Die Entflammten - Simone Meier - E-Book
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Die Entflammten E-Book

Simone Meier

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Beschreibung

Jo & Gina: Zwei Frauen, zwei Epochen – ein rauschhafter Roman über die Liebe und die Kunst.

Frankreich und Holland um 1900. Die junge Jo van Gogh-Bonger verliert ihren geliebten Mann Theo an die Syphilis. Kurz zuvor hat sich Theos Bruder Vincent van Gogh erschossen. Jo bleibt nichts als ein Baby und Hunderte Bilder des noch unbekannten Malers. Sie beschließt, Vincent weltberühmt zu machen, und setzt damit eine gigantische Erfolgsstory in Gang. Über hundert Jahre später stößt die Kunsthistorikerin Gina auf Jos Geschichte. Und Jo nimmt sie mit in eine Welt voller Menschen, die besessen sind: von der Liebe, der Kunst und von Visionen. Ginas Vater ist Schriftsteller und versucht seit zwanzig Jahren erfolglos, sein zweites Buch zu schreiben. An seiner Seite wird Ginas Faszination für Jo selbst zu einem rauschhaften Roman über eine kurze, aber folgenreiche Liebe. Und über zwei Familiengeschichten im Zeichen der Kunst.

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Seitenzahl: 314

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

SIMONE MEIER, geboren 1970, ist Autorin und Journalistin. Nach einem Studium der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte arbeitet sie als Kulturredakteurin, erst bei der WochenZeitung, dann beim Tages-Anzeiger, seit 2014 bei watson. 2020 und 2022 wurde sie zur »Kulturjournalistin des Jahres« gewählt. Bei Kein & Aber erschienen ihre Romane Fleisch, Kuss und Reiz. Simone Meier lebt und schreibt in Zürich.

ÜBER DAS BUCH

Frankreich und Holland um 1900. Die junge Jo van Gogh-Bonger verliert ihren geliebten Mann Theo an die Syphilis. Kurz zuvor hat sich Theos Bruder Vincent van Gogh erschossen. Jo bleibt nichts als ein Baby und hunderte Bilder des noch unbekannten Malers. Sie beschließt, Vincent weltberühmt zu machen, und setzt damit eine gigantische Erfolgsstory in Gang. Über hundert Jahre später stößt die Kunsthistorikerin Gina auf Jos Geschichte. Und Jo nimmt sie mit in eine Welt voller Menschen, die besessen sind: von der Liebe, der Kunst und von Utopien.

Ginas Vater ist Schriftsteller und versucht seit zwanzig Jahren erfolglos, sein zweites Buch zu schreiben. An seiner Seite wird Ginas Faszination für Jo selbst zu einem rauschhaften Roman über eine kurze, aber folgenreiche Liebe. Und über zwei Familiengeschichten im Zeichen der Kunst.

 

für dj

GEFUNDENE FIGUREN

Johanna van Gogh-Bonger (1862–1925), genannt Jo

Theo van Gogh (1857–1891), Kunsthändler, Johannas Mann

Vincent van Gogh (1853–1890), Maler, Johannas Schwager

Andries Bonger (1861–1936), genannt Dries, Versicherungskaufmann, Johannas ältester Bruder

Willem Adriaan Bonger (1876–1940), Kriminologe, Johannas jüngster Bruder

Vincent Willem van Gogh (1890–1978), Ingenieur, Johannas Sohn

Theo van Gogh (1920–1945), Student und Widerstandskämpfer, Johannas Enkel

Johan Cohen Gosschalk (1873–1912), Jurist und Maler, Johannas zweiter Mann

Isaac Israëls (1865–1934), Maler, Johannas Liebhaber

Eduard Stumpff (1865–1951), Medizinstudent, Johannas erste Liebe

Elisabeth van Gogh (1859–1936), genannt Lies, Schwester von Vincent und Theo

Elizabeth Gostwyche Gard (1840–1939), genannt Miss Gard, Betreiberin einer Pension in London

Paul Cassirer (1871–1926), Kunsthändler und Verleger in Berlin

Mata Hari (1876–1917), Tänzerin und Spionin

Agostina Segatori (1841–1910), Modell, Wirtin, Geliebte von Vincent van Gogh

Gabrielle Berlatier (geboren 1869 oder 1870), genannt Rachel, Empfängerin von Vincent van Goghs Ohr

Taminah, Wakiem, Soekia und Sariem, javanische Tänzerinnen an der Weltausstellung 1889

Marie Geneviève van Goethem (geboren 1865), Tänzerin, Modell von Degas

ALL DIES IST MÖGLICHERWEISEGENAU SO GESCHEHEN

Ich war eine faule Frau. Wenn sich Arbeit vor mir aufzutürmen drohte, begegnete ich ihr mit äußeren Vorzügen und innerer Leere. Die Vorzüge lenkten den Gegner ab. Die Leere verhinderte ein schlechtes Gewissen. Beides führte zuverlässig dazu, dass sich die Arbeit verflüchtigte. Doch dann wurde alles anders.

Es war Sommer, und ich fuhr zu meinem Vater ans Meer. Er trank und träumte in seiner Hängematte von einem verpassten Leben als großer Schriftsteller. Das Meer war wie erwartet ereignislos. Es hätte ein angenehm banaler italienischer Sommer werden können, ein Sommer wie in einem Film, mit Flirts und Vespas und langen Beinen unter kurzen Kleidern. Wenn ich nicht diese seltsame Unruhe mitgebracht hätte. Seit Wochen hatte sich in mir etwas eingenistet und besetzte mich. Seit Wochen knallte in mir die Liebe mit aller Härte auf den Tod, es entstanden gleißende Sternbilder aus Geschichten, und ich wusste, dass ich eine davon festhalten musste. Die Geschichte von Jo. Von einer Frau aus einem anderen Jahrhundert. Einer Frau, die eine kurze Liebe mit gewaltigen Folgen erlebt und einen Mann zum Genie gemacht hatte. In Fachkreisen ist sie bekannt, doch Fachkreise sind winzig, nicht größer als der Ring, den ein Regentropfen auf der Meeresoberfläche hinterlässt. Ich hatte bis vor ein paar Wochen noch nie von ihr gehört, ich hatte mich zufälligerweise über ihr Leben gebeugt, im Vorbeigehen, dachte ich, doch sie stellte sich mir mit aller Selbstverständlichkeit in den Weg und blieb dort stehen. So lange, bis ich Ja zu Jo sagte. Ich verliebte mich mit ihr in ihre tragischen, exzentrischen Männer. Ich verliebte mich auch in ihren kleinen Bruder, der Detektiv werden wollte, in das Mädchen Rachel, das beinahe seinen Arm verlor und ein Ohr geschenkt kriegte, und in andere Mädchen, auf deren kindlichen Körpern sich die Fantasien einer ganzen Großstadt austobten. Sie alle entfalteten ein Leben, wurden zu wundervollen und wütenden Parasiten, und zum ersten Mal erwachte in mir die Lust, etwas zu schaffen. Geradezu ein Hunger. Ich setzte mich hin und schrieb, denn das ist in unserer Familie das Naheliegendste. Ich schickte meiner Schwester ein paar Skizzen, und meine Schwester verriet mich an meinen Vater. Hilf ihr, forderte sie von ihm, doch ich warne dich, sie schreibt auch über uns, sie schreibt über Familien, die Liebe und die Kunst. Jetzt habe ich Angst, sagte Vater. Es gibt keine Ausrede, sagte meine Schwester, du hast uns zwanzig Jahre lang nicht geholfen, du hilfst ihr jetzt. Und so blieb ich noch eine Weile bei ihm. Es wurde mein Entzug vom ziellosen Leben. Wie jeder Entzug war er erbarmungslos.

Es wurde Herbst, und mein Vater war nicht zufrieden mit mir. Es wurde Winter, und mein Vater verlor allmählich die Geduld. Manchmal klammerte ich mich vor Erschöpfung zitternd an die Tischkante, einmal fiel ich fiebernd vom Stuhl und schlug mir die Stirn blutig. Fahr endlich nach Hause, sagte Vater, ich will meinen Frieden wieder. Er kochte Kaffee, er fütterte mich, er ließ mich allein. Er kam zurück und las, was ich geschrieben hatte. Das muss geschmeidiger werden, sagte er, das ist zu schlicht, zu schlecht, befreie dich, lass los. Lass mich in Ruhe, sagte ich. Wäre das eine Mahlzeit, sagte er, du würdest sie nicht essen wollen, du würdest andauernd auf Sand und Knochensplitter beißen. Wir kämpften. Ich hasste ihn. Ich brauchte ihn. Doch als der Winter auf seinem Tiefpunkt war, als es in Vaters Haus am Meer nicht mehr auszuhalten war vor salzig klammer Kälte, als die kleine Elektroheizung mit einem Zischen und dem Gestank von verbrannten Kabeln aufgab, als die Fliesen der Terrasse vor dem Haus bläulich durch eine dünne Schneeschicht schimmerten, da war Vater endlich mit mir zufrieden.

Jetzt ist wieder Sommer. Vater und ich sitzen auf einer Bühne, neben uns steht der Veranstalter, vor uns sitzen die wenigen, die Vater noch nicht vergessen haben, und andere, die jünger sind und attraktiver. Ich greife zum Mikrofon, ich habe in den letzten Wochen ein erotisches Verhältnis zu Mikrofonen entwickelt, es ist, als würde ich alle küssen, die vor mir da waren. Bitte, schenken Sie mir nach der Lesung nichts, wende ich mich an den Veranstalter, nichts Praktisches, nichts Hübsches, nichts lustig Gemeintes, auf dem sich irgendein Motiv des Genies befindet. Wenn ich noch einmal den Sternenhimmel aus Legosteinen oder eine Schürze mit Sonnenblumen erhalte, übergebe ich mich. Das Publikum lacht. Sie haben meine Tochter gehört, sagt mein Vater, und ich kann ihnen versichern, sie kann sich äußerst unappetitlich übergeben, niemand weiß das besser als ich. Das Publikum lacht lauter. Es ist neugierig, es will naturgemäß viel Familiäres wissen, wie ich den Schriftsteller-Vater als kleines Kind erlebt habe, ob ich mich als seine Erbin begreife, wieso er nie ein zweites Buch geschrieben hat, und wie lange sich einer in seinem Fall eigentlich Schriftsteller nennen darf. Wenn es nach mir ginge, für immer, sage ich, stehe auf, beuge mich über die erste kahle Stelle auf Vaters Hinterkopf und drücke einen Kuss darauf. Sein Haar riecht nach Meer, seine Haut nach Whisky. Ich schlage mein Buch auf und beginne. All dies ist möglicherweise genau so geschehen.

JO ENTSCHEIDET SICH

Jo weiß, dass sie Theo nie lieben wird. Jo weiß, dass sie nie mehr ohne Theo leben will. Dazwischen liegen siebzehn Monate, in denen Theo nichts anderes getan hat, als Jo seine Liebe zu erklären. Sie beginnen im Juli 1887 in Amsterdam und enden im Dezember 1888 in Paris. Der Juli und der alles entscheidende Dezember sind ungewöhnlich mild, es liegt eine meteorologische Gelassenheit über der Welt, als würde sie sich überhaupt nicht für die Geschichte von Jo und Theo interessieren, als besäße sie keinerlei stürmische, heiße oder anderweitig dramatische Anschmiegsamkeit an diese unerwartet folgenreiche Liebe. Zum Glück bleibt Theo in dieser Zeit der sturste Verliebte zwischen Paris und Amsterdam. Zum Glück erholt sich Jo in dieser Zeit von der Liebe zu einem anderen.

Der andere heißt Eduard, studiert Medizin und ist jünger als Jo. Sie haben sich vor Jahren kennengelernt, am Rand der Kindheit noch, doch plötzlich gewinnt ihre Freundschaft an Innigkeit und an Tragik, plötzlich geschehen Dinge, die ihnen die letzte spätpubertäre Unbekümmertheit austreiben. Plötzlich stirbt Eduards kleine, eben noch überaus lebhafte Schwester, und Jo steht neben ihm am offenen Sarg, der Tod hat alle überrascht, es ist eine Zumutung, wie schnell und jung viele Menschen sterben, denkt Jo, Tuberkulose, Syphilis, Herzversagen, ein Schuss. Vor den Augen der Trauergemeinde verwelken die Blumen im Sarg schneller als das sorgfältig präparierte Gesicht der Toten, und Jo glaubt, in Eduards Augen nicht nur Tränen, sondern auch ein wissenschaftliches Interesse an seiner Schwester zu entdecken, an der jungen Leiche, nur Lunge und Herz kurz und heftig von der Krankheit befallen, die anderen Organe intakt, kaum Schatten unter den geschlossenen Augen. Jo drückt ihre Lippen auf die Leichenstirn, sie fühlt sich kühl und trocken an, wie eine Zeitung, die im Winter auf der Straße verkauft wird. Und plötzlich tanzen Jo und Eduard am Studentenball seiner Fakultät miteinander, alles ist sentimental, und schon beim ersten Walzer wird deutlich, dass diese beiden das beste Paar auf dem Parkett sind, dass da etwas auf ideale Weise miteinander verschmilzt. Es ist nicht Jos erster Ball und Eduard nicht ihre erste Schwärmerei. Sie ist eine entspannte Empfängerin von allerlei Vergnügen und Heiratsanträgen, sie glaubt nicht an die Einmaligkeit, auch nicht an die Einmaligkeit der Liebe, doch als Eduard sie kurz vor Mitternacht fragt, ob er sie nach Hause begleiten dürfe und auf dem Weg die Melodie ihres Walzers summt, weiß Jo, dass dies eine Liebe ist. Die beiden sehen sich oft, gehen spazieren, legen sich nebeneinander ins Gras, halten sich an den Händen, manchmal nimmt er ihr Handgelenk und zeigt ihr, wo das Mondbein auf das Kahnbein trifft, und bringt eine Ader, die durch ihre Haut schimmert, zum Verschwinden, indem er seinen Daumen darauf presst. Manchmal hebt er sie hoch und trägt sie ein Stück weit, als wäre sie seine Frau. Seine Familie ist sich sicher, dass er Jo einen Antrag machen wird.

Sie küssen sich nie, obwohl Jo gerne küsst. Eine der Frauen, bei denen sie gewohnt hat, eine Miss Gard in London, hat ihr das Küssen beigebracht. Wenn Jo an sie denkt, sieht sie Miss Gard in einem silbergrauen Kleid vor sich, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Buch, die Lippen rot geschminkt, die Brille, die sie nur ungern aufsetzt, an einer Goldkette. Sie ist eine Frau ohne Mann, ist belesen, beliebt und schön nach Art der Rothaarigen und betreibt eine Pension, in der Jo während ihrer beiden Studienmonate in London wohnt. Gemeinsam gehen sie ins Theater, Sarah Bernhardt gastiert in London, Jo ist ganz aufgeregt, sie weiß alles über die Bernhardt, denn die Bernhardt erzählt den Magazinen und Zeitungen nichts lieber als ihre eigene Geschichte, dass ihre Mutter eine Kurtisane gewesen sei und sie selbst etliche Einträge im großen Pariser Kurtisanenregister stehen habe. Mademoiselle Sarah B. empfing Monsieur Gauthier, Mademoiselle Sarah B. empfing Monsieur Ducasse, stehe da, äußerst respektvoll, bewundernd beinahe, als hätte sie Hof gehalten, und die Geldbeträge, die sie von ihren Bewunderern erhalten habe, seien exorbitant gewesen. Jo kennt ein Foto der fünfzehnjährigen Sarah, viel Haut, viel Haar, ein erwachsenes, wissendes Gesicht, der Blick kühl und fordernd, eine interessante Erscheinung. Doch dann sitzt Jo neben Miss Gard im Theater und sieht vor sich eine schöne Frau in schönen Kleidern, die so spektakulär und exaltiert spielt, dass es Jo beinahe peinlich ist. Weißt du, wen sie wirklich liebt, flüstert Miss Gard in der Pause, und die Pupillen ihrer Augen vergrößern sich dabei zu einer endlosen, sternenlosen Nacht, sie liebt keinen Mann, sie liebt eine französische Malerin, ein Leben lang und über den Tod hinaus, soll sie gesagt haben, und jeder Mann sei nichts als eine Beilage. Als sie nach dem Theater in der Pension am Kamin sitzen, als sich Miss Gard über Jo beugt und mit einer silbernen Zange ein Stück Gebäck neben Jos Tee legt, kommen sich ihre Gesichter entgegen, und Jo küsst Miss Gard auf den Mund. Und Miss Gard küsst Jo. Dreimal küssen sie sich, wie Jo überglücklich in ihrem Tagebuch vermerkt. Miss Gard nimmt Jo mit in die Kirche, zu Debattierclubs, wo Miss Gard als einzige Frau die Erlaubnis hat mitzureden, oder zum Dreiradfahren an die Themse. Und während Jo Tag für Tag in London in der British Library sitzt und sich auf ein Examen in englischer Literaturgeschichte vorbereitet, verbringt sie zu viele Stunden damit, mit dem übersteigerten Empfinden einer Zwanzigjährigen über Miss Gards Lippen nachzudenken.

Jo ist nicht zurückhaltend, wenn es um ihre Liebe zu Eduard geht, jedenfalls nicht ihren Schwestern und ihrer Brieffreundin Lies gegenüber. Lies mahnt sie zur Vorsicht, sie hat selbst einen wie Eduard geliebt, doch schließlich hat er sie abgewiesen, nein, nicht abgewiesen, er hat die Liebe bloß welken lassen, bis sie keine mehr war. Sie erzählt Jo von ihrem jungen Kummer von damals, aber auch von der Begeisterung darüber, dass es den Mann, den sie liebte, überhaupt gab. Jeder Gedanke an ihn habe sie elektrisiert, sie habe ein Jahr lang kaum geschlafen, zwei Stunden hätten ihr gereicht, sie hätte übermenschlich viel Kraft besessen. Ja, antwortet Jo, so ähnlich sei das bei ihr wohl auch, und das Verrückte seidoch, dass man diese Kraft nicht kanalisieren und in etwas anderes verwandeln könne, in Kunst zum Beispiel, in Gedichte, einen Roman oder eine Klaviersonate. In irgendwas, das bliebe und damit der eigenen Aussichtslosigkeit einen Sinn gäbe. Ein guter Gedanke, schreibt Lies zurück, kannst du Eduard nicht einfach als deine Muse betrachten? So wie Künstler jede Frau, in die sie auf komplizierte Weise verliebt sind, zu ihrer Muse machen?

Lies kennt sich mit Künstlern aus, sie hat zwei Brüder, die beide in Paris leben, der eine ist Kunsthändler, der andere Künstler. Der eine heißt Theo, der andere Vincent. Der Kunsthändler Theo finanziert den Künstler Vincent, und Vincent zahlt es seinem Bruder in Bildern zurück. Auch Jo hat einen Bruder, der in Paris lebt, er heißt Andries, alle nennen ihn Dries, und Dries und Theo sind Freunde. Die beiden jungen Männer sind zwei Holländer in Paris, sie haben sich vor Jahren im holländischen Club kennengelernt, es ist ein Club wie jeder andere, für Herren, mit Alkohol, Raucherwaren, Zeitungen und Kartenspiel. Dries ist Bibliothekar im Club, wobei dies eine Übertreibung ist, es gibt hier kaum Bücher oder Zeitschriften, nur ein paar wenige über die holländische Seefahrt und den Handel mit exklusiven Kolonialwaren. Seine Hauptbeschäftigung besteht darin, dass er als Tabaksachverständiger einer holländischen Handelsgesellschaft Zigarren aus Surabaya oder Batavia mitbringt und auf Wunsch Kaffee und Tee für die Gattinnen der Clubmitglieder. Es geht das Gerücht, dass die asiatischen Dependancen seiner Handelsgesellschaft ihr Geld nicht nur mit Waren, sondern auch mit Glücksspielen machen würden, bei denen schon ganze Schiffsladungen von Juwelen, Kunstschätzen, Raubkatzen und gelegentlich auch eine Geliebte den Besitzer gewechselt hätten, und obwohl Dries nie in Asien war, strahlt er für Theo eine Weltläufigkeit aus, die ungemein anziehend ist. Theo ist vier Jahre älter als Dries, wirkt aber jünger, denn Dries ist seine spätere, jeden Widerspruch unterbindende Stattlichkeit bereits jetzt anzusehen. Im Gegensatz zu Theo, dem Kunsthändler, wird sein Arbeitsalltag ebenfalls von einem Gespür für schöne Dinge bestimmt, aber nicht für Dinge, zu deren Wertschätzung eine intellektuelle Auseinandersetzung notwendig ist. Für Rum, Zigarren, Kaffee und Tee brauchen die Leute bloß einen Gaumen und eine Nase, und die hat so gut wie jeder, sagt Dries.

Er wiederum ist fasziniert von dem empfindsamen Ästheten Theo, der jeden der neuen, wilden Künstler von Paris kennt und versteht, dessen Freunde oft unerträglich anstrengend, fordernd, polemisch, aber immer interessant sind, der seinen Geist jeden Tag von Neuem streckt und dehnt und voller Neugier alles aufnimmt, was die Großstadt ihm an Inspiration anbietet. So einen Mann hat er sich immer für seine Lieblingsschwester Jo vorgestellt, einen außergewöhnlichen, aber nicht zu außergewöhnlich. Dries ist froh, dass Theo kein Künstler ist, sondern am Ende eben doch auch ein Geschäftsmann. Er erzählt Theo von Jo, der ehrgeizigen jungen Englischlehrerin, die bereits die dritte Weiterbildung abgeschlossen und sogar in London studiert hat, und lässt ihn ihre Briefe mitlesen. Die beiden beschließen, dass in Jo eine Schriftstellerin steckt, und noch bevor Theo Jo zum ersten Mal trifft, weiß er, dass sie die Richtige ist. Es ist ein Gefühl, und es ist ihr Gesicht auf dem schwarz-weißen Bild, das ihm Dries allzu gerne schenkt, eines der Porträts, die Jo Jahr für Jahr beim gleichen Fotografen anfertigen lässt und mit denen sie nie zufrieden ist. Es sind ihr Blick und ihr Mund, die Theo fesseln, beide scheinen auf eine kindliche Art unfertig zu sein, so, als könne sie sich nicht entscheiden, welche Perspektive auf die Welt und welche Worte denn am zutreffendsten wären. Er erkennt darin ein Suchen, das ihm selbst nicht fremd ist und das auch seine Künstlerfreunde immerzu umtreibt. Wäre ich ein Maler, denkt er sich, könnte ich genau dieses zarte Möglichkeitsdenken in Jos Gesicht, das mit den Jahren einem Wirklichkeitsdenken weichen wird, für immer einfangen. Wäre ich ein Maler, so müsste es eine Lust sein, immer und immer wieder mit einem Pinsel den Landschaften ihres Profils, ihrer Schultern, ihrer Brust entlangzufahren.

Es ist kein Zufall, dass Jo und Theo sich zum ersten Mal in einem Museum begegnen, es ist die Idee von Dries, denn ein Museum ist gewissermaßen Theos natürliches Umfeld. Dries denkt sich, dass Theo seine Schwester dort mühelos beeindrucken wird mit seinem Wissen über die Kunst. Zudem betrachtet er es als seine Pflicht, den Freund wenigstens für einen Tag aufzuheitern, denn der sitzt trauernd und schwermütig bei seiner Familie in einem holländischen Pfarrhaus, der Vater ist plötzlich gestorben, tags zuvor schrieb er noch vergnügte Briefe an seine Kinder, am nächsten Morgen war er tot. Es istim August 1885, der Sommer ist heiß, eine träge Zufriedenheit liegt über dem Land, in der Stadt reißen sich alle um die Eisverkäufer, Pfirsich ist der Gout der Saison. Es ist eine gute Zeit, sich zu verlieben, beschließt Dries, und lädt seine Schwester und Theo zu einem Ausflug nach Amsterdam ein. Am Freitagabend gehen sie essen, doch Jo hat nur Augen für ihren Bruder und das Eis zum Dessert, welches sie an Anna Karenina erinnert. Sie wird nie vergessen, wie die unglückliche Anna, die ihren Gatten, ihren Geliebten und ihr Kind verloren hat, auf dem Weg zum Bahnhof zwei Jungen sieht, die von Mücken und Fliegen verdrecktes Fruchteis kaufen. Wir alle wollen etwas Süßes, das gut schmeckt, und wenn es kein Konfekt sein kann, eben schmutziges Eis, denkt Anna, dann wirft sie sich vor den Zug. Annas Leben hat jede Süße verloren, jetzt ist da nur noch Schmutz, denkt Jo, und ihr Blick fällt für ein paar Sekunden mit äußerster Teilnahmslosigkeit auf Theo, der trübsinnig über einem Teller mit Fleisch und Kartoffeln sitzt. Am nächsten Tag besuchen die drei das neue Rjiksmuseum, Dries drängt Theo, einen kleinen Vortrag über Rembrandts Nachtwache zu halten, ein Bild voller freudig nervöser Männer, die bei Dunkelheit losziehen, eine Waffe ist gezückt, ein kleines Mädchen fürchtet sich, gut möglich, dass es Tote geben wird, vielleicht müssen sie eine ganze Stadt verteidigen, die Hoffnung auf einen Kampf ist greifbar, das Licht dramatisch gesetzt. Theo redet und blüht dabei auf, doch Jo hat sich bereits davongemacht, ist zu den kleineren Bildern gegangen, zu einer Abfolge von häuslichen Szenen. Sie findet Frauen wie in Puppenstuben eingesperrt, sie wischen den Boden, musizieren oder lesen einen Brief, sind in sich gekehrt und nachdenklich, eingesperrte kleine Vögel, die höchstens noch in einem engen Hinterhofgarten Zuflucht finden können, doch hinter dem Rosenbusch steht schon die nächste Mauer. Im Gegensatz zu Rembrandt geht das Licht hier nicht in die Tiefe, die Welt dieser Frauen ist flach, ist eine Scheibe, denkt Jo und verspricht sich selbst, alles zu geben, dass ihre Welt nicht genauso flach wird.

Wieder in Paris muss Dries sich eingestehen, dass der Ausflug nur ein einseitiger Erfolg gewesen ist. Theo ist hingerissen von Jo, das steht fest, er hat sich jede Sekunde mit ihr eingeprägt, was sie sagte, wie sie lachte, was sie aß, wie das Licht durch die bunten Fenster im Museum auf ihr Haar fiel. Sie hat ihn bereits am Morgen nach dem Museumsbesuch vergessen. Wenigstens hat seine Anwesenheit sie nicht gestört, das kann Dries immerhin feststellen, aber eine Leidenschaft lässt sich daraus nicht entfachen. Ich fürchte, sagt Dries, wir brauchen eine Frau, eine, die mit dem feinen Besteck der romantischen Überzeugungskraft zu operieren vermag, kennst du eine, die klug ist und der du vertraust? Natürlich, sagt Theo, die mittlere meiner drei Schwestern. Und so bearbeitet Theo seine Schwester Lies, sie soll sich Jo als Brieffreundin anbieten und Jo mit Theo derart vorteilhaft vertraut machen, dass diese gar nicht anders kann, als sich ihrerseits in Theo zu verlieben. Ein kindischer Plan, doch weil Lies eine liebende Schwester ist, willigt sie ein. Jo freut sich, als Lies ihr bald nach dem ersten, für sie zufälligen Treffen mit Theo einen Brief schreibt, denn Lies ist wie Jo eine virtuose Briefeschreiberin, ist bei aller Liebenswürdigkeit ironisch, fasst ihren Alltag im Haushalt eines Rechtsanwalts in beißenden kleinen Episoden zusammen und legt viel Besonnenheit in die Betrachtungen von Literatur und Musik. Sie hält die Besessenheit ihres Bruders für die kleine Johanna Bonger, die er erst ein einziges Mal gesehen hat, für eine reichlich unerwachsene Laune und merkt bald erleichtert, dass Jo keinerlei Interesse für Theo zeigt, worauf dieser umgehend aus ihrer Korrespondenz entfernt wird. Die beiden Frauen unterhalten sich lieber über alles andere und über Jos Elend mit Eduard.

Zwei ganze Jahre lang richtet Lies nichts für ihren Bruder aus. Dann hat Theo genug. An einem Freitag Ende Juli 1887 reist er von Paris nach Amsterdam, gut zehn Stunden dauert die Reise, er könnte in dieser Zeit ein ganzes Buch lesen, doch er ist viel zu nervös, starrt auf die Buchstaben und versucht ihrer Anordnung einen Sinn abzugewinnen, starrt auf seine Hände und weiß nicht, ob es wirklich seine sind, starrt aus dem Fenster und fragt sich, ob er in den richtigen Zug gestiegen ist. Sein bester Freund Dries unterstützt ihn. Sein Lieblingsbruder Vincent unterstützt ihn. Beide Männer haben ihn zu dieser Reise überredet Der Samstag ist ein weitgehend bewölkter Tag, die Aufregung bringt ihn nicht wie befürchtet ins Schwitzen. Er klopft an die Tür von Jos Eltern, jetzt steht ein Dienstmädchen vor ihm und fragt ihn nach seinem Anliegen, jetzt sagt er ihr, dass er das Fräulein Johanna Bonger zu sprechen wünsche, wenn sie denn zu Hause sei. Ja, sagt das Dienstmädchen, er habe Glück, das Fräulein sei ganz zufälligerweise zu Besuch gekommen, ob er sich ein paar Minuten in der Bibliothek gedulden möge. Jetzt wartet er zwischen Büchern, strengen und gepolsterten Stühlen, Stickrahmen, Zeitungen, Blumen, Teegeschirr, einem angebissenen Apfel, einem Globus und einem Klavier, es ist ein viel benutztes Zimmer in einem Haus voller Leute, und jetzt hört er Jos verwunderte Stimme und ihren bestimmten und doch federleichten Schritt, dessen Takt seit zwei Jahren seine Erinnerungen an den gemeinsamen Museumsbesuch begleitet. Kurz zweifelt er, kurz fragt er sich, ob sich Dries und Vincent einen Scherz erlaubt haben, als sie ihn auf die Reise schickten. Jo trägt ein hellblaues Kleid, zupft an ihren Ärmeln, schließt die Knöpfe über den Handgelenken, er deutet dies als Geste der Abwehr, sie ist überrascht, will wissen, wie es Dries geht und wie es ihm, Theo, in den letzten zwei Jahrenergangen ist, macht geschickte Konversation, er lässt sich darauf ein, es entspannt ihn ein wenig, doch er fragt sich, ob Jo tatsächlich anwesend ist. Sie ist es nicht. Ist bei Eduard, am Abend will sie mit ihm rudern gehen, sie verbringen verstörend innige Tage, Eduard spielt Geige für Jo, Eduard bringt ihr Rosen, Eduard liest ihr Lieblingsbuch Middlemarch, obwohl das Buch von einer Frau geschrieben wurde, sein Opfer ist spürbar. Ach, sagt er, ich halte das schon aus, schließlich kommt ein Arzt drin vor, aber sei ehrlich, würdest du nach dieser Lektüre noch heiraten wollen? Küssen mag er sie noch immer nicht, sie versucht, darüber nicht zu verzweifeln, doch es fällt ihr mit jedem Tag schwerer. Sie betrachtet den Besucher, sie hört ihm zu, doch ihr Nachfragen, ihre Antworten sind mechanisch, fast kann sie in seinen Worten keinen Sinn erkennen, als er plötzlich nicht mehr über Paris, Dries und die Kunst spricht, sondern über sich und sie. Er sei, sagt er und wird dabei ganz ernst und klar, zum Schluss gekommen, dass er sein Leben mit ihr verbringen möchte, dass er bereit sei, sein ganzes Glück in ihre Hände zu legen. Er schildert ihr eine mögliche Zukunft so, dass sie weiß, ja, genau diese Zukunft hat sie sich auch immer erträumt, eine Zukunft inmitten von anregenden und kreativen Menschen, die einander leidenschaftlich zugetan sind, eine Zukunft in Paris. Ob sie sich vorstellen könne, Ja zu sagen, fragt er sie, ob sie frei sei oder ob sie einen anderen liebe. Sie schaut ihn an und fühlt nichts. Sie sagt Nein. Doch vor lauter Verblüffung vergisst sie, ihm seine Liebe zu verbieten, und erlaubt ihm, ihr zu schreiben. Er wird damit am nächsten Tag beginnen. Er wird sich siebzehn Monate lang die Seele aus dem Leib schreiben, um Jo zu gewinnen.

In diesen siebzehn Monaten gewöhnt sich Jo allmählich an Theos Nähe in seinen unablässigen Briefen, auch wenn er ein Spinner ist und lange nicht so schön wie Eduard. Allerdings auch nicht hässlich. Theo hat rotblonde Haare, ein fein geschnittenes Gesicht mit hoher Stirn und Schnurrbart, die hellen blauen Augen sitzen nicht gerade, sondern fallen zu den Seiten hin leicht ab, als möchten sie fliehen, was ihm einen melancholisch staunenden Ausdruck verleiht. Seine Nase ist die schmalste, geradeste Nase, die Jo je gesehen hat, und bei zu viel Sonne wechselt er die Straßenseite auf der Suche nach Schatten, das weiß sie von Lies. Sie selbst vergleicht sich neben ihm mit einer starken jungen Bäuerin und hält sich zudem für größer als Theo, was nicht stimmt. Jo findet nichts an sich schön, ihr Kiefer ist zu breit, ihre Nase sitzt wie ein kleiner Ball mitten im Gesicht, ihre Augen sind zu klein, mit ihrem dunklen Haar weiß sie wie immer nichts anzufangen, weshalb sie sich Stirnfransen geschnitten hat, die sich im Nebel kräuseln. Unvorteilhaft, wie Jo findet. Reizend, wie Theofindet.

Theo sieht ein offenes, hellgesichtiges Wesen mit einer schnellen Beobachtungsgabe vor sich, eine Frau, deren Gedanken so selbstbestimmt sind wie ihre Lebensweise, eine Unabhängige. In ihren Briefen finden sie mühelos zueinander. Er weiß nicht, wie es um Jos Gefühle steht, aber ihr Geist ist ein riesiges offenes Tor zu den erstaunlichsten Gebäuden und Gärten. Sie spinnt seine Anregungen voller Übermut weiter. Bald wollen der Pfarrerssohn und die Tochter des Chefredakteurs eines Schifffahrtsmagazins gemeinsam alles abschaffen, was einengt, Religion, Geld und Eigentum. Sie sind und denken jung, sie stürmen in Gedanken an Orte vorwärts, die ihrer eigenen vorsichtigen Realität nicht entsprechen, aber die gemeinsame Kühnheit beflügelt sie. Immer stellen sie alles in Frage, besonders sich selbst, es ist ein Spiel, denn jeder Selbstzweifel ist dazu da, um vom Gegenüber entkräftet zu werden.

Jo hält Theos Liebe für einen Irrtum, der allein seiner Fantasie entsprungen sein kann, denn mehr als ein paar Stunden hatten sie vor zwei Jahren in Amsterdam nicht miteinander verbracht. Sie wagt sich nicht auszumalen, wie die Fantasterei in seinem Kopf und Herzen zustande gekommen ist. Was Theo und Dries schon über sie geredet haben. Wie viel Alkohol und Nostalgie in den Pariser Nächten der beiden Männer im Spiel gewesen sein muss, wenn sie sich über Zuhause unterhielten. Über ihre vielen Schwestern, die komplizierten, die unglücklichen und die einfachen, unter die Jo fallen dürfte. Und über Annie. Die Frau, die Dries heiraten will. Gewiss wäre Theo nicht auf die Idee gekommen, um Jo zu freien, wenn Dries nicht so stur in Annie verliebt wäre. Annie, die Enttäuschung. Niemand in Jos Familie mag Annie. Außer Dries. Seit der Bruder in Paris ist, zerspringt Jo fast vor Sehnsucht und vor Eifersucht auf Annie, sie kann dagegen nichts tun, sieht, wie Dries ihr entgleitet, wie er weniger Zeit findet für sie, wie seine Briefe kürzer und seltener werden, wie ihr seine Zuneigung und sein Wissen entzogen werden, denn das ist das Wichtigste an ihm, dass er ihr Kanal zur männlichen Welt des Wissens ist. Einiges kann sie sich selbst aneignen, Sprachen, Literatur, das steht ihr offen, da gibt es auch Frauen, die anerkannt und wegweisend sind und die bedeutendsten Romane ihrer Zeit geschrieben haben, gerade in England. Die Romane sind schlau und unterhalten Jo, sie legen den Kern ihrer Existenz bloß, das Warten eines Mädchens auf einen existenzsichernden Mann, den es lieben will, aber nicht immer kann. Gelegentlich verliebt es sich zuerst auch in den Besitz des Mannes, denn der ist für ihre Zukunft oft wichtiger als der Mann selbst, meist manifestiert er sich in Form eines Hauses, aber nicht etwa durch ein Stadthaus oder eine Mietswohnung. Nein, in den Romanen handelt es sich um ein Herrenhaus, und je größer das Haus ist, desto größer wird schließlich die Liebe. Wie ein Mensch ist das Haus vielschichtig, hat eine Psyche und eine Psychologie und oft einen Ort, an dem sich etwas Unheimliches, Verdrängtes befindet, zum Beispiel eine irre gewordene frühere Ehefrau. Jo sieht Dries in so einem Haus vor sich, und oben auf dem Dachboden befindet sich die weggesperrte Annie, das blöde, glatte goldene Haar, auf das sie so stolz ist, verfilzt, die klaren, leicht stechenden Augen trüb geworden. Zwei, drei Stockwerke weiter unten würden Jo und Dries mit seiner kleinen Tochter, deren einziger Fehler ihre Mutter wäre, in einem Bibliothekssaal sitzen. Jo hat derartige Bibliotheken in London gesehen, die Lederrücken der Bücher sind rot oder braun und mit viel Gold geprägt, man kann sich auf fahrbaren Leitern an den höher gelegenen Buchreihen entlangbewegen, die Räume schimmern warm. Dort würden sie zu dritt sitzen, Jo würde ihre kleine Nichteunterrichten, und Dries würde Jo unterrichten, denn das war die Grundlage ihrer Beziehung. Dank Freunden wie Theo ist sein Kunstverständnis seiner Zeit voraus, dank seiner Anstellung bei einer Handelsgesellschaft kennt er die weltumspannenden, historisch wie politisch oft aufregenden Wege der Waren. Wege, die mit fremden Ländern, deren Kulturen, Schiffen, Eisenbahnen und Geldflüssen zu tun haben und weit über die eingeschränkten Lebenswelten der Frauen in Jos Romanen, und damit auch weit über ihre eigene Lebenswelt, hinausreichen.

Sie fragt sich bei der Lektüre von Theos Briefen, ob er eine ähnlich große Liebe zu seinem älteren Bruder verspürt, zum Maler, der in Südfrankreich lebt und um den er sich seit seinem ersten Brief an sie große Sorgen macht, weil er zu viel trinkt und nichts isst und sich zu sehr in seine Kunst hineinsteigert und immerzu ein Fieber malt, gleichgültig, ob sein Motiv eine Zypresse oder Sonnenblumen oder sein kleines gelbes Zimmer ist, und dann wieder so lange mit einem sonnenverbrannten Kopf und Halluzinationen durch die kleine Stadt Arles irrt, bis er in einer Anstalt zur Ruhe kommen muss. Jo versteht das Fieber, es erinnert sie an ihre Geschichte mit Eduard. Manchmal muss man sich an eine Idee klammern und sich mit ihr in einen Abgrund stürzen und durch einen tosenden, siedenden Strudel aus lauten Farben und Tönen fallen, und erst, wenn alles grau und leise wird, weiß man, dass man an einem Ende angekommen ist. An einem unguten, ausgebluteten Ende. Aber an einem Ende. So kennt sie das, und so stellt sie sich die Verfassung von Theos Bruder vor.

Trotzdem mag sie die gegenseitige Abhängigkeit der Brüder nicht gutheißen, Vincent scheint alles an Theo zu verschlingen, Theos Aufmerksamkeit, Theos Güte, Theos Geld. Zurück kommt Kunst, die sich nicht verkaufen lässt. Dries hat ihr davon erzählt, es klang nicht, als ob ihr Vincents Kunst gefallen würde, Dries beschrieb sie als grobschlächtig und getrieben, doch er sagte auch, sie müsse sich von Theo einweihen lassen. Vincents Kunst zu verstehen, hieße, sich auf einen Kult einzulassen, und Theo sei der Hohepriester dieses Kults. Sie müsse sich keine Sorgen um Theos geistige Gesundheit machen, sagt er, der Kult um Vincent verlange keine Opfer, nur das des Künstlers Vincent van Gogh selbst. Mit etwas Glück handle es sich dabei vielleicht nur um einen Spleen, wie er in Vincents Kreisen üblich sei, und nach seiner südfranzösischen Phase, die zugegebenermaßen höchst intensiv sei, würde er sich wieder beruhigen und damit auch seinem Bruder einen größeren Seelenfrieden erlauben als jetzt.

Etwas beunruhigt Jo besonders: Bevor Vincent nach Südfrankreich zog, wohnte er mit Theo zusammen. Dries beschreibt ihr die Wohnung der Brüder als Höllenloch, überall lehnten Bilder von Vincent zum Trocknen gegen Wände, Schränke und Stühle, das Parkett sehe aus wie in einem Atelier, überhaupt befände sich das Atelier in der Wohnung selbst, im hintersten Zimmer, fertige Bilder stapelten sich unter dem Sofa und unter den Betten, die Möbel seien fleckig von den vielen Flaschen und Gläsern, aus denen Vincents Malerfreunde nächtelang getrunken hätten, die Tapeten seien grau geworden vom Rauch ihrer Zigaretten, kein Stück Geschirr sei noch ganz, sagt Dries, das wilde Gerede der Männer hätte nicht nur in seine Ohren und sonst so klare Gedanken, sondern auch in die Vorhänge und Teppiche Löcher gefressen, es sei hier wohl eine Kunstdämmerung im Gang, möglicherweise eine der größten, nachhaltigsten, aber dazu fehlten ihm, Dries, noch viele Nächte an Einsichten. Mittendrin wüte Vincent, der sich wochenlang nicht wasche, und dessen Gestank bereits im Treppenhaus hinge wie eine faulige Wolke. Der Ekel über Vincent mache sich nicht nur im Haus, sondern auch in der Straße breit, die Prostituierten hätten ihre Plätze vor dem Haus verlassen, und eine Rattenfamilie hätte sie ersetzt. Gut, das mit den Frauen und den Ratten hatte Dries ihr nicht so geschildert, das hatte sie sich dazu erfunden, aber die Hygienefeindlichkeit von Theos Bruder beunruhigt sie mehr, als sie zugeben mag, sie wäre so gerne ein Freigeist, aber sie ist am Ende eben doch nur ein Freigeist im Korsett. So, wie Dries kein Teil der Pariser Kunstszene ist, sondern bloß ihr Zuschauer.

Seit Theo wieder allein lebt, träumt er von einer Zukunft mit Jo, nicht nur nachts, dann besonders, aber auch, als er in seiner Galerie einem reichen Mann zwei Bilder verkauft, mit denen dieser seine Gattin beschenken will. Er stellt sich vor, wie ein Zuhause von Jo und ihm aussehen könnte, nicht riesig, nicht luxuriös, aber voller Kunst, die nichts anderes will, als das Grau der Welt in Licht und Farben aufzulösen. Er hat Lies davon erzählt, hat sie gefragt, ob er Jo zumuten könne, mit Vincents Bildern zu leben, und sie hat gesagt, natürlich, aber unter keinen Umständen mit den frühen, den holländischen und belgischen, den Bildern von hungrigen Bauern und ausgezehrten Bergarbeitern in den dunklen Farben alter Meister, die seien zu niederschmetternd. Nur mit den neuen, den südfranzösischen, den flimmernden Landschaften, das seien Bilder mit der Kraft explodierender Sterne und fröhlicher kleiner Sonnen. Wie Theo hofft Lies, dass die schier unfassbare Freude, die für sie in Vincents neuen Bildern liegt, auch sein Gemüt erfassen würde, aber sie zweifeln daran, denn die Attacken des Bruders gegen sich selbst werden immer gewalttätiger. Die Auflösung einer Blume, eines Menschen, eines Ackers in tausend Pinselstriche, die Zersetzung von Sicherheit und Stabilität, richtet sich auch gegen ihn selbst. Er hat seinen Geschwistern geschrieben, dass er das Gewicht und die Größe seines Kopfes nicht mehr ertrage, dass er in den Spiegel schaue und die Riesenhaftigkeit dieses fremdartigen Gestirns jedes Gefühl für Proportionen sprengen würde, dass es ihm eine Qual sei, ein Selbstporträt zu malen.

Lies hofft, selbst einmal einen Menschen zu finden, der sich so bedingungslos um sie kümmert wie Theo sich um Vincent. Und wie sie sich um Vincent. Und wie ihre Eltern sich um Vincent. Alles gilt immer Vincent. Jede Sorge. Alles Geld, was man entbehren kann. Vincent darf wild und gefährlich leben und tun, was er will, darf ausfällig werden und zusammenbrechen, während sie sich zusammenreißen muss. Lies muss mit ihrer Schuld leben und hat fast niemanden, mit dem sie reden kann, der ihr tagelang zuhört, sie tröstet und versteht, so wie Lies Jo in der einigermaßen langweiligen Geschichte mit Eduard unterstützt. Sie möchte mit ihrer Mutter darüber reden, aber die Mutter sagt, die Sache sei jetzt doch für alle Seiten günstig erledigt, es lohne sich nicht, noch einen Gedanken daran zu verschwenden, lieber solle sie vorwärtsschauen, und gesellschaftsfähig sei das Thema nun wirklich nicht. Denn Lies ist Mutter. Oder Mutter gewesen. Für neun Monate war sie eine werdende Mutter und danach für wenige Stunden eine wirklicheMutter, dann war die Sache erledigt, und jetzt ist sie wieder eine ledige, kinderlose Frau, eine, die offiziell gar nie Mutter geworden ist.