Die Erinnerung riecht nach gelben Kamelien - Bettina Lausen - E-Book

Die Erinnerung riecht nach gelben Kamelien E-Book

Bettina Lausen

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Beschreibung

Die tragische Geschichte eines Liebespaares, das zweimal durch den Krieg getrennt wird – für alle LeserInnen von Hanni Münzer und Melanie Metzenthin "Er lächelte sie an und küsste sie – ein Zukunftsversprechen. Und plötzlich roch es nach gelben Kamelien und Hoffnung." Carolin lebt allein mit ihrem Vater. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, ihre Familie kennenzulernen, aber der Vater schweigt. Als er stirbt, scheint ihr Traum verloren. Doch als auf der Beerdigung ihre Großmutter auftaucht, beginnt eine Reise in die Vergangenheit: Frida erzählt von ihrer Liebe zu Erwin, ihrer Trennung durch Hitlers Krieg und ihrem Wiedersehen in Ostpreußen nach seiner Verwundung. Aber bei der Flucht vor der Roten Armee gelangt Erwin an Bord der Gustloff, während Frida das unheilvolle Schiff verpasst. Alles, was ihr bleibt, ist die Erinnerung an gelbe Kamelien.

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Seitenzahl: 554

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Die Bibelzitate sind aus der Bibelübersetzung Luther 1912 entnommen.

Satz auf Grundlage eines Print-CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe).

Covergestaltung: © Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Kapitel 1

Großraum Düsseldorf, Mai 2009

Kapitel 2

Haan, Mai 2009

Berlin, Juli 1939

Berlin, September 1939

Berlin, Februar 1940

Haan, Mai 2009

Kapitel 3

Berlin, Februar 1940

Berlin, Februar 1941

Berlin, August 1942

Haan, Mai 2009

Berlin, August 1942

Berlin, März 1943

Haan, Mai 2009

Kapitel 4

Haan, Mai 2009

Berlin, Mai 2009

Berlin, März 1943

Kapitel 5

Zwischen Berlin und Ostpreußen, März 1943

Kreis Wehlau in Ostpreußen, März 1943

Berlin, Mai 2009

Kreis Wehlau in Ostpreußen, Mai 1943

Kapitel 6

Woytnicken in Ostpreußen, Mai 1943

Kreis Wehlau in Ostpreußen, Mai 1943

Berlin, Mai 2009

Kreis Wehlau in Ostpreußen, Mai 1943

Kapitel 7

Kreis Wehlau in Ostpreußen, Mai 1943

Kreis Wehlau in Ostpreußen, August 1943

Berlin, Mai 2009

Kapitel 8

Kreis Wehlau in Ostpreußen, August 1943

Kreis Wehlau in Ostpreußen, September 1944

Kreis Wehlau in Ostpreußen, Oktober 1944

Berlin, Mai 2009

Kreis Wehlau in Ostpreußen, Oktober 1944

Kreis Wehlau in Ostpreußen, Januar 1945

Kapitel 9

Ostpreußen, Januar 1945

Berlin, Mai 2009

Ostpreußen, Januar 1945

Königsberg, Januar 1945

Pillau, Januar 1945

Gotenhafen, Januar 1945

Berlin, Mai 2009

Kapitel 10

Berlin, Mai 2009

Gotenhafen, Januar 1945

Ostsee, Januar 1945

Ostsee, Februar 1945

Berlin, Mai 2009

Sassnitz, Februar 1945

Berlin, Mai 2009

Berlin, November 1946

Kapitel 11

Berlin, Mai 2009

Mecklenburg-Vorpommern, Februar 1945

Mecklenburg-Vorpommern, Mai 1945

Berlin, Mai 1945

Berlin, Juli 1945

Berlin, August 1945

Berlin, Mai 2009

Berlin, August 1945

Berlin, Oktober 1945

Kapitel 12

Berlin, Oktober 1945

Berlin, Mai 2009

Berlin, Dezember 1945

Berlin, Mai 2009

Berlin, März 1946

Kapitel 13

Berlin, Mai 1946

Berlin, Mai 2009

Berlin, Mai 2009

Berlin, März 1967

Berlin, Mai 2009

Berlin, September 2009

Historischer Hintergrund

Danksagung

Kapitel 1

Großraum Düsseldorf, Mai 2009

Als Carolin im Schlafanzug barfuß die Treppen hinunterkam, roch es verführerisch nach Kaffee. Normalerweise machte sie morgens ihrem Vater und sich das Frühstück, doch er saß bereits fertig angezogen am Esstisch über der Rheinischen Post. Er trug zum Hemd heute sogar eine Krawatte. Hatte er gleich einen Kundentermin?

»Bin ich so spät?« Carolin blickte auf die Uhr. 6:28 Uhr. Just in time.

»Ich muss noch etwas erledigen.« Ihr Vater zwinkerte ihr zu.

O nein! Heute kam der Stuhl in den Handel, den sie designt hatte. Sie hatte sich gefreut, dass ihr Vater zufrieden mit ihrer Kreation gewesen war, und doch wollte sie vor den Mitarbeitern nicht in den Vordergrund gestellt werden. Zudem hatte der Produktdesigner die meiste Arbeit übernommen.

Sie trat hinter ihren Vater, legte die Arme um ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange, strich dabei über seine leicht abstehenden Ohren. »Paps, was hast du vor?«, fragte sie gespielt anklagend mit einem Lächeln.

Ihr Vater drehte den Kopf zu ihr, wackelte mit den Augenbrauen und grinste. »Überraschung!«

Carolin seufzte und setzte sich neben ihn. »Übertreib es nicht, ja?«

»Ich übertreibe es nie.« Seine Augen leuchteten schelmisch auf.

»Reicht es nicht, wenn wir heute Abend irgendwo essen gehen? Von mir aus ein Zehn-Gänge-Menü mit Champagner, und du darfst ein Tischfeuerwerk organisieren.«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Nicht mein Stil! Du weißt doch, wie es läuft.«

Ja, das wusste sie. Ihr Vater war streng, aber gute Arbeit belohnte er. Nicht nur im Büro auch zu Hause. Seinen Mitarbeitern gab er gern mal eine Sonderzahlung oder brachte einen Blumenstrauß mit. Sie hingegen bekam eine Kette, ein Gemälde oder einen Einkaufsgutschein geschenkt. Zum erfolgreichen Abschluss ihres Studiums hatte er ihr ein neues Auto gekauft. Aber was hatte er heute vor?

»Ich möchte nichts haben. Es ist nur ein Stuhl.«

»Dein Stuhl.« Er zog die Brauen hoch und sah sie liebevoll an.

»Du lässt dich wohl nicht umstimmen, was?«

»Nein«, sagte er lachend und griff nach ihrer Hand.

Carolin atmete tief durch und schlurfte in die Küche. Sie goss Kaffee in ihre Hobbit-Tasse und machte sich ein Brot mit Käse. »Willst du auch was essen?«, rief sie.

»Ich esse unterwegs«, antwortete er.

Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, erhob sich ihr Vater, trank den letzten Schluck Kaffee und faltete die Zeitung zusammen. »Also, bis gleich.« Er trat zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Und vergiss nicht, dein Geschirr wegzuräumen, gleich kommt Frau Wölbling«, sagte ihr Vater und ging mit der Zeitung und der Tasse in die Küche.

»Natürlich«, murmelte sie. Wie konnte sie das vergessen? Die Putzfrau kam viermal die Woche, und vorher musste alles aufgeräumt sein – also immer.

»Und deine Schuhe musst du noch in den Schuhschrank räumen«, rief er aus dem Flur.

Carolin lächelte kopfschüttelnd und verkniff sich eine Antwort. Sie aß ihr Frühstück, machte sich fertig und räumte die Sneakers in den Schrank. Sie grinste in sich hinein. Ihr Vater konnte froh sein, dass sie frauenuntypisch nur wenige Schuhe besaß, sonst würden sich diese in dem Flur stapeln.

Anschließend ging sie zur Bushaltestelle. In der Garage wartete ihr Mini auf sie, aber sie hasste es, mit dem Auto über die volle Autobahn nach Düsseldorf zu fahren. Sie wohnten in Haan, einem Nachbarort. Hier konnten sie sich dem Großstadttrubel entziehen und waren doch innerhalb einer halben Stunde im Büro.

Der Bus war gefüllt, sie bekam noch einen Platz im hinteren Teil. Schräg vor ihr saß eine Frau in einem schwarzen Kleid mit vielen Piercings in Nase und Ohrläppchen. Die Lippen grün geschminkt, auf dem Kopf einen Hut mit breiter Krempe. Carolin holte den Notizblock aus der Tasche und betrachtete die Frau … die harten Gesichtszüge, die Spitze an den Ärmeln, die langen Fingernägel. Ein geballter Schrei nach Aufmerksamkeit. Und sie hatte es geschafft: Die Blicke der Fahrgäste gehörten ihr.

Sie schien es zu bemerken, schob in kecker Geste die Krempe des Hutes höher, und als die Ärmel hochrutschten, blitzten an den Handgelenken rötliche Linien auf. Die Frau zog den Stoff wieder runter. In ihrem Inneren brodelte es bestimmt. Was war wohl der Auslöser für ihre Selbstverletzung und diesen extravaganten Stil gewesen?

Carolin setzte den Bleistift an, zog die ersten Striche auf dem Papier. Ein freudiges Prickeln breitete sich in ihr aus, ein Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit. Mit jedem Bild, das sie erschuf, stieß sie eine Tür in eine eigene Welt auf, in der sie Neues entdeckte und Weite spürte.

Die Frau nahm auf dem Blatt Gestalt an. Carolin gab ihr mit dem Stift eine weiche Note im Gesicht und ließ sie nach einer Rose greifen.

Als die Frau ausstieg, betrachtete Carolin ihr Werk. Sie hatte die auffällige Erscheinung gut eingefangen und doch etwas Neues geschaffen. In den Hintergrund zeichnete sie einen Mann mit erhobener Faust und grimmigem Blick, der der Frau etwas zurief. Carolin ließ den Stift sinken und sah aus dem Fenster. Ein Aquarellgemälde hatte sie letzten Monat im Internet für fünfundvierzig Euro verkauft. Es zog immer noch ein Kribbeln durch ihren Körper, wenn sie daran dachte, dass ihr Kunstwerk bei Fremden die Wohnung verschönerte. Doch sie hatte es ihrem Vater nicht erzählt, konnte sich seine Worte schon ausmalen: »Du wirst bald Chefin eines erfolgreichen Unternehmens sein, warum willst du dich mit der Malerei ablenken?«

Carolin steckte den Block in die Tasche und beobachtete die hektisch umherlaufenden Menschen auf den Bürgersteigen. An der Haltestelle »Steinstraße« verließ sie den Bus und atmete die kalte Frühlingsluft ein. Lag neben den Abgasen der Großstadt auch der Duft nach Veränderung darin? Würde sie den Platz im Unternehmen ihres Vaters vielleicht heute finden?

Die Absätze der neuen Pumps klackerten auf dem Asphalt, und sie folgte dem Strom der Menschen auf die Kö – die berühmteste Einkaufsstraße der Stadt, vielleicht sogar des Landes. Hier unterhielt ihr Vater einen Laden für Designermöbel. Er befand sich nicht auf dem Weg ins Büro, doch heute musste sie einen Abstecher machen. Freudige Erwartung lag in ihrem Magen. Ob der Stuhl schon im Schaufenster stand?

Tatsächlich. Sie sah ihn schon von Weitem.

Carolin legte eine Hand an das Fenster und betrachtete ihr selbst entworfenes Design. Der Stuhl war geformt wie ein »S« und schien über dem Holzkreis zu schweben. Wie eine Tänzerin in lilafarbenem Kleid, die sich elegant ihrem Tanzpartner in Rücklage zuneigte. Carolin hatte eine Polsterung vorgesehen, hatte beides vereinen wollen: Eleganz und Bequemlichkeit. Ein Stuhl, der zum Lieblingsstück mutieren konnte. Aber der Produktdesigner hatte flapsig geantwortet: »Nicht jeder Stuhl ist für Bequemlichkeit geboren«, und ihn in Hartplastik in Auftrag gegeben.

Nun stand ihre Kreation vor ihr. Was löste das in ihrem Inneren aus? Sie forschte nach einem Kribbeln, einem freudigen Gefühl. Nichts dergleichen. Dieser Moment war nicht so berauschend, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Zwar hatte sie Spaß daran gefunden, mehrere Varianten eines Stuhles zu zeichnen, aber die Arbeitsschritte wie Material auszusuchen und den Prototypen in Auftrag zu geben, waren ihr lästig gewesen.

Lieber hätte sie einen vorhandenen Stuhl auf Papier in ein neues Licht gesetzt und durch ihre Perspektive den Betrachter überrascht. Darin lag ihre Stärke: im Malen von bestehenden Dingen und nicht in der Konstruktion neuer Gegenstände.

Wenn sie nicht mal der kreativste Prozess im Unternehmen ihres Vaters ausfüllte, wo sollte dann ihr Platz sein? In der Marketingabteilung? Schließlich hatte sie Marketing in ihrem BWL-Studium als Schwerpunkt gehabt. In nächster Zeit würde sie die Mitarbeiterin in dem Bereich unterstützen. Sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben.

Carolin warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und setzte sich in Bewegung. Zwar würde kein Mitarbeiter die Tochter des Chefs wegen Unpünktlichkeit rügen, dennoch hasste sie es, zu spät zu kommen. Und sie wollte ein Vorbild sein.

Vor einem Juweliergeschäft saß ein Mann mit verfilzten Haaren, vor seiner dunklen Haut leuchtete ein neonfarbenes fleckiges Trikot, das an einer Seite aus dem Bund der ausgefransten Jeans hing. Die Cappy, auf der das Emblem ausgeblichen war, hatte er über die Augen gezogen und hielt den Vorbeiströmenden einen Pappbecher entgegen. Die Security des Geschäfts hatte ihn anscheinend noch nicht entdeckt.

Was hatte ihn in diese Situation gebracht? Wo stände sie, wenn sie nicht bei einem reichen Vater aufgewachsen wäre und die Lebensumstände sie stattdessen an den Rand des Abgrunds getrieben hätten?

Carolin holte ihr Portemonnaie aus der Jackentasche, zog einen Zehneuroschein hervor und steckte ihn in den Becher. Zum Glück sah ihr Vater das nicht. Sie war oft mit ihm in Streit geraten, weil er meinte, sie werfe das Geld zum Fenster raus. Der Bettler bedankte sich mit einem Lächeln und verstaute den Zehner in der Hosentasche. Ihr Vater schien so einen Moment, das Erleben der Dankbarkeit und Freude, noch nie erfahren zu haben, sonst würde er anders darüber denken.

Carolin eilte weiter, bog in die Berliner Allee ein und trat zum Bürogebäude. An der Tür hing ein Banner mit ihrem Firmenlogo: Franzens Designmöbel. Sie lief in die zweite Etage zu den Büroräumen. Es roch nach Putzmittel und frisch aufgebrühtem Kaffee. Sie hängte Mantel und Schal an die gut gefüllte Garderobe und ging in die Küche. Sie zog die Glaskanne aus der Kaffeemaschine und goss sich den Filterkaffee ein. Ihr Vater hatte einen teuren Vollautomaten angeschafft, doch Carolin trank lieber die alt bewährte Variante – stark und aromatisch.

Lara Priggemeier balancierte keuchend ein Kuchenblech herein und stellte es auf die Anrichte.

»Guten Morgen, was haben Sie denn Leckeres mitgebracht?«, fragte Carolin.

Lara zog die Jacke aus und hängte sie über einen Stuhl. Darunter trug sie eine gestreifte Bluse, einen blauen Faltenrock und einen goldenen Gürtel. Die Handtasche von Prada passte farblich zum Rock. Die Marketingmitarbeiterin war mit vierundzwanzig zwei Jahre jünger als sie. Sie verstanden sich gut und teilten die Leidenschaft für Fantasyromane. Eine gute Voraussetzung, sich zu duzen, doch Carolins Vater hatte sie davor gewarnt, wenn sie in Zukunft Chefin werden wollte.

Lara Priggemeier zog die Klarsichtfolie vom Blech und nahm einen Kuchenheber aus der Schublade. »Mein Freund hatte gestern Geburtstag, und wir hatten so viel übrig.« Sie lächelte und strich sich die langen braunen Haare hinters Ohr.

»Das kenne ich«, sagte Carolin und nippte an ihrem Kaffee.

Lara Priggemeier verdrehte die Augen. »Vor allem bei meiner großen Familie. Bei Festen wollen meine Oma, meine Uroma und meine Mutter backen. Und wenn ich nicht aufpasse, kommt auch noch meine Schwester mit etwas um die Ecke.« Sie lachte heiter.

In Carolins Magen bildete sich ein Knoten. Wie gern hätte sie Schwester, Mutter, Oma und Uroma, aber es gab nur ihren Vater. Das Einzige, was sie von ihrer Mutter besaß, waren eine Armbanduhr und ein Foto. Und jedes Mal, wenn sie ihren Vater auf seine Vergangenheit oder die Familie ansprach, schwieg er.

Lara Priggemeier schob den Kuchenheber unter ein Stück. »Wollen Sie direkt eins? Hat meine Oma gebacken. Sehr lecker.« Sie zwinkerte ihr zu.

Carolin schüttelte den Kopf und hielt sich an der Tasse fest. Schnell flüchten, bevor sie Familienfeierstorys zu hören bekam. »Lieber nach dem Mittagessen«, sagte sie und verschwand aus der Küche.

Carolin klopfte an die Bürotür ihres Vaters. Als keine Antwort kam, trat sie ein. Er war noch nicht da. Über dem Sideboard hing das Bild, das sie gemalt und ihm vor vier Jahren zum sechzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Der Blick von der Josephskapelle über den Rhein. Auf der anderen Seite blühte das Leben in Form der Düsseldorfer Rheinkirmes. Auf dem Fluss ein einzelnes Segelboot mit einer Frau, die dem Betrachter den Rücken zuwandte. Sie hielt ihren Strohhut fest, die Haare wehten im Wind.

Das Gemälde war der einzige Farbklecks in diesem Raum. Schreibtisch und Stühle waren in Weiß, das Sideboard in Schwarz gehalten, und die kalten Fliesen wirkten klinisch. Wenn das ihr Arbeitsplatz werden würde, würde sie das Büro neu einrichten. Zum Glück war es noch nicht so weit. Ihr Vater hatte nicht vor, mit fünfundsechzig in den Ruhestand zu gehen, auch wenn er es sich mehr als leisten konnte.

Sie zog die Tür hinter sich zu und ging zum Produktdesigner.

»Und, haben Sie ihn schon gesehen?« Fritz Lüscher drehte sich auf dem Schreibtischstuhl zu ihr, wobei der Stuhl unter seinem Gewicht ächzte. Der Pullover spannte über dem Bauch und machte die Speckrollen sichtbar. Carolin wandte den Blick ab und sah ihm ins Gesicht. Das billige Brillengestell und der Dreitagebart komplettierten das Erscheinungsbild. Fritz Lüscher schien von den Mitarbeitern der Einzige zu sein, der keinen Wert auf sein Äußeres legte. Vielleicht sollte er sich mal Modetipps bei Hannes Dürer holen, der am Schreibtisch gegenüber saß. Die blonden Haare hatte er kokett nach hinten gegelt, er trug ein hellblaues Poloshirt und darüber ein halb leger, halb chic wirkendes Jackett. Doch andererseits bewunderte Carolin Fritz Lüscher, er scherte sich anscheinend nicht darum, was andere über ihn dachten.

»Ich war schon dort«, antwortete sie.

»Und? Krasses Gefühl, oder?«

»Klar«, sagte sie und nickte. Was sollte sie auch erwidern? Dass das berauschende Gefühl ausgeblieben war? Dass sie sich noch auf der Suche nach ihrem Platz im Unternehmen befand?

Sie wich seinem Blick aus und sah auf ihre Pumps. Der rechte kleine Zeh pochte in den neuen Schuhen. Vielleicht sollte sie doch mal ihre Sneakers anziehen. Und was würde sie dafür geben, dieses Kostüm im Schrank hängen zu lassen und stattdessen eine Jeans und eine schicke Bluse tragen zu können! Aber sie hatte das Gefühl, sich vor den Mitarbeitern präsentieren zu müssen.

»Jedes Mal, wenn ein neues Stück in den Handel kommt, mache ich mindestens einen Monat lang jeden Morgen den Umweg über die Kö. Ich muss sehen, wo es steht und wie es angepriesen wird.« Seine Augen leuchteten, und er zwinkerte ihr zu. »Der Anblick der eigenen Babys ist besser als der beste Sex!« Er grinste und drehte sich zum Schreibtisch.

Carolin atmete tief ein. Es war kein Thema, das sie mit ihm diskutieren wollte.

»Wollen Sie mir bei dem nächsten Auftrag helfen?«, fragte er.

Ihr Vater sah sie in der nächsten Zeit im Marketing, aber sie wollte noch mit ihm die Details besprechen. Sie blickte auf die Armbanduhr. 8:45 Uhr, und ihr Vater war immer noch nicht da.

Carolin setzte sich. »Was ist es diesmal?«

»Ein Kunde hat sich mit einem konkreten Wunsch gemeldet.« Fritz klickte am PC herum und öffnete eine E-Mail. »Ein bekannter Literaturkritiker möchte einen Lesesessel mit einem Beistelltisch. Beides soll das Motiv des Buches aufweisen. Und wir sollen in dem Sessel Aufbewahrungsmöglichkeiten für seine Lieblingsstücke einbauen. Da er dreißig Bücher gleichzeitig liest, sollen wir für mindestens so viele Platz in Tisch und/oder Sessel einbauen.«

»Was für eine Leseratte!« Carolin durchzuckte der Gedanke von einer Kombination aus Stuhl und Staffelei mit einer Ablagefläche für Farben, Pinsel und Wasser. Die Idee würde sie im Hinterkopf behalten. Sie schob ihren Stuhl näher heran, um einen Blick auf den Namen des Literaturheinis zu erhaschen, doch er sagte ihr nichts. »Haben Sie schon etwas entworfen?«

»Ich habe gestern Konkurrenzanalyse betrieben und mir Ideen im Netz geholt.« Herr Lüscher klickte weiter und brachte einige Fotos zutage. Mehrere Sessel, die eher in die Kategorie »Regal« anstatt »Sitzmöglichkeit« fielen, und eine runde Variante, deren Bücherfächer wie Sonnenstrahlen um die Polsterung angelegt waren.

»Gibt es weitere Vorgaben?«

»Und ob.« Er hob eine Augenbraue. »Er soll sehr bequem und ein Lieblingssessel sein. Außerdem muss es einen Platz für seinen Kater geben.«

»Das nenn ich mal eine Herausforderung«, sagte sie und lachte.

Fritz nickte.

»Frau Franzen!« Die Sekretärin, Frau Gillwaldt, stand in der Tür. Ihr Gesicht war bleich und von Sorgenfalten durchzogen.

»Ja bitte?«, fragte Carolin.

»Ein Anruf für Sie.«

»Können Sie ihn auf den Apparat von Herrn Lüscher umleiten?«

Die Sekretärin schüttelte den Kopf und wedelte mit der Hand. »Kommen Sie zu mir ins Büro.«

In diesem Ton hatte Frau Gillwaldt noch nie mit ihr geredet. Carolin folgte der Sekretärin in den Flur.

Sie neigte sich Carolin zu und senkte die Stimme: »Das Krankenhaus. Ich dachte, es wäre besser, wenn Sie keine Zuhörer hätten.«

»Das Krankenhaus?«, entfuhr es Carolin. Hatte ihr Freund einen Motorradunfall? Sie rannte ins Büro und nahm den Hörer auf. »Carolin Franzen.«

»Dr. Evelyn Kohn aus dem Marienhospital. Ich bin Ärztin in der Notfallambulanz. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Vater einen Herzinfarkt erlitten hat. Bitte kommen Sie sofort!«

Es war, als tat sich unter Carolin ein Loch auf, in das sie reinzufallen drohte. »Ich bin schon unterwegs«, sagte sie, und der Hörer entglitt ihrer Hand. Alles zog sie in die Tiefe, auch ihre Knie knickten ein, sodass sie sich am Schreibtisch abstützen musste.

Die Gebäude und Bäume des Hofgartens rauschten an der Fensterscheibe der Straßenbahn vorbei wie Farbkleckse auf einer Leinwand. Carolin fühlte sich immer noch wie über einem tiefen Loch schwebend. Herzinfarkt. Was hatte das zu bedeuten? Sie wusste, dass es etwas mit der Blutzufuhr zum Herzen zu tun hatte und zu den häufigsten Todesursachen in Deutschland zählte. Das Loch unter ihr wurde größer. Carolin hatte das Gefühl, die Bahn würde im Schneckentempo dahinkriechen, aber mit einem Taxi wäre sie auch nicht schneller vorangekommen – bis erst mal eins bei ihr gewesen wäre –, und so musste sie nur drei Stationen fahren.

Als sich die Türen an der Haltestelle »Marienhospital« öffneten, sprang sie hinaus und blickte sich um. Wo war das Krankenhaus? Sie lief zur nächsten Kreuzung, an der ein älterer Mann Glasflaschen in einen Container warf. Eine fiel ihm aus der Hand und zerbarst auf dem Bürgersteig.

Dann sah sie das große Gebäude. Sie lief an dem Zaun entlang bis zur Einfahrt. Linker Hand lag die Notaufnahme. Musste sie dahin? Nein. Sie steuerte auf den Haupteingang zu. Eine große Drehtür bremste sie aus. Wie lange es dauerte, bis man dadurch ins Gebäude gelangte. Der Mann, der die Infusionsstange vor sich herschob und auf der anderen Seite hinauswollte, ging so nah an die Türflügel heran, dass die Drehtür stehen blieb.

Carolin machte ihm ein Zeichen, dass er ein Stück zurückgehen sollte. Endlich hatte er es begriffen, die Tür setzte sich in Bewegung, und sie gelangte in den Eingangsbereich. Mit ein paar großen Schritten war sie an der Information. Vor ihr eine Frau mit einer älteren Dame im Rollstuhl. Diese fummelte umständlich ein Blatt aus der Handtasche und reichte es der Empfangsdame mit den lockigen Haaren. Die Sekretärin tippte etwas in den Computer und gab das Papier zurück. Es dauerte ewig, bis es wieder in der Tasche verschwunden war.

Carolin trat vor. »Franzen. Ich wurde angerufen. Mein Vater muss hier sein. Er hatte einen Herzinfarkt.« Ihre Stimme klang piepsig.

Die Empfangsdame tippte etwas in die Tastatur. »Sie sind die Tochter?«

Carolin nickte.

Die Dame nahm den Hörer ab, telefonierte: »Hier ist die Tochter von Herrn Franzen … aha … gut.« Dann legte sie auf und sah Carolin an.

Ein ernster Blick, der sie durchbohrte.

»Nehmen Sie doch bitte da vorn Platz.« Die Dame zeigte auf die blauen Sitze an der Fensterfront.

»Können Sie mir nicht sagen, wo mein Vater ist?«, fragte Carolin. Sie musste ihn sehen. Sie wollte wissen, wo er lag, wollte zumindest vor der Tür stehen und mit einem Arzt sprechen.

»Das geht nicht«, sagte die Empfangsdame. Mitleid lag in dem Blick.

»Können Sie mir sagen, wie es meinem … Vater geht?« Carolins Stimme brach.

»Beruhigen Sie sich, die Ärztin wird gleich zu Ihnen kommen. Nehmen Sie bitte Platz!« Ein dünnes Lächeln.

Carolin wagte einen letzten Vorstoß: »Bitte, Sie müssen doch wissen, wo er liegt.«

Kopfschütteln. Eine Miene, die keine Widerrede zuließ.

Widerwillig steuerte Carolin die blauen Stühle an. Im Eingangsbereich hatte man große Stellwände mit Kunstdrucken aufgebaut, die ihr die Sicht versperrten, dennoch setzte sie sich. Ihre Knie fühlten sich an, als würden sie gleich in sich zerfallen. Sie rieb die Hände über die Oberschenkel, stützte sich auf der Sitzfläche ab, lehnte sich zurück, dann wieder vor. Sah auf die Uhr. Der Sekundenzeiger tickte. Neben ihr ein weißer Tisch, auf dem jemand eine Colaflasche stehen gelassen hatte.

Carolin erhob sich und lehnte sich an den weißen Pfeiler, von wo aus sie den Eingang und den Durchgang ins Gebäudeinnere gut im Blick hatte. Eine Mutter mit einem jungen Mädchen durchquerte die Eingangshalle. Das Mädchen klatschte in die Hände und sprang vergnügt umher. Diese beiden hatten wohl keine schlechte Nachricht erhalten.

Ein großer Mann im weißen Kittel kam heran. Carolin trat einen Schritt auf ihn zu. Er ging zur Information, sprach mit der Dame, doch er drehte ihr den Rücken zu und verschwand im hinteren Teil des Gebäudes.

Tick, tack. Der große Zeiger sprang eine Minute weiter.

Herzinfarkt, donnerte es in ihrem Kopf. Was, wenn ihr Vater im Koma lag? Was, wenn er nicht mehr aufwachen würde? Er konnte sie doch nicht allein lassen! Ein Kloß setzte sich in ihrem Hals fest. Sie dachte an sein kokettes Lächeln von heute Morgen, als er von der Überraschung gesprochen hatte. Was sollte sie nur ohne ihn tun? An die Bürde, die Firma übernehmen zu müssen, wollte sie gar nicht erst denken. Sie war noch nicht so weit. Überhaupt irgendwann? Vielleicht, aber jetzt noch nicht.

Ein sportlicher Typ mit sonnenstudiogebräuntem Teint und schwarzen Haaren steuerte auf den Ausgang zu. Er hatte einen bandagierten Arm in einer Schlinge, scherzte mit einem Kerl mit ähnlicher Statur. Sie legten ein Gehabe an den Tag, als ginge es darum, der Coolste zu sein. Einen Moment lang wünschte sie sich, mit einem von ihnen tauschen zu können. Eine Armbandage konnte nicht so schlimm sein wie die Sorgen, die sie gerade ausstand.

Eine Ärztin kam aus dem Bereich der Notaufnahme auf sie zu. Zielstrebig. Kein Zweifel, die kam, um sie zu ihrem Vater zu bringen. Endlich. Carolin erhob sich.

»Frau Franzen?«, fragte die Ärztin. Sie war dünn, zu dünn, glich einer Magersüchtigen mit einer Strenge im Gesicht, die Autorität versprühte. Vielleicht eine Oberärztin. Hauptsache, sie hatte Ahnung und konnte ihrem Vater helfen.

Carolin nickte.

Die Ärztin reichte ihr die Hand. »Evelyn Kohn. Wir hatten telefoniert.«

»Wie geht es meinem Vater?«

Die Ärztin zeigte auf die Stühle. »Setzen wir uns.«

Carolin wollte sich nicht hinsetzen. »Bringen Sie mich zu meinem Vater!«

»Bitte«, sagte die Ärztin. Kein Lächeln, keine Zuversicht. Es musste schlimm sein. Die Ärztin ließ sich auf einem Stuhl hinter einem Aufsteller nieder. Hier waren sie geschützt vor dem Treiben in der Eingangshalle.

Carolin tat es ihr gleich und sah die Frau im weißen Kittel erwartungsvoll an. Diese rieb die Finger einer Hand aneinander. Kein gutes Zeichen. Verdammt! Eine Ahnung beschlich sie und raubte ihr die Luft zum Atmen.

»Frau Franzen, leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Vater verstorben ist.«

»Was?«, krächzte Carolin und stieß die Luft aus der Lunge.

Die Ärztin legte ihr eine Hand aufs Knie. »Er hat es leider nicht geschafft. Wir haben alles Mögliche getan, um ihn zu retten, doch …« Die Ärztin dozierte etwas von blutverdünnenden Medikamenten und Herzmassage.

Die Worte rauschten an Carolin vorbei. Das Loch unter ihr tat sich auf und wurde zu einer tiefen Schlucht. Sie stand auf und sackte zusammen. Die Schwärze raste auf sie zu. Sie fiel, wurde am Arm gepackt und schwebte über dem Abgrund. Rief da nicht ihr Vater nach ihr? Er durfte nicht tot sein!

»Frau Franzen! Wen können wir für Sie anrufen?« Die Ärztin zog sie zurück auf einen Stuhl.

Herzinfarkt. Tot. Warum? Das konnte nicht sein! »Er wollte doch für mich eine Überraschung organisieren«, murmelte sie.

Die Ärztin griff nach ihren Händen. »Wer kann Ihnen beistehen?«

»Meine Freundin.«

»Wie heißt Ihre Freundin? Können Sie mir die Nummer geben?«

»Annika.« Carolin sah das fröhliche Lachen ihrer Freundin vor sich, wollte sich in ihre Arme fallen lassen. Ihr wurde bewusst, dass sie mittlerweile in Münster lebte. Oliver. Genau. »Besser meinen Freund«, sagte sie.

»Können Sie mir seine Nummer geben?«

Carolin fummelte das Handy aus der Hosentasche und durchsuchte die Kontakte. Ihre Hände zitterten so sehr, dass ihr das Ding aus der Hand fiel. In das Loch. Sie wollte springen, sich fallen lassen. Ihr Vater war tot. Sie griff nach dem Handy und erhob sich, trat einen Schritt nach vorn, mit dem Fuß in die Schwärze des Abgrundes.

Carolin nahm alles wie durch eine milchige Glasscheibe wahr. Sie sah nur Schemen, und die Geräusche waren so leise, dass sie kaum zu ihr durchdrangen. Das Angebot der Ärztin, sich von ihrem Vater zu verabschieden, was sie abgelehnt hatte, die Versuche des Krankenhauses, Oliver zu erreichen … Das Telefonat mit Frau Gillwaldt. Die Fahrt zu ihrem Elternhaus, wie die Sekretärin sie zur Haustür führte, ihr die Handtasche abnahm und den Schlüssel hervorholte. Alles rauschte an ihr vorbei.

Tod.

Was für ein gnadenloses Wort mit drei harmlosen Buchstaben.

Die Tür schwang auf. Das Tor zu ihrem vertrauten Heim, dem das Herzstück entrissen worden war. Die Lippen von Frau Gillwaldt bewegten sich, sie schob Carolin hinein. Auf der Kommode lagen der Terminplaner und die Tüte »Ricola Kräuter Original«, als hätte ihr Vater beides für den Tag bereitgelegt. Er hatte es vergessen. Hatte sich zu sehr beeilt, war in Hektik gewesen, um ihr eine Freude zu bereiten.

Er sei zu einem befreundeten Konditor gefahren, hatte Donuts und Cocktails mitbringen wollen. Als er das Geschäft betreten hatte, habe er sich die Brust gehalten, das Gesicht schmerzverzerrt verzogen und nach Luft geschnappt. Sein Freund, der Konditor, sei ihm zur Hilfe geeilt und habe den Krankenwagen gerufen, so hatte es Frau Gillwaldt erzählt. Der Konditor hatte bei ihr angerufen. Doch die schnelle Reaktion hatte ihrem Vater nicht geholfen.

Frau Gillwaldt schob Carolin zur Couch und drückte sie in den Sitz. Die Kissen fühlten sich zugleich wohltuend weich und falsch an. Ihr Brustkorb zog sich zusammen, als würde ihn jemand mit aller Kraft zusammendrücken. Carolin starrte aus dem Fenster in den Garten. Blaue und rosafarbene Hortensien blühten in voller Pracht. Auf der Veranda des Gartenhäuschens stand der Schaukelstuhl, den ihr Vater letzten Sommer gezimmert hatte.

Frau Gillwaldt drücke ihr eine Tasse Kaffee in die Hand. Schwarz und ohne Zucker. Genau so, wie sie und ihr Vater ihn mochten. »Soll ich Ihren Freund anrufen?«

Carolin nickte. Vielleicht war Oliver jetzt zu erreichen.

An was hatte ihr Vater zuletzt gewerkelt? Die letzten Abende war er in der Gartenhütte verschwunden. Ihr Brustkorb zog sich weiter zusammen. Sie würde nie mehr sehen, wie er durch den Regen hinüber zur Hütte eilte oder mit einer zufriedenen Miene herauskam. Ob er ihr gleich von dem kleinen Fenster aus zuwinkte?

Frau Gillwaldt trat wieder zu ihr. »Oliver geht nicht ran.«

Das war nichts Neues. Obwohl Carolin ihm ein Handy geschenkt hatte, ließ er es oft zu Hause liegen. Und wann war er schon mal daheim? Vor allem, wenn man ihn brauchte …

»Annika«, murmelte sie.

»Ihre Freundin aus Münster? Habe Sie keine Freunde in der Nähe?«

Doch. Die Mädels der Fußballmannschaft. Germaine vielleicht, die lebensfrohe Kapitänin, die sich um alles kümmerte. Oder Victoria, mit der sie über Bücher plaudern konnte. Oder Clara, die von den üblen Umständen im Krankenhaus klagte und die Ausbildung abbrechen wollte. Nein! Carolin konnte sich nicht vorstellen, mit einer von ihnen über den Tod ihres Vaters zu sprechen.

Tod. Die drei Buchstaben dröhnten in ihren Ohren.

»Frau Franzen!« Die Sekretärin stand mit besorgter Miene vor ihr.

Carolin fasste sich an die Wangen, spürte die Tränen darauf. Wann hatte sie angefangen zu weinen? »Ich möchte allein sein!«

Frau Gillwaldt schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage.«

Aber sie war doch nun allein! Sie kannte weder ihre Mutter noch hatte sie Großeltern, Geschwister, Tanten, Onkel, Cousinen, die sie um Beistand bitten konnte. Mit dem Tod war endgültig die Chance gestorben herauszufinden, ob sie noch Familie hatte. Carolin biss die Zähne zusammen, und Wut vermischte sich mit Trauer wie Schnee, der in Wasser rieselte. Wieso hatte ihr Vater auf jede ihrer Nachfragen so beharrlich geschwiegen? Er hatte ihr noch nicht mal den Namen ihrer Mutter verraten.

»Frau Franzen!«

Carolin holte das Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer ihrer Freundin. Annika meldete sich nach dem zweiten Klingeln. Auf sie war Verlass. Immer. »Ciao, Carinchen! How was your great day?«

Carolin hätte gelächelt, wenn sie gekonnt hätte. Annika bedeute Heimat, Ersatzfamilie und Arme, in die sie sich fallen lassen konnte. Carolin musste sich zusammenreißen, um nicht direkt loszuheulen.

»Scheiße, um ehrlich zu sein«, krächzte sie.

»Oh! Hat dein Vater die Show verkackt?«

Carolins Hals schnürte sich zu. »Er ist gestorben.« Stille am anderen Ende der Leitung. Hatte sie Annika je sprachlos erlebt? »Darf ich dich um einen Gefallen bitten? Würdest du zu mir kommen? Ich zahle dir auch die Fahrk…«

»Scheiß aufs Geld. Ich komme! In drei Stunden bin ich bei dir.«

»Danke«, wisperte sie und legte auf. »Sie können jetzt gehen«, sagte sie an Frau Gillwaldt gerichtet.

Die Sekretärin seufzte. »Das gefällt mir gar nicht.«

»Ich komme schon zurecht.«

»Also gut. Soll ich schon mal ein Bestattungsunternehmen raussuchen?«

»Nein. Wenn ich Hilfe benötige, melde ich mich. Danke, dass Sie da waren.« Bevor sie sich um Formalitäten kümmerte, wollte sie einen Menschen um sich haben, der sie auffangen konnte.

Frau Gillwaldt fasste sie an der Schulter. »Melden Sie sich bitte, wenn ich etwas tun kann.«

Als sie verschwunden und die Haustür ins Schloss gefallen war, überfiel Carolin die Leere des Hauses und drückte sie in ein Loch, das sie in die Tiefe zog.

Der Blick tränenverschwommen, ihr Hals kratzte, neben ihr ein Dutzend gebrauchte Taschentücher. Carolin hörte seine Stimme in ihrem Kopf: »Bitte bring das in den Müll!« Sie japste nach Luft. Was würde sie dafür geben, sich die Rügen ihres Vaters anzuhören? Sie würde sofort aufstehen und die Tücher entsorgen.

Vierundsechzig. Wieso verstarb jemand mit vierundsechzig?

Die Türklingel schnitt durch die Stille des Hauses. Wer konnte etwas von ihr wollen? Sie wollte niemanden sehen. Der Blick zur Uhr, die Zeit war dahingerast. Erneutes Klingeln.

Erkenntnis drang in ihr Bewusstsein. Annika.

Langsam erhob sich Carolin. Ihre Beine fühlten sich steif und schwer wie Betonklötze an. Sie trottete zur Haustür, und kurz bevor sie dort ankam, schrillte die Klingel wieder. Sie öffnete.

»Oh, Carinchen!« Annika ließ die Tasche fallen und drückte Carolin an sich. Der vertraute Geruch nach dem blumigen Parfum stieg ihr in die Nase. Und sofort brachen die Tränen aus ihr heraus. Es tat so gut, gehalten zu werden. Annika strich über ihren Rücken. »Lass alles raus, Liebes!«

Carolin löste sich aus der Umarmung. »Komm erst mal rein«, sagte sie schluchzend.

Annika nahm ihre Tasche und folgte ihr ins Wohnzimmer.

Unter Tränen berichtete Carolin, was passiert war. Ihre Freundin hörte zu, nahm sie ab und zu in den Arm oder reichte ihr ein Taschentuch.

»Nun werde ich niemals erfahren, wer meine Mutter ist.« Carolin schniefte und strich über ihre goldene Armbanduhr. Ein weißes Ziffernblatt mit römischen Zahlen und einer Datumsanzeige. Das Armband aus vergoldetem Metall. Das Glas war verkratzt und die Uhr nicht mehr in Mode, aber es war das Einzige, was ihr von ihrer Mutter geblieben war. Und nun hatte sie auch noch ihr Vater verlassen.

»Was soll jetzt nur werden?«, fragte Carolin.

»Jetzt …«, Annika klatsche in die Hände, »… mache ich uns erst mal etwas zu essen.« Sie stand auf und fragte über die Schulter. »Was geben die Vorräte her? Heile-Welt-Pasta und anschließend Tiramisu?«

Unwillkürlich musste Carolin lächeln. »Du findest weder Mascarpone noch Löffelbiskuits im Haus.«

»Dann backe ich uns eben Schokomuffins.«

Sie machte einen Freudensprung wie früher, wenn sie ein Tor beim Fußball geschossen oder eine gute Note bei einer Klausur bekommen hatte. Ein Bein schwang nach vorn, eins nach hinten und ein Arm ging triumphierend in die Luft, die Armbänder klimperten dabei. Annika lachte und strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht. Carolin hatte sich noch nicht an die Haarfarbe gewöhnt. Früher hatte Annika sie rosa gefärbt, doch seitdem sie seit einem Jahr als Assistenzärztin arbeitete, wollte sie seriöser wirken, wie sie sagte. Wenn sie da nicht die bunt gemusterten Röcke trug, die danach aussahen, als hätte sie sie aus Afrika importiert, konnte das sogar funktionieren. Das Zungenpiercing sah man schließlich nur, wenn sie herzhaft lachte.

»Ika, du bist einfach unverbesserlich.«

Annika grinste. »Hilfst du mir, oder willst du lieber auf dem Sofa den Taschentüchern Gesellschaft leisten?«

»Sie werden sicherlich beleidigt sein, aber ich stehe der neuen Chefköchin gern hilfreich zur Seite.« Carolin erhob sich und rieb mit dem Ärmel die letzten feuchten Stellen an den Wangen trocken.

»Sehr gut. Schon wieder zum Scherzen aufgelegt.«

Das ging nur, weil sie wusste, dass sie sich in der nächsten Minute erneut bei ihrer Freundin ausheulen konnte. Und sie war Annika dankbar für ein wenig Leichtigkeit. Der Tag hatte so viele Tränen gefordert, dass sie sich fühlte wie ein ausgetrockneter Brunnen, der nach Regen lechzte.

In den folgenden zwei Stunden kochten sie zusammen, scherzten, redeten über die gemeinsame Schulzeit, über Jugendfreunde, Fußballkolleginnen und alte Lehrer. Zwischendurch umarmte sie ihre Freundin und ließ einem weiteren Traueranfall seinen Lauf. Nach dem Essen recherchierten sie im Internet, was sie für die Bestattung erledigen mussten.

»Lass uns schon mal das Stammbuch raussuchen.« Annika nahm sich welche von den Erdnüssen, die sie auf den Tisch gestellt hatten.

»Das ist in seinem Arbeitszimmer.«

»Kannst du es holen?«

Carolin schluckte trocken. Alles sträubte sich in ihr, das Arbeitszimmer zu betreten. Nur selten war sie in seinem Reich gewesen, und wenn er sich darin aufgehalten hatte, hatte er nicht gestört werden wollen. Ein ungeschriebenes Gesetz, das sie akzeptiert hatte.

Annika hob eine Augenbraue. »Sag mir einfach, wo es steckt, ich finde es schon.«

»Ich weiß es ja selbst nicht.«

»Dann ab zur Suchaktion!« Annika nahm ihre Hand und zog sie mit sich. Vor der Schwelle des Arbeitszimmers stockte Carolin. Das Zimmer war ein Abbild des Büros in Düsseldorf. Klinisch und aufgeräumt. Weißer Schreibtisch, darauf der Bildschirm und die Tastatur. Dahinter das Fenster. Links ein großer Schrank mit weißen Fronten. An der rechten Seite hing ein übergroßes Foto von ihm bei einem Tennisturnier. Diese Leinwand hatte er von seinen Teamkollegen aus dem Tennisklub geschenkt bekommen. Die Augen, die auf dem Bild den gelben Ball erwartungsvoll ansahen, würden sich nie wieder öffnen.

Das Loch wurde wieder größer, und die Tränen brennender, doch Carolin versuchte, sie zu unterdrücken.

»Wo könnte es stecken?« Annika riss zwei Schranktüren auf und pfiff durch die Zähne. »Meine Güte, hier herrscht wohl der Ordnungsoberfachmann.«

Carolin gab sich einen Ruck und übertrat die Schwelle. Sie hatte noch nie einen Blick in diesen Schrank geworfen. Es gab Ordner mit den Aufschriften Tennis, Steuern, Haus, Rechnungen, außerdem Büroutensilien und Kopierpapier.

Annika zog zwei weitere Türen auf. Eine Menge Ablagekörbchen und mehrere Pappkartons, fein säuberlich beschriftet. Elektro, Tennis, Karten & Ausweise, Fotos, Designideen und Sonstiges.

»Sonstiges«, murmelte Carolin. Das Wort schmeckte nach Hoffnung und Ungewissheit. Es passte nicht zu ihrem Vater. Er hätte einen treffenden Begriff für den Inhalt gefunden. Dass Annika ein paar Ablagekörbchen durchforstete, nahm Carolin nur am Rande wahr. Ihr Herz klopfte, als sie den Karton Sonstiges auf Zehenspitzen aus dem Regal fingerte und auf den Boden stellte. Sie kniete sich hin und berührte den schwarz-weiß gestreiften Deckel. Zuletzt hatte ihr Vater den Deckel angerührt.

Nein, sie wollte nicht schon wieder weinen.

»Hier«, sagte Annika und streckte ihr das Familienstammbuch entgegen. Carolin legte es neben sich und schob den Deckel des Kartons ab. Oben drauf lag ein handgeschriebener Brief, datiert 1960.

Liebster Alfred,

wie gefällt es Dir an der Nordsee? Hast Du Freunde gefunden? Du fehlst mir. Und auch Papa. Er sagt es nicht, aber ich sehe es an seinem zerknirschten Gesicht, wenn er aus der Werkstatt kommt. Ihm fehlt Deine helfende Hand. Ich glaube, er begreift jetzt, wie wichtig Du ihm in der Werkstatt geworden bist. Auch Ingrid und Wilfried wissen ohne Dich manchmal nichts mit sich anzufangen. Wilfried kommt öfter mit dem Fußball in die Küche gerannt und fragt, ob ich mit ihm Ball spiele. Ingrid wollte Dir ihre Puppe mitschicken, aber ich habe ihr gesagt, dass die nicht in den Briefumschlag passt.

Wir senden Dir schöne Grüße aus der Heimat.

In Liebe,

Deine Mama

Carolins Herz begann, Galopp zu laufen. Wieso hatte ihr Vater ihr diesen Brief nie gezeigt? Sie hatte doch so oft nach seiner Familie gefragt. Er hatte einen Bruder und eine Schwester. Und sie eine Tante und einen Onkel.

Unter dem Brief lagen mehrere Fotos. Viele in Schwarz-Weiß, manche in Farbe, aber schon verblichen. Sie sah einen Hof, Kinder und ein Familienfoto, auf dem Eltern mit drei Kindern abgelichtet waren. Ob eines der Kinder ihr Vater war? An den Gesichtern konnte sie es nicht ausmachen, dafür waren die Kinder zu jung. Das kleinste ein Baby, das größte ein Junge von vielleicht acht Jahren. Sie schaute weiter. Ein Mann in einer Wehrmachtsuniform, der im Gesicht ihrem Vater ähnlich sah. Ihr Opa? Eine Mutter, die zwei Kinder im Kinderwagen über eine Straße schob, ein Hinterhof mit spielenden Kindern, Fotos von zerbombten Häusern. Dann ein Bild von einem zehnjährigen Jungen, im Hintergrund das Brandenburger Tor. Das war eindeutig ihr Vater. Jetzt erkannte sie ihn. Sie reichte das Foto ihrer Freundin. »Schau mal!«

Annika nickte.

Als sie das letzte Foto aus dem Karton zog, spürte sie etwas Kleines, Kühles: ein goldener Ring. Sie nahm ihn heraus und fühlte die Linie nach, die zwischen dem Weiß- und Roségold verlief. In der Innenseite gab es eine Inschrift: Irina 01.06.1967.

Carolins Herz machte einen freudigen Hüpfer. »Meine Mutter heißt Irina.«

Annika lächelte. »Wolltest du das nicht immer wissen?«

Carolin lachte schluchzend auf. Dann wurde ihr Blick vom Boden des Pappkartons gefangen, wo noch etwas lag: ein Blatt. Sie nahm es heraus und drehte es um. Die Heiratsurkunde. Eheschließung in Düsseldorf zwischen Alfred Franzen, geboren am 01.10.1945 in Berlin, und Irina Mironow, geboren am 16.02.1946 in Odinzowo, Russland.

Carolins Herz klopfte so heftig, dass sie glaubte, gleich würde ihr Brustkorb zerspringen. Ihr Vater war in Berlin geboren, und es gab Fotos von ihm in der Hauptstadt. Sie konnte sich erinnern, dass sie irgendwann auf seinem Ausweis den Geburtsort gesehen hatte. Sie hatte dieser Information keine Bedeutung zugemessen. Vielleicht hatte sie Verwandte in Berlin. Und endlich kannte sie den Namen ihrer Mutter: Irina Mironow – eine Russin.

»Jetzt weißt du viel mehr, als du vor Stunden zu hoffen gewagt hast«, sagte Annika lächelnd. Das Zungenpiercing blitzte auf.

»Und was mache ich damit?« Carolin sah auf die Fotos, die sie um sich auf dem Boden verteilt hatte. Ein bunter Strauß Erinnerungen, die bloß seelenlose Bilder blieben, wenn ihr niemand die Geschichten dazu erzählte.

»Ich habe schon eine Idee.« Annika grinste und ließ die Armbänder klimpern.

»Lass hören.«

»Na, wenn deine Familie in Berlin wohnt, du aber weder Namen noch Adresse kennst, solltest du die Todesanzeige auch in der Berliner Zeitung aufgeben. Vielleicht bekommst du einen Schicksalsbonus, und es meldet sich jemand.«

Carolin griff nach dem Foto von ihrem Vater als kleinem Jungen vor dem Brandenburger Tor. Ihre Hand zitterte. Würde sie so ihre Familie wiederfinden?

Carolin ging mit Annika vom Beerdigungsinstitut nach Hause. Ihr Brustkorb fühlte sich immer noch wie zugeschnürt an, doch langsam wurde es besser. Nachdem sie gestern noch zum Gespräch dort gewesen waren und alles für die Bestattung besprochen hatten, hatten sie heute die Trauerbriefe abholen können.

Sie hakte sich bei Annika unter. »Danke, dass du mir hilfst.«

»Wofür sind best friends denn da?«

Selbstverständlich war es nicht. Sie hatte heute Morgen ein Telefonat mitgehört, wie Annika ihren Chef gedrängt hatte, bis Sonntag freizubekommen.

»Ich bin gespannt wie ein Flitzi, ob deine Familie aus der Versenkung auftaucht«, fuhr Annika fort.

Der Bestatter hatte sich einverstanden erklärt, sich um die Todesanzeige in mehreren Berliner Tageszeitungen zu kümmern. Jetzt galt es zu hoffen. Zu hoffen, dass jemand von ihren Verwandten Zeitung las und einen Blick in die Traueranzeigen warf.

»Jetzt müssen wir nur noch die Briefumschläge beschriften und zur Post bringen«, sagte Carolin.

»Und den Priester …«

Das Klingeln von Carolins Handy unterbrach Annika. Carolin fummelte das Handy aus der Hosentasche und blickte aufs Display.

Oliver.

»Hallo, Sonnenschein. Was gibt es Wichtigeres als mich?«, flötete er.

Er hatte angerufen, als sie im Gespräch mit dem Bestatter gewesen war, und sie hatte ihn weggedrückt. Was sollte sie antworten? Seit gestern Morgen war so viel passiert. Es war, als wären seit ihrem letzten Treffen Wochen vergangen. Sie hatte gestern mehrmals versucht, ihn zu erreichen, und ihm eine SMS geschrieben, er solle sich dringend bei ihr melden. Trotzdem kam es ihm erst jetzt in den Sinn, sie anzurufen.

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, begann sie.

»Wenn du es nicht weißt, könnte ich einen Vorschlag machen. Wir haben etwas zu feiern. Wollen wir ins Kino? ›Il Divo‹, ein Mafiafil…«

»Ich bin nicht in der Stimmung.« Wieso konnte er nicht mal fragen, wie es ihr ging? Oder zumindest, warum sie ihn so oft angerufen und ihm die SMS geschrieben hatte?

»Ich bring dich in Stimmung, Sonnenschein. Danach kannst du bei mir pennen.« Er lebte mit zwei anderen Studienkollegen in einer WG. Dort war es eng und dreckig, deswegen übernachtete sie ungern bei ihm.

»Nein.«

»Ich putze auch vorher. Aber wenn du nicht willst, können wir auch zu dir.«

Carolin ballte die Hand zur Faust. Er begriff nichts! Wo war der Psychologiestudent, der von sich behauptete, die Menschen besser zu kennen als sich selbst? »Oliver, mein Vater ist gestorben.«

Stille. Sie dröhnte in ihren Ohren.

»Mein Sonnenschein, warum hast du denn nichts gesagt?«, kam nach ein paar endlosen Sekunden.

Ihr kamen wieder die Tränen. »Wollte ich, aber du warst nicht zu erreichen.«

»Och, Sonnenschein. Das tut mir leid. Ich komme sofort.«

»Brauchst du nicht …« Weiter kam sie nicht, dann hörte sie ein Tuten. Fassungslos starrte Carolin das Handy an. »Einfach aufgelegt.«

Annika hob skeptisch eine Augenbraue. »Was für ein Saftsack! Bist du sicher, dass er dir guttut?«

»Er will vorbeikommen«, verteidigte ihn Carolin. Sie freute sich, ihn zu sehen, auch wenn sie ihrer Freundin seit Wochen jammernd in den Ohren lag, dass er sich kaum noch für sie interessierte und sich von ihr immer alles bezahlen ließ. Wie oft hatte er sie gefragt, ob sie in eine gemeinsame Wohnung ziehen wolle, doch Carolin hatte Angst gehabt, dass der Alltag sie überrollen würde. Außerdem würden die gesamten Kosten an ihr hängen bleiben. Selbst die Burger bei McDonalds musste sie ihm ausgeben. Bevor sie zusammenziehen würden, musste er lernen, Verantwortung zu übernehmen, und ihr das Angebot machen, sich mehr um den Haushalt zu kümmern oder sie anderweitig zu unterstützen. Aber nun war sowieso alles anders.

»Hast du eigentlich noch Kontakt zu Laura?«, fragte Annika.

Carolin nestelte das Handy zurück in die Hosentasche. In der Schule waren sie ein unzertrennliches Dreierteam gewesen, hatten den Jungs hinterhergeschaut, gemeinsam Spickzettel geschrieben und die intimsten Geheimnisse geteilt. Noch heute könnte sie rot werden, wenn sie daran zurückdachte! Und dann war Laura mit Kamiran zusammengekommen, ausgerechnet kurz vor dem Abitur. Annika, Laura und sie hatten zusammenhalten wollen, egal was gekommen wäre, doch statt mit Annika und ihr in der Lerngruppe zu sitzen, um die verfluchte Chemieprüfung zu bestehen, hatte Laura angefangen, den Koran zu lesen. Es hatte nicht lang gedauert, dann hatte sie ein Kopftuch getragen. »Warum machst du das?«, hatte sie die Freundin gefragt. »Ich verstehe einfach nicht, warum du dich einem Mann zuliebe verhüllst – in einem christlichen und liberalen Land.«

Die Erinnerung brachte Carolin das Herzklopfen von damals zurück. Sie hatte Laura nicht verlieren wollen, und doch hatte sie mit ihren Antworten nichts anfangen können.

»Nicht seit dem Freibad-Debakel«, antwortete Carolin und spürte wieder den alten Zorn in sich aufsteigen. Sie waren zu dritt ins Strandbad am Unterbacher See gegangen. Laura hatte sich geweigert, das Kopftuch abzunehmen, und war deswegen nicht mit ins Wasser gekommen. Carolin hatte den Eindruck gehabt, eine Wand hatte sich zwischen sie und Laura geschoben. All die Vertrautheit, ihre süßen Geheimnisse und gemeinsamen Sehnsüchte schienen nichts mehr zu bedeuten. Carolin hatte gezittert vor Wut und Enttäuschung, hatte Laura vorgeworfen, sich zu sehr verändert zu haben, woraufhin diese fluchtartig das Bad verlassen hatte. Sie waren mit Carolins Auto dorthin gefahren gewesen, daher hatte sie keine Ahnung gehabt, wie die Freundin nach Hause gekommen war.

Annika rieb sich über die Armbänder. »Schade, ich würde sie gern wiedersehen.«

Carolin zuckte die Schultern. »Du kannst sie besuchen. Ich glaube, sie wohnt noch in der Martin-Luther-Straße. Ich habe sie dort mal laufen sehen, komplett vermummt.«

»Ohne dich?« Annika schüttelte den Kopf. »Nein, wir waren zu dritt das coolste Dream-Team, du würdest fehlen. Aber irgendwann würde ich mich gern entschuldigen, wir waren nicht sehr verständnisvoll.«

»Sie war doch diejenige, die abgehauen ist«, widersprach Carolin.

»Ich versteh schon, dir steht nicht der Sinn danach, vielleicht kann ich dich beim nächsten Mal zu einem Revival mit ihr bequatschen.«

Eine halbe Stunde später stand Oliver vor der Tür. Er drückte Carolin an sich, und sie schluchzte auf.

»Oh, mein Sonnenschein«, sagte er und strich ihr über den Rücken. »Schau mal, ich habe dir etwas zur Aufheiterung mitgebracht.« Aus einem Leinenbeutel holte er eine rote Rose und eine Packung Toffifee, ihre Lieblingsschokolade. Damit hatte er ihr die Zeit versüßt, als sie sich beim Fußball einen Bänderriss zugezogen hatte.

»Danke.«

Sie nahm die Packung und die Rose und betrachtete die Blätter. Rot. Ein Zeichen der Liebe. Ihr Vater. Er würde nicht mehr miterleben, wie sie eines Tages heiratete. Er würde nicht die Chance haben, seine Enkelkinder kennenzulernen, wenn welche das Licht der Welt erblicken würden. Ihre Augen brannten.

»Komm.« Oliver ging an ihr vorbei und zog sie mit sich. Als sie ins Wohnzimmer traten und er gewahr wurde, dass Annika auch da war, stutzte er. »Oh, so schnell aus Münster angereist?«

Annika stand auf und strich den bunt gemusterten Rock glatt. »Sieh an, der Prinz! Lahmt der Gaul, oder warum bist du so langsam?«

»Hat die Dame zu viele Märchen gelesen? Na ja, jetzt bin ich ja da«, sagte Oliver großspurig und legte Carolin einen Arm um die Schultern.

Sie blickte zu ihm auf. Carolin war nicht klein, aber zu Oliver mit seinen zwei Metern musste sie immer aufsehen. »Ika bleibt. Sie hat sich extra bis Ende der Woche freigenommen.«

»Na, dann bin ich wohl überflüssig.« Er trat einen Schritt zurück und verzog das Gesicht.

Was sollte das denn? Musste sie etwa auf seine Befindlichkeiten achten? »Das hat doch niemand gesagt.«

»Also dann komm mal her.« Er zog sie auf die Couch und umarmte sie. Der Duft seines herben Deodorants stieg ihr in die Nase. Sie strich über seine Brust, irgendwo da mussten die Muskeln von dem trainierten Kerl sein, den sie vor Jahren kennengelernt hatte. Von der Athletik war nicht mehr viel übrig. Sein Studium nehme ihn so sehr ein, dass er für Sport keine Zeit mehr hatte. Das Fast Food tat sein Übriges, und so hatte er reichlich Speck angesetzt. Früher hatten sie sich gegenseitig bei den Fußballspielen angefeuert, jetzt kam nur noch er zu ihren Spielen. Dabei unterstützte er sie gern. Sie liebte es, im Anschluss an ein Spiel mit ihm über den Verlauf, die Taktik oder die Gegner zu diskutieren. Er gab ihr in den Pausen manchmal einen Tipp, welcher Spielzug funktionieren könnte oder in welche Ecke des Tors sie schießen sollte.

Aber er selbst war sportfaul geworden. Es war ein halbes Jahr her, seitdem sie das letzte Mal zusammen Joggen gewesen waren. Nach einem Kilometer war er so außer Puste gewesen, dass er aufgegeben hatte.

»Und möchtest du wissen, was es bei mir zu feiern gibt?«, fragte er mit einem Zwinkern.

»Natürlich«, sagte sie.

»Ich habe ein Vorstellungsgespräch für ein Praktikum im Personalmanagement.« Er grinste breit.

Annika kam aus der Küche und ließ sich mit einer Flasche Cola aufs Sofa plumpsen. »Wie viele Bewerbungen hast du für eine Zusage geschrieben? Fünfzig?«

»Gar keine. Ein Studienkollege hat den Kontakt hergestellt. Sein Onkel ist in einem Bauunternehmen ein hohes Tier.« Oliver fuhr sich durch die schwarzen Haare.

»Und wann ist das Gespräch?«, wollte Carolin wissen.

»Am Freitag.«

»Um wie viel Uhr?« Sie richtete sich nach vorn und sah ihn an. Am Freitag um vierzehn Uhr war die Beerdigung, da hatte er keine Zeit für ein …

»Vierzehn Uhr dreißig.«

»Dann wirst du absagen müssen. Um vierzehn Uhr ist die Beerdigung.«

»Oh!« Er strich sich übers Kinn, wie immer, wenn ihm etwas nicht gefiel, aber da musste er durch.

»Versprich mir, dass du kommst«, sagte sie und legte den Kopf an seine Brust.

»Natürlich, mein Sonnenschein.« Er schlang den Arm um sie und drückte sie an sich.

Sie war doch nicht allein.

Die Glocken im hölzernen Turm läuteten zur Trauerandacht. Der Regen prasselte auf das Steinbeet, das den Zugang zur Kapelle flankierte. Carolin und Annika warteten unter dem Vordach auf weitere Trauergäste. Viele Freunde, Kunden und Mitarbeiter waren bereits reingegangen. Carolin sah den Weg zum Eingangstor hinunter, doch die Sträucher versperrten ihr die Sicht.

Annika blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich glaube nicht, dass Oliver kommt.«

»Er hat es mir versprochen.« Er hatte noch fünf Minuten. Das wäre typisch für ihn.

Annika hob die Augenbrauen. »Ich glaube, er hat mal eine ordentliche Ansage verdient.«

Carolin schluckte trocken. Wie konnte ein Vorstellungsgespräch wichtiger sein als die Beerdigung?

»Lass uns reingehen.« Annika griff nach ihrer Hand, und Carolin erwiderte den Druck. Das Gefühl des Fallens war vorbei – Dank ihrer Freundin –, dennoch spürte sie eine Leere in sich. Wie sollte es weitergehen mit dem Haus, dem Unternehmen und den Mitarbeitern? Annika würde morgen abreisen. Da wäre es beruhigend, wenn Oliver da war.

»Noch nicht.« Sie lauschte dem Regen, sah zur Birke auf der gegenüberliegenden Seite des Weges und tippelte von einem Bein aufs andere. Oliver kam nicht. Wie viel war sie ihm noch wert, wenn er nicht mal zur Beerdigung ihres Vaters erschien? Sein Geld nahm ihr Freund jedoch gern in Anspruch.

»Also gut«, sagte sie.

Die Anklage stand Annika ins Gesicht geschrieben. »Er hat dich nicht verdient.«

Vielleicht stimmte das, aber es gab auch Momente, in denen er sie aufheiterte.

Sie betraten die Kapelle und nahmen in der ersten Reihe Platz. Auf dem braunen Sarg ein riesiger Kranz mit weißen Blumen. Das hätte ihrem Vater gefallen. Schlicht und elegant. Auf der Schärpe die Aufschrift: In lieber Erinnerung.

Dort drin lag ihr Vater; die Vorstellung war unbegreiflich und trieb ihr die Tränen in die Augen. Würde sie noch seine typischen Gesichtszüge erkennen? Sie hatte ihn sich im Krankenhaus nicht ansehen wollen, hatte ihn in Erinnerung behalten wollen, wie er sich morgens beim Frühstück von ihr verabschiedet hatte.

Die Kapelle war gut gefüllt, doch die erste Reihe blieb leer. Keine weiteren Verwandten. Ein Anruf aus Berlin war ausgeblieben. Kein Kontakt zu einer Familie, die sie nicht kannte. Kein Versprechen in eine Vergangenheit, die sie niemals erforschen würde.

Ihre Hoffnung zerplatzte wie Seifenblasen, die vom Wind gegen spitze Steine geweht wurden. Das Geheimnis ihrer Familie hatte ihr Vater für immer in sich eingeschlossen und mit in diesen Sarg genommen. Sie schluckte, um die Tränen zu unterdrücken.

Der Priester trat ans Rednerpult und wollte beginnen, als er innehielt und zum Eingang blickte.

Carolin wandte sich um. Eine Frau mit lockigen blonden Haaren mittleren Alters half einer alten Dame mit Rollator. Sie kamen bis in die erste Reihe. Die Blonde stellte einen Stuhl zur Seite, um Platz für den Rollator zu machen. Wer waren die beiden? Carolin hatte keine Zeit zu fragen, da der Priester zu sprechen anfing.

»Liebe Trauergemeinde, liebe Schwestern und Brüder, liebe Angehörige, liebe Freunde und Arbeitskollegen. Wir sind heute hier versammelt, um Abschied zu nehmen von Alfred Franzen …«

Carolin warf der alten Frau einen Seitenblick zu. Sie knetete die Hände und sah betroffen auf den Sarg. Sie hatte weiße ordentlich frisierte Haare, trug eine dezente Brille und hatte auffällig dunkle Augenbrauen. Täuschte Carolin sich oder kamen ihr die Gesichtszüge bekannt vor? Diese Augenbrauen kannte sie doch von ihrem Vater!

Kapitel 2

Haan, Mai 2009

Die Rede des Priesters rauschte an Carolin vorbei. Sie versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren, dennoch glitt ihr Blick immer wieder zu der alten Dame vier Sitze neben ihr. Sie trug einen knielangen karierten Rock, eine Seidenstrumpfhose und unter der schwarzen Jacke eine weiße Bluse. Ein erwartungsvolles Kribbeln breitete sich in Carolins Körper aus. Die Dame war bestimmt keine Kundin. Nein, eine Kundin hätte sich, wenn sie zu spät gekommen wäre, ganz hinten einen Platz gesucht. Und dann diese Gesichtszüge. Vielleicht war sie mit ihrem Vater verwandt … Oder spielte der unbändige Wunsch nach einer Familie Carolin einen Streich?

Der Priester gab Annika ein Zeichen. Sie ging zu dem Stuhl neben dem Sarg und nahm die Gitarre, die man ihr bereitgestellt hatte. Sie schloss die Augen und begann, »Over the rainbow« zu spielen. Ihre Stimme hallte durch die Kapelle und bescherte Carolin eine Gänsehaut.

Ob ihr Vater diese Stimme auch hören konnte? Sie hatte sich bisher kaum mit dem Tod beschäftigt, hatte keinen Schimmer, wo er jetzt sein könnte. Als Annika eine Oktave höher sang, war es um Carolin geschehen: Ihre Leere platzte in der Melodie des Liedes auf und ließ Tränen über ihre Wangen fließen.

Die alte Dame weinte auch, wischte sich mit einem Taschentuch übers Gesicht. War sie bloß von dem Lied und der Atmosphäre ergriffen, oder trauerte sie um Alfred Franzen?

Der letzte Akkord klang lange in Carolin nach und ließ ein Gefühl von Schwerelosigkeit zurück. Sie hätte ihrer Freundin stundenlang zuhören können, doch Annika legte die Gitarre beiseite und setzte sich wieder auf ihren Platz.

Der Priester sprach ein paar Abschlussworte, redete von der gemeinsamen Zeit mit dem Verstorbenen, von dem Vertrauen auf Gott und davon, in der Trauergemeinde Kraft für die kommende Zeit zu schöpfen.

Dann kamen sechs Männer und trugen den Sarg aus der Kapelle. Carolin schloss sich mit Annika direkt dem Sarg und dem Priester an. Die alte Frau mit dem Rollator folgte ihnen. Der Regen hatte aufgehört, dafür wehte Carolin ein kühler Wind durch die Haare. Sie musste den Blick vom Sarg abwenden, um nicht von ihren Gefühlen überwältigt zu werden. Der Trauerzug passierte auffällig gestaltete Gräber mit Lichtern, Engelfiguren und vielen Blumen, Grabsteine mit Jesus am Kreuz und das Gemeinschaftsgrab der Gemeindepriester. Er bog rechts ab und stoppte vor einem ausgehobenen Grab. Der Priester nahm daneben Aufstellung, breitete die Arme aus und betete.

Carolin sah auf das Loch, in das ihr Vater hinabgelassen wurde. Versinken in der Finsternis. Abschied für immer. Hätte sie gewusst, was passieren würde, hätte sie ihn am Dienstag nicht allein aus dem Haus gehen lassen. Sie wäre mit ihm zum Arzt gefahren, vielleicht wäre er dann noch am Leben. Aber woher hätte sie es wissen sollen? Es hatte beim Frühstück keine Anzeichen für einen Herzinfarkt gegeben.

Annika zog an ihrem Arm und wies auf den Korb mit den Blumen. Carolin nahm eine Rose und trat ans Grab. Welche Worte sollte sie an ihren Vater richten? Ihr Kopf war leer, ihre Gedanken eingehüllt wie von einem Nebelschleier. Es gab so vieles, das sie ihm zu Lebzeiten hätte sagen wollen, doch ihre Gedanken an einen Toten zu richten, kam ihr vergeblich vor.

»Vergib mir, Vater!«, formten ihre Lippen lautlos, ohne zu wissen, was ihr Vater ihr vergeben sollte. Sie machte Platz und stellte sich an den Rand, um die Beileidsbekundungen entgegenzunehmen. Die alte Dame kam auf sie zu und befreite sie aus den Gedanken. Ein Funke Hoffnung glomm in ihr, dass sie selbst nicht die Letzte in ihrer Familie war. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, die Dame zu fragen, wer sie war.

»Woher kennen Sie meinen Vater?«

Das Gesicht der alten Frau erhellte sich. »Sie sind also die Tochter.« Sie tätschelte Carolins Hand. Sie hatte Altersflecken im Gesicht, am Brustbein hatte sich eine Kuhle gebildet, aber die Gesichtszüge ließen vermuten, dass sie eine ansehnliche Frau gewesen war.

»Und wer sind Sie?« Carolin konnte die Ungeduld in ihrer Stimme nicht verbergen.

»Ich, meine Liebe, bin Alfreds Mutter, also Ihre Großmutter.«

Carolin musste lachen und hätte gleichzeitig weinen können, ein allumfassendes Kribbeln erfasste ihren Körper. Sie hatte eine Großmutter. War das zu fassen? Sie griff nach der Hand der alten Frau. »Wieso haben Sie nicht angerufen?«

Die Großmutter lächelte gequält. »Ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen.«

»Ich freue mich so sehr, dass Sie gekommen sind.« Das Gefühl war viel überwältigender, als ihre Worte es ausdrücken konnten. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet. Wie gern hätte sie diesen Augenblick mit ihrem Vater erlebt. Die Zusammenkunft der Familie, ein Wiedersehen mit seiner Mutter.

»Ach bitte, lassen wir doch das Siezen. Das macht Glauben, wir wären Fremde.«

Carolin nickte. »Gern. Wie heißt du denn?« Das Du wirkte ungewohnt und klang gleichzeitig so verheißungsvoll wie der erste Vogelgesang an einem anbrechenden Sommertag.

Ihre Großmutter machte große Augen. »Das weißt du nicht?«

»Ich wusste bis gerade nicht mal, dass es dich gibt«, gab Carolin mit einem Kloß im Hals zu.

»Oh!« Die alte Frau strich sich über die Stirn. »Ich heiße Frida.«

»Frida«, murmelte Carolin. Ihre Großmutter wirkte, als sei sie eine großmütige, herzliche Frau. Wieso hatte ihr Vater den Kontakt abgebrochen und ihr die Existenz seiner Mutter verschwiegen? Sie fragte sich, welches Geheimnis die Vergangenheit für sie bereithielt.

»Und das ist meine Tochter Ingrid«, sagte ihre Großmutter und legte der blonden Frau die Hand auf die Schulter. Carolin hatte eine Tante.

Sie schwindelte, und ihre Knie zitterten. Der Name war in dem handschriftlichen Brief erwähnt worden. Sie lernte an einem Tag zwei nahe Verwandte kennen. Was würden die nächsten Stunden noch offenbaren?

Ingrid war klein und schlank, wirkte sportlich und durchtrainiert. Auf den ersten Blick sah sie aus wie fünfzig, doch nach den Falten in ihrem Gesicht zu urteilen, war sie sicherlich zehn Jahre älter. Sie hatte die gleichen wachen Augen wie ihr Bruder.

Ihre Tante gab ihr die Hand und lächelte. Die Schneidezähne überlappten etwas. »Freut mich, Carolin.«