Die Erleuchtung der Welt - Johanna von Wild - E-Book

Die Erleuchtung der Welt E-Book

Johanna von Wild

2,0

Beschreibung

Heidelberg, 1427. Da Helenas Vater seine Schulden nicht bezahlen kann, verkauft er seine Tochter an einen Winzer als Magd. Dem Mädchen widerfährt Schreckliches auf dem Weingut und es flieht. Das Schicksal lässt Helena zur engsten Vertrauten von Prinzessin Mechthild von der Pfalz werden, und sie folgt ihr nach Stuttgart und Urach. Doch ihre Vergangenheit holt Helena ein, sie trifft eine falsche Entscheidung und die Freundschaft zu Mechthild wird auf eine harte Probe gestellt …

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Seitenzahl: 530

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Johanna von Wild

Die Erleuchtung der Welt

Historischer Roman

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag (unter dem Namen Biggi Rist gemeinsam mit Liliane Skalecki):

Elitewahn (2018), Frostkalt (2017), Ausgerottet (2017), Rabenfraß (2016), Mordsgrimm (2014), Rotglut (2013),Schwanensterben (2012)

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Four_Men_Kneeling_before_God_-_Google_Art_Project.jpg

und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Book_of_Hours_of_Simon_de_Varie_-_KB_74_G37a_-_folio_091r.jpg

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6014-2

Widmung

Für Ralf. 30 Jahre Sonnenschein.

Zitate

»Attempto! – Ich wag’s«

Graf Eberhard im Bart (1445–1496)

»Der Körper kann ohne den Geist nicht bestehen, aber der Geist bedarf nicht des Körpers.«

Erasmus von Rotterdam (1466–1536)

Die wichtigsten Personen

Helena: Tochter eines Tagelöhners

Wigbert: ihr Vater

Siegfried: ihr Bruder

Greta: ihre Schwester

Cuntz Wengerter: Winzer

Toman Ostheim: Student der Medizin

Historische Personen

Die Wittelsbacher

Mechthild von der Pfalz: Gräfin von Württemberg und Erzherzogin von Österreich

Kurfürst Ludwig III. : ihr Vater

Kurfürstin Matilde: ihre Mutter

Ludwig IV. (Wiggo) und Friedrich I. (Fritz): ihre Brüder

*

Haus Württemberg

Graf Ludwig I.: Mechthilds erster Gatte

Ludwig II. und Eberhard V.: ihre Söhne

Graf Ulrich V.: ihr Schwager

Margarete von Kleve: Ulrichs erste Frau

Elisabeth von Bayern: Ulrichs zweite Frau

Margarethe von Savoyen: Ulrichs dritte Frau, zuvor Wiggos Gattin

Eberhard II. und Heinrich: Ulrichs Söhne aus zweiter Ehe

*

Die Habsburger

Friedrich III.: Kaiser im Heiligen Römischen Reich

Erzherzog Albrecht VI.: sein Bruder und Mechthilds zweiter Gatte

1425

Neckargemünd, September

Wie in den Städtchen nahe Heidelberg wurde auch in Neckargemünd die Geburt des dritten Kindes von Kurfürst Ludwig und seiner zweiten Gattin Matilda von Savoyen ausgelassen gefeiert. Einen kräftigen Jungen, der auf den Namen Friedrich getauft worden war, hatte die schöne Matilde, wie sie hierzulande genannt wurde, am ersten August geboren. Die stolze Mutter hatte darauf bestanden, auch das Volk an dem freudigen Ereignis teilhaben zu lassen, und so fuhr die kurfürstliche Familie in prächtigen offenen Kutschen durch die Straßen der Stadt, die gesäumt waren von jubelnden Menschen. Hüte und Kappen flogen in die Luft, und das Volk rief seiner Herrschaft Segenswünsche zu. In der ersten Kutsche saßen Ludwig und seine Frau, die den kleinen Friedrich auf dem Schoß hielt. In der zweiten Karosse befanden sich die erstgeborene Tochter Mechthild und ihr jüngerer Bruder Ludwig, mit dem die Amme alle Mühe hatte, weil er wie ein Fisch in ihren Armen zappelte. Eskortiert wurden die kurfürstlichen Kutschen von Rittern und Wachsoldaten, deren Uniformknöpfe mit den blitzenden Kandaren ihrer auf Hochglanz gestriegelten Pferde in der Septembersonne um die Wette blinkten. Knappen und Bedienstete folgten dem Zug zu Fuß.

Staunend und mit offenem Mund betrachtete die zehnjährige Helena den Prunk. Noch nie hatte sie so viel Gold und solch schöne bunte Kleider gesehen, geschweige denn einmal einen Blick auf die kurfürstliche Familie geworfen. Sie stand in vorderster Reihe, konnte den Schweiß der Pferde riechen, die an ihr vorbeischritten, vermischt mit dem Geruch des Leders der silberbeschlagenen Zäumungen. Schon seit Stunden harrte sie hier aus. Sie hatte sich einfach von zu Hause davongeschlichen und nahm die Ohrfeige, die ihr deswegen wahrscheinlich bevorstand, billigend in Kauf. Endlich näherte sich ihr der prachtvolle Zug. Aufgeregt hüpfte sie auf und ab. Ihre dunkelroten Haare umspielten ihr hübsches Gesicht. Als die Kutsche auf ihrer Höhe war, trafen sich ihre Blicke mit jenen der Kurfürstentochter Mechthild. Die Sechsjährige stand plötzlich von ihrem Platz in der Kutsche auf und warf Helena etwas zu, das diese geschickt auffing.

Verblüfft starrte Helena die Prinzessin an, die sich schon wieder hingesetzt hatte und ihr, den Kopf über die Schulter gewandt, zuwinkte. Bevor Helena noch ein ›Danke‹ zu rufen vermochte, war die Karosse längst vorüber, und sie konnte gerade noch einen Arm in die Höhe recken, um Mechthild hinterherzuwinken.

»Prinzessin Mechthild, warum habt Ihr das getan?«, wollte eine der Hofdamen, die mit in der Kutsche saßen, naserümpfend wissen.

»Habt Ihr nicht die Haare des Mädchens gesehen? Genau so rot wie die Haare einer meiner Puppen. Ich musste ihr einfach eine davon schenken«, plapperte Mechthild aufgeregt.

Seit Pfalzgraf Otto von Mosbach seiner Nichte die beiden kleinen Puppen im März zum Geburtstag geschenkt hatte, schleppte Mechthild sie nahezu überall mithin. Otto hatte Schweifhaare seines Dunkelfuchshengstes geopfert, um einem Püppchen zu einer auffälligen Haarpracht zu verhelfen, das andere besaß dunkelblondes Haar. Dafür hatte er einer seiner Mätressen, während sie schlief, eine Strähne abgeschnitten. Die beiden Figürchen hatten in einer kleinen, gepolsterten Schachtel Platz gefunden, die gerade in Mechthilds Handteller passte. Fasziniert von den winzigen, fast identisch aussehenden Püppchen hatte sie ihre anderen Spielzeuge kaum mehr beachtet. Es war ein spontaner Einfall gewesen, das Rothaarige dem Mädchen in der Menge zuzuwerfen, und es tat ihr keinen Augenblick leid.

Helena drängelte sich durch die Menschenmenge und lief nach Hause, um sich in Ruhe anzuschauen, was die Prinzessin ihr zugeworfen hatte. Vorsichtig öffnete sie ihre linke Faust, die das kleine Geschenk den ganzen Heimweg über fest umschlossen gehalten hatte. Ein aus Holz geschnitztes winziges Püppchen lag darin, das ein Brokatkleidchen trug und dunkelrote Zöpfchen besaß. Noch nie hatte Helena etwas derart Schönes geschenkt bekommen. Fest drückte sie die kleine Puppe an ihre Brust.

»Meine kleine Prinzessin, ich werde immer schön auf dich aufpassen«, sprach sie leise zu der kleinen Figur. Aus ihrem einfachen Schuh löste sie eines der dünnen Lederbändchen, knüpfte eine kleine Schlinge, die sie der Puppe um die Körpermitte band und noch einmal fest verknotete. Dann legte sie sich ihr Geschenk um den Hals und ließ den Anhänger unter ihrem derben braunen Kittel verschwinden.

1427

Neckargemünd, November

Anfang November war es bereits bitterkalt, und der eisige Wind pfiff nur so durch die Ritzen der Kate, die Helena, gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester Greta, versuchte, mit dem schimmeligen Stroh abzudichten. Doch es nutzte wenig. Die kleine Fachwerkhütte stand in einer schmalen Gasse, wo sich weitere armselige Häuschen dicht an dicht drängten. Wigbert, der Vater der Kinder, verdingte sich als Tagelöhner, doch oft reichte das Geld hinten und vorne nicht, um die Familie ernähren und die Abgaben bezahlen zu können.

An der Herdstelle brannte ein kleines Feuer, welches die Kate aber nicht sonderlich erwärmte. Helenas jüngerer Bruder Siegfried war mit dem Vater unterwegs, in der Hoffnung, einen unvorsichtigen Hasen zu erlegen. Die letzte Ernte war ausgesprochen schlecht gewesen, und Getreide war teuer geworden. Wilderei wurde mit harten Strafen geahndet, aber der Hunger war zu groß, um sich darüber Gedanken zu machen. Zudem hatten sie die Hoffnung, nicht erwischt zu werden, so wie die meisten Wilderer.

»Geh nach oben in den Giebel und hol weiteres Stroh«, wies Helena ihre Schwester an. »Es ist immer noch viel zu kalt hier drin.«

In der Nähe des Herdfeuers lag ihre Mutter matt auf einer Strohunterlage, zugedeckt mit Schaffellen, ihre Stirn vor Schweiß glänzend. Die Niederkunft stand kurz bevor, und Margret ahnte, dass sie diese Geburt nicht überleben würde. Die Wehen kamen jetzt immer öfter, und sie schrie ihre Qual hinaus. Helena hatte die Anweisungen ihrer Mutter befolgt und in einem eisernen Kessel Wasser erhitzt. Messer und Faden lagen bereit, um später die Nabelschnur zu durchtrennen und abzubinden.

Ihre Familie besaß nicht genug Geld, um sich eine Hebamme leisten zu können, und Margret hatte ihrer ältesten Tochter immer wieder eingeschärft, was ihre Aufgaben waren, wenn das Kind zur Welt kam. Aber Helena wusste auch so, was zu tun war. Sie hatte bereits oft geholfen, wenn in der Nachbarschaft ein Kind zur Welt gebracht worden war. Margret hatte schon einige Fehlgeburten erlitten, erst letztes Jahr war das Kind tot zur Welt gekommen. Nur knapp hatte Helenas Mutter überlebt.

Helena war nun die älteste, nachdem ihre Brüder, Hans und Johann, im vergangenen Jahr innerhalb weniger Tage an derselben gespenstischen Krankheit verstorben waren, die zunächst harmlos begonnen hatte: Fieber, Husten und Schnupfen, dann ein fleckiger Ausschlag. Hans hatte plötzlich ganz flach und schnell geatmet und irgendwann keine Luft mehr bekommen. Johann war wenige Tage darauf gestorben. Bevor er in einen Schlaf gefallen war, aus dem er nicht mehr erwachen sollte, hatte er über fürchterliche Kopfschmerzen geklagt.

Helena kniete neben ihrer Mutter, hielt deren Hand und versuchte, ihrer Angst Herr zu werden. Das lange dunkelrote Haar hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr über die linke Schulter hing. Ihre dunkelgrünen Augen starrten in die ihrer Mutter, die durch den Schmerz und die Todesangst fast schwarz erschienen. Greta, die emsig Stroh vom Giebel herbeigeschleppt und weitere Ritzen zugestopft hatte, stand regungslos abseits und fürchtete sich zu Tode.

Eine weitere starke Wehe fuhr durch Margrets ausgemergelten Körper, ließ ihn sich aufbäumen und danach kraftlos auf das Strohlager sacken. Ein Schwall Fruchtwasser ergoss sich zwischen Margrets Beinen.

»Die Fruchtblase ist geplatzt, jetzt dauert es nicht mehr lange, mein Kind«, krächzte Margret heiser.

»Greta, schnell, bring mir das Wasser«, scheuchte Helena ihre kleine Schwester zum Feuer. Doch Greta stand wie versteinert da, glotzte mit aufgerissenen Augen auf die Szene vor ihr.

»Greta, steh hier nicht rum, los!«, schrie Helena.

Doch Greta war wie erstarrt. Sie war erst sechs Jahre alt. Das alles war zu viel für sie. Letztes Jahr war sie alleine mit Margret in der Hütte gewesen und hatte nur zusehen können, wie ihr Geschwisterchen unter den Schmerzensschreien ihrer Mutter tot geboren worden war. Dieser Anblick hatte das Mädchen zutiefst erschüttert, und jetzt schien sich alles zu wiederholen.

Wütend stand Helena auf, war mit drei großen Schritten beim Herd, wickelte sich ein Tuch um die Hand, hob den Kessel vom Feuer und brachte ihn zur Liegestatt. Sie tauchte beide Hände in das heiße Wasser, verzog schmerzhaft das Gesicht. Eine weitere Wehe folgte, und Margret begann zu pressen. Helena kniete sich zwischen die gespreizten Beine ihrer Mutter. Was sie sah, ließ sie scharf die Luft einziehen.

»Mutter, ich glaube, das Kind liegt verkehrt herum«, sagte sie leise, doch laut genug, dass Margret es hören konnte.

Margret erschauerte. Noch vor zwei Tagen war alles in Ordnung gewesen, doch dann hatte sich das Kind in ihrem Leib so heftig bewegt, und eine dunkle Ahnung hatte sie beschlichen, dass es sich gedreht hatte. Eine Steißgeburt. Ohne Hebamme. Selbst mit einer Gebärhelferin stünden ihre Chancen schlecht. Aufgestützt auf ihre Hände, den Rücken durchgebogen, presste sie mit der nächsten Wehe den kleinen Körper bis zu den Schulterblättern heraus, spürte nicht, wie ihr Damm riss. Schnell und flach atmete sie, presste weiter, brüllte vor Schmerz. Helena schob ihren rechten Arm so unter den Bauch des Kindes, dass sie es sicher halten konnte. Mit ihren Fingern tastete sie nach dem Mündchen, steckte den Zeigefinger hinein und senkte das Köpfchen auf den Brustkorb. Mit der letzten Wehe zog sie ihr Geschwisterchen heraus. Ein Junge. Kurz darauf glitt der Mutterkuchen mit einem riesigen Blutschwall heraus.

Schwer atmend ließ Margret sich nach hinten auf den Rücken fallen, bleich und von Schweiß durchnässt, ihre Haare klebten am Kopf. Helena gab ihrem Brüderchen einen Klaps, woraufhin ein schwaches Weinen zu hören war. Sanft legte sie das Neugeborene auf Margrets Bauch und tauchte einen Lappen in den Kessel, legte ihn beiseite, damit er etwas abkühlen konnte, bevor sie das Kind damit säuberte.

Margret hatte keine Kraft mehr und sah sich ihr Kind nicht einmal an. Teilnahmslos lag sie mit geschlossenen Augen da. Helena nahm den Faden, unterband die Nabelschnur an zwei Stellen und kappte mit dem scharfen Messer die Verbindung zwischen Mutter und Kind. Dann nahm sie den Lappen und begann, den Säugling von Blut und Schleim zu reinigen. Als sie in das Gesicht ihres Brüderchens blickte, wurde ihr bang ums Herz. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Kleine mandelförmige Augen, eine viel zu hohe Stirn mit einem flammenden Mal, die Lippen seltsam geformt. Eine Hasenscharte. Die Ohren saßen viel zu tief am Köpfchen. Helenas Augen glitten an dem kleinen Körper entlang. Die linke Hand besaß sechs Finger. Sie riss sich von dem schrecklichen Anblick los, wickelte das Kind in eine Decke und legte es neben seine Mutter.

»Mutter, Mutter!« Vorsichtig rüttelte sie an Margrets Schulter.

Doch Margret rührte sich nicht, und immer noch floss Blut aus ihr heraus. Verzweifelt versuchte Helena, die Blutung mit dem Lappen zu stoppen, doch es nützte nichts.

Als ihr Vater und Siegfried nach Hause kamen, fanden sie Helena schluchzend, das Neugeborene fest an sich gedrückt, neben der reglosen Margret. Greta saß mit angewinkelten Beinen in der Ecke, den Kopf auf die Knie gelegt und zwischen den Armen vergraben.

Wigbert stürzte zu seiner Frau, kniete sich neben sie, tätschelte die bleichen Wangen. Nichts geschah. Er zog ihren Kopf in seinen Schoß, rieb seine bärtige Wange an Margrets Gesicht. Ihre Atemzüge waren kaum wahrnehmbar, und Wigbert wusste, seine Frau lag im Sterben. Die Kinder konnten des Vaters Tränen nicht sehen, wofür er dankbar war. Der Schmerz des Verlustes zerriss ihn beinahe, doch er musste sich zusammenreißen. Siegfried begann, leise zu weinen, setzte sich neben Greta und zog seine kleine Schwester an sich.

Wie sollen wir den Säugling füttern? Milch haben wir keine, dachte Helena. Vielleicht bekommen wir von Anna etwas.

Anna besaß eine kleine Viehherde und einige Hühner, hatte ein gutes Herz und wohnte nur eine Gasse weiter. Hin und wieder steckte sie Wigberts Kindern etwas zu essen zu, meist ein Stückchen Käse oder einen Apfel.

»Und das Kind?«, fragte Wigbert mit gebrochener Stimme.

Sanft ließ er Margret, die wie leblos dalag, zurücksinken und kam mühsam auf die Beine.

»Es lebt, aber es ist schwach. Es kam mit dem Steiß zuerst auf die Welt, und Mutter hat nicht aufgehört zu bluten.«

»Gib es mir. Was ist es? Ein Junge?«

Wigbert streckte die Arme nach seinem Sohn aus.

»Vater … er …«, begann Helena zögernd und hielt das Neugeborene fest.

Wie sollte sie ihrem Vater beibringen, dass das Kind gezeichnet war?

»Gib ihn mir«, forderte Wigbert.

Wortlos überließ Helena ihm ihren winzigen Bruder. Als Wigbert in das zerknautschte Gesichtchen blickte, fuhr er zurück, als hätte er einen Schlag erhalten.

»Das ist Teufelswerk!« Mit ausgestreckten Armen hielt er seinen Sohn von sich, der schwach strampelte und wieder zu schreien begann. Helena nahm den Säugling, wiegte ihn in den Armen und tätschelte ihm beruhigend das Köpfchen. Auch wenn er missgestaltet war, war er doch ein Lebewesen. Und ihr Bruder.

»Er hat Hunger, wir müssen ihm Milch geben, Vater.«

»Bist du verrückt geworden? Wir haben kein Geld für Milch, und schon gar nicht für eine Missgeburt!«, fuhr er sie an.

»Aber wir könnten doch Anna fra…«, begehrte Helena auf.

»Schweig! Siegfried, geh und hol den Priester, beeil dich!«, befahl er seinem Sohn, der sich daraufhin aufrappelte und wortlos verschwand.

»Und du bringst dieses scheußliche Ding weg. Geh schon, leg es in den Wald. Füchse und Wölfe werden dafür sorgen, dass es verschwindet«, herrschte Wigbert seine Tochter an.

Helena schüttelte trotzig den Kopf und unterdrückte aufsteigende Tränen. Wigbert verpasste ihr eine Ohrfeige, riss ihr den Säugling aus den Armen und stürmte aus dem Haus. Greta stand auf, lief zu ihrer weinenden Schwester, drückte sich an sie, um sie zu trösten.

»Komm, Greta«, schluchzte Helena und wischte sich die Tränen, die eine Spur durch ihr dreckiges Gesicht gezogen hatten, mit dem Handrücken ab. »Wir müssen Mutter waschen, damit sie anständig unter die Erde kommt.«

Schweigend, nur durch gelegentliche Schluchzer unterbrochen, machten sich die Mädchen an die traurige Arbeit. Margret atmete immer noch, erlangte aber das Bewusstsein nicht wieder, auch nicht als der Vater zurückkam. Im Schlepptau hatte er Siegfried und den Priester, die er beide unterwegs getroffen hatte.

Der vom Alter gebeugte Priester strich den Mädchen sanft übers Haar und legte sich seine Stola rechts und links über die Schulter. Dann kniete er sich neben die Sterbende.

»Bekenne deine Sünden, Margret, damit ich dir die Absolution erteilen kann«, sagte er. Eine Antwort erhielt er nicht.

Der Priester tauchte seinen Zeigefinger in ein Öltöpfchen und zeichnete Kreuze auf Margrets geschlossene Augenlider, Ohren, Nasen, Lippen, Brust, Herz, Schultern, Hände und Füße.

»Ich salbe diese Hände mit geweihtem Öl, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, auf dass getilgt werde, was sie durch unerlaubtes oder schändliches Tun angerichtet haben.«

Dann zog er einen kleinen Beutel unter seinem schwarzen Gewand hervor, um ihm eine Hostie zu entnehmen, die er Margret in den Mund legte. Ein tiefer, rasselnder Atemzug war zu hören, und Margrets Lebenslicht erlosch. Ächzend kam der Priester auf die Beine.

»Wo ist das Kind, damit ich es taufen kann?«

Wigbert schluckte. »Es war eine Missgeburt. Sie hat meiner Frau das Leben gekostet. Ich habe sie in den Wald gebracht.«

»Missgeburten sind des Teufels. Hat Margret sich versündigt?«

Wigbert schüttelte verzweifelt den Kopf. »Nein! Margret war die beste Ehefrau, die man sich nur wünschen konnte. Fleißig, ehrlich und eine gute Mutter. Täglich hat sie gebetet und ist regelmäßig zur Beichte gegangen.« Dann ging er in eine Ecke, wo eine kleine Kiste stand, in der nur wenige Münzen lagen. Er fischte zwei heraus und bezahlte die Stolgebühr. Geschickt ließ der Priester die Münzen unter seiner schwarzen Soutane verschwinden. »Gehabt euch wohl«, sagte er und verschwand.

Vor wenigen Tagen hatten sie Margret begraben, und Wigbert wusste nicht, wie er seine Kinder über den Winter bringen sollte. Die sehr überschaubare Anzahl Säcke mit Weizen, Gerste und Äpfeln lagerte in einer Ecke der Scheune, die an die Kate grenzte. Wenigstens für Helena sollte er Arbeit finden, dann hätte er nur noch zwei Mäuler zu stopfen. Mit geübten Bewegungen wetzte er seine Sense, jetzt im Winter war Zeit, um Gerätschaften in Ordnung zu bringen. Er hob den Kopf, als er Anna auf sich zukommen sah. Ihr pausbackiges Gesicht mit den rot gefärbten Wangen wirkte immer fröhlich, obwohl vor wenigen Wochen ihr Mann am Wechselfieber gestorben und das Leben als kinderlose Witwe nicht leicht war.

»Wigbert, ich habe nachgedacht«, begann sie, »jetzt, nachdem Margret gestorben ist, Gott hab sie selig, möchte ich dir einen Vorschlag machen.«

Der Tagelöhner sah sie aufmerksam an.

»Ich würde gerne Greta zu mir nehmen. Die Mutter wird ihr fehlen, sie ist ja noch so klein, und ich kann deine Tochter vieles lehren. Was meinst du?«

Stumm dankte Wigbert dem Allmächtigen für diese Frau. Eine Sorge weniger.

»Anna, dich schickt der Himmel. Du glaubst gar nicht, was für eine Last du mir damit von den Schultern nimmst. Meine Greta kann auch schon spinnen, sie ist sehr geschickt mit ihren kleinen Fingerchen.«

»Gut, dann schick sie morgen zu mir. Brauchst du noch etwas? Ich helfe euch gern, wenn ich kann«, bot Anna ihm an.

»Nein, du hilfst mir schon damit, wenn du Greta zu dir nimmst. Vielleicht finde ich ja auch Arbeit für Helena. Oder am besten gleich einen Mann. Sie wird bald zwölf, alt genug, um zu heiraten.«

Anna runzelte die Stirn. Sie war der Meinung, zwölf Jahre alte Mädchen waren noch halbe Kinder und viel zu jung, um verheiratet zu werden. Die meisten Mädchen dieses Alters erlitten Furchtbares in der Hochzeitsnacht. Wurden sie nicht gleich schwanger, was bei den wenigsten der Fall war, hatten sie nahezu jede Nacht ein Martyrium zu erdulden.

»Ich würde mir das noch mal überlegen, Wigbert«, sagte sie vorsichtig, denn die meisten Männer mochten keine Ratschläge von Frauen. »Schließlich hast du dann keine Frau mehr im Haus. Meinst du, Siegfried übernimmt die Hausarbeit und backt Brot?«

Dafür erntete sie tatsächlich zustimmendes Kopfnicken. Offenbar hatte Wigbert darüber noch gar nicht nachgedacht. Er hielt ihr die Hand hin.

»Abgemacht, Greta geht zu dir.«

Anna nahm die dargebotene Rechte und freute sich, die bildhübsche Helena erst mal vor Schlimmerem als einem Hungerwinter bewahrt zu haben.

1428

Heidelberg, Januar

Kurfürst Ludwig war krank von der Pilgerfahrt ins Heilige Land nach Schloss Heidelberg zurückgekehrt. Auch die Pilgerreise hatte ihm den Schmerz über den frühen Tod seines Sohnes Ruprecht, der aus der ersten Ehe mit Blanca von England stammte, nicht nehmen können. Blanca selbst war viel zu früh mit nur siebzehn Jahren am Wechselfieber verstorben, und Ludwig hatte Ruprecht als seinen Thronfolger angesehen. Nachdem dieser vor zwei Jahren seiner Mutter ins Grab gefolgt war, hatte Ludwig die Pilgerfahrt unternommen. Zuvor hatte er mit seinem jüngsten Bruder Otto einen Vertrag über gegenseitige Beerbung geschlossen, und für den Fall, sollte er auf der Reise sterben, diesem die Vormundschaft für seine Kinder übertragen. Außerdem hatte Otto stellvertretend während Ludwigs Abwesenheit die Regierungsgeschäfte mit den kurfürstlichen Räten übernommen. Auf Otto war Verlass.

Das Augenlicht des Kurfürsten wurde zusehends schlechter, und das Lesen, das er so liebte, immer schwieriger.

»Ich vermache meine kostbaren Bücher und Handschriften der Universität«, eröffnete Ludwig seiner Frau, »damit das Wissen all jener Gelehrten, die sie geschrieben haben, künftig den Studenten frei zur Verfügung steht und nicht verloren geht.«

Er nahm einen Schluck Wein aus dem silbernen Pokal und bedeutete einem Diener, ihm ein weiteres Stück Fasan auf den Teller zu legen. Matilde nickte zustimmend und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. »Meister Jorg wünscht, dass du dir die Fortschritte am Langhaus der Heiliggeistkirche ansiehst.«

Ludwig nickte versonnen.

»Ich hoffe, ich erlebe die Fertigstellung noch, es geht mir manches Mal nicht schnell genug voran«, seufzte er. Dann wandte er sich an seine Ratgeber, die mit an der hohen Tafel saßen. »Sigismund will neue Truppen aufstellen …«

»Vater, Vater«, platzte plötzlich seine Tochter Mechthild, die bald ihren neunten Geburtstag feiern würde, aufgeregt mitten in die Unterhaltung. »Ich kann Verse von Petrarca aufsagen. Wollt Ihr sie hören?«

Eigentlich hätte Ludwig seiner Ältesten eine Rüge erteilen sollen, konnte aber ob ihrer kindlichen Freude ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Außerdem war er stolz auf sie. Es erfüllte ihn mit Freude, dass sie, genauso sehr wie er, die Liebe zu Büchern teilte. Erst neulich hatte sie ihn zum Lachen gebracht, als er sie mit zur Universität genommen hatte, und Mechthild ein wunderbar verziertes Buch ehrfürchtig berührt und an ihm geschnuppert hatte, den Geruch der alten Seiten tief einatmend. Auf ihren Gesichtszügen hatte ein seliges Lächeln gelegen.

›Nichts riecht so gut wie Papier und Pergament‹, waren ihre Worte gewesen.

»Dann lass uns teilhaben an deinem neu erlernten Wissen.«

Mechthild gab fünf Verse zum Besten, genoss den höfischen Applaus.

»Sehr gut, mein Kind«, lobte Ludwig. »Doch nun denke ich, ist es an der Zeit, zu Bett zu gehen. Jedenfalls für dich«, fügte er hinzu und strich ihr sanft über die Wange.

Nur selten zeigte Ludwig seine Zuneigung zu seiner Tochter so offen. Sie war ein außerordentlich kluges Geschöpf, und bereits jetzt erkannte man, dass sie auch zu einer bildschönen Frau heranwachsen würde. Graf Ludwig von Württemberg konnte sich glücklich schätzen, in einigen Jahren Mechthild als seine Frau heimzuführen. Die Verlobung zwischen dem sieben Jahre älteren Ludwig war bereits acht Monate nach Mechthilds Geburt arrangiert worden. Der Kurfürst konnte nur hoffen, dass Mechthild und ihr zukünftiger Gemahl auch miteinander glücklich wurden. Manch vereinbarte Ehe glich mehr einer Heimsuchung und verursachte den Eheleuten nichts als Kummer.

»Der Kaiser plant eine Steuer, um neue Truppen ausheben zu können«, nahm Ludwig den Faden wieder auf, nachdem die Kinderfrau Mechthild an der Hand genommen und aus der Halle gebracht hatte.

»Er wird schon Hussitenpfennig genannt«, warf einer seiner Ratgeber ein.

»Die Hussiten werden nie Ruhe geben, fürchte ich. Seit der Häretiker Jan Hus in Konstanz verbrannt wurde, folgt ein Kreuzzug dem nächsten.«

»Und dieser verdammte, verzeiht, Euer Durchlaucht …«, unterbrach sich der Rat selbst, doch der Kurfürst winkte ab. »Prediger Prokop wird mit jedem Sieg über die Kaiserheere stärker. In Böhmen steht bald kein Stein mehr auf dem anderen.«

Kurfürst Ludwig seufzte. Er würde seinem Bruder, Pfalzgraf Johann, dessen Land an Böhmen grenzte, weiterhin beistehen müssen. Lieber wäre ihm, er könnte das Geld, das Kriege verschlangen, dafür nutzen, um noch mehr Bücher und Handschriften für seine Bibliothek zu erwerben.

Wigbert saß derweil betrunken in einem Wirtshaus in Neckargemünd, dabei war es noch nicht einmal Mittag. Seit Margrets Tod hatte er sich mehr und mehr in den Suff geflüchtet, die Anzahl der Münzen in der kleinen Truhe war dramatisch zusammengeschrumpft. Nur ab und an fand er Arbeit als Tagelöhner, was im Winter ohnehin schwer war. Zudem sprach es sich langsam herum, dass Wigbert mehr trank, als ihm guttat, sodass die Handwerker lieber jemand anderen für Handlangerdienste einstellten. Nie hätte Wigbert für möglich gehalten, wie sehr ihm seine Frau fehlte.

Helena hielt das Haus zwar in Ordnung, flickte Kleidung, buk Brot, doch sie war kein Ersatz für seine geliebte Margret. Vor allem schlich sie sich, wann immer es ging, zu den Ställen eines Großbauern, der vier Pferde sein eigen nannte. Helena war verrückt nach den Tieren, liebte ihre Sanftheit und die Ruhe, die sie ausstrahlten. Wie oft hatte Wigbert seiner Tochter schon zu Margrets Lebzeiten verboten, dorthin zu gehen, aber sie hörte nicht. Zudem war sie versessen darauf, Lesen und Schreiben zu lernen. Und wenn sie sich nicht zu den Pferden davonmachte, verschwand sie zur Pfarrschule. Dort hatte sie einen Jungen gefunden, der ihr die Buchstaben beibrachte. Manches Mal hatte Wigbert seine Tochter vorgefunden, wie sie selbstvergessen mit den Fingern Buchstaben in den Schmutz malte. Ohrfeigen hielten sie nicht davon ab, sich immer wieder aus dem Staub zu machen. Und Margret hatte stets zu ihr gehalten.

Wigbert vermisste die Gespräche mit seiner Frau. Margret war sein Fels in der Brandung gewesen, wenn es Schwierigkeiten gegeben oder das Geld hinten und vorne nicht gereicht hatte. Sie war eine starke Frau gewesen, viel stärker als er, und Helena wurde ihr, was das anbelangte, immer ähnlicher.

Jemand knuffte ihn in die Seite und riss ihn aus seinen wehmütigen Gedanken.

»Wigbert, du bist dran«, forderte ihn sein Tischnachbar auf.

Wigbert griff nach dem ledernen Würfelbecher, schüttelte ihn und stülpte ihn auf den rohen Holztisch, lüftete ihn. Nur eine Zwei und eine Drei. Das reichte bei Weitem nicht, um die beiden Fünfen, die gerade gewürfelt worden waren, zu übertrumpfen. Verloren. Schon wieder.

»Tja, Wigbert, sieht schlecht für dich aus, ich fürchte, du musst mich bezahlen«, feixte Cuntz. Der Winzer schien das Glück gepachtet zu haben, hatte kaum eine Würfelrunde verloren, und das Häufchen gewonnener Münzen vor ihm wuchs stetig.

»Wie viel?«

»Drei Gulden.«

Großer Gott, das konnte er niemals bezahlen. Für drei Gulden musste er zwei Monate arbeiten. Mit einem Schlag war er nüchtern.

»So viel habe ich nicht«, antwortete Wigbert heiser.

Cuntz’ Gesicht nahm einen harten Zug an.

»Dann gib mir, was du hast, und den Rest zahlst du mir bis Ende Jänner.«

»Aber wovon soll ich dann leben? Jetzt ist keine Erntezeit, kaum einer braucht einen Tagelöhner. Ich komme so schon schlecht über die Runden. Das kann ich nicht, meine Kinder …«, rief Wigbert entsetzt.

»Nicht meine Angelegenheit. Du hast Geld zum Würfelspiel, dann kann es so schlimm nicht sein«, erwiderte Cuntz Wengerter unversöhnlich.

»Er hat recht, Wigbert«, pflichtete einer der Mitspieler dem Winzer bei.

Fieberhaft dachte Wigbert über einen Ausweg nach. Dann kam ihm ein rettender Gedanke. »Meine Tochter Helena könnte die Schulden bei dir auf dem Weinberg abarbeiten oder im Haus. Bald ist Mariä Lichtmess, da kannst du sicher ein paar Hände mehr gebrauchen. Sie ist fleißig, geschickt und nicht dumm. Ich würde sie dir überlassen, bis die Schulden abgetragen sind.«

»Ist sie hübsch?«

Wigbert pries Helenas Vorzüge in den höchsten Tönen. »Feingliedrig und anmutig wie ein Reh ist sie, und trotzdem kann sie zupacken. Ihr Haar hat eine besondere Farbe, dunkelrot, wie das Herbstlaub, und ihre grünen Augen funkeln wie Edelsteine. Und sittsam ist sie, wie es sich für ein anständiges Mädchen gehört. Ein wahrer Engel, gottesfürchtig und gehorsam.«

»Schon gut, Wigbert, bevor du mir noch weismachst, sie ist die Jungfrau Maria, schau ich sie mir lieber selbst an. Und nun lass uns gehen.« Er stieß Wigbert den Ellbogen in die Rippen.

»Jetzt?«

»Natürlich jetzt.«

»Ja, ja, einverstanden, ich versichere dir, ich habe nicht übertrieben, was meine Tochter anbelangt«, beeilte sich Wigbert zu sagen und stürzte sein Bier in dem fast vollen Becher in einem Zug hinunter.

Mühsam und schwankend erhob sich Wigbert von seinem Hocker und verließ, gefolgt von Cuntz, das Wirtshaus. Draußen waren die Gassen matschig. Der Winter hatte in den letzten Wochen die Natur fest im Griff gehabt, doch seit zwei Tagen war Tauwetter eingetreten, das den gefrorenen Untergrund in Schlamm verwandelt hatte. Der Winzer nahm Wigbert mit auf seinen Wagen, ließ die Leinen auf die dunkelbraunen Pferderücken klatschen, und die beiden Tiere zogen geduldig an.

Als Wigbert und Cuntz die Kate betraten, war Helena gerade dabei, einen Brei aus Weizen zu kochen. Mit kräftigen Bewegungen rührte sie im Topf und gab noch ein paar verschrumpelte Zwiebeln hinzu, damit die Mahlzeit nicht ganz so fade schmeckte.

»Helena, bring unserem Gast und mir etwas zu trinken«, forderte Wigbert seine Tochter mit schwerer Zunge auf.

Helena blickte über die Schulter und betrachtete argwöhnisch den Fremden, der neben ihrem Vater stand. Groß gewachsen, breite Schultern, einen stattlichen Bauch vor sich hertragend, hellbraunes Haupthaar und einen etwas dunkleren Bart. Seine Gesichtszüge wirkten hart, und seine braunen Augen musterten Helena kalt. Sie holte zwei Becher und einen Krug mit Dünnbier. Beides stellte sie auf den Tisch, schenkte ein und wollte sich gerade wieder der Feuerstelle zuwenden, als Cuntz sie grob am Handgelenk packte.

»Nicht so schnell, meine Hübsche.«

Helena erstarrte und spürte einen Kloß in ihrem Hals.

»Du hast nicht zu viel versprochen, Wigbert«, wandte sich Cuntz an seinen Gastgeber. »Ein hübsches Mädchen hast du da, und wenn ich mich hier so umsehe, hält sie deine Hütte in Ordnung.«

Helena warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu, doch dieser wich ihr aus.

»Ich hab’s dir doch gesagt. Dann gilt jetzt unsere Abmachung«, krächzte Wigbert heiser.

»Was für eine Abmachung, Vater?«, wagte Helena mit klopfendem Herzen zu fragen.

Doch dieser blieb ihr die Antwort schuldig, senkte den Blick beschämt zu Boden. An seiner statt klärte der Winzer sie grinsend auf und gab ihren Arm frei.

»Du kommst mit zu mir und arbeitest die Spielschulden deines Vaters ab.«

Entsetzt riss Helena die Augen auf. »Wie konntest du nur?«, rief sie wütend. »Statt zu arbeiten, versäufst und verspielst du das Wenige, das wir haben! Und das am helllichten Tag. Ich …«

Eine schallende Ohrfeige Wigberts brachte sie zum Schweigen. Ihre Wange brannte und Tränen stiegen ihr in die Augen, doch Helena drückte sie tapfer zurück. Sie würde sich keine Blöße geben und weinen. Fest presste sie ihre Kiefer zusammen. Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen, als sie seinen Blick erwiderte. Ihr Vater verschacherte sie wie ein Stück Vieh. Das würde sie ihm nie vergeben.

»Koch den Brei fertig, dann gehst du mit Cuntz.«

Seine traurigen Augen ließen sie wissen, es tat ihm leid, sie geschlagen zu haben.

Nur gut, dass Mutter das nicht mehr erleben muss. Bestimmt dreht sie sich im Grabe um, dachte Helena zornig.

»Du kannst deinen Brei alleine kochen, ich gehe gleich«, schleuderte sie ihm entgegen. »Oder frag Siegfried, vielleicht übernimmt der nun die Hausarbeit.«

Cuntz Wengerter gefiel das Mädchen immer besser. Von wegen gehorsam. Eine kleine Rebellin war sie. Die Zeit mit Helena auf seinem Wingert versprach spannend zu werden. Er würde ihr ihre Widersetzlichkeit schon austreiben, freute sich der Winzer diebisch.

»Stimmt genau, Wigbert, jetzt musst du wohl selbst den Brei rühren, es riecht schon ein wenig angebrannt«, feixte er. »Na komm schon, Mädchen, vor uns liegt ein ordentliches Stück Weg.«

»Mein Name ist Helena«, sagte sie mit fester Stimme.

Sie nahm den alten Mantel ihrer Mutter, der schon deutlich bessere Tage gesehen hatte, und verließ hoch erhobenen Hauptes die Kate, ohne ihren Vater eines Blickes zu würdigen. Cuntz folgte ihr auf dem Fuß, nicht ohne Wigbert zuzuzwinkern.

»Steig hinten auf«, forderte der Winzer, hievte sich auf den Kutschbock und nahm die Zügel in die Hand. Der Wagen setzte sich in Bewegung.

Als Winzer verdiente er gutes Geld und konnte sich Pferde und Wagen leisten. Helena war froh, dass sie nicht zu Fuß gehen musste. Ihre schäbigen alten Schuhe hielten mit viel Glück gerade noch diesen Winter über durch. Vielleicht war es ja ein Wink des Schicksals, dass ihr Vater beim Würfeln verloren hatte.

Wenn ich mich anstrenge und fleißig bin und mich unentbehrlich mache, dachte sie, behält Cuntz mich vielleicht als Magd. Das wäre besser, als wieder zurück zu Vater zu gehen. Bestimmt sind die Schlafstätten für die Arbeiter auf dem Wingert trockener und wärmer als die in unserer armseligen, zugigen Hütte.

»Helena! Helena!«

Sie wandte den Kopf. Siegfried lief hinter dem Wagen her. »Wo fährst du hin? Was hat das zu bedeuten?«, schrie er aufgeregt.

»Frag Vater! Und pass auf dich auf, Siegfried!«

Cuntz ließ die Pferde antraben, und der Wagen entfernte sich schnell. Siegfrieds Gestalt, die mit hängenden Armen auf der Straße stand, wurde immer kleiner.

Die ganze Fahrt über sprach Cuntz kein Wort mit Helena, der es aber gerade recht war. So konnte sie die vorüberziehende Landschaft bestaunen, denn aus Neckargemünd war sie kaum jemals herausgekommen. Der Fahrtwind war eisig, und Helena zog den fadenscheinigen Mantel enger um sich, doch es nutzte wenig. Sie hätte doch noch einen heißen Brei essen sollen. Der Gedanke an das karge Mahl ließ ihren Magen sich schmerzhaft zusammenziehen.

Cuntz lenkte das Gespann vom Neckar in Richtung Süden, passierte Äcker und Wiesen und durchquerte Mischwälder. Schließlich gelangten sie zu dem Weingut. Der Wingert, die dazugehörigen Ländereien und die Gebäude waren seit Langem im Besitz der Familie Wengerter und Cuntz war nicht an einen Grundherren gebunden, wie manch andere Winzer. Zudem besaß er Allmendrechte, sodass er Weideflächen für eine kleine Viehherde nutzen konnte, um den Eigenbedarf an Fleisch und Milch zu decken. Ebenso räumten ihm die Allmendrechte ein, Holz für den Winter oder zum Bauen zu schlagen.

Cuntz brachte die Pferde vor einem großen Steinhaus zum Stehen.

»Wir sind da, steig ab«, sagte er und sprang selbst erstaunlich behände vom Kutschbock.

Knechte eilten herbei, um die Pferde auszuspannen und den Wagen in eine Scheune zu schieben. Cuntz legte Helena die Hand auf den Rücken und schob sie in Richtung Haus, aus dem gerade eine ältere, rundliche Frau trat. Sie trug ein dunkelgrünes Oberkleid, das über dem Busen geschnürt war, ein längeres braunes Unterkleid lugte unter dem Saum hervor. Die Mitte ihres Leibes zierte eine ebenso braune Schürze, versehen mit Stickereien. Ihre Haare waren unter einer beigen Haube verborgen, die Füße steckten in warmen Stiefeln.

»Cuntz, was hast du uns denn da nach Hause gebracht?«, fragte sie und wies mit dem Kinn auf Helena.

»Hab ich beim Spielen gewonnen. Wir brauchen so oder so noch eine Magd, Agnes, und die hier ist umsonst.«

»Beim Spiel? Ich hoffe, du hast mehr gewonnen als nur ein Kind. Wolltest du nicht die Finger von den Würfeln lassen?«

Agnes Wengerter, Cuntz’ Schwester, schüttelte nachsichtig den Kopf und musterte das zierliche Mädchen mit hochgezogenen Augenbrauen. Ihre dunklen Augen blickten warm und mitleidig in Helenas blasses Gesicht.

»Viel zu dünn. Wie heißt du, mein Kind?«

»Helena, Herrin«, antwortete sie zaghaft.

»Nun komm erst mal in die Küche, dann bekommst du etwas zu essen. Wie alt bist du?«

»Zwölf, Herrin.«

Die Aussicht auf etwas zu essen ließ ihren Magen so laut knurren, dass die Winzerleute es deutlich hören konnten.

»Na, deine letzte Mahlzeit scheint ja eine Weile her zu sein«, lachte Agnes leise.

»Sie wollte es so. Hat die Gelegenheit verstreichen lassen, zu Hause noch einen Brei zu essen. Helena konnte nicht schnell genug von ihrem nichtsnutzigen Vater fortkommen«, dröhnte Cuntz.

Helena biss sich auf die Lippen und schluckte eine patzige Antwort hinunter. Ihr Vater war kein Nichtsnutz. Mutters Tod hatte ihn aus der Bahn geworfen. Das war alles. Ob Siegfried wohl ohne seine ältere Schwester zurechtkam? Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, bugsierte Agnes sie ins Haus. Die Frau führte Helena durch die Eingangshalle, in deren Ecke ein Kaminfeuer prasselte. Hier empfing Cuntz Gäste und Händler. Zwei Türen, eine rechts, eine links, führten in die angrenzenden Räume. Cuntz, der ihnen gefolgt war, verschwand ohne ein weiteres Wort durch die rechte Tür, wo über eine Treppe ins Obergeschoss die Schreibstube und die Schlafräume der Familie Wengerter zu erreichen waren. Agnes schritt voran, öffnete die linke Tür, hinter der sich die Küche verbarg.

An der rechten Küchenwand befand sich die Luke eines Kachelofens, der die nebenan liegende Wohnstube mit Wärme versorgte. Ein eiserner Kessel hing an einer Kette über dem Herdfeuer in der Ecke, der über eine Zugvorrichtung nach oben gezogen oder nach unten gelassen werden konnte. Daneben ragte der Kaminschlot empor, um den Rauch aus der Küche zu entlassen. Die Mitte der Küche nahm ein riesiger Holztisch ein, die Wand links gegenüber dem Ofen war größtenteils bis unter die Decke mit Holzgestellen bestückt, auf denen Töpfe, Krüge und Gefäße mit Schmalz, getrockneten Hülsenfrüchten und Salz Platz gefunden hatten. Daneben gab es ein zweiteiliges Fenster, das den Blick auf den Hof freigab. Die Tür gegenüber dem Kücheneingang führte in die Wohnstube.

Der Geruch des Eintopfs aus Erbsen, Gerste und Speck, der im Kessel vor sich hin brodelte, stieg Helena in die Nase, und der nagende Hunger verursachte ihr eine leichte Übelkeit.

Eine ältere Magd saß auf einem kleinen Schemel in der Nähe der Herdstelle und rupfte ein Huhn. Vier weitere lagen schon ihres Federkleids beraubt neben ihr auf dem Boden.

»Magda, das ist Helena, sie wird dir und den anderen Mägden ab jetzt zur Hand gehen. Aber gib ihr erst mal noch einen Teller Eintopf und ein Stück Brot«, bat Agnes. »Benimm dich anständig, Mädchen. Widerworte werden nicht geduldet. Du tust, was man dir aufträgt«, wandte sie sich an Helena. »Verstanden?«

»Ja, Herrin.«

»Gut. Hier auf dem Weinberg gibt es viel zu tun, wir arbeiten vom Morgengrauen bis nach Anbruch der Dunkelheit. Dafür bekommst du einen trockenen, warmen Schlafplatz und jeden Tag drei Mahlzeiten.«

Drei Mahlzeiten. Helena schickte ein stummes Dankgebet gen Himmel, dass Gott sie hierhergeführt hatte. Oder wohl eher das Pech ihres Vaters beim Würfelspiel.

»Und Magda«, fügte Agnes hinzu, »sieh nach, ob du ein paar anständige Kleider und ein paar Stiefel für sie findest. Das Kind trägt ja nur noch Lumpen am Leib.«

Die alte Magd brummte zustimmend, und Agnes verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.

»Nimm dir einen Teller, Löffel sind in der Kiste auf dem zweiten Brett, wenn du keinen eigenen hast.« Magda wies auf das Holzgerüst an der Wand.

Helena tat wie ihr geheißen und hielt der Magd den hölzernen Suppenteller hin, in den diese eine ordentliche Portion Eintopf aus dem Kessel schöpfte.

»Setz dich, ich gebe dir noch ein Stück Brot.«

Herzhaft langte Helena zu, verbrannte sich den Mund an dem heißen Eintopf und blies beim nächsten Löffel vorsichtig über das dampfende Essen. Sie musste sich zwingen, nicht zu schlingen, so ein leckeres Mahl hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Speck hatte es zu Hause seit Monaten nicht gegeben.

Magda brach ein Stück Brot von einem Laib ab, reichte es dem Mädchen und stellte ihr einen Becher und einen Krug mit dünnem Bier hin. Dann setzte sie sich wieder auf ihren Schemel und rupfte das Huhn.

»Wo kommst du her, und wie alt bist du?«, wollte die alte Magda ohne aufzusehen wissen.

»Aus Neckargemünd«, antwortete Helena mit vollem Mund. »Kurz vor Weihnachten bin ich zwölf geworden. Ist Agnes die Frau unseres Herrn?«

»Nein, seine Schwester«, erwiderte die Magd. »Seine Frau ist vor einigen Jahren gestorben.«

Schweigend leerte Helena ihren Teller, wischte ihn mit dem letzten Stückchen Brot sauber.

»Bist du satt?«, fragte Magda und kehrte die Federn zusammen.

Helena nickte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so satt gewesen war. Durstig schenkte sie den Becher voll und trank ihn mit großen Schlucken leer.

»Hilf mir mit dem Kessel, er muss vom Feuer, sonst brennt der Eintopf an.«

Magda zog den Kessel an der Kette ein Stück nach oben, und Helena nahm einen langen Eisenhaken, mit welchem sie den Kessel von der Feuerstelle bewegte. Langsam ließ Magda die Kette durch ihre Finger gleiten, bis der Kessel auf dem Boden aufsetzte.

»Gut gemacht. Weißt du, wie man ein Huhn ausnimmt?«

Helena war froh, dass ihre Mutter ihr das einst beigebracht hatte, als die Zeiten noch besser gewesen waren. Damals hatte es öfter Huhn gegeben. Doch dann war dieser heiße Sommer einem verregneten gefolgt, alles war auf den Feldern verdorrt, die ihr Vater mitbestellt hatte. Zwei schlechte Erntejahre hintereinander, und seither war es mit der Familie zusehends bergab gegangen. Kaum jemand brauchte einen Tagelöhner. Auch die Handwerker schufteten von früh bis spät und stellten nur selten jemanden ein, um Geld zu sparen, denn Brot war teuer geworden.

›Morgen wird es regnen, dann kommen wieder bessere Zeiten‹, war Wigberts täglicher Spruch gewesen. Doch geregnet hatte es nicht. Von der Kirche hatten sie Almosen erhalten, wofür sich Margret geschämt hatte. Aber ohne die milden Gaben, die auch nicht gerade üppig gewesen waren, wären sie nicht ausgekommen.

»Ja, das kann ich«, erwiderte Helena stolz.

»Gut, dann nimm die Hühner aus. Lebern, Herzen und Mägen legst du beiseite, ebenso die Hälse. Die braten wir später an. Wenn du fertig bist, schneidest du Zwiebeln und Mohrrüben. Die findest du in den Säcken in der Ecke dahinten.«

Helena arbeitete schnell und geschickt, wie Magda zufrieden feststellte, und wenig später brutzelten die Hühner auf einem langen Bratenspieß über dem Feuer. In einer tiefen Eisenpfanne schmorten die Innereien mit dem Gemüse. Magda gab noch ein paar getrocknete Kräuter, die in kleinen Sträußchen von der Decke hingen, hinzu. Ebenso eine Prise Salz und Pfefferkörner, ein gar kostbarer Schatz.

Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Magda entzündete mehrere Fackeln, die in den Wandhalterungen steckten. Zwei weitere Mägde fanden sich in der Küche ein, die ältere hieß Hildegard und die jüngere Ännlin. Helena schätzte sie auf achtzehn Jahre. Magda stellte Helena vor, um dann gleich ihre Anweisungen zu geben.

»Hildegard und ich bedienen die Herrschaften, Ännlin und du, Helena, ihr sorgt dafür, dass die Schüsseln gefüllt sind und nichts anbrennt.« Sie klatschte in die Hände, um ihren Anforderungen Nachdruck zu verleihen. Flugs begann Helena, zwei große Schalen mit den geschmorten Innereien zu füllen, während Ännlin Brot in Stücke brach und in einen Weidenkorb legte. Die älteren Mägde verschwanden durch die hintere Tür, jede zwei Krüge mit Bier und Wein in den Händen. Nach kurzer Zeit erschienen sie wieder, nahmen den Brotkorb und die dampfenden Schüsseln und ließen die Mädchen allein.

Verstohlen musterte Helena die junge Ännlin. Die dunkelbraunen Haare hatte sie zu zwei dicken Zöpfen geflochten, ihre üppige Gestalt verbarg sie unter einem braunen Kittel, ihre Füße steckten in knöchelhohen, warmen Stiefeln. Helena bemerkte eine kleine Wölbung, die sich unter dem Kittel der Magd abzeichnete. Das Mädchen war eindeutig schwanger. Ihr Gesicht zeigte einen hochnäsigen Ausdruck, als sie mit geübten Bewegungen die Bratspieße über dem Feuer drehte. Kein Wort wechselte sie mit Helena, und diese traute sich nicht, etwas zu sagen.

Magda und Hildegard kehrten zurück.

»Ännlin, sei so gut und hol Wein aus dem Keller. Mein Rücken schmerzt heute wieder mehr. Und nimm Helena mit«, ächzte Hildegard, während Magda das Drehen der Spieße übernahm. Die gebratenen Hühner rochen so lecker, dass Helena schon wieder Hunger verspürte. Aber davon würde wohl kaum etwas für die Mägde abfallen.

Wortlos drückte Ännlin Helena drei Steinkrüge in die Hand, nahm eine Fackel aus der Wandhalterung und verließ eiligen Schrittes die Küche, sodass Helena Mühe hatte hinterherzukommen. Das Mädchen lief über den Hof zu einem Nebengebäude, ließ die schwere Holztür aufschwingen und betrat die Diele.

Allerhand Werkzeuge waren hier verstaut: Pickel, Häpen, Karsten und Schaufeln. Bütten für die Trauben, wenn die Weinlese begann, standen säuberlich aneinandergereiht an der einen Wand. Den Großteil des Raumes nahmen aber zwei Keltern ein. Die gewaltigen Baumpressen mit ihren schweren Steinen an den Kelterbäumen forderten die Arbeitskräfte gleich mehrerer Knechte.

Im Fußboden war ein schwerer Eisenring eingelassen, den Ännlin packte und die Luke zum darunterliegenden Keller öffnete. Grob behauene Steinstufen führten hinunter, und Helena musste achtgeben, wie sie ihre Füße im flackernden Schein der Fackel setzte, um nicht zu stürzen. Am Ende der Treppe lag ein langer Gang, in dem rechts und links große Weinfässer lagerten.

»Da, das zweite Fass links. Füll die Krüge«, befahl Ännlin unwirsch.

Helena stellte die Gefäße auf den Boden, das dritte hielt sie mit der rechten Hand unter das Spundloch. Mit der Linken versuchte sie den Spund herauszuziehen, doch er saß zu fest.

»Bist du zu irgendwas nutze?«, bellte Ännlin, steckte die Fackel in eine Wandhalterung und stieß Helena beiseite, die beinahe den Krug fallen ließ. Ännlin riss ihr das Steinzeug aus der Hand, hielt es unter das Spundloch und zog mit einer leichten Drehung den Spund heraus. Tief dunkelroter Wein ergoss sich in den Krug. Als er fast gefüllt war, verschloss Ännlin das Loch und befüllte den zweiten.

»Los, versuch’s noch mal.«

Helena hatte beobachtet, wie die junge Magd den Spund gedreht hatte, und so gelang es auch ihr, den Wein in den letzten Krug fließen zu lassen.

»Gut, du bist also doch nicht so dumm, wie du aussiehst«, räumte Ännlin schroff ein.

Helena fasste sich ein Herz. »Warum bist du so gemein zu mir? Du kennst mich doch gar nicht.«

»Lass uns gehen, die Herrschaften warten«, war alles, was sie zur Antwort bekam.

Eilig liefen sie über den Hof, bemüht, nichts zu verschütten, und brachten den Wein in die Küche, wo Magda und Hildegard ihnen wortlos die Krüge abnahmen und verschwanden.

»Die Hühner sind fertig. Du hältst die Spieße, und ich schiebe die Hühner herunter«, wies Ännlin Helena an. »Nimm den großen Lappen, der vor dem Ofen liegt, du verbrennst dir sonst die Hände«, fügte sie hinzu, dieses Mal klang ihre Stimme nicht ganz so barsch.

Als die älteren Mägde wieder in die Küche kamen, hatten Helena und Ännlin die Hühner auf zwei Platten verteilt und weiteres Brot gebrochen.

»Halte die Spieße über das Feuer, damit sie wieder sauber werden«, erklärte Ännlin. »Wenn die Herrschaften fertig sind und hier alles aufgeräumt ist, können wir essen. Und jetzt hilf mir, den Kessel über das Feuer zu hängen.«

Helena nickte stumm und ging ihr zur Hand. Wenn Ännlin wüsste, dass Helena schon etwas von dem Eintopf bekommen hatte, würde sie ihr bestimmt keinen zweiten Teller füllen.

Nach dem späten Mahl, zu dem sich auch die Knechte gesellten, überfiel Helena eine bleierne Müdigkeit. Magda bemerkte, dass das Mädchen kaum noch am Tisch die Augen offen halten konnte.

»Komm, ich zeige dir, wo wir schlafen.«

Mit schweren Gliedern stemmte sich Helena hoch und folgte Magda aus der Küche über den Hof zum Gesindehaus, wo sich die voneinander getrennten Schlafräume der Knechte und Mägde befanden. Es gab einfache saubere Strohlager mit Schaffellen auf dem Boden und in einer Ecke eine Waschschüssel. Die Notdurft wurde draußen hinter dem Gesindehaus verrichtet.

»Du schläfst dort hinten.« Magda deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die letzte Schlafstatt. »Morgen früh bekommst du etwas zum Anziehen und ein paar Stiefel. Ich hoffe, sie passen. Deine Vorgängerin hatte etwa deine Größe.«

»Was ist mit ihr?«

»Sie ist vor einem Monat gestorben. Hat den ganzen Herbst durch gehustet, und immer wieder kam das Fieber zurück. Gott hab sie selig, die alte Gundel.«

Helena sank auf ihr Strohlager, zog sich ein Schaffell über die Schultern und fiel in einen tiefen Schlaf, kaum dass sie ihr Haupt gebettet hatte. Sie bekam nicht mehr mit, wie sich nur wenig später auch die Mägde und Knechte zur Ruhe begaben.

Es war noch dunkel, als Hildegard sie wachrüttelte.

»Steh auf, Mädchen, es gibt viel zu tun.«

Helena rieb sich den Schlaf aus den Augen, musste sich erst zurechtfinden, wo sie war. Dann rappelte sie sich hoch und ging in die Ecke zu der Waschschüssel. Das eiskalte Wasser, das sie sich ins Gesicht spritzte, machte sie wach. Außer Hildegard und ihr war keine der übrigen Mägde mehr da.

»Los, beeil dich«, drängte Hildegard. »Hier sind ein paar Sachen zum Anziehen.«

Dankbar zog Helena den warmen, weiten Kittel über ihr Kleid, schlüpfte in die Stiefel, die ein wenig zu groß waren, aber wenigstens nicht löchrig.

Zum Frühstück gab es eine Schale Milch, einen Kanten Brot und einen Teller Brei. Schnell schlangen die Leute ihr Essen hinunter und gingen dann daran, ihr Tagwerk zu verrichten. Brotbacken, das Vieh versorgen, Messer schleifen, Kleider waschen und flicken. Die Zeit bis Mittag flog nur so dahin, und Helena war froh über die kleine Pause und ein karges Mahl, zu dem Dünnbier getrunken wurde.

»Bald ist Mariä Lichtmess«, erzählte Hildegard, »deshalb werden wir jetzt jede Menge Kerzen machen, um sie in der Kirche weihen lassen zu können. Der Herr hat einen Hammel schlachten lassen, aus dem Talg werden die Kerzen gemacht. Du wirst mir dabei helfen, Helena.«

Bis zum Abend hatten sie eine stattliche Anzahl Kerzen gefertigt. Helena verabscheute den Geruch des ranzigen Fetts, der an ihr zu haften schien wie Pech, und sie fragte sich, wie sie den Gestank jemals wieder loswerden würde.

»Heute wirst du gemeinsam mit Ännlin den Herrschaften das Abendbrot auftragen. Verschütte nichts und rede nur, wenn du angesprochen wirst«, trug Magda ihr auf.

Zum ersten Mal betrat Helena die Wohnstube der Familie Wengerter. Ein riesengroßer Tisch, rechts und links je eine lange Holzbank, am Kopfende ein Stuhl, auf dem Cuntz Platz genommen hatte. Rechts von ihm saß seine Schwester Agnes, neben ihr die sechs Kinder ihrer verstorbenen Schwägerin, fünf Jungen und ein Mädchen. Der Winzer würde wohl eine ordentliche Mitgift für seine Tochter bezahlen müssen. Kathrein hatte hervorstehende Zähne, die stark an ein Kaninchen erinnerten, war stämmig und hatte langweiliges mausbraunes dünnes Haar. Ein weiteres Paar saß mit seinen drei Kindern auf der Bank gegenüber. Das musste Gottfried, Cuntz’ Bruder, mit seiner Familie sein, von dem Magda ihr erzählt hatte.

Der Kachelofen, der von der Küche aus befeuert wurde, erfüllte die Wohnstube mit angenehmer Wärme. An den Wänden fanden sich schmiedeeiserne Halter für die Kerzen, die die Stube in ein schummriges Licht tauchten. An der Seite, die zum Hof zeigte, gab es mehrere Fenster mit Butzenscheiben. Darunter stand eine gepolsterte schwere Truhe, an der Wand daneben eine große Anrichte, auf der Teller und Becher aus Zinn standen, die Ännlin und Helena nun auf dem Tisch verteilten.

Cuntz besprach mit Gottfried die anstehenden Arbeiten auf dem Weinberg, während Agnes und ihre Schwägerin Elsa die Kinder zur Ordnung mahnten. Helena stellte den Teller vor Cuntz hin und spürte sie im selben Augenblick dessen Hand an ihrem Oberschenkel. Hastig wich sie zur Seite. Als sie wenig später mit Ännlin die dampfenden Schüsseln mit Fleisch hereinbrachte, ließ sie die Magd den Teller des Hausherrn füllen.

»Helena, bring uns Wein«, rief Cuntz.

Er hat bemerkt, dass ich ihm ausgewichen bin, dachte Helena. Mit zitternder Hand schenkte sie Wein in die Becher und brachte diese zum Tisch.

Prompt hielt Cuntz sie am Handgelenk fest, als sie den Becher vor ihn hinstellte.

»Ein hübsches Mädchen ist sie, nicht wahr, Gottfried? Sieh nur ihre Haarfarbe, das ist etwas ganz Besonderes.«

»Wie gemacht für die Freuden der Männer, vor allem wenn sie untenrum auch so aussieht«, grunzte Gottfried zustimmend und stieß ein keckerndes Lachen aus, was ihm einen bösen Blick seiner Frau einbrachte.

Agnes schien sich am Verhalten ihres Bruders nicht zu stören. Cuntz ließ Helena los und gab ihr noch einen Klaps auf den Hintern. Eilig folgte sie Ännlin zurück in die Küche. Cuntz jagte ihr Angst ein.

»Das hast du dir ja fein ausgedacht«, zischte Ännlin sie an.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, antwortete Helena verwirrt.

»Tu nicht so, ich hab’s gleich gewusst, als du hier aufgetaucht bist. Machst dem Herrn schöne Augen. Aber ich sage dir, er teilt mit mir das Lager. Du wirst dich nicht dazwischendrängen.«

»Ich habe nicht die Absicht, mich dazwischenzudrängen, also lass mich in Frieden«, entgegnete Helena wütend, die begriffen hatte, warum die junge Magd sich ihr gegenüber so garstig zeigte, und drehte Ännlin den Rücken zu. Vermutlich bekam Ännlin Vergünstigungen für ihre Liebesdienste. Die warmen Stiefel sahen ziemlich neu aus.

An Mariä Lichtmess wurden die Kerzen zur Weihe in die Kirche von Neckargemünd gebracht. Helena blieb alleine in der Küche zurück, um große Hammelstücke über dem Feuer zu drehen, einen Bohneneintopf zu kochen und süßes Brot mit Mandeln und Äpfeln zu backen. Die Äpfel lagerten in Säcken im Nebengebäude, wo sich auch der Zugang zum Weinkeller befand. Helena nahm sich einen hölzernen Eimer für die Äpfel und lief über den Hof. Sie war gerade dabei, die Früchte aus einem Sack in den Eimer zu geben, als plötzlich ein Schatten durch die geöffnete Tür fiel. Helena sah auf. Cuntz stand da und betrachtete sie wie ein Händler ein junges Pferd. Eine Gänsehaut kroch über ihren Rücken, und ein eiserner Ring schien sich um ihre Brust zu legen.

Helena nahm den halb vollen Eimer, holte tief Luft und sagte mit fester Stimme: »Ich muss in die Küche, sonst brennt der Eintopf an.«

In dem Moment, als sie an ihm vorbeigehen wollte, hielt er sie fest, riss ihr den Eimer aus der Hand, die Äpfel kullerten über den gestampften Lehmboden. Ein leiser Aufschrei entfuhr ihr.

»Sei still!«, herrschte Cuntz sie an und griff schmerzhaft nach ihrer knospenden Brust. »Noch ein bisschen wenig, für meinen Geschmack, aber das wird schon noch«, raunte er ihr heiser und mit fauligem Atem zu, während er mit der anderen Hand an seiner Hose nestelte.

Angewidert drehte sie den Kopf zur Seite. »Herr, bitte nicht«, flehte Helena.

»Es wird dir gefallen, meine Hübsche.« Cuntz stieß sie plötzlich so heftig von sich, dass sie zu Boden fiel und mit dem Hinterkopf aufschlug. Für wenige Augenblicke war sie benommen. Mit einem Satz war er über ihr, presste mit den Knien ihre Arme auf den Boden und riss sich die Bruche vom Leib. Im nächsten Augenblick hatte er Helenas Kittel hochgeschoben, drückte ihr mit der linken Hand die Kehle zu und griff ihr mit seiner Rechten grob zwischen die Beine. Helena bekam fast keine Luft mehr, strampelte und wehrte sich verzweifelt gegen ihren übermächtigen Gegner.

Cuntz schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, sodass ihr Kopf zur Seite flog, aber wenigstens hatte er ihre Kehle freigegeben. Würgend schöpfte sie Atem. Wie ein Aal wand sie sich unter ihm, bemüht, ihren Körper auf die Seite zu drehen, um Cuntz zu entkommen. Ihr beharrlicher Widerstand schien ihn jedoch nur noch mehr anzustacheln. So hatte sich Cuntz anscheinend die Sache vorgestellt. Lange genug hatte er auf eine solche Gelegenheit gewartet.

Dieses Mal schlug er härter zu. Helena verlor beinahe die Besinnung, goldene Punkte tanzten vor ihren Augen. Cuntz zwängte ihre Beine mit seinen Knien auseinander, und im nächsten Augenblick zerriss ein unbeschreiblicher Schmerz ihren Unterleib, als er in sie eindrang. Immer heftiger wurden seine Stöße, keuchend mühte er sich, an etwas anderes zu denken, als an das, was er mit Helena noch vorhatte, bevor sein Körper ihm einen vorzeitigen Strich durch die Rechnung machte. Das wäre zu schade.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Cuntz endlich von ihr abließ. In aller Ruhe zog er sich an, klopfte den Staub von seinen Kleidern und setzte ein hämisches Grinsen auf.

»Vergiss die Äpfel nicht.«

Dann war er verschwunden. Leise begann Helena zu weinen. Vor Schmerzen, vor Demütigung, vor Verzweiflung. Stöhnend kam sie auf die Beine, zog ihr Kleid herunter und wischte sich schniefend die Tränen aus dem Gesicht.

Wie kann Ännlin daran nur Gefallen finden?, fragte sie sich erschüttert.

Als sie die verstreut herumliegenden Äpfel aufsammelte, spürte sie warmes Blut an sich herunterlaufen. Vorsichtig spähte sie durch die Tür, niemand war zu sehen. In der Nähe des Gebäudes war der Brunnen. Jeder Schritt dorthin bereitete ihr höllische Schmerzen. Sie stellte den Eimer mit den Äpfeln ab, ließ den Wassereimer an der Kette in den Schacht hinunter, wartete, bis er sich gefüllt hatte und zog ihn wieder nach oben. Sie raffte Kittel und Kleid zusammen und begann, sich mit dem eiskalten Wasser das Blut zwischen den Beinen abzuwaschen. Zuletzt kühlte sie ihre Wange. Der Schmerz ebbte langsam ab und senkte sich auf ein erträgliches Maß.

Zurück in der Küche war sie froh, alleine zu sein. Es roch leicht angebrannt. Schnell zog sie mit dem Haken den eisernen Topf zur Seite, verdünnte den Bohneneintopf mit zwei großen Krügen Wasser und rührte kräftig um. Die Hammelstücke schmorten über dem fast erloschenen Feuer, und Helena legte eilig Holz nach. Dann schnitt sie die Äpfel in grobe Scheiben, gab sie zu dem vorbereiteten süßen Teig, formte zwei große Laibe und schob sie in den Ofen. Während sie diese Arbeiten verrichtete, versuchte sie, das schreckliche Geschehen zu verdrängen. Doch die Angst, irgendwann erneut alleine auf Cuntz zu treffen, fraß sich wie ein Wurm in ihr Gehirn.

Sollte sie sich nachts davonstehlen? Aber wo sollte sie hin? Nach Hause? Nein, ihr Vater würde sie bestimmt zurückschicken. Wenn sie hierblieb, dann hätte sie wenigstens genug zu essen. Sie musste nur versuchen, Cuntz, so gut es ging, aus dem Weg zu gehen.

Als die Mägde und Knechte eintrudelten, ließ Helena sich nichts anmerken und hielt den Kopf gesenkt. Nur als Magda ihr auftrug, die Herrschaften mit ihr gemeinsam zu bedienen, wurde sie blass. Die alte Magd sah sie mit wissendem Blick an und nahm Helena beiseite.

»Du willst nicht in die Wohnstube, stimmt’s?«

Helena schluckte und nickte stumm.

Magda berührte sachte ihre Schulter, Bedauern lag in ihrer Stimme.

»Mädchen, ich weiß, warum du nicht dorthin willst«, raunte sie ihr leise zu. »Doch du kannst ihm nicht immer aus dem Weg gehen. Er wird es bemerken. Also, sei tapfer und komm mit. Je eher du es hinter dich bringst, desto besser.«

Helena biss die Zähne zusammen und half der alten Magd, die Herrschaften zu bedienen. Mit gesenktem Blick, um jeden Augenkontakt mit Cuntz zu vermeiden, stellte sie stumm die Teller auf den Tisch. Magda, die gute Seele, übernahm es, Cuntz’ Teller und Becher zu füllen.

Nach Mariä Lichtmess wurde das Deckmaterial, das zum Schutz der Weinreben vor dem Frost aufgebracht worden war, entfernt. Helena bekam Cuntz nur zu Gesicht, wenn sie das Abendbrot aufzutragen hatte, denn einer der Knechte lag mit Fieber nieder, und der Hausherr musste selbst im Weinberg mit Hand anlegen.

Die tägliche Arbeit lenkte Helena ab, nur nachts holten die Geschehnisse sie ein, Albträume plagten sie. Oft wachte sie schweißgebadet und mit rasendem Herzen auf, um erleichtert festzustellen, dass neben ihr nur Magda lag und leise schnarchte.

Der März näherte sich mit Riesenschritten, und die Arbeiten im Wingert wurden täglich mehr. Es wurde Zeit, die Weinstöcke zu beschneiden. Die Schösslinge des Vorjahres wurden entfernt und die Rebstöcke zurückgeschnitten. Helena und Ännlin folgten den Knechten, um die abgeschnittenen Wurzelschösslinge und das alte Rebholz aufzusammeln und zum Wohnhaus zu bringen. Auch Kathrein, Cuntz’ Tochter, musste mithelfen. Sie war ein mürrisches Kind und ließ sich Zeit mit dem Aufsammeln. In großen Bütten, die sie auf dem Rücken trugen, schleppten die Mädchen Ladung für Ladung vom Weinberg zu einem bereitstehenden Fuhrwerk. Wenn nichts mehr auf den Karren passte, brachte einer der Knechte die Fuhre mit der erlesenen Fracht zum Gut. Ännlin, die durch ihre Schwangerschaft immer schwerfälliger wurde, musste öfter stehen bleiben, um sich eine kurze Atempause zu gönnen.

»Kathrein, mach schneller, sonst werden wir nie fertig, ich kann bald nicht mehr«, meckerte Ännlin und griff sich mit der Hand in den Rücken, um ihn zu stützen.

»Du hast mir gar nichts zu sagen«, fauchte Kathrein zurück.

»Hör mal, Ännlin bekommt ein Kind, sie arbeitet schon schwer genug«, sprang Helena der Magd zur Seite. Seit Helena klargestellt hatte, nicht die Absicht zu haben, Ännlins Stelle in Cuntz’ Bett einzunehmen, kamen die Mädchen besser miteinander zurecht. »Siehst du nicht, dass es ihr nicht gut geht?«

»Und du erst recht nicht«, zischte Kathrein. »Wenn es euch nicht passt, sag ich meinem Vater, dass ihr mich die meiste Arbeit tun lasst. Dann wird er euch die Peitsche spüren lassen.«

Ännlin und Helena sahen sich an und verstanden sich auch ohne Worte. Kathrein war nicht nur faul, sondern auch gehässig. Es war besser, keinen weiteren Streit mit ihr vom Zaun zu brechen.

Die harte Arbeit und die drei täglichen Mahlzeiten ließen Helena kräftiger werden. Anfangs war sie todmüde und erschöpft nach dem Abendbrot am Küchentisch eingeschlafen und nicht mehr aufzuwecken gewesen. Josef, einer der Knechte, hatte sie manches Mal ins Nebengebäude getragen, ohne dass Helena davon irgendetwas mitbekommen hatte. Müde war sie zwar am Ende des langen Tages immer noch, aber sie spürte, wie sich ihr Körper an die schwere Arbeit gewöhnte und sich veränderte.

Nach dem Rebenschnitt folgte das Sticken. Jeder Weinstock wurde mit einem Pfahl versehen, den die Knechte mit der Häpe, einem sichelförmigen Haumesser, einschlugen. Die Aufgabe der Mädchen war es, die zu einem Kreis gebogenen Tragreben mit Strohbändern an den Pfahl zu binden.