom Haus zu ihrer Reise nicht ganz folgen konnte, ließ sie alles mit demütiger Miene über sich ergehen. Charlotte versuchte gar nicht erst, sich zu rechtfertigen. Sie kannte diese Art von Vorhaltungen bereits von ihrer Mutter und wusste, dass auf solche Zurechtweisungen nicht unbedingt eine Antwort erwartet wurde. Die Gardinenpredigt diente wohl eher dazu, dass die Schimpfende sich Luft machen konnte.
Nachdem Eugenia Straight sowohl ihre Neugier als auch ihren Drang jemanden zurechtzuweisen befriedigt hatte, musste Green Hollows zukünftige Lehrerin sich die lange Litanei von Mrs. Straights unzähligen körperlichen Leiden anhören. Aber auch diese Prüfung bestand Miss Charly mit Bravour. Es gab nicht viel, was ihr die gute Laune verderben konnte.
Um zehn Uhr stand dann wie verabredet der nuschelnde Bürgermeister vor der Tür und nahm Miss Van Halen unter seine Fittiche. Sie besichtigten das kleine, aber ordentliche Schulhaus von Green Hollow, das Charlotte in einen wahren Begeisterungssturm versetzte und sie veranlasste, wie ein kleines Mädchen in die Hände zu klatschen.
„Oh Mr. Malbeth, ich kann mir so gut vorstellen, wie die Kinder in den Bänken sitzen und wir zusammen Spaß haben werden!“, rief sie begeistert aus und schaute sich neugierig um. Das Schulzimmer war lichtdurchflutet und das helle Holz der Schulbänke tat ein Übriges, um eine positive Atmosphäre zu erzeugen.
„Nuja, nuja, is ja schön, aber se sollen hier och was lernen, nich?“, brummte der Bürgermeister vor sich hin. Er fand zwar, dass Miss Van Halen eine ganz entzückende junge Dame war, aber die erhoffte strenge Hand, die Green Hollows Nachwuchs züchtigen sollte, konnte er wohl abschreiben. Das kam davon, wenn man Frauen Aufgaben außerhalb des häuslichen Umfelds anvertraute.
„Aber Lernen macht doch Spaß, finden Sie nicht, Mr. Malbeth? Ich liebe es neue Dinge kennenzulernen und zu erfahren!“, antwortete Miss Charly im Brustton der Überzeugung und der Bürgermeister gab es vorerst auf, seine Vorstellung von vernünftigem Unterricht mit denen der neuen Schulmeisterin abgleichen zu wollen.
Und auch das kleine Häuschen, das der Stadtrat der neuen Lehrkraft zugedacht hatte, fand Charlottes ganze Zustimmung. Mr. Malbeth hatte ja am Anfang fast Scheu gehabt, es Mr. Van Halen als Bleibe anzubieten. Das Haus bestand nur aus einer Küche, einem Salon und zwei kleinen Schlafzimmern im Obergeschoss, aber spätestens nach Miss Van Halens spontaner Freudenkundgebung im Schulhaus war er dieser Sorge ledig. Die junge Dame schien einfach allem, was sie sah, eine positive Seite abgewinnen zu können. Er hatte sich entschuldigt, dass das kleine Haus nur zwei Schlafzimmer bereithielt, aber Miss Charly hatte ihm sofort inbrünstig versichert, dass das mehr war, als sie erwartet hatte. Sie schien ganz begeistert über den Gedanken, ein eigenes Schlafzimmer zu haben und sich nicht mit ihrer Mutter ein Bett teilen zu müssen.
Nachdem also die Schlüssel für das kleine Häuschen den Besitzer gewechselt und Bürgermeister Malbeth sich verabschiedet hatte, schlenderte Miss Charly noch durch die Zimmer, um ihre neue Bleibe im Geiste einzurichten. Hier und dort konnten noch ein paar Möbelstücke ergänzt werden, aber das sollte kein Problem sein, wenn ihre Mutter mit dem Hausrat eintraf. Überhaupt machte jetzt schon alles einen so schönen Eindruck auf sie. Das ganze Haus war von oben bis unten sauber geputzt und man konnte sich sofort wohlfühlen. Das Werk einer gewissen Mrs. Aldridge, wie ihr der Bürgermeister berichtet hatte.
Ihr eigenes Haus! Nach einem kleinen Luftsprung drehte sich Charly einmal um ihre eigene Achse und breitete die Arme aus. Keiner ihrer Freunde oder Verwandten hätte je gedacht, dass ausgerechnet sie ihr eigenes Haus haben würde. Noch dazu ohne verheiratet zu sein. Gut, sie war sich durchaus bewusst, dass sie anderswo nicht so hofiert worden wäre und ihr Glück nur daher kam, dass so wenige Lehrer bereit waren in den unerschlossenen Westen zu gehen. Die Städte und Gemeinden in den Territorien, die nicht zu den Vereinigten Staaten gehörten, mussten ihren Lehrern, Ärzten und Sheriffs schon etwas bieten, wenn die sich die Mühe machen sollten, in so eine abgelegene und manchmal gefährliche Gegend zu kommen.
Aber nichtsdestotrotz: Sie hatte ein eigenes Haus, eine Arbeit und konnte für ihre Mutter und sich sorgen!
Ein Geräusch, das anscheinend aus dem verwilderten Hinterhof ihres neuen Hauses kam, riss Miss Van Halen aus ihren Gedanken. Gleich darauf waren schnelle Schritte und ein herzzerreißendes Heulen zu hören. Besorgt eilte die junge Frau in die Küche, um im Hof nach dem Rechten zu sehen, machte die Rechnung allerdings ohne die widerspenstige Hintertür. Es gab einen immensen Knall und einen leisen Jammerlaut, als Miss Charlys Knie unsanft Bekanntschaft mit dem robusten Pinienholz der Tür machte.
Was das Geheul im Hof augenblicklich verstummen ließ. Wenige Augenblicke später, als sich Charlotte mit einem unsanften Tritt gegen die Tür endlich Zutritt zu ihrem Hof verschafft hatte, sah sie sich mit einem kleinen blonden Mädchen konfrontiert. Aus einem tränenverschmierten Gesicht sahen sie große, blaue Augen verschreckt an.
„Nanu? Wer bist du denn? Hast du dir wehgetan?“, fragte die Lehrerin besorgt und beugte sich zu dem Mädchen hinunter, das ganz sicher einer ihrer neuen Schützlinge war. Doch zu ihrer Beruhigung konnte Charly kein Blut oder sonstige Verletzungen an dem Blondschopf bemerken.
„Elizabeth, ich bin Elizabeth“, brachte die Kleine schließlich zwischen zwei Schluchzern hervor. Sobald sich ihre erste Verwunderung über die schöne Dame gelegt hatte, war Lizzie Slane natürlich sofort wieder in die für sie üblichen Tränen ausgebrochen. Was Miss Charlotte dazu brachte, vor dem Mädchen auf die Knie zu gehen und ihr beruhigend über den Rücken zu streichen.
„Aber was ist denn los, Elizabeth? Was tust du hier überhaupt? Das ist doch kein Ort zum Spielen! Hast du dir wehgetan?“
Ihre kleine Besucherin schien von den vielen Fragen etwas überfordert zu sein und so konzentrierte sich Green Hollows neue Schulmeisterin gezwungenermaßen auf das Wesentliche. „Hast du dir wehgetan?“
„Nein“, war die simple Antwort. „Aber… aber… aber…“ Und damit brach das kleine Mädchen wieder in bittere Tränen aus. Charlotte beschloss das Kind vorerst weinen zu lassen und reichte ihr ein Taschentuch.
„Davy hat gesagt, es wäre bestimmt lustig hier zu spielen, weil in dem Haus keiner wohnt. Ich wusste nicht, dass Sie hier sind, Miss. Ehrlich nicht. Bestimmt nicht“, beteuerte die Kleine schließlich treuherzig und Miss Charly musste lachen.
„Keine Angst, ich bin dir nicht böse, Elizabeth. Es ist bloß aus Sorge, weil euch hier leicht etwas passieren könnte. Aber was war denn jetzt los? Hat dieser Davy etwas angestellt?“
Lizzie Slane nickte jetzt inbrünstig. „Davy ist mein Bruder und er hat… er hat… hat…“ Und schon strömten wieder die Tränen wie Regen bei einem Aprilgewitter.
Himmel, auf diesen Davy Slane würde sie ein Auge haben müssen, beschloss Miss Van Halen augenblicklich. Er musste ja sonst was angestellt haben, dass seine Schwester so durcheinander war.
„Blacky!“, schluchzte das Kind schließlich mühsam beherrscht und deutete mit dem Arm nach oben.
Charly drehte sich verblüfft herum, nur um auf dem Dach ihres Hauses eine kleine, schwarze Katze zu erblicken, die interessiert zu ihnen herunter schaute.
„Davy hat sie hochgeworfen“, jaulte das kleine Mädchen jetzt anklagend. Miss Charlotte wusste nicht, ob sie lachen oder wütend sein sollte. Sie fand es überhaupt nicht lustig auf diese Art und Weise mit Tieren zu spielen, aber offensichtlich war dem Kätzchen ja nichts passiert. Und Elizabeths Tränenstrom hatte eher darauf schließen lassen, dass Davy Slane das arme Tier vor ihren Augen gekreuzigt hatte.
„Das war natürlich überhaupt nicht nett von deinem Bruder. Ich denke, ich werde ein ernstes Wort mit ihm reden müssen. Aber ich glaube, du kannst ganz beruhigt sein. Blacky geht es doch gut und ich bin mir sicher, dass deine Katze bald von selbst herunterkommt. Katzen sind nämlich sehr gute Kletterer, weißt du? Und selbst wenn sie fallen, dann fallen sie immer auf die Füße. Sie drehen sich, während…“ Miss Charly hielt abrupt inne, denn sie merkte, dass sie schon wieder zu viel redete. Zu viel für die momentane Aufnahmefähigkeit des kleinen Mädchens. Denn die schien nicht im Mindesten beruhigt von ihrer Versicherung und ihre Unterlippe fing schon wieder verdächtig an zu zittern. „Aber Blacky ist noch so klein und weiß das alles nicht, Miss!“
„Nein, nein, nein! Nicht weinen, bitte nicht weinen, Elizabeth!“, bat Miss Van Halen jetzt inständig und tätschelte der Kleinen beruhigend die Schultern, während sie sich suchend umsah. Vielleicht konnte sie das Tierchen irgendwie vom Dach herunter locken. Auch wenn Blacky sich da oben in der Sonne anscheinend ganz wohl fühlte.
Eine Leiter! Das war es doch! Erleichtert sprang Charlotte auf und zerrte eine halb von Gras überwachsene Leiter in die Höhe. „Siehst du, Elizabeth, damit haben wir Blacky im Handumdrehen vom Dach geholt.“
Ihre Besucherin sah zwar etwas skeptisch aus, aber wenigstens fing sie nicht wieder an, Tränen zu vergießen. Das war schon mal eine Verbesserung.
Irgendwie schaffte es Miss Charly tatsächlich, die Leiter aufzurichten und gegen das Dach zu lehnen. Natürlich nicht ohne sich einen Splitter einzureißen, aber das war momentan das geringste Übel.
Mit einem letzten Lächeln in Richtung Elizabeth stieg die junge Frau auf die Leiter. Was sich dank ihrer Röcke als gar nicht so einfach erweisen sollte, aber schließlich hatte sie es geschafft. Miss Charlotte streckte die Hand nach der kleinen Katze aus, aber Blacky bedachte sie lediglich mit einem Fauchen.
„Miez, Miez, Miez!“, versuchte Miss Van Halen es jetzt mit einschmeichelnder Stimme und schaute entschuldigend zu dem kleinen Mädchen hinunter. Was gar keine gute Idee war. Entsetzt drehte die Lehrerin den Kopf wieder nach oben. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der feste Boden so weit von ihr entfernt sein würde. Wenn sie doch nur fünf Minuten nachgedacht hätte! Das Haus hatte schließlich zwei Stockwerke!
Miss Charly musste mehrmals tief durchatmen, bevor sie sich dazu entschließen konnte, noch eine Sprosse hinaufzusteigen, um nach der Katze zu angeln.
Je schneller sie das hinter sich brachte, umso besser. Und tatsächlich kam Blacky jetzt zögerlich auf sie zu. Nur um gleich darauf gar nicht zögerlich von allein und ohne Hilfe an ihrer Retterin vorbei auf den Boden zu klettern.
„Blacky!“, klang es jauchzend vom Hof herauf, doch diesmal ersparte Charlotte sich den Blick nach unten. Jetzt musste sie selbst nur wieder heil auf den Boden zurückkommen!
Im gleichen Moment, als die junge Frau vorsichtig einen Fuß auf die untere Sprosse schieben wollte, gab es plötzlich ein lautes Knacken. Mit einem erschreckten Aufschrei musste Miss Charly feststellen, dass die Sprosse plötzlich wegsackte. Panisch griff sie nach dem erstbesten Halt, der ihr unter die Finger kam, was zu ihrem Glück die Dachkante und nicht die Leiter war. Denn die neigte sich unter Miss Van Halens plötzlichen Bewegungen nun zur Seite und kippte um. Mit dem Ergebnis, dass Green Hollows Schulmeisterin sich an die Dachkante ihres neuen Hauses klammerte.
„Elizabeth?“, rief Charlotte unsicher, wagte es jedoch nicht nach unten zu schauen.
„Miss! Miss!“, antwortete das kleine Mädchen sofort aufgeregt und die Schulmeisterin atmete erleichtert auf. Gott sei Dank, das Mädchen war noch da. „Elizabeth, kannst du die Leiter wieder aufrichten? Wenn du sie mir unter die Füße schiebst, müsste ich…“ Sogar jetzt, während sie hier an dieser Dachkante hing, redete sie zu viel. Ärgerlich biss Miss Charly sich auf die Lippen und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Was in dieser Situation nicht ganz einfach war.
„Miss, die Leiter ist kaputt“, antwortete das kleine Mädchen und ihrer Stimme nach zu urteilen, schien sie schon wieder kurz vor einem Weinkrampf zu stehen. Wenn sie vor lauter Angst bloß nicht einfach weglief, fuhr es Charlotte durch den Kopf. Die junge Frau biss fest die Zähne zusammen, denn die scharfe Kante des Daches begann, schmerzhaft in ihre Handflächen zu scheiden.
„Hör mir jetzt gut zu. Du musst auf die Straße laufen und jemanden bitten hierher zu kommen. Am besten einen Mann, Elizabeth. Kannst du das machen?“, fragte Miss Van Halen. Die Augen hielt sie allerdings weiterhin fest auf die Dachkante gerichtet, um sich nicht noch einmal damit zu konfrontieren, wie weit der sichere Boden von ihren Füßen entfernt war. Elizabeths Nicken entging ihr dadurch und sie hörte lediglich die davonlaufenden Schritte. Jetzt blieb ihr nichts anderes mehr übrig als zu beten, dass das Mädchen auch das tat, was sie ihr aufgetragen hatte.
Bill Sullivan hatte dem Grab seiner Mutter und seiner Frau den wöchentlichen Besuch abgestattet und war gerade wieder auf dem Weg zurück zu Plockton's, wo er sein Pferd untergestellt hatte. Allerdings kam er nicht weiter als bis zur Friedhofspforte, als ihm plötzlich die kleine Lizzie Slane in den Weg stolperte. Das Mädchen war mal wieder in Tränen aufgelöst, drückte eine kleine, schwarze Katze an sich und wäre um ein Haar hingefallen, als sie über seine Füße stolperte.
Bill war kein Mann von vielen Worten, aber er fing die Kleine gerade noch rechtzeitig auf, bevor sie im Straßenstaub landen konnte. Elizabeth schaute etwas panisch um sich, und als sie Bill erkannte, lächelte sie plötzlich so breit, als hätte er ihr ein Bonbon angeboten.
„Sie müssen mitkommen, Mr. Bill, bitte! Sie müssen! Sonst fällt sie vom Dach und bricht sich alle Knochen!“ Mit dieser Ankündigung packte Miss Slane sehr bestimmt seine Hand und begann ihn hinter sich herzuzerren.
Der Sullivan-Bruder ließ sich mit einem angedeuteten Lächeln auch wegzerren und fragte sich, was Davy wieder angestellt hatte, um seine kleine Schwester zu ärgern. Der kleine Slane war in ganz Green Hollow und Umgebung für seine dummen Streiche bekannt und Bill erwartete so etwas in der Art, dass er eine von Lizzies Puppen auf ein Dach befördert hatte oder Ähnliches.
Als das kleine Mädchen ihn schließlich in den Hinterhof des alten Mornington-Hauses zog, war es allerdings keine Puppe, die an der Dachkante hing, sondern eine junge Frau mit blonden Haaren.
Die erste Frage, die ihm durch den Kopf schoss, war: Was zum Teufel hatte sie da oben gewollt und wie war sie da überhaupt hochgekommen?
„Die Leiter ist kaputt gegangen“, flüsterte Lizzie neben ihm und trat jetzt einen Schritt zurück. Gleich darauf klang von oben ein verzweifeltes „Elizabeth? Hast du jemanden gefunden? Ich glaube nicht, dass ich mich noch lange festhalten kann.“ herunter.
Diese Feststellung nötigte dem sonst so schweigsamen Bill Sullivan einen Kommentar ab. „Dann hätten Sie gar nicht erst auf dem Dach herumturnen sollen“, meinte er trocken und bezog unter der jungen Frau Stellung, nachdem er sich mit einem Blick überzeugt hatte, dass die Leiter tatsächlich kaputt war. Mehrere Sprossen waren durchgebrochen und auch der Rest war offensichtlich so morsch, dass er die blonde Dame dort oben wohl keine zwei Augenblicke getragen hätte.
Auf diese Worte hin schaute Charlotte nun doch nach unten, bereute es aber gleich wieder. Der blonde Mann, der die Situation mit einem Blick abschätzte und sich direkt unter ihr aufbaute, war ihrer Meinung nach viel zu weit weg.
„Ich habe hier nicht herumgeturnt!“, antwortete Miss Charly halb entrüstet, halb weinerlich. Ihr „Ich bin geklettert…“ klang allerdings schon etwas kleinlaut.
Bill hatte indes festgestellt, dass die Rettungsaktion kein Problem sein würde. Er war zwar etwas kleiner als seine älteren Brüder, aber da die Dame über ihm nicht so kurz geraten war wie seine Schwägerin, war der Abstand zwischen ihm und ihren Füßen nicht allzu groß.
„Loslassen!“, befahl er, ohne auf ihre Erklärung einzugehen.
„Was?!“, rief Charlotte erschrocken. „Ich werde mir alle Knochen brechen, wenn…“
Doch der blonde Sullivan fiel ihr ins Wort. „Entweder Sie lassen augenblicklich das Dach los oder ich sehe mich gezwungen zu glauben, dass Sie zu Ihrem Vergnügen dort hängen. Und dann werde ich gehen, da meine Hilfe ja offensichtlich nicht benötigt wird.“
Die kleine Lizzie stand währenddessen mit einem ehrfürchtigen Ausdruck im Gesicht in der Hintertür des alten Hauses. Sie hatte Bill Sullivan noch nie so viele Worte an einem Stück sagen hören!
Nach einem weiteren Blick nach unten zu diesem seltsamen Gesellen beschloss Miss Charlotte, ihre Geschicke einfach in Gottes gütige Hände zu legen. Dieser Mann dort wirkte wenigstens so, als wüsste er, was er täte. Da war er ihr schon um einiges voraus.
Nachdem sie noch einmal tief durchgeatmet hatte, schloss die junge Frau die Augen und ließ die Dachkante los. Für einen Moment hatte sie das Gefühl zu fliegen und das nächste, was sie spürte, waren zwei starke Arme, die sich um sie legten und das mörderische Tempo rechtzeitig abbremsten, bevor sie auf dem Boden aufgeschlagen wäre.
Verwirrt öffnete sie die Augen und blickte in ein sonnengebräuntes Gesicht mit kornblumenblauen, ernsten Augen und einem blonden Vollbart.
„Da-danke“, stotterte Charlotte und atmete erleichtert auf, als der Mann sie vollends nach unten gleiten ließ und sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. „I-ich… Himmel, Sie müssen denken, dass ich völlig verrückt bin. Es war nur wegen der Katze“, versuchte sie zu erklären. Glücklicherweise schaltete sich nun auch die kleine Elizabeth ein. „Ja, wegen Blacky. Die Miss hat Blacky vom Dach gerettet, Mr. Bill“, beteuerte der kleine Blondschopf treuherzig und drückte den Unruhestifter fest an ihre Brust.
Bill hatte indes seinen Blick nicht von der Frau wenden können, die er da gerade in den Armen hielt. Finney war ja schon ein hübsches Mädchen, aber diese seltsame Person stellte sie noch um einiges in den Schatten.
„Was hatten Sie eigentlich hier zu suchen?“, fragte er etwas unwirsch, da es ihm gar nicht gefiel, dass er überhaupt bemerkte, dass die Fremde so gutaussehend war. Frauen interessierten ihn seit Josephine eigentlich nicht mehr.
Charlotte, die bei Elizabeths kleinem Ausbruch zu dem Mädchen geschaut hatte, wandte sich verblüfft wieder ihrem Retter zu. „Ich wohne hier! Ich meine, ich werde bald hier wohnen.“ Nach dieser Erklärung herrschte für eine Weile Schweigen und Miss Charly nutzte die Zeit, um tief durchzuatmen und sich zu beruhigen. Schlecht sah dieser Mr. Bill ja nicht aus, aber etwas seltsame Manieren hatte er schon, stellte sie schließlich fest. Allerdings musste er sie natürlich auch für eine sehr komische Person halten, so wie sie sich eben kennengelernt hatten.
Jetzt war es an dem Sullivan-Bruder sie etwas verwirrt anzuschauen, doch gleich darauf ging ihm ein Licht auf. Das musste wohl die Frau des neuen Schulmeisters sein.
Als ihm klar wurde, dass er Mrs. Van Halen immer noch im Arm hielt, ließ er sie abrupt los und trat einen Schritt zurück. Es gehörte sich nicht, verheiratete Frauen dermaßen zu umklammern.
Bills plötzlicher Rückzug hatte allerdings zur Folge, dass Charlotte etwas zur Seite taumelte und sich an der Tür festhalten musste. Gleich darauf ließ sie sich wacklig auf den Treppenstufen nieder, die von der Hintertür in den Hof hinunter führten. Woraufhin ihr Retter sich genötigt sah, wieder einen Schritt näher zu treten und sich zu ihr herunter zu beugen.
Bill hielt sich prinzipiell von Frauen fern, aber dieses besondere Exemplar konnte er ja kaum seinem Schicksal überlassen. Wo sie ganz offensichtlich nicht mal allein stehen konnte.
„Geht es Ihnen gut? Haben Sie sich verletzt?“, fragte er, doch die junge Frau lächelte schon wieder, als sie ihm antwortete.
„Nein, nein, danke. Das ist wohl nur der Schreck. In ein paar Minuten wird es vorbei sein und ich kann wieder aufstehen. Das ist eine ganz natürliche Reaktion des Körpers, wenn man sich… Naja, mein Mund funktioniert ja einwandfrei, also kann mir nicht so viel passiert sein“, zügelte sie sich und diese freizügige Selbstkritik brachte Bill Sullivan schon wieder zum Lächeln.
„Sie sind also Mrs. Van Halen. Wenn Sie mir sagen, wo Ihr Mann ist, dann könnte Lizzie ihn vielleicht holen“, bot ihr Retter ihr jetzt an.
„Oh nein, nein! Ich meine… Hach, meine Schusseligkeit! Ich bin Miss Van Halen und das mit dem Schulmeister war ein Fehler. Ich meine, ich bin die neue Lehrerin. Aber ich habe dem Bürgermeister einen Brief geschickt, den ich mit Charly unterschrieben hab, als ich mich auf die Stelle bewarb. So nennt mich meine ganze Familie, aber ich heiße eigentlich Charlotte. Mrs. Van Halen ist meine Mutter, die mir den Haushalt führen wird“, lächelte Charly entschuldigend zu dem blonden Mann herauf. Der schien zuerst nicht ganz aus ihrer verworrenen Erklärung schlau zu werden, doch dann nickte er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Miss Van Halen beäugte ihren Retter einen Moment neugierig, doch da er keine Anstalten machte noch etwas zu sagen, glaubte sie das Gespräch sei beendet. Sie stand auf und war erleichtert, als ihre Beine sie wieder ohne weiteres trugen.
„Ich bin Ihnen wirklich dankbar für Ihre Hilfe, Sir.“ Damit streckte sie ihm die Hand entgegen, die der junge Mann nach kurzem Zögern auch ergriff. „Keine Ursache.“ Doch als Charlotte bei seinem Händedruck leicht zusammenzuckte, musterte er sie mit einem besorgten Blick. Nach einem kurzen Moment drehte er Miss Van Halens rechte Hand, so dass er die Innenfläche betrachten konnte.
Charlotte erschrak selbst, als sie sah wie wund und aufgescheuert ihre Handflächen waren. Die Linke, die dieser Mr. Bill jetzt ebenfalls ergriffen hatte und betrachtete, sah nicht besser aus. „Ich bringe Sie zu Dave, unserem Arzt.“
„Ach, das ist halb so wild. Ich stelle andauernd solche Sachen an“, erklärte Miss Charly mit einem verlegenen Lächeln und zog ihre Hände zurück, um sie hinter ihrem Rücken zu verstecken.
„Das war kein Vorschlag, Miss Van Halen.“ Und ohne ihre Antwort abzuwarten, packte Bill die junge Frau vorsichtig am Ellenbogen und schob sie durch die Tür ins Innere des Hauses. Die kleine Lizzie Slane lief ihnen jetzt fröhlich voran, und als sie das Haus durch die Vordertür verließen, verabschiedete das Mädchen sich mit einem artigen Dank und lief davon.
Erst als ihr Retter ihr die Schlüssel abgenommen, zugesperrt hatte und sie bereits mit ihm auf dem Weg zu diesem Dave war, fand die verblüffte Lehrerin ihre Sprache wieder. „Sind Sie immer so bestimmend?“, fragte sie mit einem prüfenden Seitenblick. Zu Bills Überraschung klang sie dabei nicht im Geringsten beleidigt, sondern eher neugierig.
„Nur wenn ich weiß, dass ich im Recht bin“, war die kurze Antwort. Charlotte war sich nicht ganz sicher, was sie von diesem seltsamen Mann halten sollte, aber da er ihr sofort geholfen hatte, musste er eigentlich ein netter Kerl sein. Er redete offensichtlich nicht gern, aber nicht jeder Mensch konnte so mitteilsam sein wie sie.
„Reden nur Sie selbst nicht gern, oder stört es Sie auch bei anderen?“, fragte sie plötzlich und erntete dafür einen verblüfften Blick von ihrem Begleiter.
„Bei anderen stört es mich nicht“, antwortete er schließlich, musterte sie aber mit gerunzelter Stirn.
„Das ist gut. Ich rede meistens sehr viel. Ich merke es einfach nicht und das geht den Leuten manchmal auf die Nerven“, bekannte Miss Charly mit einem treuherzigen Lächeln, während Bill an Doc Daves Haustür klopfte. Inzwischen hatten sie das Arzthaus erreicht.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis der alte Dave öffnete und seine Besucher ziemlich verwirrt anstarrte. Dem blonden Sullivan war klar, was Doc Dave so irritierte. Wahrscheinlich konnte der Arzt sich nicht mehr erinnern, wann er Bill Sullivan zum letzten Mal mit einer Frau gesehen hatte.
„N'Abend, Doc. Miss Van Halen hat sich an den Händen verletzt“, brach Bill schließlich das Schweigen und der alte Dave nickte. „Na dann kommt mal rein, Kinder. Sie sind also unsere neue Schulmeisterin. Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Und damit ließ er die junge Frau eintreten, doch Bill blieb etwas unentschlossen auf der Türschwelle stehen.
Aus irgendeinem Grund hätte er sich gerne persönlich davon überzeugt, dass die chaotische Miss Van Halen wieder sicher zu ihrer Unterkunft fand. Doch eigentlich ging ihn das überhaupt nichts an. Hatte ihn nichts anzugehen.
„Dave, könnten Sie darauf Acht geben, dass Miss Van Halen nachher sicher heimfindet?“, fragte er schließlich, und nachdem Doktor McAbberty erklärt hatte, dass Trudi die junge Missy persönlich zur Witwe Straight zurückbringen würde, verabschiedete sich Bill und verschwand in Richtung Plockton's.
Am nächsten Tag waren Finney und Luke bei ihrer Familie zum Abendessen zu Gast. Nachdem die Sullivan-Männer Prudles vorzüglichen Blaubeer-Kuchen bis auf den letzten Rest verputzt hatten, wurde der Abend im Salon mit einem Whisky beschlossen. Allerdings erst nachdem die Haushälterin Lukes Frau vehement verboten hatte, die Küche zu betreten und ihr beim Abwasch zu helfen. Prudle fand es schon sehr ärgerlich, dass die junge Mrs. ihren Haushalt alleine führte, aber es hätte ihr gerade noch gefehlt, dass ihr jemand aus der Familie bei der Küchenarbeit zur Hand ging.
„Harry Plockton hat seine Tochter heute Nachmittag für ein paar Stunden zu mir gebracht, weil er mit Liz nach Clarksville musste. Harriet hat mir ziemlich anschaulich von der neuen Lehrerin berichtet“, erzählte Finney, während sie neben ihrem Mann auf der Couch Platz nahm, der augenblicklich seinen Arm um ihre Schultern legte.
„Du meinst wohl: Von dem neuen Lehrer, Liebes“, antwortete Charles Sullivan seiner Schwiegertochter lächelnd. „Bess Aldridge hat mir nach der Kirche erst erzählt, dass sie drei Kreuze macht, wenn dieser Mr. Van Halen endlich seinen Dienst antritt und mit harter Hand bei Davy Slane durchgreift.“
Finney lachte leise auf, während sie vergnügt in die Runde schaute. Luke musterte seine Frau neugierig von der Seite. „Diesen Blick kenne ich inzwischen. Meine Frau hütet irgendein Geheimnis oder hat Neuigkeiten zu erzählen. Also Mrs. Sullivan, was hat es mit der neuen Lehrkraft auf sich?“, fragte er sie schließlich neckend und Finney stieß ihm leicht mit dem Ellenbogen in die Seite, bevor sie sich wieder an Charles wandte.
„Nein, es ist in der Tat eine Lehrerin. Laut Harriet hat es irgendeine Verwechslung mit dem Namen gegeben und jetzt ist Mr. Van Halen eine Miss und die angekündigte Mrs. ihre verwitwete Mutter.“
Für diese Neuigkeit erntete die ehemalige Krankenschwester drei verblüffte Blicke und schließlich lachten die Sullivan-Männer lauthals. Bis auf Bill, der wie gewöhnlich schwieg.
„Dass der alte Malbeth kein vernünftiges Wort raus bringt, wissen wir ja, aber hat er inzwischen auch das Lesen verlernt?“, platzte schließlich Charlie Jr. immer noch kichernd heraus, kassierte diesmal allerdings nur einen halb ernst gemeinten Tadel von seinem Vater. „Du sollst dich nicht über gewählte Würdenträger lustig machen. Oder zumindest bitte nicht außerhalb dieses Hauses“, wies Charles seinen jüngsten Sohn mit einem Augenzwinkern zurecht, bevor Finney auch Licht in dieses Dunkel bringen konnte. Sie erklärte, dass der Fehler wohl auf der Seite der jungen Dame gelegen hatte, da sie Briefe prinzipiell mit ihrem Spitznamen unterschrieb. „Sie scheint noch sehr jung zu sein. Und obendrein eine richtige Schönheit“, schloss Finney ihren Bericht.
„Eine unverheiratete, junge Schönheit!“ Josh, Charles Sullivans zweiter Sohn, rieb sich mit einem breiten Grinsen die Hände. „Ich denke, ich werde Green Hollow demnächst mal einen Besuch abstatten müssen.“
Diese Erklärung brachte das Familienoberhaupt wieder zum Lachen. „Was ist denn mit dir passiert, mein lieber Sohn? Hast du nicht immer ein Hoch auf das Junggesellen-Dasein gesungen?“
Mit einem verschmitzten Blick auf seinen älteren Bruder und dessen Frau, die sich gerade lächelnd in die Augen schauten, meinte Josh: „Seitdem ich so ein leuchtendes Beispiel für die Vorteile des Familienlebens habe, muss ich zugeben, dass die Ehe vielleicht gar keine schlechte Einrichtung ist.“
Mit dieser Offenbarung zog der zweitälteste Sullivan-Bruder nun alle Blicke auf sich. „Meinst du das ernst?“, fragte Luke schließlich misstrauisch, der seinen Bruder nur als eingefleischten Junggesellen kannte. Josh grinste für einen Augenblick unverschämt zurück, doch dann wurde er ernst. „Ja, ihr beide habt mich ein wenig neidisch gemacht. Ich habe nicht vor, das nächstbeste Mädchen zu heiraten, das mir über den Weg läuft, aber wenn ich jemanden treffen würde, der mir gefällt, würde ich einen Antrag zumindest in Erwägung ziehen.“
Luke und sein Bruder prosteten sich grinsend zu und Charles Sullivan lächelte versonnen vor sich hin. Bis vor einem Jahr hatte er noch damit rechnen müssen, dass die Sullivan-Familie mit Charlie ihr Ende finden würde, da keiner seiner Söhne Anstalten machte, sich zu verheiraten. Bis auf Bill und diese traurige Geschichte mit Josephine, aber das war etwas völlig anderes. Jedenfalls schien er sich jetzt keine Sorgen mehr um den Fortbestand der Sullivan-Linie machen zu müssen, wenn sogar Josh eine Ehe nicht mehr rundheraus ablehnte.
Finney schüttelte indes amüsiert ihren Kopf. „Na dann wünsche ich dir viel Glück. Aber wenn man bei Harriets Bericht zwischen den Zeilen liest, dann muss diese Miss Van Halen eine ziemlich chaotische Person sein.“
Zur allgemeinen Verwunderung meldete sich plötzlich Bill zu Wort. „Oh ja, das ist sie.“ Im selben Moment schaute er von seinem Whisky-Glas auf. Er war anscheinend selbst überrascht, dass er gesprochen hatte.
„Das ist ja überaus interessant, mein lieber Bruder. Und woher, wenn ich fragen darf, hast du diese Gewissheit?“, hakte Josh jetzt amüsiert nach und musterte seinen jüngeren Bruder. Der schien sich auf einmal gar nicht mehr wohl in seiner Haut zu fühlen und winkte ab. „Hab sie gestern zufällig kennengelernt.“
„Und hat sie sich beim Guten-Tag-Sagen so ungeschickt angestellt, dass du auf den ersten Blick gesehen hast, dass sie eine chaotische Person ist?“ Josh schien seinen Spaß daran zu haben, Bill ein wenig auf die Schippe zu nehmen und auch der Rest der Familie blickte jetzt interessiert zu dem blonden Sullivan hinüber.
„In gewisser Weise“, war die ablehnende Antwort und die beiden ältesten Sullivans schienen mit einem Mal bereit, die Sache damit bewenden zu lassen. Doch Charlie kannte anscheinend keine Gnade.
„Ach los, Bill, jetzt lass dir nicht jede Einzelheit aus der Nase ziehen. Was hat sie angestellt? Und ist sie wirklich so hübsch? Vielleicht kannst du Josh ja ein paar gute Ratschläge geben, wenn er seinen Antrittsbesuch bei ihr macht.“
Für einen kurzen Augenblick schien ein Schatten über das Gesicht des blonden Mannes zu fliegen, doch er antwortete seinem jüngsten Bruder. „Sie ist sehr hübsch, aber ich habe keine Lust, mit euch darüber zu diskutieren.“ Und im nächsten Augenblick sprang Bill auf und verließ den Salon, doch lediglich Finney und Charlie waren verwundert darüber.
„Was hat er?“, flüsterte Steffiney ihrem Mann zu. „Geht es ihm gut?“ Doch Luke schüttelte nur den Kopf und antwortete leise: „Bill ist immer etwas eigen, wenn es um Frauen geht.“ Dann wandte er sich in normaler Lautstärke an den Rest der Familie. „Finney und ich werden aufbrechen, es ist schon spät.“
Damit endete der gemütliche Abend. Luke und seine Frau bestiegen ihre Kutsche und machten sich auf den Heimweg, während Charles sich seinen Jüngsten schnappte, um ihm klar zu machen, dass jeder Spaß seine Grenzen hatte. Und Josh machte sich auf die Suche nach Bill, den er schließlich auf der Terrasse vor dem Haus fand.
„Was ist so besonders an dieser Lehrerin, dass du freiwillig den Mund aufmachst, nur um dann wie ein Schuljunge davonzulaufen?“, fragte der schwarzhaarige Sullivan. Sein Bruder wandte seinen Blick nicht von den Sternen ab, zu denen er aufschaute, sondern zuckte lediglich mit den Schultern. Doch Josh ließ nicht locker und blieb einfach auf der Terrasse stehen, bis Bill sich schließlich doch zu einer Antwort durchrang.
„Ich kenne sie überhaupt nicht, aber mir war klar, dass ihr sofort eine riesige Sache daraus machen würdet, nur weil ich einmal mit einer Frau gesprochen habe. Ich hatte keine Lust auf eure Späße.“
Josh nickte. Es war kein Geheimnis, dass sein jüngerer Bruder seit dem Tod von Josephine keine Frau mehr angeschaut hatte. Von daher war es eine kleine Sensation, dass ausgerechnet er von allen Sullivans der Erste war, der anscheinend einen Plausch mit Green Hollows neuer Schönheit gehalten hatte. Natürlich war es Bill unangenehm, mit der Nase darauf gestoßen und so zwangsläufig auch an Josephine erinnert zu werden.
„Tut mir leid“, sagte Josh schließlich und klopfte Bill auf die Schulter, bevor er sich abwandte, um wieder hineinzugehen. Doch an der Tür hielt ihn überraschend die Stimme seines Bruders zurück.
„Sie hing an der Dachkante ihres neuen Hauses und ich habe ihr herunter geholfen.“
Der zweitälteste Sullivan-Bruder hielt mitten in der Bewegung inne und drehte sich dann langsam um. „Du nimmst mich auf den Arm, oder?“, fragte er mit einer gehörigen Portion Misstrauen in der Stimme, doch Bill schüttelte den Kopf.
Mit einem lauten Lachen ließ sich Josh in einen Schaukelstuhl fallen und streckte seine langen Beine von sich. „Jetzt will ich die ganze Geschichte hören“, verlangte er grinsend und nun ließ sich Bill auch nicht länger bitten.
Doch am Ende seiner Erzählung nahm er seinem Bruder das Versprechen ab, niemandem gegenüber ein Wort zu verlieren. Miss Van Halen würde dieser kleine Zwischenfall sicherlich peinlich sein und eigentlich hätte er auch nicht darüber reden sollen.
Josh schien etwas überrascht, dass sein kleiner Bruder solche Rücksicht auf die Gefühle einer fremden Frau nahm, aber er versprach zu niemandem, auch nicht zu seinen Brüdern oder ihrem Vater, etwas zu sagen. Gleich darauf erschien Charles Sullivan auf der Terrasse und mit den Worten „Also ich habe zwar keine Ahnung, wie diese Frau Ordnung in ein Klassenzimmer bringen will, aber ich wäre verdammt gerne dabei.“ verabschiedete Josh sich immer noch lachend und ließ Bill und seinen Vater allein.
Der stellte sich neben seinen Sohn und gemeinsam schwiegen sie eine Weile, bis Charles schließlich das Wort ergriff. „Du findest sie also sehr hübsch“, stellte er fest und erntete dafür einen ärgerlichen Blick von seinem stillen Sohn.
„Ich kenne sie überhaupt nicht“, knurrte Bill und provozierte damit ein Lachen von seinem Vater.
„Man muss eine Frau auch nicht kennen, um sagen zu können, ob man sie hübsch findet oder nicht“, antwortete das Familienoberhaupt der Sullivans, doch sein Sohn schien nicht darauf eingehen zu wollen und schwieg beharrlich. Wenn Charles Sullivan es allerdings für angebracht hielt, konnte er sehr bestimmt sein. Meist gab er dann keine Ruhe, bevor er seinen Söhnen seinen Standpunkt nicht klargemacht hatte.
„Hast du ein schlechtes Gewissen, weil dir überhaupt aufgefallen ist, wie hübsch die junge Dame ist? Beziehungsweise weil es dir nicht gleichgültig war, dass sie so gut aussieht?“, hakte er schließlich nach und Bill senkte den Kopf.
„Ja“, bekannte er leise.
„Du weißt, dass das vollkommener Unsinn ist? Du verrätst Josephines Andenken nicht, nur weil du eine andere Frau hübsch findest.“ Sein Vater klang mit einem Mal sehr streng. Als hätte er wieder einen kleinen Jungen und keinen erwachsenen Mann vor sich.
„Ich bin mir nicht sicher.“ Bills Worte kamen nur leise und zögernd.
Charles Sullivan schüttelte den Kopf, ließ es aber für diesen Abend dabei bewenden, denn er wollte Bill nicht überfordern. Er versuchte seit vier Jahren seinem Sohn die übertriebene Treue zu seiner toten Frau auszureden, doch leider völlig ohne Erfolg. Aber bis jetzt hatte es auch noch nie eine Frau gegeben, die seit Josephines Tod in irgendeiner Weise Bills Aufmerksamkeit erregt hatte. Der Junge war wahrscheinlich schon durcheinander genug.
Wenige Tage nach Charlys Ankunft hielt auch Mrs. Van Halen Einzug in Green Hollow. Mit einer angemieteten Reisekutsche und einem weiteren offenen Wagen, der den Hausrat der beiden Damen transportierte.