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Glücksspiel ist so alt wie der menschliche Wunsch, dem Zufall eine Bedeutung abzuringen. Schon in der Antike warfen Menschen Knochen, Steine oder Muscheln, um Schicksal, Entscheidung oder Hoffnung zu befragen. Doch aus Spiel und Wagnis wurde bald eine eigene Kultur – eine, die das Risiko zivilisierte und zugleich den Traum vom schnellen Gewinn nährte. Was als beiläufiges Vergnügen begann, entwickelte sich zu einem gesellschaftlichen Phänomen von erstaunlicher Beständigkeit. Dieses Buch geht der Frage nach, wann das Spiel auf Glück zu einer Erfindung im kulturellen Sinn wurde – und was Menschen dazu brachte, ihm Orte, Regeln und Institutionen zu schaffen. Vom venezianischen Ridotto über Pferdewetten bis zu modernen Spielbanken und Online-Casinos: überall zeigt sich das alte Muster von Versuchung, Hoffnung und Berechnung. Glücksspiel ist weniger ein Spiegel der Gier als ein Echo des Glaubens, dass Zufall sich zähmen lässt. ›Die Erfindung des Glücksspiels‹ untersucht nicht nur die Entwicklung eines sozialen Rituals, sondern auch die tieferen Schichten menschlicher Erwartung. Denn wo Menschen wetten, verhandeln sie mit der Unsicherheit des Lebens – und glauben für einen Moment, sie ließe sich besiegen.
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Seitenzahl: 166
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die Erfindung
des Glücksspiels
•
Spielsucht, Wetten und Hoffnung
Eine Betrachtung
von
Lutz Spilker
DIE ERFINDUNG DES GLÜCKSSPIELS
SPIELSUCHT, WETTEN UND HOFFNUNG
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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Texte: © Copyright by Lutz Spilker
Teile des Buchtextes wurden unter Zuhilfenahme von KI-Tools erstellt.
Umschlaggestaltung: © Copyright by Lutz Spilker
Das Cover und die internen Illustrationen wurden mithilfe von generativer KI erstellt.
Verlag:
Lutz Spilker
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Inhalt
Inhalt
Das Prinzip der Erfindung
Vorwort
Der Wurf der Knochen
Ursprung des Zufalls
Zwischen Spiel und Schicksal
Der Versuch, das Unverfügbare zu zähmen
Der Knochen als Gedächtnis des Spiels
Vom Los zum Spiel
Der Augenblick des Fallens
Das Orakel und das Spiel
Wenn Götter entscheiden
Das göttliche Los
Die Götter und das Spiel
Die göttliche Unsicherheit
Wenn Zufall Gerechtigkeit ersetzt
Die Sprache der Zeichen
Vom göttlichen Zufall zum göttlichen Spiel
Vom Ritual zum Vergnügen
Der Moment der Profanisierung
Würfel und Macht
Glücksspiel in Ägypten, Indien und Rom
Das Spiel als Spiegel des Kosmos
Das Spiel als Schicksal
Das Spiel als Spiegel der Gesellschaft
Zwischen Kult und Kontrolle
Das Risiko der Legionen
Soldaten, Wetten und Beute
Verbot und Versuchung
Glücksspiel in der Spätantike und im Mittelalter
Das Spiel des Schicksals
Fortuna als kulturelle Figur
Die Göttin mit dem Rad
Vom Kult zur Metapher
Fortuna und das Spiel
Renaissance einer alten Göttin
Fortuna und das moderne Denken
Die Rückkehr der Laune
Wetten und Handel
Die Geburt des kalkulierten Risikos
Vom Wurf des Würfels zum Wurf des Loses
Risiko als Denkform
Die Berechnung des Ungewissen
Fortuna wird zur Formel
Zwischen Markt und Moral
Das Wagnis als Tugend
Die Vermessung der Zukunft
Der Preis des Wissens
Der kalkulierte Traum
Il Ridotto in Venedig
Die Geburt eines öffentlichen Spielpalastes (1638)
Ein Raum, der mehr war als Stein
Rituale im Seidenkleid
Zwischen Moral und Macht
Ein Haus voller Geschichten
Die langsame Schließung des Vorhangs
Ein Vermächtnis aus Kerzenlicht
Der höfische Zufall
Glücksspiel und Standesbewusstsein
Ein Spiel für jene, die nicht arbeiten
Bühne der kalkulierten Leichtigkeit
Wien und die andere Note höfischer Eleganz
Der Zufall als gesellschaftlicher Richter
Exzesse hinter goldenen Türen
Masken ohne Karneval
Ende einer Welt – Beginn einer anderen
Moral und Mathematik
Die Erfindung der Wahrscheinlichkeit
Die Spielbank als Bühne
Architektur und Atmosphäre des Risikos
Alles wird kanalisiert.
Es ist kein Zufall.
Der Glanz kam später.
Er wurde dafür gebaut.
Das Volk spielt
Lotterien und der Traum vom sozialen Aufstieg
Denn das Motiv war viel tiefer: Es ging – und geht – um Sehnsucht.
Die Realität war komplizierter.
Der Spieler als Typus
Von Dostojewski bis Stefan Zweig
Das Roulette wird zum Ritual des Glaubens ohne Heil.
Vielleicht ist das der leise Unterton seiner Prosa: Der Spieler ist überall.
Beide aber fassen denselben Schatten: den des Menschen, der nicht loslassen kann.
Der Zufall im Labor
Psychologie des Gewinnens und Verlierens
Doch der Zufall denkt nicht.
Die industrielle Versuchung
Automaten, Zahlen und Systeme
Der Reiz der berechenbaren Unschärfe
Der erste mechanische Verführer
Zahlen als Verführer und Verräter
Systeme – die Architektur des Selbstbetrugs
Die Stille hinter den Lichtern
Zwischen Maschine und Mythos
Die Sucht nach Kontrolle
Pathologie des Spieltriebs
Der Mensch und seine Ungewissheit
Der schleichende Verlust der Distanz
Wenn Hoffnung sich in Notwendigkeit verwandelt
Das paradoxe Bündnis: Kontrolle und Kontrollverlust
Scham – der stille Begleiter der Kontrolle
Das fragile Versprechen der Befreiung
Der leise Abschied von der Freiheit
Das Wetten als Weltanschauung
Risiko im 20. Jahrhundert
Die Mathematik der Zuversicht
Weltwirtschaft und Wagemut
Das Wagnis als Staatsräson
Der Spieler im Maschinenzeitalter
Das Wetten im Alltag
Mediale Reize, private Hoffnungen
Die Theorie der Risiken und die Praxis des Lebens
Ein Jahrhundert, das setzte – und setzte weiter
Der digitale Croupier
Online-Casinos und virtuelle Währungen
Glück per Klick
Die virtuelle Münze – eine Wette auf Absicht
Glück, Einsicht und der flüchtige Klick
Algorithmus und Sehnsucht
Wenn die Grenze verschwindet
Daten, Algorithmen und Zufall
Das Spiel im Zeitalter der Berechnung
Der Blick hinter die Schattenwand
Wenn Glück berechnet werden soll
Maschinen, die Zufall vortäuschen
Daten als Spiegel des Spielers
Die stille Macht der Prognose
Zwischen Statistik und Schicksal
Das Ende der Berechenbarkeit?
Der Spieler in uns
Anthropologische Konstanten des Risikos
Vom Überleben zum Verlangen
Das Glühen des Zufalls in der Biologie
Rituale des Unsicheren
Das organisierte Risiko des Alltags
Warum der Sieg berauscht
Die andere Seite
Das Erbe in uns
Hoffnung auf Gewinn
Psychologie des Möglichen
Sehnsucht nach dem Unwahrscheinlichen
Der Reiz der Möglichkeit, nicht des Ergebnisses
Hoffnung als kulturelle Praxis
Zwischen Kontrolle und Hingabe
Das Mögliche als Verheißung
Ein letzter Gedanke
Das Ende des Zufalls?
Glücksspiel in einer entzauberten Welt
Nachspiel
Die Erfindung als Spiegel des Menschen
Über den Autor
In dieser Reihe sind bisher erschienen
Glücksspiel ist das Kind der Habsucht,
der Bruder der Sittenlosigkeit
und der Vater des Unheils.
George Washington
George Washington (* 22. Februar 1732 auf dem Gutshof Wakefield (auch Pope’s Plantation genannt) im Westmoreland County, Kolonie Virginia; † 14. Dezember 1799 auf Mount Vernon, Virginia) war von 1789 bis 1797 der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.
Das Prinzip der Erfindung
Vor etwa 20.000 Jahren begann der Mensch, sesshaft zu werden. Mit diesem tiefgreifenden Wandel veränderte sich nicht nur seine Lebensweise – es veränderte sich auch seine Zeit. Was zuvor durch Jagd, Sammeln und ständiges Umherziehen bestimmt war, wich nun einer Alltagsstruktur, die mehr Raum ließ: Raum für Muße, für Wiederholung, für Überschuss.
Die Versorgung durch Ackerbau und Viehzucht minderte das Risiko, sich zur Nahrungsbeschaffung in Gefahr begeben zu müssen. Der Mensch musste sich nicht länger täglich beweisen – er konnte verweilen. Doch genau in diesem neuen Verweilen keimte etwas heran, das bis dahin kaum bekannt war: die Langeweile. Und mit ihr entstand der Drang, sie zu vertreiben – mit Ideen, mit Tätigkeiten, mit neuen Formen des Denkens und Tuns.
Was folgte, war eine unablässige Kette von Erfindungen. Nicht alle dienten dem Überleben. Viele jedoch dienten dem Zeitvertreib, der Ordnung, der Deutung oder dem Trost. So schuf der Mensch nach und nach eine Welt, die in ihrer Gesamtheit weit über das Notwendige hinauswuchs.
Diese Sachbuchreihe mit dem Titelzusatz ›Die Erfindung ...‹ widmet sich jenen kulturellen, sozialen und psychologischen Konstrukten, die aus genau diesem Spannungsverhältnis entstanden sind – zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit, zwischen Dasein und Deutung, zwischen Langeweile und Sinn.
Eine Erfindung ist etwas Erdachtes.
Eine Erfindung ist keine Entdeckung.
Jemand denkt sich etwas aus und stellt es zunächst erzählend vor. Das Erfundene lässt sich nicht anfassen, es existiert also nicht real – es ist ein Hirngespinst. Man kann es aufschreiben, wodurch es jedoch nicht real wird, sondern lediglich den Anschein von Realität erweckt.
Der Homo sapiens überlebte seine eigene Evolution allein durch zwei grundlegende Bedürfnisse: Nahrung und Paarung. Alle anderen, mittlerweile existierenden Bedürfnisse, Umstände und Institutionen sind Erfindungen – also etwas Erdachtes.
Auf dieser Prämisse basiert die Lesereihe ›Die Erfindung …‹ und sollte in diesem Sinne verstanden werden.
Vorwort
Glücksspiel ist eine merkwürdige Erfindung. Es ist zugleich leicht und schwer, banal und tiefsinnig, oberflächlich in seiner Geste – und doch von beträchtlicher Schwere in seiner Bedeutung. Wer spielt, weiß um die Wahrscheinlichkeit des Verlustes, und spielt dennoch. Dieser Widerspruch ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer uralten Spannung zwischen Zufall und Kontrolle, zwischen Schicksal und Berechnung, zwischen Hoffnung und Erkenntnis.
Schon in frühesten Zeiten legten Menschen das eigene Geschick in die Hände des Zufalls. Sie warfen Würfel, Stäbchen, Muscheln oder Tierknochen – nicht, um zu gewinnen, sondern um zu wissen. Der Zufall war nicht bloß ein Spiel, er war ein Medium. Ein Mittel, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Erst viel später wurde aus dieser kultischen Geste ein kalkuliertes Vergnügen, das man ›Glücksspiel‹ nannte – und mit Regeln versah. So begann eine Kulturgeschichte, die weniger vom Spiel handelt als vom Menschen, der in ihm nach Bestätigung sucht: Bestätigung, dass der Zufall auf seiner Seite stehen könnte.
Die Geschichte des Glücksspiels ist daher auch die Geschichte einer subtilen Verlagerung – vom religiösen Deuten zum rationalen Setzen, vom Orakel zum Einsatz. In ihr begegnen sich Weltanschauung und Wahrscheinlichkeit, Verheißung und Verlust. Wer sich dieser Geschichte nähert, begibt sich auf ein Feld, in dem sich ökonomische, psychologische und symbolische Dimensionen überlagern. Glücksspiel ist hier nicht bloß eine Praxis, sondern ein kulturelles Prisma, durch das sich das Verhältnis des Menschen zu seiner eigenen Unsicherheit brechen lässt.
Dieses Buch versucht, jene Erfindung freizulegen, die das Spiel in die Sphäre des Glücks überführte – und den Menschen in jene eigentümliche Lage versetzte, sein Schicksal nicht nur zu erfahren, sondern es zu riskieren.
Der Wurf der Knochen
Ursprung des Zufalls
Archaische Spiele des Loses und ihre kultische Bedeutung in frühen Gesellschaften
Bevor der Mensch begann, den Zufall zu berechnen, begegnete er ihm – schweigend, ehrfürchtig, manchmal furchtsam. Lange bevor Würfel aus Elfenbein in römischen Tavernen klackerten, griffen Jäger und Sammler zu Tierknochen, warfen sie auf den Boden und lasen darin Spuren des Schicksals. Der Zufall war damals kein Spiel, sondern eine Erscheinung. Er trat aus der Welt hervor, wie ein Atemzug der Götter, und jeder Wurf war ein Versuch, ihn zu deuten.
Die ersten Knochen, die geworfen wurden, gehörten nicht dem Vergnügen, sondern dem Bedürfnis nach Orientierung. Sie waren Schenkelknochen kleiner Tiere – Astragale, rundlich, asymmetrisch, geeignet, auf verschiedene Weisen zu fallen. Ihre Form machte sie zu frühen Instrumenten des Unvorhersehbaren. Man fand sie in Gräbern, in Opferstätten, in den Resten von Feuerstellen. Wer sie warf, wollte wissen, ob die Jagd gelingen, ob der Regen kommen, ob das Kind überleben würde. Das Spiel mit dem Zufall begann als Dialog mit der Unsicherheit.
In diesen Handlungen spiegelt sich ein menschlicher Grundzug: das Bedürfnis, das Unberechenbare in eine Sprache zu übersetzen. Der Zufall wurde nicht als Abweichung von der Ordnung verstanden, sondern als deren Stimme. Wenn der Knochen fiel, war dies kein Ergebnis, sondern eine Offenbarung. Man befragte die Dinge, und sie antworteten – unverständlich vielleicht, aber doch auf ihre Weise verbindlich.
Zwischen Spiel und Schicksal
Dass aus diesem ernsten Ritus später ein Spiel wurde, liegt weniger an einem Bruch als an einer Verschiebung der Bedeutung. Der Mensch, der einst fragte, begann irgendwann, zu wetten. Er ersetzte die göttliche Stimme durch die eigene Erwartung. Der Wurf blieb, doch der Adressat wechselte. Statt den Willen einer höheren Macht zu erfahren, wollte man nun den Ausgang vorhersagen – und vielleicht, ganz leise, ihn beeinflussen.
Diese Verschiebung ist kulturgeschichtlich bedeutsam. Sie markiert den Übergang vom Deuten zum Spielen, vom Schicksal zum Risiko. Der Zufall, der einst heilig war, wurde profanisiert. Aus der Offenbarung wurde ein Reiz. Man könnte sagen, der Mensch begann, den Zufall zu reizen, ihn herauszufordern, statt ihn zu befragen. Ein subtiler, aber folgenreicher Schritt.
Archäologische Funde belegen, dass Astragalspiele über Jahrtausende hinweg in unterschiedlichen Kulturen praktiziert wurden – in Mesopotamien, in Ägypten, in China, in den Anden. Die Formen unterscheiden sich, die Geste bleibt dieselbe. Man wirft, man wartet, man schaut. In dieser scheinbar simplen Abfolge steckt eine tiefe anthropologische Konstante: das Verlangen nach Spannung. Jedes Werfen enthält das kurze Zittern der Erwartung – einen Moment zwischen Ordnung und Chaos, in dem alles möglich scheint.
Die Griechen nannten den Würfel ›kybos‹ und sprachen von ›tychē‹, der Göttin des Zufalls. Sie galt als launisch, unberechenbar, aber auch als gnädig. Dass sie Würfel in der Hand hielt, zeigt, wie eng der Gedanke des Spiels mit der Vorstellung des Schicksals verwoben blieb. Selbst in späterer, philosophisch aufgeklärter Zeit dachte man den Zufall nicht ohne eine Spur von Mystik. Aristoteles beschrieb ihn als »das, was weder notwendig noch unmöglich ist« – eine präzise, beinahe poetische Umschreibung jener Zwischenzone, die das Spiel so faszinierend macht.
Der Versuch, das Unverfügbare zu zähmen
Der Mensch, so scheint es, wollte nie den Zufall abschaffen – nur seine Willkür bändigen. Das Werfen von Knochen war ein erster Versuch, Ordnung in das Ungeordnete zu bringen. Ein geschlossener Raum, eine klare Geste, eine wiederholbare Handlung – all das sind Elemente, die dem Zufall einen Rahmen geben. Der Wurf geschieht nicht irgendwo, sondern hier, nicht irgendwann, sondern jetzt. In dieser Präzision liegt der Keim der späteren Spielregel.
Man könnte den Wurf als eine frühe Form der Weltaneignung lesen. Der Knochen, der aus der Hand entgleitet, symbolisiert den Verlust der Kontrolle, aber der Blick, der ihm folgt, sucht sie sogleich zurück. Das Auge, das die Position des gefallenen Stücks prüft, ist bereits das Auge des Spielers – aufmerksam, hoffnungsvoll, wertend. Der Mensch verliert, um zu sehen, was er gewinnen könnte.
Interessant ist, dass der Zufall in frühen Kulturen selten als leer gedacht wurde. Er war stets gefüllt – mit Absicht, Geist, Wille. Der moderne Begriff des Zufalls als reines Ereignis ohne Ursache war dem archaischen Denken fremd. In Ägypten etwa glaubte man, dass selbst das scheinbar Unvorhersehbare von den Göttern gelenkt sei. Der Wurf war also weniger unberechenbar, als er uns heute erscheint; er war vielmehr eine Einladung, in den Plan des Universums zu blicken.
Der Knochen als Gedächtnis des Spiels
Wenn man einen Astragal in der Hand hält, spürt man etwas von dieser frühen Verbindung zwischen Körper, Natur und Spiel. Der Knochen stammt aus einem lebenden Wesen, das Bewegung und Instinkt verkörperte. Man warf also nicht ein beliebiges Objekt, sondern etwas, das selbst Teil des Lebens war. In gewisser Weise war der Knochen ein Vermittler – zwischen Tod und Zukunft, zwischen Materie und Bedeutung.
In den Funden von ›Çatalhöyük‹ (knapp 40 Kilometer südöstlich der heutigen Stadt Konya auf der Hochebene Anatoliens), fand man bearbeitete Astragale mit Gravuren und Einritzungen. Sie waren geschmückt, als hätten ihre Besitzer ihnen Persönlichkeit verliehen. Vielleicht waren sie Glücksbringer, vielleicht auch Werkzeuge der Weissagung. Sicher ist: Sie dienten der Kommunikation mit dem Unverfügbaren.
Diese Knochenwürfe waren kein Zufall im heutigen Sinn. Sie waren gelenkter Zufall – domestiziert durch Rituale, geschützt durch Formeln. Erst als der religiöse Rahmen schwächer wurde, entfaltete sich der Zufall in seiner reinen, beinahe gefährlichen Gestalt. Von da an war der Wurf nicht mehr heilig, sondern spannend.
Vom Los zum Spiel
Das Wort ›Los‹ trägt noch Spuren dieser Entwicklung in sich. Es bedeutet zugleich Schicksal und Ziehung, Bestimmung und Auswahl. In ihm verdichten sich zwei Epochen des Denkens: die des Glaubens und die des Spiels. Wenn man heute ein Los kauft, hält man – ohne es zu bemerken – eine uralte Geste in den Händen. Man übergibt sich für einen Augenblick der Entscheidung des Zufalls, wissend, dass sie zugleich sinnlos und bedeutsam ist.
Der Zufall ist, anthropologisch betrachtet, eine Zumutung. Er entzieht sich der Kontrolle und legt zugleich den Finger auf die Grenzen der Vernunft. Vielleicht liegt genau darin sein Reiz. Wer würfelt, weiß, dass er nichts beeinflussen kann – und will doch sehen, wie es ausgeht. Das Spiel mit dem Zufall ist der Versuch, das Unbegreifliche in erträgliche Portionen zu zerlegen.
In diesem Sinn ist der Wurf der Knochen mehr als eine Kuriosität der Frühgeschichte. Er ist ein Fenster in das Verhältnis des Menschen zur Ungewissheit. Der Mensch will wissen, und wenn er nicht wissen kann, will er wenigstens spielen.
Der Augenblick des Fallens
Es gibt eine kurze, fast poetische Sekunde im Moment des Wurfes, in der der Knochen in der Luft schwebt. Die Hand hat losgelassen, das Ergebnis ist noch nicht sichtbar. Dieser Zwischenraum – zwischen Tat und Erkenntnis – ist das eigentliche Reich des Zufalls. Es ist der Moment, in dem sich der Mensch von seiner Macht trennt und zugleich das Unbekannte herbeiwünscht.
Vielleicht ist das der Grund, warum das Glücksspiel bis heute so faszinierend bleibt. In jedem Dreh des Roulettes, in jedem digitalen Spin eines Automaten wiederholt sich jener uralte Wurf, der den Menschen für einen Augenblick aus der Logik der Welt entlässt. Der Zufall ist hier kein Fehler, sondern eine Erfahrung der Freiheit – flüchtig, riskant, unwiederholbar.
Der Wurf der Knochen war also nicht nur der Beginn des Spiels, sondern auch der Beginn einer Philosophie: der Einsicht, dass Kontrolle eine Illusion ist, die der Mensch dennoch braucht, um handeln zu können. Zwischen Wissen und Glauben, zwischen Plan und Zufall liegt der Raum, in dem Kultur entsteht.
Nachhall
Was heute in Casinos mit Lichtern, Chips und Zahlen geschieht, begann einst im Staub einer Höhle, mit einem Knochen in der Hand. Der Zufall wurde zum Spiegel des Menschen – nicht, weil er unbegreiflich ist, sondern weil er das Maß seiner eigenen Begrenztheit zeigt. Der Wurf der Knochen ist damit nicht bloß der Ursprung des Glücksspiels, sondern eine frühe Form der Selbsterkenntnis.
Wer diesen Ursprung begreift, erkennt: Das Spiel ist älter als das Rechnen, und der Zufall älter als die Vernunft. Und vielleicht liegt in diesem Wissen eine eigentümliche Ruhe – dass das, was uns ungewiss erscheint, uns schon immer begleitet hat. Der Knochen fiel, und mit ihm begann die Geschichte des Menschen, der wissen wollte, was er niemals wissen kann.
Das Orakel und das Spiel
Wenn Götter entscheiden
Divinatorische Praktiken und die religiöse Lesbarkeit des Zufalls
Es gab eine Zeit, in der jede Ungewissheit eine göttliche Stimme hatte. Der Mensch, noch weit entfernt von der Idee der Statistik, suchte nicht nach Wahrscheinlichkeiten, sondern nach Willensbekundungen – himmlischen, unergründlichen, endgültigen. Entscheidungen, die heute als Zufall gelten würden, galten einst als Offenbarungen. Der Zufall war die Handschrift der Götter, ihre Art, die Welt zu durchdringen, ohne sich zu zeigen.
Wenn Götter entschieden, dann selten laut. Sie flüsterten im Wind, ließen ein Tier aus dem Schwarm ausscheren, einen Krug zerbrechen, einen Pfeil anders fliegen, als er sollte. Der Mensch lauschte und suchte darin Zeichen. Diese Haltung – das Hören in den Zufall – war keine Schwäche, sondern eine frühe Form der Ordnungssuche. Der Kosmos war erfüllt von Sinn, und das Spiel mit dem Unbekannten wurde zum Mittel, diesen Sinn zu berühren.
Das göttliche Los
Im alten Griechenland, in Babylon oder auch in den frühen Städten Chinas, existierte die Überzeugung, dass kein Ereignis ohne Grund geschieht. Man warf Lose nicht, um etwas herauszufinden, sondern um etwas bekanntzugeben. Das Ergebnis stand in einer höheren Ordnung längst fest. Der Loswurf war nur das Werkzeug, das Unsichtbare sichtbar zu machen.
Die Griechen nannten diesen Akt ›kleromantie‹ – die Kunst der Losdeutung. In Delphi, dem berühmtesten Orakel der Antike, strömten Menschen aus allen Regionen herbei, um Antworten auf Fragen zu erhalten, die zu groß waren, um sie selbst zu tragen. Man brachte Opfer, lauschte den kryptischen Worten der Pythia, die, im Dampf der Erdspalten sitzend, aus der Trance sprach. Doch hinter dieser göttlichen Stimme stand immer ein Moment des Zufalls – das Ziehen eines Loses, die Reihenfolge der Fragenden, der Tag, die Stunde. Es war eine kontrollierte Unsicherheit, die den Göttern Gelegenheit gab, sich zu äußern.
