Neue Zeiten auf der Kö – Die Fotografin - Bettina Lausen - E-Book

Neue Zeiten auf der Kö – Die Fotografin E-Book

Bettina Lausen

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Beschreibung

GÜNSTIGER EINFÜHRUNGSPREIS. NUR FÜR KURZE ZEIT! Zwischen Blitzlicht und Vergangenheit: Eine mutige Frau will Modefotografin werden und muss gleichzeitig gegen die Dämonen ihrer Vergangenheit kämpfen »Zuria blickte zu ihrer Kamera, die sie ebenfalls eingepackt hatte, und ihr kam eine Idee. Sie wollte Modefotografin werden und Jalda ein Fotomodell. Waren das nicht die besten Voraussetzungen für die Erfüllung ihrer Träume?« Düsseldorf 1953: Die 26-jährige Jüdin Zuria lebt in London und ist mit einem Modehausbesitzer verlobt, als ein Brief ihr Leben auf den Kopf stellt: Ihre totgeglaubte Schwester Jalda lebt. Trotz aller Ängste kehrt Zuria in ihre alte Heimat Düsseldorf zurück, um Jalda nach London zu holen. Doch diese hat sich in Deutschland ein Leben als Mannequin aufgebaut und träumt von einer Karriere als Fotomodell. Zuria ersehnt sich, Modefotografin zu werden. Als sie auf ihre Jugendliebe Kurt trifft, steht Zuria vor der Wahl zwischen Sicherheit und Wohlstand in London und einem Neubeginn mit der Chance, ihre wahren Träume zu leben.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Personen und die Handlung sind frei erfunden, wenngleich in das historische Umfeld eingebettet. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Die Bibelzitate sind aus der Bibelübersetzung Luther 1912 entnommen.

© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Sandra Lode

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Nachwort

Historischer Hintergrund

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Kapitel 1

April 1953

»Das riecht doch nach Heiratsantrag«, sagte Grace und zog vielsagend die Augenbrauen hoch, während sie ihre Schuhe abstreifte und die Schleife ihrer Schürze löste.

Zurias Herz machte einen freudigen Hüpfer. »Das könnte sein und der Gedanke daran ist süßer als unsere Tea Cakes.« Das war die Spezialität im Lyons Corner House, in dem Zuria und ihre Freundin Grace als Nippys arbeiteten und fast täglich den Gästen Tee und Gebäck servierten.

Zuria hatte am Morgen ihr schickstes Kleid angezogen, das bis Dienstschluss in den schmalen Spind gequetscht gewesen war. Als sie es nun herausnahm, raschelte der Stoff verführerisch. Sie hatte sich das knöchellange Kleid mühsam erspart. Den weißen Rock zierten gestickte schwarze Blätter und Blüten, oberhalb des Boleros lugte der Seidenstoff am Ausschnitt verspielt hervor, sodass dieser weder bieder noch zu aufdringlich wirkte. Sie zog ihre besten Pumps an und streifte die Seidenhandschuhe über.

Zuria bekam das Lächeln nicht mehr aus ihrem Gesicht. Sie war sich so sicher, dass Noam ihr heute die Frage aller Fragen stellen würde. Warum sonst wollte er sie in ein Restaurant ausführen? Sie freute sich darauf wie ein kleines Mädchen auf einen Jahrmarktsbesuch, war sie doch in den letzten Jahren nicht einmal auswärts essen gegangen. Sie musste fast jeden Tag bis kurz vor Mitternacht arbeiten, daher hatten sie sich bisher immer vormittags im Park getroffen. Nun jedoch hatte er darauf bestanden und sie hatte sich den Abend freinehmen können. Ihre Freundin hatte heute ebenfalls ihren kurzen Tag.

»Süßer als Tea Cakes, lass das nicht unseren Chef hören.« Grace quietschte vergnügt, umarmte sie und zog ihr dabei die Spitzenhaube vom Kopf. »Du willst doch wohl nicht mit Seidenkleid und Haube deinen Liebsten treffen.«

»Oh, die hätte ich fast vergessen.« Zuria lachte und stopfte sie zu ihrem Arbeitskleid in den Spind.

»Und nun raus hier.« Ihre Freundin stieß ihr lachend gegen die Schulter.

Zuria warf einen letzten Blick in den Spiegel, zupfte ihre braunen Locken zurecht und zog Lippenstift nach. Auf einem niedrigen Tisch hatte der Manager des Lyons Corner House vor einem Monat ein neues Radiogerät platziert. Aus dem Lautsprecher des wuchtigen Geräts mit den zwei Knöpfen drang Guy Mitchells neuester Song She wears red feathers. Sie wippte zur Musik, dann winkte sie Grace zum Abschied und drängte sich durch ein Dutzend weiterer Nippys, bis sie den Ausgang des Personalraums erreicht hatte. In diesem Café arbeiteten über dreihundert Kellnerinnen.

»Und wehe, du erzählst mir morgen nicht jedes Detail«, rief Grace ihr hinterher.

»Du weißt doch: keine Geheimnisse!« Zuria drückte die Tür auf und hastete die Treppe hinauf. Drei weitere Bedienstete kamen ihr gackernd entgegen. Sie durchquerte die erste Etage des Cafés, da sie heute ausnahmsweise nicht den Personalausgang nahm, weil Noam vor dem Haupteingang auf sie warten wollte. Der vertraute Geruch nach Kaffee, Tee und Kuchen stieg ihr in die Nase. Sie kam an einer fülligen Frau vorbei, die mit deutschem Akzent mit der Bedienung diskutierte und ihr schließlich die Lebensmittelmarken für Tee und Gebäck reichte.

Das Geklapper des Geschirrs und die Gespräche der Gäste wurden von leisen Pianoklängen untermalt. Ein Mann, der an einer Säule saß, die am oberen Ende in einen Kranz aus Lampen mündete, hob die Hand und sah sich in einer fremden Sprache fluchend nach einer Kollegin um. Der Inhalt seiner Tasse hatte sich auf die Tischdecke ergossen. Mit schnellen Schritten schlängelte sie sich zwischen den Tischen hindurch zum Ausgang.

Noch bevor Zuria die Glastür aufdrückte und auf den Bürgersteig trat, sah sie Noam vor dem Eingang stehen. Sein neuer Anzug aus blauem Flanell schmiegte sich um seinen muskulösen Körper, als wäre er mit ihm verwachsen. Sein Modeschöpfer hatte mal wieder ganze Arbeit geleistet und Noam war das beste Aushängeschild für das Modehaus, das ihm sein Vater vererbt hatte. Die blonden, leicht rötlichen Haare lugten unter seinem Hut hervor, den ebenso rötlichen Bart hatte er stutzen lassen. Seine Sommersprossen schienen in dem Schein der Deckenlampen im Eingangsbereich zu leuchten.

Noam lächelte breit, als er sie erblickte. Zuria ließ sich in seine Umarmung fallen und küsste ihn. Sofort stieg Wärme in ihr auf.

Als sie sich voneinander lösten, griff sie nach seiner Hand. »Wohin entführst du mich heute?«

Er zog sie in Richtung Piccadilly Circus. Ein roter Rover P4 rauschte an ihnen vorbei und hupte. Noam hob die Hand zum Gruß. Dann wandte er sich ihr zu. »Wir gehen ins Criterion. Ist es dir recht, dass ich ein nichtjüdisches Restaurant gewählt habe?«

»Natürlich.« Selbst ihre Tante Deborah würde nichts dagegen haben, obwohl sie zu Hause penibel darauf achtete, dass ihr Essen koscher war. Sie separierte sogar das Besteck für Fleisch und Milch und nahm Zuria am Sabbat mit in die Synagoge. Aber für Zuria blieben die Gebete leblose Hülsen, verstand sie doch kein Hebräisch. Sie hatte bisher keine persönliche Beziehung zu Gott aufbauen können. In ihr grummelten die Zweifel an der Existenz Gottes, seitdem … nein, sie wollte jetzt nicht daran denken.

Zuria hob den Kopf und schenkte Noam ein Lächeln. »Es macht mir nichts aus, ich freue mich auf alles, was du ausgesucht hast.«

Ein Funkeln trat in seine Augen. »Wusste ich es doch.« Beschwingt zog er sie weiter, voller Energie wie ein Sportler auf dem Weg zum Wettkampf.

Zuria musste schmunzeln. In diesem erfolgreichen Mann steckte ein kleiner Bub. Seine Unbeschwertheit war ansteckend und sie fühlte sich ebenso leichtfüßig wie er. Sie schob die Gedanken an ihre Vergangenheit und Herkunft beiseite und ließ sich ganz auf den Moment ein. Überall blinkten die Leuchtreklamen an den hohen Häusern: Wrigley’s chewing gum, Leicester Sq. Theater, Guinness Time mit der riesigen Uhr darunter, die sich über zwei Stockwerke erstreckte und mit ihren römischen Ziffern so aussah, als wäre sie eine Adaption einer Wohnzimmeruhr. »Guinness is good for you.« Sie selbst hatte noch nie so ein Bier getrunken. Doch das Leuchten trog. Zwei Häuser weiter verdeckte ein Plakat in Übergröße ein Trümmerhaus und das Gerüst, das die Bauarbeiter für den Wiederaufbau benötigten.

Aus dem Brunnen mit der Engelsfigur in der Mitte des Piccadilly Circus sprudelte Wasser, wovon jedoch kaum jemand Notiz nahm. Auch wenn sie das Plätschern bei dem Verkehrslärm nicht hören konnte, hatte sie das vertraute Geräusch in ihrem Kopf. So oft war sie schon die Stufen zu dem Brunnen hochgestiegen und hatte den Eros von Nahem betrachtet. Durch den Kreisverkehr schlängelten sich zahlreiche Autos und die typischen roten Doppeldeckerbusse.

Vor dem Theater lehnte Zuria den Kopf in den Nacken und beobachtete fasziniert die blinkende Leuchtschrift des Criterion, bevor sie sich von Noam ins angrenzende Restaurant ziehen ließ. Jetzt würde ihr Leben beginnen – hier in London an der Seite des tollsten und liebevollsten Mannes, dem sie hier begegnet war.

Am ersten Tisch saßen zwei Herren, die sich wild gestikulierend in einer Sprache unterhielten, in der sie das »A« immer besonders in die Länge zogen. Zuria nahm an, dass es sich um Italienisch handelte. Einerseits war das Restaurant seit Kurzem von einem Italiener übernommen worden, andererseits hatte sie diese Sprache schon oft im Lyons Corner House gehört genauso wie in Soho, wo sich die unterschiedlichen Kulturen die Hand reichten.

»Was für ein Gebäude«, staunte Zuria und blickte zur Decke, die mindestens acht Meter über ihnen schwebte und deren Gewölbe mit goldenen Mosaiksteinchen besetzt war. Die Wände bestanden aus Marmor, Säulen umrahmten große Spiegel und Gemälde.

»Ich dachte, ich mache dir eine Freude«, sagte Noam lächelnd.

Ihre Tante und sie leisteten sich nie einen Restaurantbesuch. Sie waren froh, wenn sie von ihrem kargen Lohn ab und zu einen Theaterbesuch oder eine Bootstour auf der Themse bezahlen konnten. Einzig als Zuria nach dem Krieg ihre Tante in London gefunden hatte, hatte Deborah sie zur Feier ihrer Zusammenkunft in ein jüdisches Restaurant in Golders Green eingeladen.

Noam bewegte sich so vertraut und zielstrebig zwischen den Tischen hindurch, als wäre er Stammgast.

»Ciao, amigo!« Ein dickbauchiger untersetzter Mann mit Halbglatze kam mit ausgebreiteten Armen auf Noam zu und umarmte ihn. Die beiden begrüßten sich auf Italienisch. Zuria wusste, dass Noam nicht nur Englisch und Italienisch, sondern auch Jiddisch und Deutsch sprach.

»Ich habe euch schon erwartet. Das ist also deine Auserwählte.« Der Italiener reichte ihr die Hand. »Salute, principessa!« Er neigte den Kopf so tief, als wolle er ihren Handrücken küssen. Bevor er das tun konnte, zog sie die Hand zurück. Sie hasste Berührungen von fremden Menschen, die sie nicht einschätzen konnte. Sie schloss die Lider, was ein fataler Fehler war, denn erneut tauchten die Bilder des Uniformierten in ihrem Kopf auf, sie sah den Jungen … nein! Schnell öffnete sie die Augen wieder.

Der Italiener stockte kurz, fand dann seine Fröhlichkeit wieder und führte sie zu einem Tisch im hinteren Teil des Restaurants, in dem es ruhiger war. Nur ein weiterer Tisch war in diesem Bereich von einem älteren Ehepaar belegt. Fenster, die bis zur Decke reichten, wurden von silbern schimmernden Gardinen eingerahmt. Auf dem festlich gedeckten Tisch flackerten Kerzen, daneben lagen ein Blumenstrauß und ein sorgfältig verpacktes Geschenk.

»Darf ich bitten.« Der Italiener trat hinter sie, um ihr den Mantel abzunehmen. Zuria knöpfte ihn auf und ließ ihn von den Schultern gleiten.

Als Noam und sie sich gesetzt hatten und der Kellner endlich abgezogen war, atmete sie befreit durch.

»Vito ist ein herzensguter Mensch und ein wundervoller Gastgeber, er hat mich bei mehreren Geschäftsessen nicht enttäuscht und er wird dir jeden Wunsch von den Augen ablesen. Das Restaurant hat mit ihm einen fabelhaften Nachfolger gefunden.« Anscheinend hatte Noam sich mit Vito angefreundet. Wahrscheinlich keine so schlechte Idee, zumal Noams Modehaus nur zehn Minuten zu Fuß von hier in der Regent Street lag.

»Ich weiß gar nicht, ob ich das will. Es reicht, wenn du mir jeden Wunsch erfüllst, den ich nicht ausspreche«, wandte sie ein und grinste.

»Gutes Stichwort.« Er griff nach dem in rotem Papier verpackten Geschenk, wurde jedoch von Vito unterbrochen, der mit einer Flasche Rotwein zurückkehrte.

»Ich habe hier einen Amarone della Valpolicella aus Veneto. Molto buono.« Er führte seine Finger zum Mund und küsste sie, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Möchtest du probieren?«

Noam schüttelte den Kopf. »Deinen Empfehlungen kann ich immer vertrauen.«

Der Inhaber schenkte ihnen ein und entfernte sich unauffällig wieder.

Noam hielt sein Glas in die Höhe und sah sie auffordernd an. Zuria stieß mit ihm an. Wann hatte sie das letzte Mal wirklich Wein getrunken? Am Sabbat nippte sie meist nur an dem Getränk.

»Salute sagt man auf Italienisch.«

»Salute«, wiederholte sie. Der Wein schmeckte süß und herb zugleich und erinnerte sie an dunkle Beeren.

»Und?«, fragte Noam mit einem Schmunzeln.

»Auf deinen Geschmack ist immer Verlass.«

»Das will ich doch meinen«, sagte er gespielt brüskiert und stemmte die Hände in die Hüften, wobei ein schelmisches Lächeln seine Lippen umspielte.

Zuria musste lachen. Wie sie diese unbeschwerten Momente mit ihm genoss. »Du tust mir so gut.«

Noam beugte sich vor, seine Miene wurde ernster, seine Augen funkelten jedoch voller Zuneigung. »Und du mir – so sehr.« Er nestelte etwas aus der Innentasche seines Jacketts.

Zurias Herz begann wild zu pochen, als sie erkannte, dass es sich um ein Schmuckkästchen handelte. Er tat es wirklich – und das schon vor dem Essen! Noam sank vor ihr auf die Knie.

Zurias Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus ihrer hektischen Atemzüge.

Noam öffnete das Kästchen und zum Vorschein kam ein goldener Ring, in dessen Mitte ein funkelnder Diamant eingefasst war. »Zuria, du bereicherst mein Leben, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Meine Liebe gehört dir. Bitte heirate mich«, sagte er leise, aber fest, während er ihr die Schatulle mit dem Ring entgegenstreckte.

Zuria fühlte sich, als müsse sie vor Glück platzen. »Von Herzen gern«, hauchte sie. In ihrem Inneren explodierte ein Feuerwerk, das nicht nur ihr Herz zum Rasen brachte, sondern ihr auch Glückstränen in die Augen trieb.

Noam zog ihr sanft den Seidenhandschuh aus und schob ihr den Ring an den Finger, der sich perfekt um ihre Haut schmiegte. Sie breitete die Arme aus und schlang sie um seinen Hals. Er küsste sie leidenschaftlicher als je zuvor, während ein unbändiger Schwall eines warmen Gefühls sie durchflutete. Er schmeckte nicht nur nach Wein, sondern auch nach einer glücklichen und unbeschwerten Zukunft. Leben, ich komme! Endlich bekomme ich auch ein Teil davon ab.

Noam nahm wieder auf seinem Stuhl Platz und hielt ihre Hand dabei weiter fest. Zuria betastete den Davidstern an ihrer Halskette – das Schmuckstück ihrer Mutter. Diese wäre sicherlich erfreut, wenn sie Zuria heute sehen könnte. Ich lebe für euch weiter, sprach sie in Gedanken.

»Und jetzt kommen wir zu dem, was du dir zur Hochzeit gewünscht hast.« Er schob ihr das rote Päckchen hin. »Ich dachte mir, du würdest es gern schon an dem Tag unseres Lebens in den Händen halten und vorher ein bisschen geübt haben, daher gebe ich es dir schon heute.«

»Ist es wirklich …?« Sie streifte auch den anderen Handschuh ab und zog das Geschenk zu sich heran, wobei ihre Finger zitterten.

»Was denkst du denn? Dass ich die Wünsche, die meine Frau ausspricht, missachte, während ich die unausgesprochenen erfülle?«

Nun konnte sie es kaum noch erwarten. Sie riss förmlich das Geschenkpapier auf, öffnete die Verpackung und nahm die von einer Lederhülle geschützte Kamera heraus. Sie fühlte sich schwerer an als erwartet.

»Ich habe mir die Freiheit genommen, einen Film einlegen zu lassen«, sagte Noam.

Zuria löste den Druckknopf der Hülle, klappte deren Oberteil herunter und zum Vorschein kam eine Kodak Retina 1a. Das letzte Mal, dass sie eine Kamera in der Hand gehalten hatte, war über zwölf Jahre her, als sie ein Foto mit der ihres Vaters hatte machen dürfen. Sie wusste noch genau, dass sie am Rhein gewesen waren und Zuria ein Bild von ihrer Familie vor dem Schlossturm gemacht hatte.

Sanft berührten ihre Fingerspitzen das Metall, fuhren über den Filmtransporthebel, den Auslöseknopf und die Abdeckung des Objektivs.

»Warte, ich zeig dir, wie man sie herausholt.« Noam drehte an der Schraube an der Unterseite und befreite so das gute Stück komplett aus der Lederhülle. »Du drückst hier unten auf den Knopf und ziehst dann die Klappe von links nach rechts auf.«

Das Objektiv fuhr heraus und rastete mit einem Klacken ein. Ein Kribbeln zog durch ihre Finger, als sie die Kamera vor ihr Auge hielt und durch den Sucher blickte.

»Ich muss dich vorwarnen. Ich habe einen Film mit ASA 400 einlegen lassen. Der Verkäufer hat gesagt, dass der Film sich ohne Blitz nur für Außenaufnahmen bei Tageslicht eignet. Leider waren alle Blitzlichter ausverkauft, das erhältst du später.« Er nahm ein Feuerzeug aus der Hosentasche, ließ es aufflammen und zündete sich eine Zigarette an, zog daran und lehnte sich entspannt zurück. Obwohl er den Rauch Richtung Decke blies, zog er zu ihr herüber und sie musste kurz husten. Sie hatte mal bei Grace an einer Zigarette gezogen, konnte jedoch nicht nachvollziehen, was die Leute daran fanden.

Zuria versuchte, sich an die alte Kamera ihres Vaters zu erinnern. Sie würde einige Übung für gute Aufnahmen brauchen, aber keinesfalls wollte sie sich entgehen lassen, diesen Moment für die Ewigkeit einzufangen. Sie meinte sich zu entsinnen, dass eine große Blende kurioserweise eine kleine Blendenzahl bedeutete. In dem Fall fiel besonders viel Licht auf den Film und brachte wenig Tiefenschärfe, war also ideal für Porträts, bei denen der Hintergrund unscharf wurde. Dafür brauchte man nur eine kurze Belichtungszeit, sodass sich die Blende schnell wieder schloss und so auch bewegte Objekte nicht unscharf wurden. Sie nahm alle Einstellungen vor, wie es nach ihrer Vermutung funktionieren sollte. Anschließend hob sie die Kamera vor ihr Auge. »Du meinst also, wenn die Belichtungszeit so lang ist, dass du unscharf bist, wird es kein gutes Erinnerungsbild?«, fragte sie keck.

»Ich bin immer scharf, egal, ob verwackelt oder nicht.« Während er sprach, wippte die Zigarette zwischen seinen Lippen, auf denen gleichzeitig ein Lächeln lag.

Zuria musste lachen. »Jetzt hör auf mit den Späßen, so wird das Foto niemals etwas.«

Noam nahm die Zigarette aus dem Mund und blickte intensiv in die Linse. Klick. Was für ein wundervolles Geräusch! Zuria spannte den Hebel, um den Film weiterzuspulen. Ihr erstes Foto mit ihrer eigenen Kamera war entstanden. Wie das Ergebnis wohl werden würde? Sie schoss schnell ein weiteres, da das erste immer Gefahr lief, nichts zu werden, je nachdem, wie viel von dem Rollfilm beim Einlegen belichtet worden war.

Vito eilte herbei. »La fotografia der Liebe. Gib mal her.« Er nahm ihr die Kamera aus den Händen, ohne dass sie etwas dagegen einwenden konnte. »Dahin mit euch beiden.« Er zeigte auf die Wand, an der ein Ölgemälde von Venedig hing.

Noam und sie nahmen für das Foto Aufstellung. Mit der Hand umfasste er ihre Hüfte und drückte sie eng an sich. Zuria wagte kaum zu atmen.

Vito drapierte die Kamera auf einem Serviettenstapel in der Tischmitte, stellte Blende und Belichtungszeit ein, als würde er sich damit genauso gut auskennen wie mit italienischem Essen, und schaute für seine Körperfülle sehr gelenkig durch den Sucher. »Meine Tochter hat una macchina fotografica. Für Innenräume brauchst du ein Stativ, sonst sind Fotos schwarz oder verwackelt.« Er hob den Daumen. »Ridere!«, befahl er enthusiastisch.

Obwohl Zuria das Wort nicht verstand, wusste sie, was gemeint war, und ihr Lächeln wurde noch breiter. Ein Augenblick für die Ewigkeit.

Klick. Strahlend reichte Vito ihr die Kamera zurück. Zuria nahm das Gerät und umfasste es wie einen Schatz. Ihr erstes Foto mit Noam war darin. Sie würde diesen Moment nie wieder vergessen und das Erinnerungsbild so oft hervorholen können, wie sie wollte.

Hätte sie doch auch Fotos von ihren Eltern und Geschwistern. Die Erinnerung an ihre Gesichter verblasste immer mehr. Die gelockten Haare ihrer Mutter, die aufgeweckten Augen ihres Bruders, die liebevolle Miene ihres Vaters, das kecke Lächeln ihrer Schwester …

Zuria sah sich und ihre Schwester am Stadtgraben in Düsseldorf herumtollen. Ja, es hatte unbeschwerte Tage gegeben und solche standen ihr wieder bevor.

»Schon entschieden – mangiare?«, unterbrach Vito ihre Gedanken und zeigte auf die Speisekarte.

Zuria war einen Moment zu perplex, um zu antworten.

»Vor lauter Fotografieren haben wir noch keinen Blick in die Karte geworfen. Wir brauchen noch ein paar Minuten«, antwortete Noam.

»Certo.« Vito nickte und entfernte sich.

Zuria drückte Noams Hand, seine Wärme übertrug sich auf sie. »Du weißt gar nicht, wie glücklich du mich damit gemacht hast.«

»Doch, ich glaube, ich weiß es.« Er zwinkerte ihr zu, beugte sich zu ihr über den Tisch und küsste sie.

Womit hatte sie dieses Glück nur verdient?

***

»Das war der schönste Abend meines Lebens«, sagte Zuria, als sie mit Noam das Restaurant verließ. Der Platz am Piccadilly war nun weniger belebt und die herumlaufenden Gestalten waren düster geworden. Am Sockel des Brunnens hatte sich ein Obdachloser auf eine Matte gelegt. Ein Mann mit Krückstock humpelte an ihnen vorbei und stammelte Unverständliches. Feiner Nieselregen lag in der Luft und kitzelte ihr Gesicht.

»Du wirst bald eine Sammlung mit schönsten Tagen anlegen können.« Noam legte einen Arm um sie, drückte sie an sich und küsste sie intensiv, als wolle er, dass dieser Augenblick niemals in ihrer Erinnerung verblasste.

Zuria schloss die Augen, spürte das Prickeln nicht nur auf ihren Lippen, sondern auch in ihrer Brust. »Wann sehen wir uns wieder?«, fragte sie.

Er runzelte die Stirn. »Ich bringe dich noch nach Hause.«

»Ich kann die U-Bahn nehmen.«

»Keine Widerrede. So etwas Kostbares nachts in der Tube allein zu lassen, ist grob fahrlässig.«

»Meinst du mich oder die Kamera?«, fragte Zuria spitzbübisch.

Noam grinste. »Wir sind bereits eine Einheit, so wie du meinen Humor übernommen hast.« Er führte sie in eine Querstraße und ging auf einen schwarzen Wagen zu, an dessen Kotflügel ein hagerer Mann im dunklen Anzug lehnte.

Als sie nähertraten, warf der Mann seine Zigarette in den Rinnstein, wo sie zischend erlosch. Zuria schwindelte leicht angesichts des Luxus, als er die Tür zum Fond des Wagens öffnete und ihr mit einer eleganten Geste bedeutete einzusteigen. Noam ließ ihr den Vortritt, bevor er auf der gegenüberliegenden Seite einstieg – selbstverständlich erst, nachdem der Chauffeur ihm ebenfalls höflich die Tür geöffnet hatte.

Der Fahrer nahm vorn Platz. »Wo darf ich Sie hinfahren?«

»Nach Kilburn. Exeter Road«, antwortete Noam.

Sie fuhren los, um den Piccadilly Circus und über die Regent Street Richtung Norden. Auch zu dieser späten Stunde leuchteten die Reklameschilder der Geschäfte, in die sich auch Noams Modehaus einreihte.

Sie umrundeten den Regent’s Park, in dem es wundervolle Rosengärten gab, durch die sie schon einige Male mit Noam flaniert war. Je näher sie Kilburn kamen, desto kleiner wurden die Häuser. Sie besaßen fast alle die typischen Stufen bis zur Eingangstür sowie eine Treppe, die ins Souterrain führte. Bei vielen waren Fenster und Türen durch Säulen eingerahmt. In ihrer Straße reihten sich die immer gleichen Wohnhäuser aus rotem Backstein aneinander.

Der Chauffeur wusste bereits, wo sie wohnte, und hielt direkt vor ihrem Haus. Sie wandte sich Noam zu und er griff nach ihren Händen. »Wenn es nicht so spät wäre, würde ich noch mit reinkommen und bei deiner Tante um deine Hand anhalten.«

»Sie ist nicht mein Vater, das musst du nicht«, merkte Zuria an.

»Aber so gehört es sich.«

»Du wirst noch Gelegenheit dazu bekommen, doch ich versichere dir, dass sie unserer Hochzeit zustimmen wird.« Sie gar herbeisehnt, fügte sie in Gedanken hinzu. Weil du Jude bist und sie den Umstand, dass du wohlhabend bist, auch nicht verachten wird.

»Wann sehen wir uns wieder?«, fragte Zuria erneut.

»Am Sabbat? Ich lade dich zu uns ein, dann lernst du meine Mutter kennen.«

»Erst Freitagabend? Wie soll ich es bis dahin ohne dich aushalten?«

Ein schelmisches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Indem du mit der Kamera für den wichtigsten Tag unseres Lebens übst.« Er beugte sich zu ihr und küsste zärtlich ihre Lippen. »Ich hole dich um sechs ab.«

Sie war gespannt darauf zu sehen, wie er wohnte. Die Winnington Road lag ganz in der Nähe der Bishops Avenue, die bekannt dafür war, dass dort nur die Reichsten der Reichen wohnten. Sie war noch nie dort oben auf dem Berg Londons gewesen.

»Was wird deine Mutter dazu sagen, dass du dir eine Nippy als Braut ausgesucht hast?« Zuria wäre sicherlich nicht ihre erste Wahl. Noam und sie hatten sich vor einigen Wochen bei einer »bottle party« im Ciro’s in der Orange Street kennengelernt. Sie war mit Grace dort gewesen und plötzlich hatte dieser adrette Mann vor ihr gestanden und sie zum Tanz aufgefordert.

»Mach dir bitte darum keine Gedanken.« Er rieb sich über den Nacken. »Ich muss dich tatsächlich vorwarnen, dass sie etwas verbittert ist, seitdem mein Vater im Krieg gefallen ist.« Noch eine geschädigte Seele, wie so viele in diesen Zeiten. »Aber das hat rein gar nichts mit dir zu tun.«

Zuria zwang sich zu einem Lächeln. »Dann wird sie die Nachricht deiner Verlobung sicherlich freuen.«

»Das wird sie«, bestätigte er mit Nachdruck.

Auch wenn sie nicht wusste, was sie in seinem Elternhaus erwartete, freute sie sich darauf, endlich sein Heim kennenzulernen und somit noch eine weitere Facette von ihm zu ergründen. Bisher hatten sie sich bloß im Lyons Corner House getroffen oder waren in den Londoner Parks spazieren gegangen.

Sie küssten sich zum Abschied, dann ging Zuria zum Haus. Ein letztes Winken, ein Luftkuss und die Rücklichter verschwanden im Nieselregen. Der Zauber des Luxus versickerte im Rinnstein zusammen mit dem für England typischen Regen.

Zuria blieb vor der schäbigen Eingangstür stehen, bevor sie aufschloss. Im Hausflur roch es nach alten Schuhen, Holzkohle und verschimmelten Kartoffeln, die in einem Eimer an der Kellertreppe vor sich hingammelten. Zuria nahm den Eimer und entleerte ihn für ihre Vermieterin auf dem Kompost im Hinterhof, obwohl die alte Frau eine Miesepeterin war, doch Zuria wollte den Gestank nicht im Haus haben. Ihre Tante und sie bewohnten eine der drei Zwei-Zimmer-Wohnungen. Schon bevor sie den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür im ersten Stock steckte, hörte sie die Musik.

Sie berührte kurz die Mesusa am Türrahmen, in der ein Pergament mit einem Abschnitt aus der Thora – den fünf Büchern Mose – verborgen lag, und küsste ihre Fingerspitzen.

Als Zuria die Tür aufschob, stieß die Ecke des Türblatts an einen neuen Blumentopf. »Wo soll der denn noch hin?«, murmelte sie, wohlwissend, dass jede Kritik in dieser Hinsicht zwecklos war. Nicht nur die schmalen Fensterbänke, auch die Regale und der Tisch waren bereits vollgestellt mit Blumen, Kakteen und kleinen Palmen. Aus dem Radio ertönte klassische Musik und erfüllte ihre winzige Wohnung mit sanften Klängen.

Von der Decke löste sich an einigen Stellen die Tapete. Zwischen dem Regal und dem Wasserrohr hatten sie eine Wäscheleine gespannt, auf der ihre Unterwäsche trocknete. Am Spülstein lehnten Bügelbrett und Waschbrett. Die Tischdecke war zwar sauber, franste jedoch an den Enden aus. Mit einem Mal kam ihr hier alles so schäbig vor. Was würde Noam von ihr denken, wenn er diese Zustände sähe?

Deborah saß am Küchentisch neben dem Fenster und strickte. Sie hatte mal wieder nur eine Kerze entzündet und die Deckenleuchte ausgelassen. »Er hat dich sogar nach Hause gebracht.« Sie sah zu ihr auf, ohne dass ihre Hände eine Pause einlegten.

Zuria lächelte und setzte sich zu ihr. »Ja und stell dir vor: Er hat mir einen Antrag gemacht.« Sie streckte ihr den beringten Finger entgegen.

Jetzt hatte sie die volle Aufmerksamkeit ihrer Tante, die innehielt, sich vorbeugte und den Ring im flackernden Schein der Kerze bewunderte. »Meine Güte! Dass ich so etwas mal aus der Nähe sehen darf.« Sie betastete andächtig den Verlobungsring, bevor sie sich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zurücklehnte. »Die Liebe scheint mir größer als gedacht.«

»Er kann es sich leisten, aber ja …« Sie betrachtete den Ring und dachte an den Augenblick, als Noam vor ihr auf die Knie gesunken war – ein Herzklopfmoment. »… er liebt mich wirklich.«

»Dann wird er hoffentlich keine umfangreiche Mitgift erwarten.«

»Ich denke, er wird gar nichts erwarten. Schau, was er mir noch geschenkt hat.« Zuria befreite die Kamera aus der Lederhülle. »Ist das nicht verrückt! Ab jetzt kann ich unsere schönsten Momente festhalten, damit sie für uns immer lebendig bleiben.«

Deborah begann wieder zu stricken. »Spielerei – aber dafür wirst du bald viel Zeit haben, wenn du nicht mehr arbeiten musst.«

Das hoffte Zuria auch. Nach der Hochzeit würde sie nicht mehr im Lyons Corner House arbeiten müssen und könnte sich ganz der Fotografie widmen. Letzte Woche hatte Noam sie auf eine Modenschau mitgenommen, auf der sie die elegantesten und modernsten Kleider hatte bewundern können. Mit der Kamera würde sie bald von den Modellen wundervolle Aufnahmen machen können. Dass die Fotografie mehr war als bloße Spielerei, würde sie ihrer Tante beweisen.

Neben dem Küchenregal hing ein Foto von Deborahs verstorbenem Mann. Sie hatte noch ein Erinnerungsstück, was jedoch das Einzige war, das ihre Tante aus dem zerbombten Haus im Krieg hatte retten können. Alle anderen Bilder waren wie ihr Heim von den Unheilsboten in Schutt und Asche verwandelt worden.

»Wann wirst du ihn mir vorstellen?«

»Bald. Erst mal bin ich am Sabbat bei ihm zum Essen eingeladen und lerne seine Mutter kennen.«

Deborah nickte, das schien ihr zu reichen. »Bevor ich es vergesse, dort liegt ein Brief für dich.«

Zuria hängte ihren Mantel über die Stuhllehne und ging zur Kommode. »Vom Deutschen Roten Kreuz? Und das sagst du mir erst jetzt?« Ihr Herz begann, wie wild zu pochen. Waren ihre Eltern, ihre Schwester oder ihr Bruder womöglich doch noch am Leben? Sie riss den Umschlag auf und faltete den Brief auseinander. Sie überflog die Zeilen und stieß einen kurzen Schrei aus, als sie den Sinn erfasste. Konnte das sein – nach all den Jahren des Bangens und Hoffens endlich ein Lebenszeichen?

»Wer ist es?«, drang Deborahs Stimme wie aus weiter Ferne an ihr Ohr.

Eine Art Nebel hüllte Zuria ein, sie nahm bloß noch ihren eigenen Atem und das pochende Pulsieren in ihrer Brust wahr. Sie starrte auf die Buchstaben, deren Nachricht sich nur langsam in ihrem Kopf manifestierte und ihre Augen mit Tränen füllte.

»Meine Schwester«, wisperte sie, ihre Stimme vermochte kaum die Worte zu formen. »Jalda.« Wie lange hatte sie diesen Namen nicht mehr ausgesprochen! Wie gut er sich auf ihrer Zunge anfühlte, vertraut und süß wie Honig. »Sie lebt in Düsseldorf.« In ihrer alten Heimat. Adersstraße. Zuria hatte diese Straße noch vor Augen, schließlich war sie dort früher einige Male entlanggegangen, so auch, als sie zum Bahnhof unterwegs gewesen waren.

Zuria blickte auf den Brief, der in ihrer Hand zitterte wie Gläser im Schrank bei der Durchfahrt einer nahe gelegenen U-Bahn. Sie wusste nicht, was sie mehr erstaunte: dass ihre Schwester noch lebte oder dass sie nach Deutschland zurückgekehrt war.

Deborah umarmte sie. »Ich freue mich so für dich! Mit Noams Hilfe kannst du sie nach London holen.«

Das wäre schön. Sie würde Jalda ihre neue Heimat zeigen, mit ihr durch Soho flanieren, die Regent Street bewundern genauso wie den Buckingham Palace, eine Bootstour über die Themse machen und Tausende Fotos zur Erinnerung schießen.

Die Freude explodierte in ihr, sie begann zu hüpfen und laut zu lachen. Sie riss ihre Tante mit sich und tanzte mit ihr im Kreis. Erst war diese überrascht und steif, dann fiel sie in Zurias Freudentanz mit ein. Sie würde ihre Schwester wiedersehen – nach neun Jahren.

Kapitel 2

Silbriges Mondlicht drang durch die schmale Lücke zwischen den Gardinen. Das gleichmäßige Atmen ihrer Tante erfüllte das Zimmer. Zuria hatte in dieser Nacht bisher keine Ruhe gefunden, sie war nur ein paar Mal weggedöst und im Dämmerschlaf ihrer Schwester begegnet: Jalda mit langen Zöpfen in ihrem schönsten Sabbatkleid, als Kleinkind mit einem gemalten Bild in der Hand, auf dem Feld Kartoffeln ausgrabend und als halb verhungerte Jugendliche auf den Straßen des Ghettos Litzmannstadt.

Immer wieder hatten Zuria die zornigen Augen ihrer Schwester angefunkelt. »Du hast uns im Stich gelassen und verraten.«

Zuria drehte sich auf die Seite und bettete den Kopf auf ihre Hände. Würde Jalda sie überhaupt wiedersehen wollen? Ihre Gedanken waren plötzlich bitter wie Galle und so schwer wie ein Stein, der sie immer tiefer in die Matratze zu drücken schien. Wie das Mädchen von damals wohl heute aussehen mochte – als junge Frau? Wieder glitt Zuria in einen unruhigen Halbschlaf. »Du hättest mit uns zurück ins Ghetto gehen müssen«, schrie Jalda im Traum, doch die Stimme wurde leiser, verhallte wie in einer riesigen Höhle, war noch als Echo zu hören, bevor sie vollends verschluckt wurde. Zuria wollte antworten, doch ihre Zunge klebte unbeweglich am Gaumen.

Zuria erwachte, als ihre Tante aufstand. Deborah zog sich an, raffte die Gardinen zur Seite und öffnete das Fenster, bevor sie in die Wohnküche nebenan ging. Zuria vernahm das Geplätscher der rituellen Waschung, dann das Gemurmel des Schacharits. Für Frauen gab es zwar keine Gebetspflicht, da sie im Gegensatz zu den Männern mit Gott stets verbunden waren, wie man sagte, dennoch ließ ihre Tante das Morgengebet nur selten aus.

Zuria blieb so lange liegen, griff nach ihrem Roman Pride and Prejudice von Jane Austen und schmökerte ein paar Seiten darin, bis ihre Tante das Gebet aus dem Siddur, dem jüdischen Gebetsbuch, zu Ende gebracht hatte und das Radio anstellte. Deborahs erste Tat jeden Morgen nach dem Ritual. Kay Starr trällerte A-Long A-Love.

Als Zuria fertig angezogen die Küche betrat, fragte ihre Tante, »Na, gut geschlafen?« und schob die letzten Haarsträhnen unter ihr Kopftuch. Wie viele Frauen in England trug Deborah ein Kopftuch in der Öffentlichkeit – manchmal legte sie es schon früh am Morgen an –, das aber auch zu Hause beim Kerzenanzünden am Sabbat und in der Synagoge nicht fehlen durfte.

»Ich hatte schon bessere Nächte«, gestand Zuria mit einem gequälten Lächeln.

»Wann beginnt deine Schicht?«

»Um elf, aber ich werde früher in die Stadt fahren. Ich muss mit Noam reden.« Zurias Fingerkuppen glitten über den Umschlag, streiften den Absender und die geöffnete Kante, hinter der sich der Brief verbarg, der einen Hauch von Vergangenheit und Zukunft in sich trug.

Deborah nickte und begann, das Frühstück vorzubereiten.

***

Eine halbe Stunde später fuhr Zuria mit der Bakerloo Line von Kilburn nach Piccadilly, den Hoffnungsbrief in der Manteltasche, ihre schwitzenden Finger an dem Papier klebend.

Sie zog die Hand aus der Tasche und rieb sie am groben Mantelstoff trocken. Sie wollte mit dem Schweiß den Brief nicht ruinieren.

Die U-Bahn hielt in West Hampstead und schluckte weitere Pendler wie ein Wal das Plankton. Körper an Körper, Fremde in einem undurchsichtigen Gewirr versammelt, die nicht miteinander redeten oder sich ansahen. Anonymität auf engstem Raum. Eine weißhaarige Frau mit vier Tüten und einem winselnden Dackel an der Leine platzierte sich direkt vor Zuria. Der Gestank nach Käse und kaltem Schweiß verbreitete sich, sodass sie den Kopf zur Seite wandte, was das Geruchsbild nur geringfügig verbesserte.

Sie war froh, als sie endlich nach weiteren sechs Stationen aussteigen konnte. Zügig lief sie die Regent Street entlang. Die Laternen, in regelmäßigen Abständen mitten auf der Straße platziert, teilten die Fahrbahn in zwei Richtungen. Einige Läden hatten ihre Sonnenverdecke ausgefahren, obwohl über London auch heute eine dicke Wolkendecke hing.

Schon von Weitem leuchtete ihr das geschwungene W entgegen, das geformt wie ein Damenrock auf Noams Familiennamen Wood hinwies. Zuria blieb einen Moment vor dem Schaufenster stehen und betrachtete die präsentierten Kleider. Ein schwarzes Cocktailkleid mit einer überdimensionalen Schleife an der Hüfte erregte ihre Aufmerksamkeit. Die Schaufensterpuppe trug dazu Samthandschuhe und einen flachen Hut mit Spitze und ebenfalls großen Schleifen. Als Zurias Blick auf das Preisschild fiel, hielt sie kurz die Luft an. Drei Monatsgehälter müsste sie dafür hinblättern. Dies war nicht die Straße, in der sie sich von ihrem Lohn einkleiden konnte, doch bald …

Sie ging einen Schritt weiter und klopfte an die Fensterscheibe. Es war Viertel nach neun und das Modehaus würde in fünfzehn Minuten öffnen, doch so lange konnte sie nicht warten. Zuria sah eine Mitarbeiterin Hosen auffalten. Sie reagierte nicht, glaubte wohl, dass eine lästige Kundin sich nicht gedulden konnte. Zuria klopfte energischer und als die Verkäuferin den Kopf hob, gestikulierte sie wild mit den Armen. Die Frau in dem engen Kostüm stakste in hohen Pumps mit kleinen Schritten auf den Eingang zu. Als sie die Glastür aufschloss, hellte sich ihr Gesicht auf, sie hatte Zuria wohl erkannt.

»Können Sie Noam Wood bitte sagen, dass seine Verlobte da ist?«

Die Frau blickte sie einen Augenblick erstaunt an. Sie konnte schließlich nichts von der Verlobung wissen. »Mr Wood ist heute den ganzen Tag außer Haus. Wir erwarten ihn erst spät zurück.«

Zuria schnappte nach Luft, sie musste doch dringend mit ihm sprechen. Sie brauchte seinen Rat und wollte die Neuigkeit mit ihm teilen. »Um wie viel Uhr?«

»So gegen sechs Uhr abends.«

Zu der Zeit würde sie noch arbeiten, da ihre heutige Schicht wie üblich bis kurz vor Mitternacht ging. »Könnten Sie ihm ausrichten, dass er mich im Lyons Corner House besuchen soll?«

»Werde ich machen.«

»Bitte denken Sie daran.« Manchmal arbeitete er zwar bis in die Nacht hinein, doch darauf war kein Verlass.

Zuria drehte sich um, ein roter Doppeldeckerbus rauschte an ihr vorbei. Es lohnte sich nicht mehr, nach Hause zu fahren, also streifte sie durch die Straßen, begutachtete die neusten Modelle in den Schaufenstern der luxuriösen Modehäuser. Sie schlenderte durch Soho, wo sich der Geruch von Knoblauch und Tomaten aus einer italienischen Trattoria mit dem süßen Hühnchenduft aus dem chinesischen Restaurant vermischte, vor dessen Tür ein Lieferwagen parkte und kistenweise Reis auslud. Aus einer roten Telefonbox stolperte ein junger Mann in Bluejeans und Lederjacke. Zuria beobachtete ihn, wie er mit der Menge verschmolz.

Sie dachte an die Zeit zurück, als sie mit ihrer Familie in Düsseldorf gelebt hatte und sie sich kurz vor ihrer Abreise die gelben Sterne auf die Mäntel hatten nähen müssen. Was hätten sie darum gegeben, sich ohne besonderes Erkennungszeichen unauffällig in die Menge einfügen zu können.

Sie sah Jalda vor sich: die wachen Augen, die spitze Nase und das freche Lächeln. Sie stellte sich vor, mit ihr durch die Stadt zu flanieren und ihr den Buckingham Palace, den Tower of London und Big Ben zu zeigen. Sollte sie Jalda einen Brief schreiben? Nein, sie musste ihrer Schwester persönlich gegenüberstehen und ihr ins Gesicht sehen. Aber nach Düsseldorf reisen? Sie hatte sich geschworen, nie wieder deutschen Boden zu betreten. Ihre Gedanken waren wie die Wellenbewegungen der Themse, ein ständiges Auf und Ab.

Als sie das Lyons Corner House erreichte, taten ihr die Füße vom Laufen in den Pumps weh, dabei hatte sie noch einen ganzen Arbeitstag vor sich. Grace traf zur gleichen Zeit ein, hakte sich bei ihr unter und strahlte sie an.

»Und?«, fragte sie mit großen Augen, während sie hineingingen.

»Wir haben uns verlobt.« Zurias Herz wurde weit bei diesen Worten. Bis sie am Personalraum ankamen, hatte sie die Freundin in alles Wichtige eingeweiht.

»Eine Traumhochzeit in London und ich bin dabei.« Grace strahlte, als sie ihren Spind aufschloss.

»Aber es ist noch etwas Unglaubliches passiert.« Zuria zog den Umschlag aus der Manteltasche und reichte ihn ihrer Freundin, die den Brief herausholte und zu lesen begann. »Sie haben meine Schwester gefunden.«

»Das ist ja wundervoll!«, rief Grace.

Ja, das war es und doch überkam sie wieder dieses beklemmende Gefühl im Magen.

»Was ist? Ist das keine Nachricht zum Feiern?«, fragte Grace besorgt.

»Doch, auf diese Nachricht habe ich so lange gewartet. Aber was soll ich jetzt tun? Noam und ich haben uns verlobt und wir wollen heiraten.«

»Natürlich werdet ihr das und deine Schwester wird dabei sein. Hol sie her, dein Noam wird das schon ermöglichen.« Grace zwinkerte ihr zu, bevor sie sich zu ihrem Spind drehte und begann, sich umzuziehen.

Das Gleiche hatte ihre Tante auch gesagt. Es würde das einzig Richtige sein. Jalda konnte unmöglich im Land der Täter wohnen bleiben wollen.

Zuria schob den Brief zurück in die Manteltasche und holte ihr Arbeitskleid hervor. Sie hoffte, dass die Schicht schnell vorbeigehen würde, damit sie bald mit Noam reden konnte.

Drei Stunden vor Schichtende sah sie Noam das Teahouse betreten. Sie bediente gerade das ältere Ehepaar Michalski, Stammkunden, die jede Woche mindestens einmal kamen. Sie liebten die Atmosphäre im Lyons Corner House und dass sich hier oft viele Immigranten trafen, wie sie ihr einmal erzählt hatten. Das lag wohl daran, dass jüdische Zuwanderer dieses Haus gegründet hatten.

»Miss, haben Sie mich gehört?«, fragte Herr Michalski.

Zuria zwang sich, den Blick von Noam loszureißen und den Gast anzusehen. »Natürlich. Ich bringe Ihnen gleich Ihre Mäntel.« Sie nahm das Trinkgeld und bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch zur Garderobe, ohne Noam aus den Augen zu lassen, der mit dem Oberkellner Mr Clark sprach und sich schließlich umsah. Als sie Noams Blick einfing, winkte sie ihm zu und bedeutete ihm, dass sie die Mäntel kurz wegbringen musste und gleich bei ihm sein würde. Er nickte und wartete neben der Theke auf sie.

Als sich die Eheleute Michalski endlich verabschiedet hatten, eilte Zuria auf Noam zu. Er legte einen Arm um ihre Schulter, nahm die Zigarette aus dem Mund und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Was ist los? Konntest du nicht bis Freitag warten, deinen Verlobten wiederzusehen?«, fragte er mit leuchtenden Augen.

»Das auch, aber …« Zuria nahm einen tiefen Atemzug. »Ich muss dringend mit dir reden.«

»Was ist passiert? Willst du mich doch nicht?«

Sie lachte auf und stupste ihn leicht an der Schulter. »So ein Quatsch.« Dann wurde sie ernst. »Können wir nach meiner Schicht irgendwo hingehen, wo wir ungestört reden können?« Sie biss sich auf die Unterlippe, schließlich war es viel verlangt, dass er so lange auf sie warten musste.

»Ich habe dem Oberkellner gesagt, dass du früher Feierabend machst.«

»Ich kann doch nicht einfach früher gehen.«

»Natürlich. Wenn dein zukünftiger Ehemann das mit ihm abspricht.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Du meinst, wenn Mr Wood seinen Einfluss spielen lässt.«

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Einen guten Namen zu haben ist niemals verkehrt.«

Sie hasste es, wenn er seinen Namen ausnutzte, aber in diesem Moment war es ihr recht, da sie das Gespräch nicht noch drei Stunden aufschieben wollte.

Zuria hatte noch nie so schnell ihre Kleidung gewechselt und flog Noam förmlich in die Arme. »Wo können wir ungestört reden?«

»Lass uns in mein Büro gehen, im Modehaus ist niemand mehr.«

Sie zwang sich, unterwegs nicht mit der Neuigkeit herauszuplatzen. Ein stiller Ort war besser für dieses Gespräch als die belebte Straße.

Am Modehaus Wood angekommen, schloss Noam die Tür auf. Sie liefen an den Bekleidungsständern vorbei, die in dem schummrigen Licht gespenstisch wirkten. Im Personalbereich schaltete Noam das Licht an und führte sie in sein Büro in der dritten Etage. Er bot ihr nicht nur einen Platz auf dem ledernen Besucherstuhl mit Armlehnen, sondern auch ein Glas Gin an, doch sie lehnte den Alkohol ab.

Alles hier war edel, das Mobiliar wie die Gemälde und die zahlreichen Fotos der Mannequins, die die Kleidungsstücke des Hauses präsentierten. Und der Blick auf die prachtvolle Regent Street war atemberaubend.

Noam goss sich ein Glas Gin ein, setzte sich damit auf den Stuhl neben sie und griff nach ihrer Hand. »Nun aber raus mit der Sprache, welches Staatsgeheimnis braucht einen so vertrauten Rahmen?«

»Als ich gestern nach Hause gekommen bin, hat der auf mich gewartet.« Sie drückte ihm den Umschlag in die Hand. Noam zog das Schreiben heraus und las es bedächtig.

»Jalda ist meine Schwester«, kommentierte sie, da sie nicht sicher war, ob sie ihren Namen schon einmal erwähnt hatte. Wahrscheinlich nicht. Er wusste nur, dass sie ihre Familie seit dem Krieg nicht mehr wiedergesehen und die Hoffnung fast aufgegeben hatte, dass einer von ihnen überlebt hatte. Bisher hatte es noch nicht den richtigen Augenblick gegeben, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Seine Unbedarftheit hatte alle Sorgen weggewischt und sie hatte in seiner Gegenwart lieber lachen und fröhlich sein wollen, als sich von der Vergangenheit erdrücken zu lassen.

»Das ist ja fantastisch«, rief er, ließ den Brief auf den Beistelltisch segeln, beugte sich zu ihr und küsste sie.

»Was soll ich denn jetzt tun?«, sprach sie die Frage aus, die voll Unsicherheit und Zweifel war.

»Na, du fährst nach Düsseldorf und besuchst deine Schwester.« Er zündete sich eine Zigarette an.

»Ich habe mir geschworen, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen.« Sie ballte ihre Hand zur Faust, hatte sie doch Deutschland ein für alle Mal abgeschrieben.

»Denk pragmatisch, du willst doch nur deine Schwester wiedersehen. Nach ein paar Tagen packst du die Koffer und liegst bald wieder in meinen Armen.«

Zuria zeichnete mit dem Zeigefinger Kreise auf die Stuhllehne. Sie in Deutschland … in ihrer alten Heimat? Jalda direkt gegenüberstehen … Wahrscheinlich hatte er recht. Sie sollte es nicht so eng sehen mit ihrem Gelöbnis, wenn sie die Chance hatte, ihre Schwester endlich wiederzusehen. Von Angesicht zu Angesicht konnte die Mauer des Unaussprechlichen leichter überwunden werden, anders als am Telefon oder per Brief.

Zuria zögerte und senkte den Blick. »Aber ich …« Wie sollte sie all ihre Zweifel und Ängste in Worte fassen und woher sollte sie das Geld für die Reise nehmen?

»Ich komme natürlich für alles auf, meine Liebste. Du wirst bald meine Frau und dir soll es an nichts fehlen.«

Zuria stieß einen erleichterten Seufzer aus. Damit war zumindest ein Problem gelöst. »Wie kann ich dir nur danken?«

Seine Augen begannen zu funkeln. »Da fällt mir schon was ein.« Noam drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, beugte sich zu ihr und küsste sie. Erst zart und forschend, dann immer leidenschaftlicher. Mit der Hand zog er ihren Kopf zu sich und drang mit der Zunge in ihren Mund ein.

Auch wenn die unterschiedlichsten Gefühle in ihr tobten und sie kaum klar denken konnte, versuchte sie, sich auf Noam zu konzentrieren. Sie erwiderte den Kuss, war so dankbar, ihm in dieser Weltstadt begegnet zu sein.

»Ich liebe dich so sehr«, hauchte er atemlos zwischen den Küssen. »Und ich sehne schon jetzt den Tag deiner Rückkehr herbei. Anschließend planen wir unsere Traumhochzeit.«

»Ja«, raunte sie und vergrub die Finger in seinen Haaren.

***

Zuria kaufte sich am Zeitungsstand eine aktuelle Ausgabe der Times, bevor sie sich Noam zuwandte. Zwei Männer mit Aktenkoffern drängten sich an ihnen vorbei und liefen zum Bahngleis.

Ihr Verlobter sah sie liebevoll an und griff nach ihrer Hand. »Schade, dass ich die Wiedersehensfreude nicht miterleben kann.« Er hatte in den nächsten Tagen einige wichtige Geschäftstermine, die er nicht hatte verschieben können.

Zuria berührte die Lederhülle ihrer Kamera, die sie um den Hals trug. »Ich werde genug Fotos machen und dir später alles haarklein erzählen.«

»Das will ich doch hoffen.« Er umfasste ihre Taille und wirbelte sie durch die Luft. Als er sie wieder zu Boden gleiten ließ, küsste er sie sanft. »Ich habe noch etwas für dich, damit du immer an mich denkst.«

»Wie könnte ich nicht an dich denken?«

Noam zog etwas aus der Innentasche seines Jacketts und legte eine kleine Tonfigur in ihre Hand, die einen Ruderer darstellte. Er war Mitglied eines Londoner Ruder-Clubs und trainierte zweimal die Woche. Eigentlich hatte er ihr versprochen, ihr am Sabbat Fotos vom letzten Wettkampf auf der Themse zu zeigen, doch sie hatten den Besuch bei seiner Mutter verschoben.

»Wenn ich Pech habe, wird deine Schwester deine ganze Aufmerksamkeit beanspruchen.« Er sagte es mit einem spitzbübischen Gesichtsausdruck und rieb mit Daumen und Zeigefinger über seinen Bart. »Die Figur wird dir helfen, in Gedanken oft nach London zurückzukehren.«

»Ich werde sie auf meinen Nachttisch legen.« Zuria gab ihm einen Kuss. »Und dich anrufen, so oft ich kann.«

»Und spätestens bis zur Krönung der Queen bist du zurück. Ich habe einen Fernsehtag im Modehaus mit allen Mitarbeitern organisiert.«

»Na, was denkst du denn?« Bis dahin waren es noch eineinhalb Monate. »Spätestens in zwei Wochen bin ich wieder bei dir, ob es dir passt oder nicht, schließlich erwartet auch das Lyons Corner House mich zurück.« Sie hatte sich vierzehn Tage Urlaub genommen, hoffte jedoch, früher wieder daheim zu sein.

Es war schon schwierig genug gewesen, so kurzfristig Urlaub zu bekommen. Außerdem hatte sie nicht vor, ewig in Düsseldorf zu bleiben. Nur so lange, bis sie sich mit ihrer Schwester ausgesprochen und sie überzeugt hatte, mit ihr nach London zu kommen. Noam hatte versprochen, vorerst für sie zu sorgen, falls Jalda noch nicht unter der Haube war.

»Und nun geh, mein Zuckerstück, sonst verpasst du deinen Zug.«

Wieso hatte der Brief nicht schon früher eintreffen können? Vor der Verlobung. Oder sollte es genauso sein, damit Noam ihr die Reise ermöglichen konnte, wodurch sie die Chance hatte, Jalda von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten? Zuria drückte ein letztes Mal Noams Hand, gab sich einen Ruck und trat durch das vergitterte Tor auf den Bahnsteig. Der Kontrolleur warf einen Blick auf ihre Fahrkarte und ließ sie passieren.

Zuria trat vor den Zug, dessen Türen bereits geöffnet waren, und fasste sich ans Herz, das heftig pochte. Sie sah zu der hohen Decke der gigantischen Stahlkonstruktion der Bahnhofshalle hinauf und versuchte, sich mit der Atmung zu beruhigen.

Dies ist kein Waggon, der stundenlang über die Schienen rollt und dich in der Hölle wieder ausspuckt. Du kannst an jedem Bahnhof aussteigen.

Zuria blickte zurück, doch sie konnte Noam am Zeitungsstand nicht mehr ausmachen. Der Schaffner pfiff. Jetzt oder nie. Sie sprang – so gut es mit dem schweren Koffer ging – in den Zug und lehnte sich an die Innenwand, wartete, bis er anrollte und ihr Puls sich beruhigte.

Sie suchte sich ein freies Abteil, verstaute ihr Gepäck und blickte nach draußen. Erst sah sie die Gebäude der Stadt, später die Landschaft vorbeirauschen; endlose Wiesen, Schafe, herrschaftliche Häuser, mehrere Reiter und eine Horde Kinder, die offenbar Cricket spielten.

Als sie in Dover den Zug verließ, zerzauste der Wind ihre Locken. Sie inhalierte die Seeluft, die nach Salz, Weite und Freiheit roch. Sie war so klar und rein im Gegensatz zu London, wo immer ein Dunstschleier über der Stadt hing – von den Fabriken und der verbrannten Kohle. Zwar war er im »West End« nicht so schlimm wie im Osten und nicht mehr so dicht wie beim »Großen Nebel« letztes Jahr im Dezember, als man für ein paar Tage die eigene Hand nicht vor Augen hatte sehen können, dennoch konnte man in London niemals so frei durchatmen wie hier. Der Himmel war blauer, die Welt weiter, der Rausch der Möglichkeiten erschien größer.

Ab Dover genoss sie die Überfahrt mit der Fähre, beobachtete die Möwen, die ihre Kreise über die Fischerboote zogen, und die schäumende Gischt. Sie bannte ihre Eindrücke auf den Film. Obwohl sie ihre Motive mit Bedacht wählte, war kurz vor Calais der erste Rollfilm voll. Zum Glück hatte Noam ihr zwei weitere mitgegeben. Sie kramte die Bedienungsanleitung hervor und wechselte die Rolle. Früher hatte das Wechseln eines Films ihr Vater übernommen. Auch wenn sie öfter zugesehen hatte, wollte sie nichts falsch machen und womöglich durch eine versehentliche Belichtung den Film zerstören.

Als sie in Frankreich abermals in einen Zug steigen musste, durchzog ein aufgeregtes Kribbeln ihren Körper. Bald würde sie in Deutschland sein – in Düsseldorf. Ein Land voll alter Dämonen und süßer Kindheitserinnerungen. Zuria betastete erneut den Brief in ihrer Manteltasche.

Jalda, ich komme!

Die Vorfreude auf das Wiedersehen und die Schuldgefühle stritten in ihrem Innern um die Vorherrschaft. Das erste Mal ließ sie einen weiteren Gedanken zu. Jalda würde wissen, ob ihre Eltern und ihr Bruder noch lebten, und vielleicht, ja, ganz vielleicht bestand die Hoffnung auf eine Familienzusammenführung. Es hatte doch immer wieder Nachrichten gegeben, wie unverhofft Menschen die Schrecken des Krieges überlebt hatten. Sie drückte die Hand auf ihre Brust, spürte, wie der Sprössling der Zuversicht zu neuer Größe heranwuchs. Vielleicht …