Die entführte Braut - Gail Ranstrom - E-Book

Die entführte Braut E-Book

GAIL RANSTROM

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Beschreibung

Ein schwarzhaariger Schurke erstürmt die Kirche und reißt Lilly O’Rourke vom Altar mit sich fort. Kein Bitten und kein Flehen hilft, ihr faszinierend attraktiver Entführer ist Devlin Farrell, der König der Londoner Unterwelt persönlich. Was hat er mit ihr im Sinn? Will er nur ihren kostbaren Saphirschmuck rauben? Oder ist sie Teil seines geheimen Racheplans? Als Devlin sie in die Wälder verschleppt, versucht Lilly noch zu fliehen, doch als er ihr einen ersten leidenschaftlichen Kuss raubt, erkennt sie sich plötzlich selbst nicht wieder. Wieso schmilzt all ihr Widerstand in Devlins starken Armen jäh dahin?

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Seitenzahl: 399

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IMPRESSUM

HISTORICAL erscheint alle zwei Monate im CORA Verlag GmbH & Co. KG,

20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Redaktion und Verlag:

Brieffach 8500, 20350 Hamburg

Tel.: 040/347-25852

Fax: 040/347-25991

Geschäftsführung:

Thomas Beckmann

Redaktionsleitung:

Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)

Cheflektorat:

Ilse Bröhl

Lektorat/Textredaktion:

Iris Paepke

Produktion:

Christel Borges, Bettina Schult

Grafik:

Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Vertrieb:

asv vertriebs gmbh, Süderstraße 77, 20097 Hamburg Telefon 040/347-29277

Anzeigen:

Christian Durbahn

Es gilt die aktuelle Anzeigenpreisliste.

© 2008 by Gail Ranstrom

Originaltitel: „Unlacing Lilly“

erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto

in der Reihe: HISTORICAL

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Übersetzung: Maria Fuks

Fotos: Harlequin Books S.A.

Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL

Band 279 (2) 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

ISBN: 978-3-86349-695-1

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

HISTORICAL-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Satz und Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:

BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL MYLADY, MYSTERY, TIFFANY HOT & SEXY, TIFFANY SEXY

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Gail Ranstrom

Die entführte Braut

1. KAPITEL

London, 27. Juli 1821

Erneut hatte Devlin Farrell sich in den Garten von Rutherford Palace geschlichen, um die Bewohner des Hauses zu beobachten. Inzwischen kannte er ihre Gewohnheiten fast so gut wie seine eigenen. Er wusste, was ihnen gefiel und was sie missbilligten. Er wusste auch, mit wem sie sich trafen und in welchen Clubs sie ihre Zeit verbrachten. Es war ihm sogar mehrfach gelungen, sich bei ihren Festen unter die Gäste zu mischen.

Auch in dieser Nacht wurde in Rutherford Palace gefeiert. Devlin allerdings lag nichts daran, jemandem zu begegnen, daher hatte er sich ins Dunkel einer Trauerweide zurückgezogen. So blieb er unsichtbar für die Paare, die im Garten flanierten. Dass man ihn entdecken könnte, war nicht zu befürchten. Selbst wenn ihn jemand sah, würde er nicht weiter auffallen. Ein Gentleman allein zog kaum neugierige Blicke auf sich, wenn er angemessen gekleidet war und sich benahm, wie man es von einem ehrenwerten Mitglied der Gesellschaft erwartete. Vermutlich hätte er sogar den Ballsaal betreten können, ohne als ungeladener Gast aufzufallen. Wer ihn nicht kannte, würde ihm kaum Beachtung schenken. Und diejenigen, die wussten, wer er war, würden sich ungern anmerken lassen, dass sie mit Devlin Farrell, den sie den König der Unterwelt nannten, bekannt waren.

Es war ein idyllischer, warmer Sommerabend, der Himmel war klar und voller Sterne. Der Garten von Rutherford Palace war für die Gäste geschmückt worden, bunte Lampions beleuchteten die Wege. Aus dem Haus erklang Tanzmusik, manchmal war das Klirren von Gläsern zu hören. Die Luft war erfüllt vom Surren der Stimmen, hin und wieder unterbrochen von einem hellen Lachen.

Farrell schlüpfte aus seinem Rock und hängte ihn über einen Ast. Dann krempelte er die Ärmel seines Hemdes auf. Ihm war warm, und es interessierte ihn nicht im Geringsten, wie sich ein Gentleman in der Öffentlichkeit zu kleiden hatte. Erstens war er kein Gentleman. Und zweitens würde ihn auch niemand sehen.

„Oh, Lord Olney, Sie sind so amüsant!“, rief eine wohlklingende Frauenstimme.

Edward Manlay, Marquis of Olney, der Sohn des Duke of Rutherford?

Gespannt wandte sich Devlin um. Ja, da kam er tatsächlich, der zukünftige Erbe des Dukes. Neben ihm ging eine schöne junge Frau mit honigblondem Haar, der das Licht des Mondes und der Lampions etwas beinahe Elfenhaftes verlieh. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das mit Vögeln bestickt war – eine passende Robe für eine junge Dame, die selbst so viel Leichtigkeit ausstrahlte.

Leise schlich Farrell um die Weide herum und lehnte sich gegen den Stamm. Was würde Olney als Nächstes tun? Der Bursche war bekannt dafür, unschuldige junge Frauen zu verführen. Und die Bank unter dem Baum bot sich für ein solches Unterfangen geradezu an.

„Bitte sagen Sie, dass Sie mir gehören wollen, Miss Lillian. Dann werde ich für den Rest meines Lebens alles tun, um Sie zu amüsieren!“

„Ist das ein Heiratsantrag, Mylord?“

Er lächelte, ohne seinen Hochmut verbergen zu können. Ein Marquis galt als gute Partie, selbst wenn er charakterliche Mängel hatte. „Ja, ich möchte Sie heiraten. Ich war noch nie von einer jungen Dame so angetan wie von Ihnen! Ich fürchte, Sie haben mein Herz geraubt.“

Die bezaubernde Miss Lillian ließ sich auf die Bank nieder, und ihr Begleiter setzte sich dicht neben sie.

„Ich glaube kaum, dass Ihr Vater mich als Schwiegertochter akzeptieren würde“, sagte sie leise. „Ich bin nicht von Adel, und meine Mitgift ist kaum der Rede wert.“

Olney legte die Stirn in Falten und schaute enttäuscht, sogar ein wenig ärgerlich drein. Diesen Gesichtsausdruck hatte Farrell bei dem jungen Mann bisher noch nicht gesehen. War die Mimik Teil einer privaten Theateraufführung, die der Schurke für seine Angebetete veranstaltete? Oder war er wirklich ärgerlich auf seinen Vater?

„Rutherford möchte, dass ich noch in diesem Jahr eheliche. Ich werde ihn davon überzeugen, dass Sie die Richtige sind.“

Miss Lillian öffnete ihren Fächer und begann, leicht hin und her zu wedeln. Das hatte nichts Affektiertes an sich. Offenbar war ihr warm, also fächelte sie sich kühle Luft zu. Devlin fand die junge Frau einfach hinreißend. Sie war schön, anmutig, stolz und trotz ihrer Jugend – sie mochte kaum zwanzig sein – erstaunlich selbstsicher. Ja, sie war genau die Art von Frau, die Devlin nie bekommen würde, die zu erobern Olney jedoch als sein angestammtes Recht betrachtete.

„Ich bin sicher, dass Seine Gnaden eine Verbindung zwischen uns verhindern möchte.“

Der Marquis nahm ihre Hand. „Sie müssen die Meine werden! Ich kann es nicht ertragen, zu sehen wie Sie von anderen Gentlemen angehimmelt und umworben werden. Es ist mir eine Qual zu beobachten, wie die Männer um Sie herumscharwenzeln wie Rüden um eine …“

Beinahe hätte Farrell laut aufgelacht. Der Satz konnte nur auf eine Weise zu Ende geführt werden. … wie Rüden um eine läufige Hündin. Und das würde der jungen Dame sicher missfallen.

Aber Olney hatte sich gerade noch rechtzeitig unterbrochen.

Und nun fing die bemerkenswerte Miss Lillian an zu lachen. Offenbar wusste sie genau, welche Worte ihr Verehrer unterdrückt hatte. Doch sie war nicht entrüstet, sondern belustigt. War sie womöglich gar nicht so wohlerzogen, wie es schien?

Ein wenig verlegen strich der Marquis seine Rockschöße glatt, holte tief Luft und erklärte: „Ich kann nicht länger warten! Sollte mein Vater mir die Erfüllung meines Wunsches verwehren, so fliehen wir nach Gretna Green und vermählen uns dort. Sind wir einmal verheiratet, wird Rutherford sich damit abfinden.“

Gute Güte, der Dummkopf meinte es ernst! Devlin musste leise grinsen. Olney war also bereit, das Mädchen zu ehelichen, um es ins Bett zu kriegen. Nun, warum auch nicht? Begierde war nicht der schlechteste Grund für eine Heirat. Andere schlossen Ehen, um ihre gesellschaftliche Stellung zu festigen oder weil sie die Mitgift brauchten. Beides traf auf den zukünftigen Erben des reichen und angesehenen Duke of Rutherford nicht zu. Er war frei in seiner Entscheidung. Die hübsche blonde Frau hatte allen Grund zur Freude!

Aber nein, Miss Lillian schien immer gut für eine weitere Überraschung. „Ich habe Ihnen absolut nichts zu bieten“, wiederholte sie. „Meine Familie ist nicht besonders wohlhabend. Und da wir erst kürzlich nach London gezogen sind, kennen wir hier kaum jemanden. Man kann wirklich nicht sagen, dass wir über gute Beziehungen verfügten.“

„Das ist mir gleichgültig!“ Erregt sprang Olney auf und blickte voller Verlangen auf die Angebetete. „Heiraten Sie mich! Meinem Vater geht es gesundheitlich nicht gut, und bald schon werden Sie eine Duchess sein. Diese Verantwortung brauchen Sie nicht zu fürchten. Ich erwarte von Ihnen nur, dass Sie mein Heim mit Ihrer Anmut zieren, sich in der Öffentlichkeit an meiner Seite zeigen und des Nachts mein Bett teilen. Sie müssen die Meine werden!“

Rutherford war krank? Das hatte Farrell nicht gewusst. Unter diesen Umständen blieb ihm nicht mehr viel Zeit, seine Pläne umzusetzen. Verflixt! Doch zunächst einmal wollte er nichts von dem Gespräch zwischen Olney und dieser faszinierenden jungen Dame verpassen. Gewiss würde sie dem Drängen des Marquis nachgeben. In ihrer Position war eine Heirat mit ihm mehr, als sie sich je erhoffen konnte. Noch zögerte sie. Aber ihr Ja war nur eine Frage der Zeit, das wusste Devlin – obwohl er sich dennoch wünschte, sie würde den überheblichen Spross der Familie Manlay abweisen.

„Ihr Antrag ehrt mich, Mylord. Doch die Vernunft gebietet mir, ihn abzulehnen.“

„Ich werde Sie bekommen, ob mein Vater nun damit einverstanden ist oder nicht!“

Der eingebildete Dummkopf umarmte das Mädchen und zog es eng an sich.

Farrell wäre Miss Lillian am liebsten zu Hilfe geeilt, doch er hatte es sich zum Vorsatz gemacht, sich nirgends einzumischen, solange er sich in Rutherford Palace oder dem Garten aufhielt. Sie würde sich selbst wehren müssen.

Sie versuchte, Olney mit beiden Händen von sich zu stoßen, doch dazu reichten ihre Kräfte nicht aus. Eisern hielt er sie fest, und schließlich gab sie nach. Ja, sie erlaubte dem Marquis sogar einen Kuss. Hatte sie sich ihm so rasch unterworfen? Devlin legte die Stirn in Falten. Er hätte wetten mögen, dass sie eher die Zähne zusammenbiss, als ihren süßen Mund preiszugeben.

Ein kluges Kind, dachte er, so hält sie ihn bei der Stange.

Erfreut über ihre scheinbare Nachgiebigkeit, lockerte Olney seinen Griff, und sogleich trat Miss Lillian einen Schritt zurück. Hatte sie gewusst, dass er sie loslassen würde, sobald er meinte, sich in der stärkeren Position zu befinden? Wahrlich, sie war diesem Dummkopf haushoch überlegen. Klug, listig und überhaupt nicht so unerfahren, wie man meinen sollte! Sie gefiel Farrell immer besser.

„Ich werde gleich jetzt mit meinem Vater sprechen“, sagte der Marquis. „Bitte warten Sie hier auf mich. Wenn ich zurück bin, gibt es etwas zu feiern!“

Devlin konnte sich lebhaft vorstellen, was Olney unter Feiern verstand. Immerhin begehrte er die junge Dame so leidenschaftlich, dass er bereit war, sich deshalb mit dem Duke anzulegen. Wenn es ihm gelang, seinen Kopf durchzusetzen, dann würde Miss Lillian bald sein Bett teilen und ihm einen Nachfolger gebären.

Welch unerwartete Entwicklung! Und was für ein Glück für Farrell, die Unterhaltung dieses Paares mit anzuhören. Bot sich ihm hier doch eine wahrhaft großartige Möglichkeit, die Demütigungen der Vergangenheit zu rächen.

Lillian O’Rourke seufzte, ließ sich wieder auf die Bank unter der Weide sinken und beobachtete, wie Olney im Haus verschwand. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass der Erbsohn eines Dukes um ihre Hand anhalten würde. Aber da sich nun unerwartet die Chance bot, eine richtig gute Partie zu machen, wollte sie die auch nutzen. Ihr Instinkt riet ihr, vorsichtig zu sein. Doch ihr Verstand ermahnte sie, nicht unnötig zu zögern. Bisher hatte Olney sie stets zuvorkommend und freundlich behandelt. Eine Ehe mit ihm hätte viele Vorteile. Ja, sie könnte für die O’Rourkes sogar die Rettung bedeuten!

Seit Lilly mit ihrer Familie nach London gekommen war, hatte das Leben ihnen übel mitgespielt. Ihre Schwester Cora war tot – ermordet. Eugenia wollte aus lauter Angst das Haus nicht mehr verlassen. Isabella, die Älteste, vermählte sich plötzlich und ganz offiziell mit dem berüchtigten Lord Libertine, und zwar noch bevor die Trauerzeit um Cora zu Ende war. Und ihre Mama, die nie besonders lebenstüchtig gewesen war, hatte sich nun in eine Traumwelt zurückgezogen.

Seitdem trug Lady Vandecamp, eine Freundin von Mrs. O’Rourke, beinahe die alleinige Verantwortung für die Schwestern. Sie hatte sich anerboten, die O’Rourke-Töchter in die Gesellschaft einzuführen. Erst neulich hatte sie gemahnt, es müsse dringend etwas geschehen, damit die Saison in London nicht gänzlich zum Misserfolg zu werden drohe. Lilly war die Aufgabe zugefallen, nun dafür zu sorgen, das „das Richtige“ getan wurde.

Eine Verbindung mit dem Erben des Duke of Rutherford war vermutlich genau das, was Lady Vandecamp sich darunter vorstellte. Die Ehe mit Olney würde den Ruf und die Zukunft O’Rourkes retten. Das Misstrauen der Mitglieder der guten Gesellschaft gegenüber der von Schicksalsschlägen gebeutelten Familie aus Belfast würde vielleicht nicht sogleich schwinden, aber zumindest würde niemand es mehr wagen, böse Gerüchte über sie zu verbreiten.

Lilly war nicht in den Marquis verliebt. Doch das beunruhigte sie nicht. Schließlich hatte ihre Mama ihr immer wieder versichert, dass die Liebe mit der Zeit schon kommen würde. Sie war durchaus bereit, sich zu gedulden, zumal sie durch Beobachtungen zum Schluss kam, dass Liebe etwas Gefährliches war. Liebe schien sehr oft mit Verrat einherzugehen. Deshalb hatte Cora sterben müssen. Und deshalb war Bella jetzt mit einem Mann verheiratet, der vielleicht gar nicht zu ihr passte.

„So nachdenklich, Miss?“

Sie zuckte zusammen, fuhr herum und sah einen Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln näher treten. Der Gärtner vielleicht, oder der Stallmeister? Himmel, er hätte sie nicht so erschrecken dürfen! Und überhaupt war er ein Fremder. Wenn sie eines in London gelernt hatte, dann dies: Trau keinem Unbekannten – und insbesondere nicht einem so attraktiven und überaus männlich wirkenden Fremden wie diesem!

Ohne ein Wort zu sagen, wandte sie sich von ihm ab.

Hinter sich hörte sie ihn leise lachen. Ein heißer Schauer lief ihr den Rücken hinunter.

„Miss Lillian, nicht wahr?“

„Miss O’Rourke“, korrigierte sie ihn, ohne sich umzuschauen.

„O’Rourke, tatsächlich … Dann habe ich mich also nicht getäuscht, als ich meinte, einen leichten irischen Akzent herauszuhören. Hat man Ihnen beigebracht, Ihre Herkunft zu verleugnen?“

Wollte er andeuten, sie schämte sich ihres irischen Blutes? Welch ein Unsinn! „Ich bin stolz auf meine Wurzeln, und keiner, an dessen Meinung mir etwas liegt, würde mir raten, sie zu verheimlichen. Meine Mutter ist im Übrigen Engländerin. Mein Vater allerdings … Nun, das geht Sie gar nichts an. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt mit Ihnen rede.“

Er trat auf sie zu und schenkte ihr ein Lächeln, das ihr recht dreist vorkam. Und er schaute sie an, als wisse er alles über sie! Unwillkürlich atmete sie rascher. Himmel, er machte sie nervös! Ob er gelauscht hatte? Wahrscheinlich ja. Wie ungezogen von ihm!

„Obere Inselhälfte vermutlich, schottischer Einschlag – Sie kommen aus dem Norden Irlands, nicht wahr. Aus Belfast?“

Woher wusste er das? Sie starrte ihn an. Nein, sie würde nicht zugeben, dass er es erraten hatte.

„Belfast also“, stellte er gelassen fest. „Und jetzt leben Sie in London und verkehren in den besten Kreisen. Offenbar sind Sie auf dem Weg nach oben. Wer den Erben eines Dukes heiratet, gehört über Nacht zur Crème der Gesellschaft. War das von langer Hand geplant? Oder handelt es sich um einen echten Glücksfall?“

Sie straffte die Schultern und versuchte, den Fremden zu ignorieren.

„Sie können unbesorgt mit mir reden, Miss O’Rourke. Ich beiße nicht, ich verspreche es.“

Ihre Neugier war zu groß. Sie musste ihn einfach noch einmal genauer ansehen. Jetzt bemerkte sie, dass er einen teuren, maßgeschneiderten Rock über dem Arm trug. Sein makellos weißes Tuch war zu einem kunstvollen Knoten geschlungen. Kein Gärtner also – was seinen Auftritt noch verwirrender machte. Er war groß und kräftig gebaut. Sein dichtes dunkles Haar war modisch geschnitten, und die graublauen Augen verrieten seinen scharfen Verstand. Aber da war noch etwas anderes. Ärger? Etwas Herauforderndes und gleichzeitig Ablehnendes? Jedenfalls etwas ziemlich Beunruhigendes.

„Wir sind einander nicht vorgestellt worden“, sagte sie.

Er schaute um sich und zuckte mit den Schultern. „Keiner da, der das übernehmen könnte.“

Natürlich hätte er einfach seinen Namen nennen können. Da er das nicht tat, beschloss Lilly, ihn ab sofort wirklich zu ignorieren. Unter anderen Umständen hätte sie ihn vielleicht gefragt, warum … Nein, sie hätte es ganz bestimmt nicht getan! Trotz seiner modischen Kleidung sah er so gar nicht aus wie ein echter Gentleman. Er wirkte irgendwie wild und ungezähmt. Ja, das war wohl die Sorte Mann, die schon ihre beiden Schwestern ins Verderben gestürzt hatte. Er war gefährlich!

Ihr zur Schau gestelltes Desinteresse schien ihn völlig kaltzulassen. „Sie sind also im Begriff, eine Marchioness zu werden“, stellte er fest. „Ein großes Glück für jemanden wie Sie.“

Ihre Selbstbeherrschung reichte nicht aus, um die Beleidigung zu überhören. „Ein großes Glück für den Bräutigam!“

Er begann wieder zu lachen. „Natürlich sollte man über eine gewisse Selbstachtung verfügen. Aber ein übersteigertes Selbstbewusstsein ist auch nicht gesund.“

Nun beleidigte er sie schon wieder! Er dachte wohl, sie sei nicht gut genug für jemanden wie Olney. Ha! „Sind Sie ein Freund des Marquis? Wollen Sie ihn vor meinen ehrgeizigen Plänen bewahren?“

„Wir sind nicht befreundet. Und deshalb werde ich ihn gewiss nicht vor Ihnen warnen.“

Blut stieg ihr in die Wangen, und einen Moment lang bebte sie vor Zorn am ganzen Körper. Wie unverschämt dieser Fremde war! Wahrlich, niemand in London hatte es bisher gewagt, so mit ihr zu sprechen!

„Ihre Taktik scheint jedenfalls erfolgreich zu sein“, überlegte er laut. „Mit Ihrer Zurückhaltung bringen Sie ihn dazu, genau das zu tun, was Sie wollen. Wenn Sie ihm mehr Freiheiten gestattet würden, hätte er Ihnen wohl kaum einen Antrag gemacht.“

„Ich bin keineswegs sicher, dass ich ihm nach der Eheschließung all die Freiheiten zugestehen werde, von denen er träumt.“

Diesmal lachte Farrell so laut, dass Lilly zusammenzuckte. „Für so naiv hätte ich Sie nicht gehalten, Miss O’Rourke. Haben Sie wirklich keine Ahnung, was für ein Typ Mann Olney ist? Er spielt den Gentleman, aber in Wirklichkeit ist er ein Tier. Wenn Sie erst seine Frau sind, wird ihn nichts davon abhalten, sich zu nehmen, was er will.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

Er verbeugte sich. „Das verrate ich Ihnen vielleicht beim nächsten Mal. Ich freue mich schon darauf, von Ihnen zu erfahren, was Sie in der Zwischenzeit mit Olney erlebt haben. Es steht zu befürchten, dass er Sie Ihres Optimismus bald beraubt haben wird – aber natürlich werden Sie dadurch an Weisheit gewinnen.“

So ein unverschämter Rüpel! „Soll das eine Drohung sein?“, fragte sie zornig.

„Darüber sollten Sie nachdenken.“ Damit wandte er sich ab und war gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden.

Devlin Farrell hatte die Unterhaltung mit Miss O’Rourke rasch abgebrochen, als er sah, wie Olney aus dem Haus trat. Er wollte diesen Schurken nicht treffen. Unwahrscheinlich zwar, dass der Marquis ihn nach zwanzig Jahren wiedererkennen würde, doch er wollte kein Risiko eingehen.

Schade, dachte er, ich hätte gern noch ein bisschen mit ihr geplaudert, sie ist wirklich reizend.

Tatsächlich hätte er nicht genau zu sagen vermocht, was ihn an Lillian O’Rourke so anzog. Vielleicht ihre großen blauen Augen mit dem ungewöhnlichen Grünschimmer. Oder ihre faszinierende Ausstrahlung. Hütete sie ein Geheimnis? Aber nein, Miss O’Rourke war viel zu jung und unschuldig, um eine „Vergangenheit“ zu haben.

Er versteckte sich wieder hinter der Trauerweide. Was mochte Rutherford gesagt haben? Würden bald die Hochzeitsglocken läuten? Würde aus Miss O’Rourke die Marchioness of Olney werden? Und wenig später – sollte der Hinweis auf den schlechten Gesundheitszustand des Vaters stimmen – die Duchess of Rutherford? Das zu erfahren war wichtig. Auch für Farrells Zukunft.

„Ich soll Sie fragen, Miss Lillian, ob Sie sich unter Umständen vorstellen können, ihr Leben mit mir zu teilen, wenn Sie dafür eine Summe in einer Höhe erhalten, die Ihnen und Ihren Angehörigen ein sorgenfreies Leben ermöglicht.“

Sie sollte Olneys Mätresse werden? Devlin grinste. Wie würde die stolze junge Dame darauf reagieren?

Sie schwieg. Und erst nach einer ganzen Weile sagte sie: „Mylord, Sie verwirren mich. Was soll ich aus Ihren Worten schließen? Gewiss glauben Sie nicht wirklich, dass ich …“

„Ich habe meinem Vater gleich gesagt, Sie würden nicht zustimmen. Aber ich musste ihm versprechen, Ihnen den Vorschlag zu unterbreiten.“

Farrell zog die Stirn in Falten. Olney fühlte sich Miss O’Rourke überlegen, daran konnte kein Zweifel bestehen. Er schien aber auch zu wissen, dass sie sich nicht auf eine Affäre mit ihm einlassen würde. Nun, offenbar wollte er mehr von ihr als von den vielen unglücklichen Frauen, die zu seinen kurzlebigen Eroberungen zählten. Sonst hätte er sie vermutlich auch gegen ihren Willen einfach genommen. Wie gut, dass er so vernarrt in die junge Dame war! Denn unter diesen Umständen würde Devlin den Plan, der langsam in ihm reifte, tatsächlich in die Tat umsetzen können.

„Teilen Sie dem Duke mit, dass ich dieses beleidigende Angebot zurückweise. Und nehmen Sie zur Kenntnis, Mylord, dass ich auch Sie abweise.“

„Aber … warum?“

„Weil Sie mir eines bewiesen haben: Trotz der Zuneigung, die Sie mir angeblich entgegenbringen, haben Sie nicht die Wahrung meiner Interessen, sondern einzig und allein Ihren eigenen Vorteil im Sinn.“

„Nein, Miss Lillian, das ist nicht wahr! Rutherford hat mich gezwungen, Ihnen dieses Angebot zu unterbreiten! Ich selbst habe Ihnen doch mehrfach versichert, dass ich Sie heiraten möchte! Das habe ich auch meinem Vater gesagt.“ Er griff nach der Hand der jungen Dame. „Liebste Lillian, er hat mir gestattet, Sie zur Gemahlin zu nehmen, wenn Sie das seiner Meinung nach ‚passendere‘ Angebot ablehnen.“

„Er war also mit meiner Mitgift nicht zufrieden?“

„Es ging weniger darum als um Ihre … bescheidene Herkunft.“

Obwohl Devlin es im Dunkeln nicht sehen konnte, war er sich sicher, dass Miss O’Rourke errötete. Wie gut konnte er ihre Gefühle verstehen! Schließlich hatte er selbst zeit seines Lebens unter seiner bescheidenen Herkunft zu leiden gehabt.

Die junge Dame rang um Fassung. Gewiss würde sie nicht auf die Ehe mit Olney verzichten, nur weil sein Vater sie ungeeignet fand. Keine Frau, die über ein wenig Verstand und Ehrgeiz verfügte, hätte das getan. Jetzt fragte sie: „Was hat Ihr Vater sonst noch gesagt, Mylord?“

„Nun, da wir verlobt sind, können Sie mich, solange wir allein sind, Edward nennen, meine Liebe“, gab der Marquis ausweichend zurück.

„Sind wir denn verlobt?“

„So gut wie. Sobald ich Rutherford Bescheid gebe, wird er mit Lord und Lady Vandecamp sprechen. Lady Vandecamp hat Sie unter ihre Fittiche genommen, nicht wahr? Ich denke, sie wird sich, wenn alles geregelt ist, mit Ihrer Mama in Verbindung setzen und deren Einwilligung erwirken. Ich wünsche mir eine kurze Verlobungszeit. Liebste Lillian, Sie sind doch damit einverstanden, dass wir uns so bald wie möglich vermählen? Mitte August könnten wir bereits getraut werden.“

„Oh, so bald?“ Ihre Stimme bebte ein wenig.

„Aber ja! Sie haben doch nicht etwa Angst vor der Ehe? Ich weiß natürlich, dass junge Damen manchmal … scheu sind. Aber bedenken Sie doch: In drei Wochen werden Sie Marchioness of Olney sein. Es wird Ihnen an nichts fehlen. Und um unsere Hochzeitsnacht werden uns selbst die Götter beneiden!“

Eigentlich müsste sie glücklicher aussehen, dachte Farrell.

Lilly starrte zu Boden, was Olney sehr zu enttäuschen schien. Bestimmt hatte er geglaubt, sie würde sich ihm an den Hals werfen und die Verlobung mit einem Kuss besiegeln. War ihre Zurückhaltung nur Taktik? Oder war sie wirklich nicht besonders erfreut über die in Aussicht gestellte Heirat?

„Ja …“, murmelte sie. „Ja … Edward.“

„Drei Wochen sind eine endlos lange Zeit. Wie soll ich sie nur überstehen, Lillian?“

Ehe sie etwas darauf erwidern konnte, zog er sie an sich und presste seine Lippen auf die ihren. Miss O’Rourke versuchte, sich zu befreien. Aber sie hatte keine Chance gegen einen Mann, der entschlossen war, sich einen richtigen Kuss zu stehlen.

Devlin zuckte es in den Fäusten. Es war ihm sehr unangenehm, zusehen zu müssen, wie eine Frau rücksichtslos behandelt wurde. Am liebsten hätte er den Schurken weggerissen und ihm einen Kinnhaken verpasst. Schon oft hatte er Gerüchte über die Gemeinheiten vernommen, die Olney seinen Mätressen zumutete.

„Kommen Sie, Lillian, habe ich nicht wenigstens einen Kuss verdient? Geben Sie mir einen Vorgeschmack auf das, was ich von Ihnen bekomme, wenn wir offiziell verlobt sind.“

Es gelang ihr, ihn ein Stück weit von sich zu schieben. Doch zu ihrem Entsetzen nutzte er die Gelegenheit, um nach ihrer Brust zu greifen und sie unsanft zu drücken. Lillian schrie auf. Und Devlin war im Begriff, mit geballten Fäusten hinter der Trauerweide hervorzuschießen.

Das erwies sich als unnötig. Denn Miss O’Rourke trat Olney kräftig auf den Fuß. „Lassen Sie mich sofort los! Wie können Sie es wagen, sich derartige Freiheiten herauszunehmen!“

„Wir werden bald verheiratet sein. Was machen da schon ein paar Tage aus? Gewähren Sie mir Ihre Gunst, meine Liebe.“

„Wenn es auf ein paar Tage nicht ankommt, dann können Sie sich sicher noch ein wenig gedulden, Mylord.“

„Und wenn ich nicht dazu bereit bin?“ Er fasste sie um die Taille und zog sie fest an sich, sodass sie seine Erregung spüren konnte. „Was werden Sie dann tun? Die Verlobung lösen?“

Farrell hielt den Atem an. Wie würde sie reagieren? Machte sie dem Marquis nun klar, dass sie niemals einen so rücksichtslosen Mann heiraten würde? Erkannte sie nun, wie es ihr an seiner Seite ergehen würde? Ein wenig hoffte Devlin, sie würde einen Rückzieher machen, auch wenn das hieß, dass er sie nicht für seine Pläne einsetzen konnte. Ihre Antwort enttäuschte ihn.

„Ich … möchte tun, was gut und richtig ist. Solche Intimitäten sind nur Ehegatten gestattet.“

„Also gut. Ich respektiere Ihre Tugendhaftigkeit, deshalb werde ich mich bis zur Hochzeit gedulden. Allerdings erwarte ich, dass Sie sich im Ehebett nicht so prüde zieren.“ Schließlich ließ er sie los. „Gehen wir zurück ins Haus.“

Mit gerunzelter Stirn schaute Farrell dem Paar nach. Drei Wochen bis zur Hochzeit. Das musste reichen, um alle Vorbereitungen zu treffen. Er würde seinen Plan ausführen und endlich Gerechtigkeit schaffen.

2. KAPITEL

London, Whitechapel, 15. August 1821

„Devlin Farrell! Schön, Sie wieder einmal zu treffen.“

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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