Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewussten. Zur Neubestimmung der Psychoanalyse - Erich Fromm - E-Book

Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewussten. Zur Neubestimmung der Psychoanalyse E-Book

Erich Fromm

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Beschreibung

Nirgendwo sonst schreibt Erich Fromm über sein eigenes Verständnis von Psychoanalyse so klar und deutlich wie in den Beiträgen dieses Bandes, die Ende der Sechziger Jahre entstanden sind. Geschrieben wurden sie für ein nie vollendetes größeres Werk, in dem Fromm seine humanistische und dialektische Revision der Psychoanalyse ausführlich zur Darstellung bringen wollte. Eindrücklich zeigt er, welche Bedeutung das gesellschaftliche Verdrängte für die Neubestimmung des Unbewussten hat. Auch enthalten die Beiträge wichtige Ausführungen über Fromms Ansichten zur therapeutischen Praxis, und hier spricht er erstmals von der transtherapeutischen Psychoanalyse. Jede Revision der Psychoanalyse muss sich insbesondere mit der Frage auseinandersetzen, welche Bedeutung die Sexualität für das psychische Geschehen hat. Dass der Sexualität bei der Entwicklung wichtiger psychischer Strebungen und Wünsche nicht die Rolle zukommt, die ihr Freud zumaß, hatte Fromm schon in den Dreißiger Jahren gezeigt. Welche Bedeutung hingegen die Gesellschaft hat, verdeutlicht Fromm vor allem an der sadistischen Perversion. Die Neuformulierung der psychoanalytischen Perversionenlehre führt ihn dabei ganz automatisch immer wieder zur Kritik an Herbert Marcuse. Wer sich über Fromms Neubestimmung der Psychoanalyse kundig machen will, findet in diesem Band eine gut verständliche und erhellende Zusammenfassung. Aus dem Inhalt • Über meinen psychoanalytischen Ansatz • Die Notwendigkeit der Revision der Psychoanalyse • Die dialektische Revision der Psychoanalyse • Sexualität und sexuelle Perversionen • Der angebliche Radikalismus von Herbert Marcuse

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Seitenzahl: 251

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Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewussten.Zur Neubestimmung der Psychoanalyse

(The Revision of Psychoanalysis)

Erich Fromm(1990a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer FunkAus dem Amerikanischen von Rainer Funk.

Erstveröffentlichung 1990 in deutscher Übersetzung als Band 3 der „Schriften aus dem Nachlass“ unter dem Titel Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewussten. Zur Neubestimmung der Psychoanalyse beim Beltz Verlag, Weinheim. Reprint als Heyne Sachbuch 1995 beim Heyne Taschenbuchverlag in München. Überarbeitet fanden die Beiträge dieses Sammelbandes 1999 Aufnahme in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag), Band XII, S. 11-111. – Die Erstpublikation der Schriften dieses Bandes in der englischen Originalsprache erfolgte 1992 unter dem Titel The Revision of Psychoanalysis bei Westview Press in Boulder/USA.

Die E-Book-Ausgabe der einzelnen Beiträge dieses Sammelbandes orientiert sich an den von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassungen der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band XII, S. 11-111.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1990 by The Estate of Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Inhalt

Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewussten. Zur Neubestimmung der Psychoanalyse

Inhalt

Vorwort von Rainer Funk

I. Über meinen psychoanalytischen Ansatz

II. Die Notwendigkeit der Revision der Psychoanalyse

III. Die dialektische Revision der Psychoanalyse

1. Gegenstand und Methode der Revision der Psychoanalyse

2. Aspekte einer revidierten Triebtheorie

3. Die Revision der Theorie des Unbewussten und der Verdrängung

a) Das Unbewusste und die Verdrängung der Sexualität

b) Das Unbewusste und die Verdrängung der Mutterbindung

c) Die Bindung an Idole als Ausdruck des gesellschaftlichen Unbewussten

d) Die Bindung an Idole und das Phänomen der Übertragung

e) Die Überwindung der Bindung an Idole

f) Das gesellschaftliche Verdrängte und seine Bedeutung für eine Revision des Unbewussten

g) Das neue Verständnis des Unbewussten bei Ronald D. Laing

h) Wirkfaktoren bei der Aufhebung der Verdrängung

4. Die Bedeutung von Gesellschaft, Sexualität und Körper in einer revidierten Psychoanalyse

5. Zur Revision der psychoanalytischen Therapie

a) Aspekte für den Bereich der therapeutischen Praxis

b) Transtherapeutische Aspekte der Psychoanalyse

IV. Sexualität und sexuelle Perversionen

1. Aspekte der sexuellen Befreiungsbewegung

a) Sexualität und Konsumgesellschaft

b) Sexualität und neuer Lebensstil. Zur Bewegung der Hippies

c) Sexualität in der Psychoanalyse. Die Bedeutung Wilhelm Reichs

2. Die sexuellen Perversionen und ihre Wertung

a) Der Wandel in der Wertung der sexuellen Perversionen

b) Die psychoanalytische Wertung der Perversionen

c) Das perverse Erleben beim Sadismus und beim analen Charakter

3. Zur Re-Vision der Perversionen am Beispiel des Sadismus

a) Erscheinungsweisen und Wesen des Sadismus

b) Die gesellschaftliche Bedingtheit des Sadismus

c) Sadismus und Nekrophilie

V. Der angebliche Radikalismus von Herbert Marcuse

1. Marcuses Freudrezeption

2. Marcuses Verständnis der Perversionen

3. Marcuses Idealisierung der Hoffnungslosigkeit

Literaturverzeichnis

Der Autor

Der Herausgeber

Impressum

Vorwort von Rainer Funk

Im Jahre 1965 wurde Erich Fromm als Professor für Psychoanalyse an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko-Stadt emeritiert. Im gleichen Jahr wurde die Feldforschung über den Gesellschafts-Charakter des mexikanischen Bauerndorfes Chiconcuac abgeschlossen. Von den universitären Verpflichtungen entbunden und frei für ein neues Projekt, beantragte er bei verschiedenen Stiftungen Geld für ein „Systematisches Werk über Humanistische Psychoanalyse“, das zu schreiben er sich für die nächsten Jahre vorgenommen hatte. Es war auf drei bis vier Bände konzipiert und sollte sämtliche Bereiche der psychoanalytischen Theorie und Praxis unter dem Gesichtspunkt ihrer dialektischen Revision behandeln.[1]

Ursprünglich wollte Fromm dieses „systematische und umfassende Werk zur Psychoanalyse“ ganz vor dem Hintergrund seiner klinischen Erfahrungen als praktizierender Psychoanalytiker, Lehr- und Kontrollanalytiker schreiben und mit Fallbeispielen anreichern. Dazu kam es nicht. Zwar arbeitete Fromm für Jahre an dem Projekt, doch verlagerten sich mit der Zeit seine Interessen immer mehr auf das Problem einer adäquaten psychoanalytischen Aggressionstheorie. Diese legte Fromm 1973 in seinem umfangreichen Band Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a) vor.

Andere Aspekte seines Vorhabens blieben unvollendet oder wurden nur hinsichtlich der theoretischen Aspekte realisiert. Selbst veröffentlicht hat Fromm daraus nur das Kapitel Die Krise der Psychoanalyse (1970c), das im einzelnen aufzeigt, wie revisionsbedürftig die Psychoanalyse selbst in ihren Weiterentwicklungen, zum Beispiel bei den sogenannten Ich-Psychologen, ist. Fromms eigene Position aber, seine Re-Formulierung und Re-Vision der Psychoanalyse, hat er nicht veröffentlicht.

Der vorliegende Band enthält die von Fromm bis 1969 verfassten und bisher nicht publizierten Teile seiner humanistischen und dialektischen Revision der Psychoanalyse. Das größte zusammenhängende Manuskript trägt denn auch den Titel Die dialektische Revision der Psychoanalyse (1990f, GA XII, S. 27-71). Fromm entwickelt darin seine Methode der „Psychoanalyse von Theorien“, mit der er die Theorien von Freud revidiert. Besonders ausführlich beschäftigt sich Fromm mit der Bedeutung, die das gesellschaftliche Verdrängte für die Neubestimmung des Unbewussten hat. Auch enthält das Kapitel wichtige Ausführungen über Fromms Ansichten zur therapeutischen Praxis. Erstmals spricht hier Fromm auch von der transtherapeutischen Psychoanalyse, die er 1975 in Vom Haben zum Sein (1989a, GA XII, S. 433-456) weiter ausführte.

Jede Revision der Psychoanalyse muss sich insbesondere mit der Frage auseinandersetzen, welche Bedeutung die Sexualität für das psychische Geschehen hat. Fromms Kritik an der Rolle, die der Sexualität beigemessen wird, kommt im Beitrag Sexualität und sexuelle Perversionen (1990g, GA XII, S. 73-96) zum Ausdruck. Wie wenig triebhafte Strebungen ursprünglich mit der Sexualität verbunden sein müssen, verdeutlicht Fromm hier am Beispiel der prägenitalen Sexualität, an den Perversionen, und hier besonders an der sadistischen Perversion. Die Neuformulierung der psychoanalytischen Perversionenlehre führt ihn ganz automatisch immer wieder zur Kritik an Herbert Marcuse. Diese ist in einem eigenen abschließenden Kapitel zusammengefasst, das Fromm ursprünglich als „Epilog“ zu seinem Sammelband Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie (1970a) veröffentlichen wollte. Es trug den Titel Infantilization and Despair Masquerading as Radicalism. Die literarische Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Institutskollegen Marcuse begann bereits 1955 in der Zeitschrift Dissent (1955b und 1956b) und setzte sich als wissenschaftliche Kritik in dem Beitrag Die Krise der Psychoanalyse (1970c, GA VIII, S. 58-62) fort. In dem hier erstmals veröffentlichten Kapitel Der angebliche Radikalismus von Herbert Marcuse (1990h, GA XII, S. 97-111) wird besonders die Direktheit und Emotionalität der Auseinandersetzung spürbar.

In einem der Projektanträge zur Finanzierung seines geplanten mehrbändigen Werkes über Psychoanalyse berichtet Fromm über die Entstehung seines eigenen erkenntnisleitenden Interesses bei der Rezeption der Freudschen Psychoanalyse:

Meine Kenntnisse im Bereich der Soziologie und mein Interesse an ihr führten mich zuerst dazu, die Psychoanalyse auf gesellschaftliche und kulturelle Probleme anzuwenden. Meine ersten Arbeiten, zwischen 1932 und 1934 veröffentlicht, enthielten bereits die Kerngedanken meines späteren Werks. Sie zeigten erstmals, dass die psychoanalytische Theorie auf sozio-kulturelle Probleme angewandt werden kann. (...) Dabei wuchs meine kritische Einstellung gegenüber einer eng gefassten Freudschen Theorie und ich begann, sie zu modifizieren. Ich versuchte, an Freuds grundlegenden Entdeckungen festzuhalten, seine mechanistisch-materialistische Philosophie jedoch durch eine humanistische zu ersetzen. Der Mensch ist keine Maschine, die durch einen chemisch hervorgerufenen Mechanismus von Spannung und Entspannung reguliert wird. Die Grundlage meines theoretischen Denkens lautet vielmehr: Der Mensch ist eine Ganzheit und hat das Bedürfnis, auf die Welt bezogen zu sein.

Was Fromm hier vorsichtig andeutet, besagt in Wirklichkeit, dass er die Freudsche Triebtheorie durch eine grundsätzlich andere Metapsychologie ersetzt hat: Der einzelne Mensch wird als ein schon immer bezogenes und gesellschaftliches Wesen begriffen; das Unbewusste interessiert an erster Stelle als gesellschaftliches Unbewusstes und Verdrängtes; die Triebhaftigkeit des Menschen ergibt sich auf Grund seiner spezifisch menschlichen Widerspruchssituation, die sich in nur dem Menschen eigentümlichen Bedürfnisstrukturen manifestiert, deren Befriedigungsweisen immer gesellschaftlich vermittelt sind. Die nicht nur für das Freudsche Menschenbild typische Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft wird durch die Annahme einer eigenen psychischen Strukturbildung, in der sich die Erfordernisse des gesellschaftlichen Zusammenlebens widerspiegeln, überwunden, so dass im Gesellschafts-Charakter jedes Einzelnen die Gesellschaft präsent ist und unter Umständen in Konflikt mit den Orientierungen des individuellen Charakters gerät.

Da die englisch geschriebenen Manuskripte dieses Bandes nicht in der hier zusammengestellten und gegliederten Weise vorlagen, habe ich den Text zusätzlich gegliedert und mit Zwischenüberschriften versehen. Hinzufügungen, die aus der Sicht des Herausgebers für notwendig erachtet wurden, und Auslassungen innerhalb des Textes sind durch eckige Klammern gekennzeichnet.

I. Über meinen psychoanalytischen Ansatz

(On My Psychoanalytic Approach)

(1990d [1969])[2]

Nicht nur in der wissenschaftlichen Literatur zur Psychoanalyse und zur Sozialpsychologie, sondern auch ganz allgemein in der Öffentlichkeit ist die Annahme weit verbreitet, dass es innerhalb der Psychoanalyse einen grundlegenden Widerspruch zwischen einer biologischen und einer gesellschaftlichen (oder kulturellen) Ausrichtung gibt.[3] Die Freudsche Richtung wird oft biologisch, die Theorien der sogenannten neofreudianischen „Schulen“, besonders jene von Harry Stack Sullivan, Karen Horney und mir, werden „kulturalistisch“ genannt, als ob diese im Widerspruch zu einer biologischen Ausrichtung stünden. Die Gegenüberstellung von biologischer und kultureller Betrachtungsweise ist nicht nur oberflächlich, sondern völlig irreführend. Dies gilt zumindest im Hinblick auf meine Schriften und meine theoretischen Auffassungen, die sich in grundsätzlichen Fragen von den Auffassungen von Sullivan und Horney unterscheiden, deren Positionen ihrerseits verschieden sind.

Die Einschätzung, meine Betrachtungsweise sei anti- oder nicht-biologisch, hat zwei Gründe: einmal meine Betonung der Bedeutung der gesellschaftlichen Faktoren bei der Bildung des Charakters, zum anderen meine kritische Haltung gegenüber Freuds Triebtheorie und der Libidotheorie.

Es stimmt zwar, dass die Libidotheorie wie jede Theorie, die sich auf den Lebensprozess des menschlichen Organismus bezieht, eine biologische ist, doch meine Kritik an der Libidotheorie beruht nicht auf ihrer biologischen Orientierung als solcher, sondern auf der speziellen Art von biologischer Ausrichtung: Ich kritisiere den mechanistischen Physiologismus, in dem Freuds Libidotheorie ihre Wurzeln hat.

Meine Kritik richtet sich nicht gegen Freuds allgemeine biologische Ausrichtung, im Gegenteil: Einen anderen Aspekt dieser Ausrichtung, seine Betonung der konstitutionellen Faktoren der Persönlichkeit, habe ich nicht nur theoretisch akzeptiert, sondern in meine klinische Arbeit mit einbezogen, und zwar vermutlich um einiges ernsthafter, als dies die meisten orthodoxen Psychoanalytiker tun, die zwar oft von konstitutionellen Faktoren reden, aber in der Praxis glauben, dass der Patient völlig durch seine frühen Erfahrungen innerhalb der Familienkonstellation bestimmt wird.

Freud kam beinahe unvermeidlich zu seiner besonderen mechanistisch-physiologischen Theorie. Als er seine ersten Theorien formulierte, gab es noch kaum Erkenntnisse über die Hormone und die Neurophysiologie, so dass es nahelag, ein Modell zu konstruieren, das auf der Vorstellung einer chemisch produzierten inneren Spannung [XII-014] aufbaute, die schmerzvoll wird und nach Freisetzung der angestauten sexuellen Spannung strebt – eine Entlastung, die Freud mit dem Begriff „Lust“ bezeichnete. Die Annahme der krankmachenden Rolle der sexuellen Verdrängung schien umso evidenter zu sein, da die Menschen, an denen er seine klinischen Beobachtungen machte, zur Mittelschicht mit ihrer strengen viktorianischen Sexualmoral gehörten. Erik H. Erikson hat festgestellt, dass wohl auch der große Einfluss der thermodynamischen Theorien Freuds Denken mitbestimmt hat.

Die Erkenntnis, dass bei den Neurosen noch andere Aspekte eine wichtige Rolle spielen als jene, die wir gewöhnlich sexuelle Wünsche nennen, veranlasste Freud, seinen Begriff der Sexualität auch auf die „prägenitale Sexualität“ auszudehnen. So konnte er annehmen, dass seine Libidotheorie den Ursprung jener Energie erklären konnte, die alles leidenschaftliche Verhalten, einschließlich der aggressiven und sadistischen Impulse, antreibt.

In den zwanziger Jahren entwickelte Freud im Gegensatz zu der physiologisch-mechanistischen Ausrichtung seiner Libidotheorie mit seiner Theorie des Lebens- und des Todestriebes einen sehr viel weiteren biologischen Ansatz. Er betrachtete den Lebensprozess als Ganzen und nahm an, dass die zwei Tendenzen jeder Zelle eines lebendigen Organismus innewohnen: eine Tendenz auf Leben hin, das heißt auf wachsende Einheit und Integration, die er Eros nannte, und eine Tendenz auf Tod und Desintegration hin, die er Todestrieb nannte. Zwar ist die Richtigkeit der Annahme seiner Theorie vom Lebens- und Todestrieb fragwürdig, doch hat er mit seiner neuen Auffassung eine zwar äußerst spekulative, jedoch umfassende biologische Theorie der Leidenschaften des Menschen geliefert. Von einem biologischen Standpunkt aus sollte besonders erwähnt werden, dass seine frühere Theorie trotz ihrer Enge auf der Annahme beruhte, dass es in der Natur der lebenden Organismen begründet ist, leben zu wollen, während er in seiner umfassenderen späteren biologischen Theorie die frühere Vorstellung aufgab und stattdessen annahm, die Tendenz zur Desintegration gehöre ebenso zur Natur des Menschen wie jene zu leben und zu überleben.

Die der Natur alles Lebendigen innewohnende Polarität von Leben und Tod wurde nun zur neuen Basis von Freuds Denken. Sie löste das hydraulische Modell von wachsender Spannung und notwendiger Reduktion ab. Leider hat Freud – aus vielen Gründen – niemals den grundlegenden Widerspruch zwischen der früheren und der späteren Triebtheorie aufgeklärt oder gar die beiden zur Synthese gebracht. Mit meiner Auffassung des Zusammenhangs von Nekrophilie und Analsadismus habe ich versucht, ein Element von Freuds Libidotheorie und seiner Auffassung vom Todestrieb zu verbinden. Freud hing noch immer an seiner älteren Auffassung, dass die Libido männlich sei, und vermied den beinahe selbstverständlichen Schritt, nämlich den Eros mit der männlich-weiblichen Polarität zu verbinden. Stattdessen begrenzte er den Begriff des Eros auf das allgemeine Prinzip von Integration und Vereinigung.

An Freuds biologischer Ausrichtung kann nicht gezweifelt werden, doch würde man sein Werk entstellen, wenn man seine biologische Orientierung in einen Gegensatz zu einer gesellschaftlichen Orientierung bringen würde. Ganz im Gegensatz zu einer solchen falschen Gegenüberstellung war Freud immer auch gesellschaftlich orientiert. Er betrachtete den Menschen nie als ein isoliertes Wesen und unabhängig von seinem [XII-015] sozialen Kontext. In Massenpsychologie und Ich-Analyse schreibt Freud (1921c, S. 73):

Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des einzelnen kommt ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie.

Es stimmt allerdings, dass Freud vor allem an die Familie dachte, wenn er den gesellschaftlichen Faktor einbezog, und nicht an die Gesellschaft als ganze bzw. an gesellschaftliche Schichten. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass er beim Versuch, die Entwicklung eines Menschen zu verstehen, immer auch die Wirkung der gesellschaftlichen Einflüsse (der Familie) auf die gegebene biologische Struktur zu verstehen versuchte.

Diese falsche Gegenüberstellung von biologischer und gesellschaftlicher Ausrichtung unterliegt auch der falschen Einschätzung meines Werkes als kulturell oder kulturalistisch im Gegensatz zu einem biologischen Denken. Mein Ansatz war immer ein sozio-biologischer und in dieser Hinsicht von Freuds Ansatz nicht grundsätzlich abweichend. Mein Ansatz steht allerdings in einem scharfen Widerspruch zu jener Art behavioristischem Denken in Psychologie und Anthropologie, das vom Menschen annimmt, er werde als ein leeres Blatt Papier geboren, auf das die Kultur mit ihrem alles durchdringenden Einfluss durch Sitte und Erziehung, das heißt mit anderen Worten, durch Lernen und Konditionierung, ihren Text schreibe.

Im Folgenden möchte ich eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Punkte geben, die meine sozio-biologische Ausrichtung wiedergeben.[4]

(1) Meine sozio-biologische Ausrichtung beruht vor allem auf einem bestimmten Verständnis von Evolution. Evolutionäres Denken ist historisches Denken. Wir nennen historisches Denken „evolutionär“, wenn wir von körperlichen Veränderungen sprechen, wie sie in der Geschichte der Entwicklung der Tiere vorkommen. Wir sprechen von „geschichtlichen“ Veränderungen, wenn es um solche Veränderungen geht, die nicht mehr in Veränderungen des Organismus begründet sind. Der Mensch taucht an einem bestimmten Punkt der tierischen Evolution auf. Dieser Punkt ist durch das fast völlige Verschwinden der instinktiven Determination und das Wachstum der Hirnentwicklung gekennzeichnet, mit der Selbstbewusstsein, Vorstellungsvermögen, Planen und Zweifeln einhergehen. Haben diese beiden Faktoren einen bestimmten Schwellenwert erreicht, entsteht der Mensch. Von da an sind all seine Impulse von seinem Bedürfnis bestimmt, unter den Bedingungen zu überleben, die an diesem Punkt seiner Evolution entstanden sind.

Die „evolutionären“ Veränderungen bei Lebewesen finden auf Grund von Änderungen der physischen Struktur statt; dies gilt von den Einzellern bis zu den Säugetieren. [XII-016] Die „geschichtlichen“ Veränderungen, das heißt die Evolution des Menschen, beruhen nicht auf Veränderungen seiner anatomischen oder physiologischen Struktur, sondern finden auf Grund psychischer Veränderungen statt, die sich bei der Anpassung an das gesellschaftliche System, in das ein Mensch hineingeboren wird, ergeben. Das gesellschaftliche System hängt seinerseits von vielen Faktoren wie Klima, Bodenschätzen, Bevölkerungsdichte, Mittel zur Kommunikation mit anderen Gruppen, Produktionsweise usw. ab. Die geschichtlichen Veränderungen beim Menschen finden im Bereich seiner intellektuellen Fähigkeiten und seiner emotionalen Reife statt.

Eine wichtige Bemerkung muss hinzugefügt werden: Auch wenn es stimmt, dass der Mensch jene anatomische und physiologische Konstitution nicht überschritten hat, die er zum Zeitpunkt des Auftauchens aus dem Tierreich hatte, so ist doch das Wissen um das Verhalten und die neurophysiologischen Prozesse bei den Tieren, und hier besonders bei den Säugetieren, von beträchtlichem Interesse für die Erforschung des Menschen. Selbstverständlich sind oberflächliche Analogien der Art, wie sie Konrad Lorenz zu machen beliebt, von geringem wissenschaftlichem Wert. Auch muss man äußerst vorsichtig sein, für das menschliche Verhalten irgendwelche Schlussfolgerungen aus dem tierischen zu ziehen, und zwar genau deshalb, weil der Mensch ein System sui generis darstellt, das durch das gleichzeitige Vorhandensein von Schwäche der Instinktausstattung und einem hochentwickelten Gehirn gekennzeichnet ist.

Ist man sich dieser Fallstricke bewusst, können die Ergebnisse der Erforschungen tierischen Verhaltens und der neurophysiologischen Prozesse bei Tieren sehr anregend für die Erforschung des Menschen sein. Dies gilt selbstverständlich auch für die psychoanalytische Erforschung des Menschen: Auch sie kann von den den Menschen betreffenden neurophysiologischen Erkenntnissen Gebrauch machen. Zwar sind Psychoanalyse und Neurophysiologie Wissenschaften mit völlig verschiedenen Methoden, die nicht notwendig zu neuen Einsichten kommen, wenn sie dasselbe Problem zur gleichen Zeit angehen. Deshalb muss auch jede dieser Wissenschaften der Logik ihrer eigenen Methoden folgen. Es kann aber doch erwartet werden, dass sich eines Tages psychoanalytische und neurophysiologische Ergebnisse zusammenfügen lassen. Solange dies noch nicht möglich ist, sollten die Disziplinen der Wissenschaft vom Menschen nicht nur Respekt vor der jeweils anderen haben, sondern sich gegenseitig stimulieren, indem sie ihre Ergebnisse veröffentlichen und Fragen formulieren, die der Forschung in dem jeweils anderen Gebiet förderlich sind.

(2) Ein weiterer Drehpunkt der sozio-biologischen Ausrichtung ist die Frage des Überlebens: Wie kann der Mensch mit seiner physiologischen und neurophysiologischen Ausrüstung und angesichts seiner existenziellen Widersprüche physisch und psychisch überleben? Dass der Mensch physisch überleben muss, bedarf keiner Erklärung. Doch die Behauptung, dass er auch psychisch überleben muss, bedarf einiger weiterer Erläuterungen.

Vor allen Dingen ist der Mensch ein gesellschaftliches Wesen. Seine physische Konstitution ist derart, dass er in Gruppen leben muss, und dies bedeutet, dass er zumindest zum Zweck der Arbeit und der Verteidigung zur Kooperation mit anderen fähig ist. Voraussetzung für eine solche Kooperation ist, dass er seelisch gesund ist. Um [XII-017] psychisch gesund zu bleiben, das heißt, um psychisch (und indirekt auch physisch) zu überleben, muss der Mensch auf andere bezogen sein, und er braucht einen Rahmen der Orientierung, der es ihm erlaubt, die Wirklichkeit zu begreifen und einen relativ konstanten Bezugsrahmen zu haben, der ihm einen Orientierungspunkt in einer ansonsten chaotischen Wirklichkeit ermöglicht. Dieser Rahmen der Orientierung befähigt ihn zugleich, mit anderen zu kommunizieren.

Der Mensch braucht einen Rahmen der Hingabe, der auch Werte einschließt, und der ihn befähigt, seine Energie in eine besondere Richtung zu bündeln und zu kanalisieren, womit er das rein physische Überleben transzendiert. Die Art des Rahmens der Orientierung ist zum Teil eine Frage der Wahrnehmung und wird über das Erlernen der Denkformen seiner Gesellschaft erworben; zum größeren Teil ist sie eine Frage des Charakters.

Der Charakter ist jene Form, in die menschliche Energie im Prozess der „Sozialisation“ (in der Bezogenheit zu anderen) und der „Assimilierung“ (in der Art und Weise der Aneignung von Dingen) kanalisiert wird. Der Charakter ist eigentlich der Ersatz für die fehlenden Instinkte. Müsste der Mensch, weil er in seinen Handlungen nicht mehr durch die Instinkte determiniert ist, vor jeder Handlung erst entscheiden, wie er handelt, wäre er unfähig, jemals rasch zu handeln. Zu Entscheidungen zu kommen, würde zu lange dauern; auch gäbe es keine Konsistenz seiner Handlungen. Handelt er gemäß seinem Charakter, dann handelt er quasi-automatisch und konsistent. Die Energie, mit der die Charakterzüge geladen sind, garantiert eine rasche und schlüssige Handlung – mehr, als jeder Zwang zum Lernen leisten würde.

Freud nahm an, dass die Charakterzüge in der Libido und besonders in den libidinös besetzten erogenen Zonen wurzeln. In meiner Revision des Charakterbegriffs wird der Charakter als ein biologisch notwendiges Phänomen gesehen, notwendig deshalb, weil er das psychische und physische Überleben des Menschen garantiert. Auch die Begriffe „Sozialisation“ und „Assimilierung“ als Aspekte der Charakterorientierungen gründen auf der biologischen Betrachtung, dass der Mensch ein zweifaches Bedürfnis hat: sich auf andere zu beziehen und sich Dinge anzueignen.

Wer mit meinen früheren Schriften vertraut ist, weiß, dass ich Freuds klinische Beschreibung der verschiedenen Charaktersyndrome voll und ganz akzeptiere. Der Unterschied liegt in den verschiedenen biologischen Ansätzen. Darüber hinaus gibt es noch einen anderen Unterschied, der eigens erwähnt sein soll: Für Freud sind die Charakterzüge mit libidinöser Energie geladen, das heißt, sie sind sexuell (in dem weiten Wortsinn, in dem Freud diesen Begriff benutzte). Die Energie, von der ich spreche, ist die Energie des lebendigen Organismus mit seinem Wunsch zu überleben; sie wird in verschiedene Bahnen kanalisiert, die es dem Einzelnen ermöglichen, seinen Anforderungen gemäß zu reagieren. (Carl Gustav Jung war der erste, der von Energie im allgemeinen statt von sexueller Energie im engeren Sinn sprach. Allerdings verband er sein anderes Energieverständnis nicht mit der sozio-biologischen Funktion des Charakters.)

Die sozio-biologische Funktion des Charakters bestimmt nicht nur die Bildung des individuellen Charakters, sondern auch die des Gesellschafts-Charakters. Der Gesellschafts-Charakter enthält die „Matrix“ oder den „Kern“ der Charakterstruktur der [XII-018] meisten Mitglieder einer gesellschaftlichen Gruppe. Er bildet sich als das Ergebnis der grundlegenden Erfahrungen und der Lebensweise, die eben dieser Gruppe gemeinsam sind. Von einer sozio-biologischen Warte aus hat der Gesellschafts-Charakter die Funktion, menschliche Energie derart umzugestalten, dass sie als „Rohmaterial“ für die Zwecke der besonderen Struktur einer gegebenen Gesellschaft benützt werden kann. Ich möchte hier eigens anmerken, dass es so etwas wie eine Gesellschaft als solche nicht gibt, sondern nur verschiedene Gesellschaftsstrukturen; genauso wenig gibt es psychische Energie als solche, sondern nur auf verschiedene Weisen kanalisierte psychische Energie, die jeweils für eine gegebene Charakterstruktur typisch ist.

Die Entwicklung des Gesellschafts-Charakters ist unabdingbar für das Funktionieren einer gegebenen Gesellschaft; das gesellschaftliche Überleben aber ist eine biologische Notwendigkeit für das Überleben des Menschen. Dies bedeutet freilich nicht, dass der gegebene Gesellschafts-Charakter die Stabilität einer gegebenen Gesellschaft garantiert. Widerspricht die Gesellschaftsstruktur den menschlichen Bedürfnissen zu sehr und kommt es gleichzeitig zu neuen technischen und sozio-ökonomischen Möglichkeiten, dann werden bisher verdrängte Charakterelemente in den fortschrittlichsten Individuen und Gruppen zum Vorschein kommen, und diese neuen Charakterzüge werden dabei helfen, die Gesellschaft in menschlich befriedigendere Formen zu verwandeln. So sehr der Gesellschafts-Charakter in Perioden sozio-ökonomischer Stabilität der Zement der Gesellschaft ist, so wird er in Zeiten drastischer Änderungen zu Dynamit.

Ich fasse zusammen: Es gibt keine „kulturelle“ Ausrichtung, die im Gegensatz zu einer „biologischen“ stände, wobei Freud für die biologische und ich für die kulturelle Schule stehen würde. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich kein Gründer einer Schule bin, sondern ein Psychoanalytiker, der Freuds Theorie dadurch zu fördern versuchte, dass ich bestimmte Revisionen vornahm, ist meine Ausrichtung eine sozio-biologische. Für diese tritt der Mensch an einem bestimmten und definierbaren Punkt der Evolution des tierischen Lebens auf. Die Entwicklung der Persönlichkeit wird als der Versuch des Menschen verstanden, mit Hilfe einer dynamischen Anpassung an die gesellschaftliche Struktur, in die er geboren wird, zu überleben.

Die falsche Gegenüberstellung von kultureller und biologischer Ausrichtung ist teils Ausdruck der allgemeinen Tendenz, Ideen lieber in bequeme Klischees zu packen, als sie zu verstehen, teils ist sie der Ideologie der bürokratisch organisierten Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft verpflichtet, in der es Mitglieder und Sympathisanten gibt, die anscheinend ein leicht zu begreifendes Etikett brauchen, um ihre Abneigung gegen die Ideen jener Psychoanalytiker rationalisieren zu können, die davon überzeugt sind, dass Psychoanalyse und bürokratischer Geist unversöhnlich sind.[5]

II. Die Notwendigkeit der Revision der Psychoanalyse

(The Necessity for the Revision of Psychoanalysis)

(1990e [1969])[6]

Revision ist ein normaler Prozess innerhalb der Wissenschaft.[7] Eine Theorie, die über 60 Jahre die gleiche bleibt, ohne revidiert zu werden, bleibt paradoxerweise nicht die gleiche, sondern wird zu einem System steriler Formeln. Die entscheidende Frage lautet nicht, ob oder ob nicht revidiert werden soll, sondern was revidiert wird und in welche Richtung die Revision führt: Setzt sie die Richtung der ursprünglichen Theorie fort, auch wenn sie viele einzelne Hypothesen innerhalb der Theorie ändert, oder verkehrt sie die Richtung, obwohl sie beansprucht, nur die Gedanken ihres Meisters weiterzuführen?

Sehen wir das Problem des Revisionismus in dieser Weise, dann stoßen wir auf die schwierige Frage, wer darüber entscheidet, was das Wesentliche der ursprünglichen Theorie ist. Es ist klar, dass ein monumentales Werk eines Genies, das im Zeitraum von über 40 Jahren wächst und sich ändert, bei diesem Prozess Widersprüche zeitigt. So ist es notwendig, seinen Kern zu verstehen, sozusagen sein Wesen im Unterschied zur Gesamtsumme aller Theorien und Hypothesen. Aber die Frage bleibt, wer darüber entscheidet, was dieses Wesentliche ist. Der Gründer des Systems? Dies wäre freilich sehr wünschenswert und die bequemste Lösung für alle, die nach dem Meister kommen. Meistens ist dies aber leider nicht möglich.

Selbst der größte Denker ist ein Kind seiner Zeit und von Vorurteilen und Denkgewohnheiten beeinflusst. Oft ist er derart von der Auseinandersetzung mit älteren Ansichten oder der Formulierung von neuen und originellen absorbiert, dass er selbst den Durchblick verliert, was denn nun wirklich für sein System wesentlich ist. Er mag einige Details, die er unbedingt brauchte, um zu neuen Erkenntnissen fortzuschreiten, als wichtiger ansehen als jene, die seine Entdeckungen rezipieren und dabei nicht mehr auf die Hilfskonstruktionen angewiesen sind.

Wer kommt sonst noch in Frage, darüber zu befinden, was wesentlich ist? Die Autoritäten? Dieses Wort klingt wohl deplatziert im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Entdeckungen, doch es ist durchaus angemessen. Wissenschaft wird oft durch Institutionen und von Bürokraten verwaltet, die über die Geldmittel verfügen, über die Ausstattung von Forschungsvorhaben befinden usw. und die in der Tat einen beherrschenden Einfluss auf die Richtung haben, die wissenschaftliche Entwicklung [XII-022] nehmen soll. Dies ist zwar nicht immer der Fall, aber bei der psychoanalytischen „Bewegung“ war es zweifellos so. Ohne in eine Erörterung der Gründe einzusteigen, glaube ich, dass die psychoanalytische Bürokratie versucht hat festzulegen, welche Theorien und therapeutischen Praktiken verdienen, „Psychoanalyse“ genannt zu werden, und ich denke nicht, dass diese Wahl von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus allzu erfolgreich war. Dies ist auch kein Wunder: Wissenschaftliche Bürokratien erwerben wie alle anderen bald unabdingbare Rechte hinsichtlich Macht, Rangfolge und Prestige, und indem sie über die Theorie Herrschaft ausüben, können sie Menschen beherrschen.[8]

Wenn weder ihr Schöpfer noch die offizielle Bürokratie eine Antwort auf die Frage nach dem, was für irgendein großes theoretisches Gebäude (wie etwa den Platonismus, Spinozismus, Marxismus oder den Freudianismus) wesentlich ist, geben kann, wie lässt sich dann das Wesentliche bestimmen? Die Antwort auf diese Frage kann nicht sehr befriedigend ausfallen, weil sie uns keine klare und feste Regel gibt, doch ist die folgende meines Erachtens noch die einzig brauchbare.

Das Wesen eines Systems zu entdecken, ist primär eine historische Aufgabe. Wer sich dieser Aufgabe unterziehen will, muss herausfinden, was die neuen und kreativen Gedanken in dem System waren, die den allgemein akzeptierten Ansichten und Ideen zu dieser Zeit widersprachen. Dann muss man fortfahren und das allgemeine „Klima“ des Denkens und der persönlichen Erfahrung sowohl auf gesellschaftlicher Ebene wie im Leben des Meisters für jene Zeit erforschen, in der das System geschaffen wurde. Man muss herausarbeiten, wie der Meister seine neuen Entdeckungen auszudrücken versuchte und mit welchen Begriffen er an das Denken seiner Zeit anknüpfen wollte, so dass sich weder er noch seine Anhänger völlig isoliert oder „verrückt“ vorkamen. Dann gilt es zu verstehen, wie die Formulierungen des ursprünglichen Systems von dem Versuch beeinflusst wurden, einen Kompromiss zwischen dem Neuen und dem bereits Bestehenden zu finden. Schließlich gilt es herauszufinden, wie der Kerngedanke des Systems erweitert, übersetzt und revidiert werden könnte im Prozess des gesellschaftlichen Wandels und angesichts des Wandels der Erfahrung und des Lebensstils. Auf eine kurze Formel gebracht, kann der entscheidende Punkt so ausgedrückt werden: Das Wesen des Systems ist das, was das traditionelle Denken übersteigt, wobei dieses Wesen von dem traditionellen Gepäck, in das dieses transzendierende Denken hineingepackt und formuliert ist, befreit werden muss.

Im Hinblick auf das System, das Freud geschaffen hat, glaube ich, dass folgende Entdeckungen die entscheidenden waren:

Der Mensch wird weitgehend von Trieben bestimmt, die wesentlich irrational sind und mit seiner Vernunft, seinen moralischen Standards und den Standards seiner Gesellschaft in Konflikt stehen.

Die meisten dieser Triebe sind ihm nicht bewusst. Der Mensch erklärt sich sein Handeln zwar als Ergebnis vernünftiger Motive (rationalisiert sie also), doch er denkt, fühlt und handelt entsprechend den unbewussten Kräften, die sein Verhalten motivieren.

Jedem Versuch, das Vorhandensein und die Geltung [der unbewussten

[XII-023]

Triebwünsche] zu Bewusstsein zu bringen, begegnet der Mensch mit energischer Abwehr und mit Widerstand, die viele Formen annehmen können.

Abgesehen von seiner konstitutionellen Ausstattung ist die Entwicklung des Menschen weitgehend von den in seiner Kindheit wirksamen Umständen bestimmt.

Die unbewussten Motive des Menschen können durch Schlussfolgerungen (Deutungen) aus seinen Träumen, Symptomen und unbeabsichtigten kleinen Handlungen erkannt werden.

Konflikte zwischen dem, wie der Mensch sich und seine Welt sieht, und den ihn unbewusst motivierenden Kräften können, wenn ihre Stärke einen bestimmten Stellenwert überschreitet, psychische Störungen wie Neurosen, neurotische Charakterzüge oder ganz allgemein diffuse Lustlosigkeit, Angstzustände, Depressivität usw. hervorrufen.

Werden die unbewussten Kräfte bewusst, dann hat dieser Wandel einen höchst bedeutsamen Effekt: Das Symptom verschwindet, ein Anwachsen der Energie findet statt, der Mensch lebt in größerer Freiheit und mit größerer Freude.