Die erlösende Klinge - Adrian Tchaikovsky - E-Book

Die erlösende Klinge E-Book

Adrian Tchaikovsky

0,0

Beschreibung

Buch 1 der Shared-World-Serie "Nach dem Krieg". Vor zehn Jahren kehrte der Blutschlächter aus der Dunkelheit zurück. Seine brutalen Yorughan-Armeen überrannten alles und erstickten jeglichen Widerstand. Sie hinterließen nichts als verbrannte Erde und Verderbnis. Und dann wurde der Schlächter getötet. Celestaine - eine der Heldinnen, die ihn zur Strecke brachten - zieht nun durch das geschundene Land und bringt Licht in eine zerbrochene Welt, indem sie die schlimmsten Auswirkungen der kurzen Regentschaft des Blutschlächters beseitigt. Zusammen mit zwei Yorughan-Verbündeten stellt sie sich Fanatikern, Kriegsverbrechern und noch schlimmeren Lakaien. Doch ihre Allianz droht an Feindschaft und Gier zu zerbrechen, denn der Blutschlächter mag zwar tot sein, doch seinem Schatten kann man niemals entkommen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 577

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ins Deutsche übertragen von Kerstin Fricke

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright ©© 2018 Adrian Tchaikovsky

Cover art by Tomasz Jedruszek

Titel der Englischen Originalausgabe: »After the War – Book 1 – Redemption’s Blade« by Adrian Tchaikovsky, published 2018 by Solaris a n imprint of Rebellion Publishing Ltd., Oxford, UK.

Deutsche Ausgabe 2021 Panini Verlags GmbH, Schlossstr. 76, 70 176 Stuttgart.

Alle Rechte vorbehalten.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Kerstin Fricke

Lektorat: Uwe Raum-Deinzer

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDAFTER001E

ISBN 978-3-7367-9860-1

Gedruckte Ausgabe:

1. Auflage, September 2021, ISBN 978-3-8332-4098-0

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

Nach dem Krieg

Vor einer Dekade kehrte der schreckliche Halbgott, Blutschlächter genannt, aus seinem langen Exil in der Dunkelheit zurück und vernichtete zusammen mit seiner Monsterarmee alles, was sich ihnen in den Weg stellte.

Die Nationen der Welt sammelten sich, schlossen sich rasch zu Allianzen zusammen und vermochten so, den Feind zurückzuschlagen.

Eine kleine Heldengruppe unter der Führung des rätselhaften Wanderers brach in den Palast des Blutschlächters ein und tötete ihn.

Aber was geschieht, wenn die Kämpfe ausgefochten sind?

Wenn die alten Rivalitäten wieder aufbrechen, wenn sich all die Hungernden und Gebrochenen in ihrer Not gegen ihre Nachbarn wenden?

Dies ist die Geschichte all dieser Auswirkungen.

1

Die Schlacht von Bladno sollte ein Wendepunkt des Krieges sein. Endlich war die Armee der Großen Allianz vollständig vereint, was bedeutete, dass die benachbarten Reiche Cherivell und Forinth ihre Streitigkeiten eingestellt und sich gegen den Blutschlächter zusammengetan hatten, samt einer Handvoll Auswanderer und einer abtrünnigen Legion aus Tzarkand. Dem Blutschlächter war es seinerseits zu guter Letzt gelungen, den Drachen Vermarod den Unbezwingbaren zu voller Größe heranwachsen zu lassen, was ihn mit großer Freude erfüllte, denn er konnte es kaum erwarten, diese Bestie loszulassen. Bladno – einst eine wohlhabende Stadt, heute jedoch nur noch als Schlachtfeld bekannt – wurde von allen Seiten als entscheidend für den Ausgang des Krieges betrachtet.

Jenes Krieges, der danach noch weitere sechs Jahre tobte.

Aus der Sicht des Blutschlächters hatte die Große Allianz eine klare Niederlage erlitten, denn die Armeen aus Cherivell und Forinth waren jeder Möglichkeit beraubt worden, ihn davon abzuhalten, die Grenzen so leicht zu überwinden, wie es ihm gefiel. Aus der Sicht der freien Welt war Vermarod der Unbezwingbare auf beeindruckende Weise von Celestaine, der Streiterin von Forinth, bezwungen worden, und da der Dunkle einen großen Teil seiner Macht in den gewaltigen Drachen hatte einfließen lassen, musste er sich nun erst einmal zurücklehnen und Bilanz ziehen. Während der folgenden drei Monate hatte keine Seite gewusst, was sie tun sollte; es gab so wenige Kämpfe, dass es sich fast wie Frieden anfühlte.

Celestaine erinnerte sich. Alle hatten die Augen anvisiert, als sich das absonderliche Reptil den Weg über das Schlachtfeld bahnte und Soldaten beider Seiten zu Hunderten niedertrampelte. Vermarod war so gezüchtet worden, dass ihm Menschenfleisch mundete, und ihm standen Säure als Spucke und ein alles verdörrender Atem zur Verfügung, doch sobald der Kampf begonnen hatte, stolperte die Bestie erst einmal wild hin und her und brachte über Freund wie Feind Verderben. »Die Augen, die Augen!«, hatten die Generäle geschrien, und unzählige Bogenschützen, die zum Schuss ansetzten, hatten unter der ätzenden Gischt aus dem pfeifenden Atem des Monsters ihr Ende gefunden. Dann war Celestaine eines der Beine hinaufgeklettert – aus Gründen, die nur er selbst kannte, hatte der Blutschlächter das Wesen wie eine Eidechse mit kurzen Beinen versehen – und hochgerannt, bis sie auf dem Kopf wie auf einem Plateau stand. Dort hatte sie ihr Schwert bis zur Parierstange in den Schädel des Monsters gestoßen und dessen Amoklauf ein für alle Mal beendet. Einer der Vorteile, wenn einem ein Wächter ein Schwert übereignet, das alles durchschneiden kann, ist nun mal, dass es tatsächlich alles durchschneiden wird, einschließlich Drachenknochen.

Sie hatte den ganzen Weg zurück nach Bladno Ich erinnere mich vor sich hingemurmelt, aber als sie in Sichtweite des Ortes gelangte, musste sie sich an rein gar nichts erinnern, weil Vermarod noch immer dort lag. Die Knochen der gewaltigen Kriegsbestie des Blutschlächters ragten in der Landschaft auf, ihr Rückgrat bildete einen gewaltigen Halbkreis, und ihre Rippen bohrten sich wie geschwungene Türme in den Himmel. Es befand sich keine Haut mehr daran, was sie aus persönlichen Gründen bedauerte, aber zweifellos hatte sie sich jemand anders als Andenken gesichert. Letzten Endes konnte man mit diesem Zeug unmöglich etwas nähen, es war flammensicher und vor Verwesung gefeit – also was sollte irgendjemand überhaupt damit anstellen?

Denn es hielten sich Leute in Bladno auf. Sogar ziemlich viele. Alle verbliebenen Armeen der freien Welt waren hierhergekommen, als sich das Blatt gewendet hatte, und der Blutschlächter war ihnen vor den Toren von Nydarrow, seiner größten Festung, zur letzten Schlacht entgegengetreten. Die meisten Überlebenden waren auf dem Rückweg hier vorbeimarschiert und hängen geblieben. Viele hatten kein Heim mehr, in das sie zurückkehren konnten, und kein Ziel, da ihre Aufgabe vollbracht war. Celestaine wusste, wie gewaltig der Tross einer Armee anwachsen konnte, und diese neue Bevölkerung von Bladno sah aus wie der Tross der Götter selbst mit ihren eintausend Zelten, einhundert schiefen, neben den Knochen erbauten Hütten und einigen wenigen richtigen Gebäuden, die sich bereits aus dem menschlichen Trümmerhaufen herausgebildet hatten. Sie sah einen Schmied und den großen, überdachten Platz eines Markts im Oerni-Stil, während sich ein bekannter Wirt mit Hang zur Pracht in Vermarods Schädel ausgebreitet und diesen mit Flaggen und Bannern verziert hatte. Unverhofft empfand Celestaine ein wenig Mitleid mit dem erschlagenen Drachen. Wenigstens sieht es so aus, als würde er es sich nun endlich gut gehen lassen.

»Habt ihr ihn je zu Lebzeiten gesehen?«, fragte sie ihre Begleiter, die über ihre Schulter spähten.

Nedlam verneinte und wirkte auch nicht interessiert. Heno zupfte an seinem silbernen Bart. »Diesen hier nicht, aber einige der Kleineren.« Seine tiefe, polternde Stimme rief ein Summen unter Celestaines Brustbein hervor, und sie zuckte mit den Schultern. »Ist dein Mann hier, diese armselige Kreatur?«

»Nenn ihn nicht so«, fauchte sie ihn sofort an und hörte das ungehaltene Zischen seines Atems. Heno hatte seine Probleme mit Empathie. Sie hatte verzweifelt versucht, ihm beizubringen, was Mitgefühl bedeutete, und darauf gehofft, er könnte diese Fähigkeit doch noch erlernen. Tatsächlich hatte sie sogar mit der Welt darum gewettet. »Aber ja, er ist hier. Es gibt eine Gemeinde seiner Leute auf der Forinth-Seite der Grenze. Dies ist die größte Siedlung in weitem Umkreis. Heutzutage findet jeder den Weg nach Bladno, und sobald man in Bladno ist, kommt man auch zum Schädelkrug.«

Nedlam, die den Namen bisher noch nicht gehört hatte, fand ihn sehr erheiternd, offenbar schien er in etwa ihrem Niveau zu entsprechen. Seufzend zügelte Celestaine ihr Pferd und brachte es dazu, sich etwas zu drehen, damit sie ihre Freunde ansehen konnte.

Freunde? Würde ich sie in einer Unterhaltung als solche bezeichnen? Wie denn sonst? Ich weiß es nicht. Menschen, die ich nicht guten Gewissens loswerden kann?

Den Barden zufolge war Celestaine eine »silberne Schönheit«: milchfarbene Haut, blaue Augen, so helles Haar, dass es beinahe weiß erschien. Dabei hatten die Barden, jedenfalls der Großteil davon, sie nie ohne Rüstung gesehen, auch wenn von den unvorsichtigeren Minnesängern durchaus eindeutige Angebote gekommen waren. Aber ja, sie war blass und schön, wenngleich mit kurz geschnittenem Haar, damit es unter den Helm passte, das nun zu einer schiefen und krummen Frisur nachgewachsen war und ihr in die Augen fiel. Sie neigte dazu, eine verächtliche Miene aufzusetzen und die Augen zusammenzukneifen, wenn sich auf ihrem langen Gesicht gerade keine andere Emotion widerspiegelte, was manche Männer als Herausforderung ansahen. Ihrer Erfahrung nach waren das jedoch stets die langweiligsten, was wirklich schade war. Groß war sie in der Tat, mit langen Gliedmaßen und breiten Schultern, und an ihrer Haltung und der Art, wie sie auf dem Pferd saß, stammte einiges noch aus dem Krieg. Auf der Straße hatte eine recht große Bande von Briganten sie und ihre Gefährten aus dem Unterholz angefallen, nur um es sich augenblicklich anders zu überlegen und friedlich ihres Weges zu ziehen. Einer hatte sogar eine Entschuldigung gemurmelt. Aber das hatte womöglich gar nicht an ihr gelegen, sondern an den anderen.

So nah an Bladno hatten sie sich verhüllt. Sobald sie wie erwartet der ersten Blicke anderer Reisender gewahr wurden, hatten die zwei ihre Umhänge angelegt und die Schals hochgezogen, bis nur noch ihre kleinen, feindselig blickenden Augen in dem schmalen Streifen blaugrauer Haut zwischen Nase und Brauen zu erkennen waren. Das war keine Verkleidung, denn das, was sie waren, ließ sich nicht verbergen.

»Du machst es schon wieder«, merkte Nedlam an und tippte sich an den mit der Kapuze verhüllten Kopf. »Du denkst nach. Daraus entsteht nie etwas Gutes.«

»Jemand muss es ja tun«, erwiderte Celestaine. »Es wäre besser, wir verlassen die Straße und schmieden einen Plan.«

»Pläne, Pläne, Pläne.« Nedlam zuckte mit den Achseln. »Du willst Feuer machen? Dann besorge ich ein paar Bäume.«

»Holz«, korrigierte Celestaine sie. »Wir schlagen, sobald wir außer Sicht sind, ein Lager auf und warten, bis es dunkel geworden ist. Dann gehe ich weiter und sondiere die Lage. In Bladno wird es von Veteranen nur so wimmeln. Wer weiß, wie sie auf zwei Y… wie euch reagieren.«

Nedlam zog los, um Holz zu suchen. Celestaine zuckte zusammen, als Heno spöttisch murmelte: »Yoggs.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

Er kicherte unheilvoll. »Celest, von allen je geschaffenen Monstern musst gerade du mir nichts über die Macht alter Gewohnheiten erzählen.«

* * *

Sie wusste, dass sie nicht lange bleiben würde. Es wäre am besten, reinzugehen und wieder zu verschwinden, bevor Nedlam langweilig wurde und sie sich auf die Suche nach ihr machte. Sind sie nicht angeblich gut darin, zu tun, was man ihnen sagt? Aber sie verallgemeinerte natürlich. Dabei versuchte sie ständig, es zu vermeiden; doch sie tat es immer wieder. So wie alle. Wahrscheinlich war es nie Nedlams oder Henos Stärke gewesen, Befehle zu befolgen, selbst damals nicht.

Die Straße nach Bladno – oder jedenfalls die Straße hinein in das Gebilde der ausgebreiteten Überreste von Vermarod dem Unbezwingbaren – war ruhig, als sie aufbrach. Neuerdings reiste kaum noch jemand nachts, nicht mit all den Erinnerungen an das, was die Dunkelheit heraufbeschwören konnte. Sie schritt unter einem Torbogen hindurch, der einst der Beckenknochen des Drachen gewesen war und nun halb im Boden vergraben dalag. Mehrere in ein Lederwams gekleidete Querulanten beobachteten sie und waren möglicherweise von jemandem, der die Autorität über die Lagerstätte beanspruchte, zu diesem Zweck abgestellt worden, oder sie glotzten schlichtweg aus Neugierde. Von dort aus trottete ihr zunehmend schlechter gelauntes Ross den gewundenen Pfad zum Schädelkrug hinauf, wobei sie von den Geräuschen und Gerüchen der Menschen und ihrer Verbündeten umgeben waren, die ihr Bestes taten, um den Krieg zu vergessen. Ihre Ohren verrieten ihr, dass es wenigstens ein Dutzend improvisierte Schenken und ebenso viele Bordelle geben musste, in denen ein raues, lautstarkes Treiben herrschte und mindestens ein Kartenspieler wegen einer verdächtigen Glückssträhne den Tod fand. Letzteres bewirkte, dass sie an den Zügeln zog, sobald sie die Rufe und Schreie vernahm. Dieser alte Tyrann namens Pflichtgefühl wallte in ihr auf, aber sie sagte sich: Du kannst nicht jeden retten. Und jeder, der in Bladno spielte – und dabei auch noch betrog –, war vermutlich sehenden Auges in sein Verderben gelaufen. Auf einem Schlachtfeld gibt es keine Unschuldigen, weißt du noch? Und hinterher kehren auch keine Unschuldigen heim.

Vermarods großer Schädel war eigentlich gar nicht groß genug, um einer ganzen Taverne Platz zu bieten, doch der geschäftstüchtige Wirt hatte unter dem Kiefer ein Loch ausgehoben, sodass das knöcherne Gebilde ein Dach über einem halb unterirdischen Schankraum bildete, unter dem es sogar noch tiefere Keller gab. Bei diesem Anblick zuckte sie zusammen, denn der Mann, den sie hier treffen wollte, hatte unschöne Erinnerungen an geschlossene Räume, was sie vorher hätte bedenken sollen. Was mache ich, wenn er das Weite sucht? Oder wenn er es als Beleidigung auffasst? Die Aethani waren einst sehr stolz gewesen, sagte man. Jedenfalls bevor der Blutschlächter sie erniedrigt hatte. Und dieser eine war wahrscheinlich der Stolzeste von allen gewesen.

Aber sie hatte die Botschaft abgeschickt. Sie konnte jetzt kaum in die Vergangenheit reisen, um daran ein paar Kleinigkeiten zu ändern. Warum gehen wir nicht stattdessen auf irgendeinem Dach etwas trinken? Schön an der frischen Luft, um dich an all das zu erinnern, was du verloren hast.

»Wollt Ihr Euer Pferd im Stall unterbringen, Herr?« Ein Junge stand plötzlich neben ihr, und sie zuckte zusammen. Ihre Kampfreflexe setzten sofort ein, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht gegen seinen sich in passender Höhe befindenden Kopf zu treten. Sie bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick, da Stalljungen und junge Pferdediebe einander bei schlechten Lichtverhältnissen erstaunlich ähnlich sahen und beide in der Nähe von Ställen herumlungerten. Letzten Endes war sie es jedoch leid, dass jeder sie nervös machte.

»Füttere und striegele ihn.« Sie gab dem Jungen eine Münze, die ihm beinahe durch die Finger rutschte, als er sie entgeistert anstarrte. »Was ist?«

»Verzeiht mir, große Dame.« Er ging tatsächlich auf die Knie. »Ich habe Euch nicht erkannt.«

»Ich will auch gar nicht erkannt werden.« Sie schlug seine Hand weg, als er ihr die Münze zurückgeben wollte. »Kümmere dich bitte einfach um das Pferd.«

»Ihr seid Celestaine die Schöne«, stieß er mühsam hervor.

»Ich bin Celestaine die was?«, spie sie förmlich aus, denn das war mal etwas Neues.

»Ich habe Euch bei Eurem Aufbruch gesehen«, hauchte er ehrerbietig.

»Du warst wohl kaum bei der Armee.«

»Ich gehörte zum Tross!« Er sah tief bestürzt aus, weil sie an ihm zweifelte. »Ihr seid die Schlächterin!«

»Ich … habe nur geholfen. Es gab viele von uns.« Die Schlächter. Denn »Blutschlächter-Schlächter« hörte sich bescheuert an. »Einige von uns sind nicht zurückgekehrt. Erinnere dich an sie, nicht an mich.« Aber seine Augen waren so weit aufgerissen wie die einer Eule, und sie wusste, dass sie ihm das glorreiche Bild, das er von ihr im Kopf hatte, nicht mehr ausreden konnte. »Kümmere dich einfach … um das Pferd und sorg für es, ja? Tust du das für mich?«

Bei der Art, wie er nickte, wäre sie nicht überrascht gewesen, wenn sie ihr Pferd bei ihrer Rückkehr in Gold getaucht vorgefunden hätte oder etwas in der Art. Und ich dachte, es würde Aufsehen erregen, wenn ich die anderen beiden mitnehme. Sie hätte für eine angemessen unheilvolle Kutte töten können, aber ihr Umhang war dieses einzigartige Forinthi-Gewand, das über eine Schulter geschlungen und an der Taille wie eine Schärpe getragen wurde, noch dazu in dunklem Burgunderrot gefärbt, das vage an ihre Familienfarben erinnerte. Eine Kapuze gehörte nicht dazu, da ihresgleichen bei Regen meist breitkrempige Hüte trug, doch dieses Accessoire hatte sie unerklärlicherweise verlegt. Sie wappnete sich, duckte sich unter Vermarods bloßen Kiefergelenken hindurch und betrat den Schädelkrug.

Ein Musikant stimmte in dem Augenblick ein Lied an, in dem sie durch die Tür kam, und obwohl neuerdings alle nur noch erhebende Lieder über gewonnene Schlachten und besiegte Gegner sangen, trällerte er eine alte Forinthi-Ballade über die Heimat. Komm mit mir, komm mit mir, Liebe meines Herzens. Sie verharrte reglos und hatte das Gefühl, als wäre ihr auf einmal ein Stück der Vergangenheit wie aus dem Hinterhalt in den Leib gerammt worden. Ihr fiel wieder ein, wie Ralas das Lied vor Jahren im Krieg gesungen hatte, als alle nur zu gern an Heim und Herd erinnert werden wollten. Ralas hatte sämtliche Heimatlieder gekannt, all die halb geheimen, halb vergessenen Lieder aus der Kindheit, die einem Kraft schenkten und die Art von Tränen heraufbeschworen, die heilen konnten. Er konnte die Vögel aus den Bäumen locken und das Herbstlaub wieder auf die Äste zurückkehren lassen, ja, so war Ralas. Sie hatte noch nie einen Sänger wie ihn erlebt.

Tot war er jetzt, schon seit drei Jahren. Der Gedanke schnürte ihr Herz und Kehle zu. Gestorben in einer Folterkammer, nachdem der Blutschlächter eines seiner Spottlieder vernommen und geschworen hatte, ihn richtig singen zu lassen.

Dann bemerkte der Minnesänger sie, wie sie als ihr eigener Geist in der Tür stand, und die alte Forinthi-Ballade verklang und ging in »Die Klinge vom Trauerschloss« über, das ganz oben auf der beachtlichen Liste der Lieder, in denen ich erwähnt werde und die ich nicht ausstehen kann stand, und schon drehten sich alle zu ihr um.

Am liebsten wäre sie auf der Stelle wieder gegangen, aber sie hatte Amkulyah gebeten, sich dort mit ihr zu treffen, ohne sich etwas dabei zu denken, und abermals machte sich dieser Tyrann namens Pflichtgefühl bemerkbar. Also ging sie weiter und versuchte, nicht zu finster dreinzublicken und die Gäste nicht mit ihrem Schwert zu schlagen, denn die Scheide war inzwischen arg abgenutzt, und sie wollte ja nicht versehentlich jemanden verstümmeln.

Dieser Gedanke und der darauf folgende – dass sie vielleicht eine neue Scheide für das verdammte Ding besorgen sollte, wo sie schon einmal hier war – beschäftigten sie, bis sie unter der beinernen Kuppel stand, die einst Vermarods Hirnschale gewesen war, sodass sie die angebotenen Getränke und Glückwünsche von allen Seiten ignorieren konnte, und dann hatte sie ihren Mann auch schon entdeckt. Der Schädelkrug war voll, doch er saß an einem Balkontisch und hatte beachtlich viel Platz um sich herum. Bei seinem Anblick drehte sich ihr der Magen um. Sie hatte geglaubt, er hätte sich wie Nedlam und Heno verhüllt – wenngleich nicht aus denselben Gründen. Stattdessen trug er seine Verletzungen wie Banner zur Schau. Seine riesigen runden Augen, die wie bei jedem Aethani das Gesicht beherrschten, waren auf sie gerichtet.

Sie erklomm die wackligen Stufen und achtete darauf, die Augen nicht von ihm abzuwenden, obwohl sie der Anblick schmerzte. Aber darum ging es ja auch. Das war ein Fehler, den sie wiedergutmachen musste. Hier musste Celestaine jemandem helfen, statt sich zu nehmen, was sie wollte, oder sich sinnlos zu betrinken, wie es jeder andere große Kriegsheld zu tun schien.

Es gab im Norden noch andere Geflügelte, so hatte sie gehört, die Schatten auf das Eis warfen, aber bei Flügeln dachten die meisten an Aethani. Ihr Königreich lag westlich von Forinth, wo das Land nach und nach in die Berge überging. Sie war einmal in ihrer Jugend dort gewesen; Ränke ihrer Mutter, die jedoch nicht aufgegangen waren. In ihrer Erinnerung gab es dort jede Menge Bäume, über denen die Aethani ihre Gebäude errichtet hatten – für jeden Fremden ohne Leiter unmöglich zu erreichen. Sie wusste noch, wie die Einheimischen über ihrem Kopf hin und her gehuscht oder in der Luft geschwebt waren, was mühelos und elegant ausgesehen hatte. Der Angriff des Blutschlächters auf Aethan, seine blitzschnelle Zerstörung ihrer Städte und Tempel, hatte ein Feuer in ihr entfacht und sie dazu gebracht, sich mit den Clananführern und dem Rat der Königin anzulegen, damit Forinth zu den Waffen griff und kämpfte.

Aethan war nicht länger grün, hieß es, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was der Blutschlächter dem Volk angetan hatte.

Es gab viele Taten des Blutschlächters, die lediglich der Grausamkeit zuliebe grausam gewesen waren. Er hatte Freude an der Folter empfunden, sowohl der des Körpers mit Peitschen, Klingen und heißen Eisen als auch der des Geistes. Die Leute sprachen nach wie vor vom Hatheltal, das möglicherweise für immer brennen würde, unzerstört und doch von den Flammen verzehrt. Ein Clan von Draedyn-Waldgeistern war an diese Bäume gebunden, und wenn man sich Hathel näherte, konnte man sie schreien hören, als wären sie ob des nie enden wollenden Schmerzes dem Wahnsinn verfallen. Zudem gab es da noch die Vathesk, die großen Krebsmonster, die der Blutschlächter aus irgendeiner anderen Welt herbeibeschworen hatte, um sie als selbstmörderische Stoßtruppen einzusetzen. Unzählige dieser ebenso großen wie traurigen Kreaturen waren aus dem Krieg zurückgeblieben und verspürten nun, da ihre Ketten zerbrochen waren, keinerlei Bosheit mehr. Doch es gab in dieser Welt nichts, was sie essen konnten, und niemanden, der sie zurückbringen konnte, und so verhungerten sie tagein, tagaus, ohne je sterben zu können.

So viel Ungerechtigkeit und so wenig Zeit. Und bei all diesen Schrecken hatte sich Celestaine ihrer Kindheitserinnerungen wegen den Aethani zugewandt und gesagt: Hier ist wahrhaft Schlimmes geschehen, und ich werde es in Ordnung bringen.

Wenn die Menschen die Aethani in Büchern oder auf Wandteppichen darstellten, bildeten sie diese mit großen, gefiederten Flügeln ab wie Vögel, weil die meisten beim Fliegen nun mal an Vögel dachten. Amkulyah aber war ein sehr gutes Beispiel dafür, inwiefern sich die Aethani von Vögeln unterschieden. Wie er so dasaß und sie beobachtete, wirkte er in sich zusammengesunken, und seine schmalen menschenähnlichen Schultern lagen im Schatten der anderen beiden Gliedmaßenpaare, die er hinter sich zusammengelegt hatte, sowie der beachtlichen Muskeln, die er zum Fliegen benötigte. Sie erinnerte sich von ihrem lange zurückliegenden Besuch her an die vier durchscheinenden flügelartigen Gliedmaßen, die ausgebreitet locker die Seiten des Schädelkrugs berührt hätten und mit den Mustern des Clans, der Abstammung und der persönlichen Geschichte verziert waren. Aber es bestand keinerlei Gefahr, dass Amkulyah die Flügel ausbreitete und die Getränke der anderen Gäste verschüttete. Die Gliedmaßen waren zwar noch da und ragten wie Insektenbeine aus seinem Rücken, noch immer in diesen langsam verkümmernden Muskel eingebettet. Doch sie endeten in knorrigen Stümpfen, von denen die letzten langen Gelenke abgehackt worden waren, und die zarten Flügel hatte man dicht am Knochen abgetrennt. Diese schiefen Stümpfe zuckten, zitterten und schienen nach dem Himmel greifen zu wollen, der ihnen genommen worden war.

Amkulyahs Gesicht wirkte ausgezehrt, die Haut spannte sich über den feinen Schädelknochen. Alles an ihm war schlank und fragil – jedoch nur scheinbar, denn unter der Oberfläche lauerte eine beachtliche Kraft, die er einst für die Anstrengungen des Fliegens gebraucht hatte. Seine Augen waren riesig, die Nase und der schmale Mund wirkten dagegen fast wie Anhängsel, und eine Tätowierung auf seinem Kinn, die an einen Daumenabdruck erinnerte, schien den Bart zu ersetzen, der ihm nicht wachsen wollte. Er trug ein Gewand, das den Rücken frei ließ, am Hals gebunden wurde und locker herunterfiel. Nur der Lederreif mit der goldenen Scheibe an seiner Stirn ließ erkennen, dass es sich bei ihm nicht nur um einen weiteren Aethani-Flüchtling handelte.

»Eure Hoheit«, begann Celestaine, aber er winkte bei der Nennung seines Titels ab und starrte sie an.

»Ihr hattet recht. Wir mussten uns unbedingt hier treffen, um nicht unnötig aufzufallen.« Sein ausdrucksloser Blick wanderte durch den Schankraum. Die Hälfte der Gäste starrte sie weiterhin an, ebenso wie der eifrig trällernde Musikant.

Einige wenige Aethani waren begeistert, als die Armeen des Blutschlächters an der Grenze auftauchten, doch da hatte der Krieg auch eben erst begonnen. Zu diesem Zeitpunkt wusste keiner, wer der Blutschlächter war, und Aethan war wohlhabend und konnte auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblicken. Die geflügelten Kreaturen wurden von all dem belastet, was sie nicht zurücklassen wollten. Wahrscheinlich sagten sie sich, dass es so schlimm nicht sein würde, wie es so viele andere auch taten. Sie waren zum Blutschlächter gegangen, und er hatte sie in Ketten gelegt und jedem Einzelnen von ihnen die Flügel abgeschnitten. Danach hatte er die gesamte Nation, sämtliche Männer, Frauen und Kinder, aus ihren wunderschönen erhabenenStädten evakuiert. Er brannte alles nieder, was sie jemals gebaut oder geschaffen hatten, und er steckte sie – ein Volk des Himmels, das sich vor beengten Räumen fürchtete – in die Dorhambri-Mine. Die Aethani existierten noch immer, jedenfalls jene, die die Jahre der Klaustrophobie und der Knochenarbeit überlebt hatten, allerdings nur in Lagern. Sie hatten nicht nur ihre Kultur, sondern auch den Himmel verloren.

Celestaine hatte einen sehr gelehrten Mann sagen hören, die Invasion des Blutschlächters wäre dadurch, dass er die Aethani als versklavte Minenarbeiter einsetzte, um sechs Monate zurückgeworfen worden, weil sie dafür so schlecht geeignet waren. All dies hatte schließlich dazu geführt, dass Celestaine diesen Weg eingeschlagen hatte, um irgendwie wiederherzustellen, was ihnen genommen worden war. Die Geißelung von Aethan war nicht aus Machtgier oder Pragmatismus, sondern aus reiner Bosheit geschehen.

Nun erwiderte sie Amkulyahs skeptischen Blick, während sie die ihnen gewidmete Aufmerksamkeit ignorierte. »Ich habe Euch meine Hilfe versprochen und werde sie Euch gewähren. Was getan werden kann, werde ich tun, Eure Hoheit.«

Irgendwo in seinen riesigen runden Augen zuckte etwas. Hoheit wovon eigentlich genau? Ihr entging jedoch nicht, wie wenig ihn die Worte »Was getan werden kann …« beeindruckten. Trotzdem ist er hier. Er ist gekommen. Ihr nächster Satz blieb unvollständig, da von unten ein Johlen heraufdrang, das sie als den üblichen Lärm einstufte, den ein solcher Ort wie dieses neue Bladno hervorbringen musste. Doch einen Augenblick später folgte ein schrilles Gejaule, woraufhin alle aufsprangen und die meisten ihre Waffen zogen. Amkulyah zuckte mit den vernarbten Fluggliedmaßen, als wäre ihm eine sterbende Spinne in den Rücken eingesetzt worden. Jeder kannte diesen Ruf, die Schlachthymne der gefürchtetsten Vorhut des Blutschlächters. Einen Moment lang herrschte abermals Krieg, und sie verloren ihn noch immer.

Allerdings wusste Celestaine nur zu genau, was dort vor sich gehen dürfte, deshalb rannte sie bereits die Stufen hinunter und stieß die Gaffer mit den Ellbogen aus dem Weg. Sie hatte zu lange gebraucht, und ihren Weggefährten war langweilig geworden.

2

Nedlam und Heno standen auf den schmutzigen Straßen des Bladno-Lagers unter Vermarods Rippenbogen. Sie hatten die Kapuzen und Schals abgenommen, da sie ihre wahre Natur ohnehin nicht mehr zu verbergen vermochten. Schon jetzt versammelte sich eine Menschenmenge um sie, bewaffnet mit Schwertern, Keulen, Speeren und Bögen. Keiner der beiden wirkte eingeschüchtert. Nedlam freute sich vielmehr, was man ihr deutlich ansehen konnte. Celestaine näherte sich bereits brüllend und hoffte, ihr Ruhm allein würde ausreichen, um den Abschuss der Pfeile zu verhindern. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge, und als man sie erkannte, ließ man sie passieren und schien zu erwarten, sie würde auch diese neue Bedrohung beseitigen. Während sie aus der Menge stolperte, riss Heno eine Hand in die Luft und beschwor einen Ball aus kaltem weißem Feuer. Die Leute wichen zurück, sodass Celestaine den beiden nun allein gegenüberstand – denn sie wussten alle, was dieses Feuer anrichten konnte, wenn es erst einmal brannte.

Eine Sekunde lang sah sie die zwei mit denselben Augen wie alle anderen, denn sie hatte zehn lange Jahre im Krieg gekämpft und den Großteil dieser Zeit in solche Gesichter wie diese beiden geblickt.

Sie waren Yorughan, und zwar alle beide. Der Blutschlächter hatte zahllose Schergen, ganze verkommene Völker, die er unter der Erde schuf, während er seine baldige Rache plante. Jeder Soldat der freien Welt kannte diese Kreaturen: die unheimlichen und gerissenen, die cleveren Fallensteller, die großen Monster. Aber die Yorughan waren die, vor denen man sich fürchten musste, die Eliten auf dem Schlachtfeld, stärker noch als die Oerni oder der Frostklauen-Clan und darüber hinaus auch noch ebenso entschlossen und einfallsreich wie die Menschen. Sie waren es, die die Linien durchbrachen, die Mauern einnahmen, diese unaufhaltsamen Krieger und Kampfmagier, und nun standen zwei dieser Wesen hier vor ihnen, als hätten sie alle Armeen des Blutschlächters in ihrem Rücken.

Es fiel ihr nicht leicht, das Richtige zu tun. Der Hass jedes weiteren Menschen, Oerni und aller anderen hing schwer in der Luft, ihre Hand lag auf dem Schwertgriff, und sie hätte den Weg des geringsten Widerstands einschlagen können. Doch es gab eines, das Celestaine niemals tat: Sie machte es sich nie leicht.

»Sie gehören mir!«, brüllte sie in das erwartungsvolle Schweigen – dem sie entnahm, dass von ihr nichts weiter als heldenhaftes Abschlachten erwartet wurde. Weil ihr die Doppeldeutigkeit missfiel und sie in Bezug auf sich selbst überaus pedantisch war, fügte sie hinzu: »Zu mir. Sie gehören zu mir.« Sie holte tief Luft und sammelte sich kurz. »Sie sind zusammen mit mir hergekommen. Sie sind keine Feinde. Der Krieg ist vorbei.«

Sie sah den Umstehenden ins Gesicht. Keiner glaubte, dass der Krieg wirklich vorbei war, nicht in der Hitze des Augenblicks, wo ihnen zwei Yorughan gegenüberstanden. Als sie ihre Weggefährten musterte, konnte Celestaine erkennen, wo das Problem lag.

Es fiel ihr schwer, einen der beiden anzusehen, ohne an ihre erste Begegnung zu denken. Damals hatte sie sich zusammen mit den anderen – all den Schlächtern, die nun in so vielen Liedern besungen wurden – auf der letzten verzweifelten Mission befunden. Die Armeen der freien Welt hatten vor den Mauern von Nydarrow gestanden und waren wie die Fliegen gefallen, um die Aufmerksamkeit des Blutschlächters zu fesseln, denn er liebte nichts mehr, als mit anzusehen, wie die sterblichen Völker durch seine Horden umkamen. Sie hatten gekämpft und waren gestorben, wobei das Sterben gegenüber dem Kämpfen überhandnahm, und sie und ihre Gefährten waren in die Mauern seiner Festung eingedrungen, um an ihn heranzukommen. Es hatte einen Halbgott gebraucht, damit sie überhaupt dorthin gelangen konnten, und es hatte ihr ganzes Glück aufgebraucht: Celestaine und Lathenry waren von den anderen abgeschnitten und gefangen genommen worden, und das schien ihr Ende zu sein.

Doch als man sie in Fesseln legte, damit sich der Blutschlächter an ihnen ergötzen konnte, kamen zwei monströse Gestalten herein. Sie hatte die beiden zuerst für ihre Folterknechte gehalten, aber dann hatten sie sich wie ganz vernünftige Leute unterhalten. Jedenfalls hatte Heno das getan, während Nedlam vor allem viel Platz beanspruchte und in ihren Zähnen herumstocherte.

Sie sahen nicht wie vernünftige Wesen aus. In der Folterkammer hatten sie wie die grausamsten Monster gewirkt, die Celestaine je gesehen hatte – und sie hatte immerhin Vermarod den Unbezwingbaren besiegt. Ihre Gesichter waren mit Menschenblut beschmiert; Heno hatte sich damit zarte spiralförmige Muster aufgemalt, während es bei Nedlam aussah, als wäre ihr das Blut einfach ins Gesicht gespritzt. Die Spritzer auf Neds schweren Eisenschulterstücken hatten sich in Celestaines Hirn eingebrannt, ebenso wie der winzige Handabdruck auf ihrer Brustplatte, denn wenn die Yorughan ihre Kriegsbemalung auflegten, nahmen sie dafür heißes, frisches Blut direkt aus der Quelle.

Die Schergen des Blutschlächters waren Sklaven seines Willens, wie jeder wusste. Wenn ihn jemand enttäuschte, zerschmetterte er ihn, trieb ihn in den Wahnsinn und zwang ihn, um den letzten Fleischfetzen zu kämpfen. Und vor allem verweigerte er ihnen die Möglichkeit, in den Spiegel zu blicken und ihr Sklavendasein zu erkennen. Heno hatte es allerdings dennoch getan, und was er sah, hatte ihm nicht gefallen. Jetzt war er bereit, seinem Meister das Messer in den göttlichen Arsch zu rammen, und deshalb machte er ihr ein Angebot. Darum waren Celestaine und ihr Begleiter freigekommen, hatten sich ihren Gefährten wieder angeschlossen und wurden an den Ort geführt, den sie unbedingt erreichen mussten, um sich ihren Platz in all den langweiligen Trinkliedern verdienen zu können. Verrat hatte dem Blutschlächter den Garaus gemacht, und das war wahrhaft poetisch. Zu schade, dass diese Tatsache in den Gesängen nie erwähnt wurde.

Nedlam war die Größere der beiden. Mit ihren knapp zwei Meter fünfzig war sie vielleicht sogar die Größte von allen. Sie trug einen Teil ihrer alten Kleidung – ein ärmelloses Kettenhemd aus schuppiger roter Haut, das ihr bis zu den Knien reichte, war der wohl offensichtlichste Bestandteil der Blutschlächteruniform, den sie behalten hatte –, zusammen mit diversen zusammengestückelten menschengroßen Platten, die sie an jeder passenden Stelle ihres riesigen Körpers angebracht hatte. Ihre Haut war blaugrau und von blassen schieferfarbenen Venen durchzogen; und ihr stacheliges dunkles Haar sah stets wie ein schiefer Hahnenkamm aus, selbst wenn sie versuchte, es anders zu frisieren. Ihre Hauer, zwei geschwungene, scharfe Elfenbeinstoßzähne, waren an den Spitzen mit Silber überzogen. Sie trug einen eisenbeschlagenen Knüppel über einer Schulter, der so viel wog wie ein ausgewachsener Mann.

Ned war das eine – schließlich hatte es in der Vorhut des Blutschlächters viele wie sie gegeben, wenngleich die meisten kleiner gewesen waren. Heno war es jedoch, den alle anstarrten. Bei ihm handelte es sich nicht um die übliche Blutschlächter-Elite. Sein Haar war silbrig weiß und fiel ihm bis auf die Schultern. Er hatte sich den Bart spitz getrimmt und trug einen langen Schnurrbart – vor ihrer Begegnung hatte sie nicht gewusst, das Yorughan eine Gesichtsbehaarung entwickeln konnten, die über kurze Bartstoppeln hinausging. Er war etwa dreißig Zentimeter kleiner als Nedlam, hatte jedoch längere Hauer, die wie bei einem Eber nach oben geschwungen waren; einen hatte er zudem noch mit verschnörkelten Schnitzereien verziert. Seine Kleidung bestand noch immer aus dem langen Ledermantel mit weißen Säumen, der ihn als einen Herzfresser-Blutmagus auszeichnete, welche von allen Yorughan am meisten gefürchtet wurden. Die Mitglieder seines Ordens galten als Abschlachter der Unschuldigen, als Versalzer der Erde, als Stellvertreter der schrecklichen Macht des Blutschlächters.

»Der Krieg ist vorbei«, schrie Celestaine die Umstehenden an und wartete auf den einen Pfeil, den ein Veteran mit zu schrecklicher Vergangenheit nicht zurückhalten könnte. Es wäre fast schon eine Erleichterung gewesen, wenn ihr geheiligter Name doch nicht als Talisman der Stärke verstanden würde. Dann hätte sie sich nicht mehr so verantwortlich fühlen müssen.

Doch der Musikant war natürlich auch da, ebenso wie der Stalljunge und zahlreiche andere, die ihr Gesicht kannten – dies war schließlich der Forinthi-Sumpf und sie die Einheimische, die Großes geleistet hatte. Ihr entgingen die finsteren Mienen, das Stirnrunzeln und Gemurmel nicht, doch die Waffen wurden widerstrebend gesenkt.

»Hör auf damit«, fauchte sie Heno aus dem Mundwinkel an. Er warf ihr einen Seitenblick zu, in dem sein Verlangen lag, Chaos anzurichten, nur um zu sehen, was daraus entstand, um gleich darauf die Kugel aus blassem Feuer mit einem Fingerschnippen verschwinden zu lassen. »Sie gehören zu mir«, wiederholte sie. »Sie helfen.« Im Augenblick allerdings nicht. Jetzt wäre es hilfreicher gewesen, sich nicht blicken zu lassen. Aber was dann? Wollte sie sie in einen Sack stecken, während sie durch die Welt reiste? Das Entscheidende war doch, dass der Blutschlächter nicht mehr lebte. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass sich all seine Schergen in Rauch aufgelöst hatten.

Einige schon, aber nicht alle. Sie spürte die Aufmerksamkeit schwer auf sich lasten und entdeckte Amkulyah, der im Augenhöhlenfenster des Schädelkrugs hockte. Celestaine konnte förmlich sehen, wie das Vertrauen des Prinzen der Aethani in sie schwand.

»Kommt mit rein, da ihr schon hier seid«, knurrte sie ihre Gefährten an und bahnte sich abermals einen Weg durch die Menge. Diesmal ging es jedoch nicht so gut voran, da Heno ein bisschen und Nedlam sehr viel breiter war als sie, aber immerhin konnte sie irgendetwas tun.

»Skeptisch« beschrieb Amkulyahs Miene nicht einmal ansatzweise, aber er ergriff nicht sofort die Flucht, als die beiden Yorughan an seinem Tisch Platz nahmen. Celestaine hätte eine beachtliche Summe darauf gewettet, dass er ein Messer so bereithielt, dass sie es nicht sehen konnte, und er starrte das bullige Paar mit unverhohlenem Abscheu an. Nur wenn sie genau hinschaute, konnte Celestaine die dahinter lauernde Angst erkennen.

»Ihr hättet in Eurer Nachricht ruhig erwähnen können, welche Art von Hilfe Ihr angeheuert habt.«

»Ich habe sie nicht angeheuert«, setzte Celestaine an, und im gleichen Augenblick fragte Nedlam auch schon: »Werden wir jetzt bezahlt?« Ihr wilder Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass sie drauf und dran war, ein Baby zu ermorden, und für Amkulyah sah es garantiert nicht wie ein freundliches Lächeln aus. Der Blutschlächter hatte sie gut gezüchtet, denn im Gesicht eines durchschnittlichen Yorughan gab es kaum etwas, das nicht entsetzlich aussah.

Heno räusperte sich und legte sich in der universellen Geste leicht vorgetäuschter Bescheidenheit eine Hand auf die Brust. »Die edle Celestaine hat uns in der Festung des Blutschlächters vor dem Tod gerettet. Wir sind durch unsere Kriegerehre verpflichtet, ihr zu dienen und sie bei ihrer Aufgabe zu unterstützen.« Für einen Yorughan konnte er sich gut ausdrücken. Sie hatten beide im Laufe des Krieges mehrere Sprachen der freien Völker gelernt, weil der Großteil der Festungsbesatzung für Verhöre eingesetzt worden war. Nedlams Hauer bewirkten, dass sie sich meist anhörte, als wäre sie leicht beschwipst, was gewiss zu Erheiterung geführt hatte, wenngleich Folterungen von ihr erwartet worden waren. Heno hatte diesbezüglich keine Probleme und brachte selbst die Konsonanten mit seiner tiefen, wohltönenden Stimme korrekt hervor.

Aber Celestaine wusste, dass seine Worte reiner Blödsinn waren. So etwas wie Kriegerehre kannten die Yorughan nicht. Sie waren nicht wie der Frostklauen-Clan, der auf generationenlange Kriege zurückblicken konnte. Vielmehr hatte der Blutschlächter sie brutal und effizient als seine Kriegsmonster herangezüchtet. Dass nach einer derartigen Behandlung Kreaturen – Personen – wie Heno und Nedlam entstanden waren, bewies nur, dass selbst er nur über begrenzte Macht verfügt hatte.

Amkulyah starrte sie nachdenklich an. Yorughan hatten lange Gesichter mit breiten Kiefern und wulstigen Augenbrauen. Ihre Augen waren klein und lagen tief in den Höhlen, ihre Nasen waren viel zu mickrig für ihren berühmten Geruchssinn, und ihre dünnlippigen Münder wurden von geschwungenen, bestialischen Hauern dominiert. Das waren von einer göttlichen Hand verformte Fratzen, die nicht zu feineren Gefühlsregungen fähig waren und Monstern, die ebenso wenig tiefe Emotionen zu empfinden vermochten, als Masken dienen sollten.

Heno grinste. Er hatte hart daran gearbeitet, es vor Spiegeln und ruhigen Wasserflächen geübt, bis es beinahe höflich wirkte. Amkulyah wäre schon für einen Menschen jämmerlich schwach gewesen, aber jeder Mensch wirkte im Vergleich mit einem Yorughan klein.

Endlich meinte Amkulyah: »Ihr sagtet, Ihr könnt helfen.«

»Ich kann Eurem Volk helfen«, bestätigte Celestaine. »Ich möchte es jedenfalls versuchen.« Habe ich wirklich behauptet, dass ich es kann? Möglicherweise. Das war nicht besonders klug. »Ich möchte Euch helfen. Wenn ich den Aethani auf irgendeine Weise Unterstützung zukommen lassen kann, dann werde ich das tun. Mein Schwert steht zu Eurer Verfügung.« Sie blickte bei diesen Worten auf ihre Waffe herab und fluchte innerlich, da die Scheide aus umgedrehtem Fell nun endgültig nachgegeben hatte und die unfassbar scharfe Klinge in der Luft hing. Wahrscheinlich konnte sie von Glück reden, dass sie auf dem Rückweg zum Tisch niemandem das Bein abgetrennt hatte.

»Wie?«, wollte Amkulyah wissen und wiederholte die Frage gleich noch einmal, als er merkte, dass sie abgelenkt war. »Wie? Ich dachte, Ihr hättet eine Art magischen Plan. Ihr kennt doch Zauberer und Wächter.«

Celestaine hob abwehrend die Hände. »Das ist korrekt, und ich werde es bei allen versuchen.« Jedenfalls bei jenen, die noch am Leben sind. Bei allen, die nicht an Orten untergetaucht sind, an denen ich sie niemals finden kann. »Und noch mehr. Es kommen immer mehr Arten von Magie auf, nun, da die Truhen des Blutschlächters geöffnet wurden.« Und nachdem man sie geplündert und den Inhalt überall verteilt hat, doch darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist. »Es gibt heilige Relikte, bedeutende Artefakte, Tränke, Zauberbücher – momentan gibt es mächtige Kriegsüberschüsse im Überfluss. Irgendetwas davon wird auch Euch helfen können, Prinz Amkulyah.« Sie hätte beinahe bitte gesagt und ihn angefleht, sich von ihr helfen zu lassen. Der Anblick seiner verstümmelten, kurzen Fluggliedmaßen traf sie bis ins Mark.

»Einige meines Volkes sind der Ansicht, wir sollten einfach lernen, damit zu leben«, sagte Amkulyah gelassen, doch hinter seiner Maske der Ruhe konnte Celestaine erkennen, wie unglaublich jung er war und dass nicht nur die Verkrüppelung durch seine verlorenen Flügel ihn niederdrückte, sondern auch die Verantwortung, die er nicht abgeben konnte. »Sie sagen, niemand sonst habe Flügel oder so gut wie niemand. Sie sagen, wir sind zu anderen Dingen imstande. Und unsere Kinder könnten auch allein das Fliegen lernen, ohne dass wir es ihnen beibringen.« Er hielt inne und schien etwas zu betrachten, das sie nicht sehen konnten. »Oder wir schneiden sie ihnen ebenfalls ab, damit sie so sind wie wir, denn wir könnten es nicht ertragen, mit ansehen zu müssen, wie sie diese nutzlosen Hautlappen hinter sich herschleifen, und wir könnten es auch nicht aushalten zu sehen, wie sie etwas tun, was wir nicht länger zu tun vermögen.«

»Nein …«, hauchte Celestaine.

»Ich höre es immer wieder. Es ist fast wie ein Kult und verbreitet sich. Einige meinen sogar, die Götter hätten nie gewollt, dass wir fliegen können. Sie sagen, der Blutschlächter hätte nur das Werk der Götter vollbracht. Es ist leichter, es so zu sehen und sich einzureden, es wäre alles vorherbestimmt gewesen.«

»Aber Ihr glaubt das nicht«, stellte sie fast schon verzweifelt fest.

»Ich? Nein, jedenfalls nicht die meiste Zeit. Aber an manchen Tagen …« Er hob die Hände, und in der Tat hatte er als unzureichenden Schutz gegen einen Verrat der Yorughan ein Messer in der Hand. Weder Heno noch Nedlam würdigten es eines Blickes. »Ihr wollt helfen, Heldin und Streiterin der Forinthi, Schlächterin des Blutschlächters. Ich werde Euch begleiten und alles in meiner Macht Stehende tun, um Euch dabei zu unterstützen, meinem Volk zu helfen. Und wenn es keine Hilfe gibt, dann …« Er machte eine seltsame Geste, bei der er die kleinen Finger nach außen schnalzen ließ. Staub im Wind. Die albtraumhaften Überreste an seinem Rücken zuckten ebenfalls. »Aber hört auf, mich mit ›Prinz‹ anzusprechen. Wir sind tief gefallen, was soll uns ›Hoheit‹ da noch bringen?« Zu ihrem Entsetzen meinte er es ernst, und das Wortspiel war wohl der schlimmste, verbittertste Witz, den sie je gehört hatte. »Amkulyah. Kul, falls das zu viel ist.«

Plötzlich stand ein Mädchen an ihrem Tisch, drückte sich fast schon an Amkulyahs übel zugerichtete Schultern, um so weit weg wie möglich von den Yorughan zu bleiben, und stellte trotzdem Krüge auf den Tisch. »Von einem Freund«, flüsterte sie und zeigte mit einem Finger nach unten in den Schankraum.

Celestaine schaute in die Richtung und fragte sich, ob jemand versuchte, ihre Gefährten zu vergiften, was ihrer Erfahrung nach gar nicht mal so leicht war. Bei ihrem Wohltäter oder möglichen Attentäter handelte es sich um eine mit einer Kapuze verhüllte Gestalt, die allein an einem Tisch im Schatten saß. Von seinem Gesicht war nicht viel mehr als ein langer weißer Bart zu erkennen, und er hielt eine lange Pfeife in der Hand. Ihre Nackenhaare stellten sich auf.

Werde ich es wirklich aussprechen? Aber sie war schon drauf und dran und stand auf. »Bleibt hier. Beschützt ihn, falls irgendetwas passiert.« Nedlam schnitt eine grimmige Grimasse, in der Celestaine leichte Verbitterung erkannte. Heno tippte ihr auf den Arm.

»Lass das lieber hier. Wir passen darauf auf.« Er deutete auf ihr Schwert.

»Gute Idee«, gab sie zu und holte es vorsichtig aus der zerfledderten Scheide. Selbst als sie es bedächtig auf den Tisch legte, hobelte sie dabei ein flaches Holzstück ab. Der Wächter namens Wanderer hatte ihr diese Klinge gegeben. Sie konnte Metall, Magie und alles andere, was ihr je untergekommen war, durchtrennen, ohne dass ihr Schlag auch nur verlangsamt wurde. Irgendwo über ihnen in Vermarods Schädeldecke musste ein Schlitz existieren, der dies bezeugte. Was auch bedeutete, dass es schon eine logistische Herausforderung darstellte, das Schwert einfach nur mit sich zu führen.

»Vielleicht kann man hier irgendwo mehr von dieser Haut erwerben«, meinte sie und hielt auf die Stufen zu. »Jemand könnte sie als Vorhang benutzen oder in einer Truhe verstaut haben. Möglicherweise verkauft er sie uns.« Die undurchdringlichen Drachenschuppen waren das einzige Scheidenfutter gewesen, das länger als einen Monat gehalten hatte.

Die Menge teilte sich, als sie zum Tisch des Fremden ging, doch sie spürte, dass es diesmal nicht an ihrem Namen oder ihrem Ruf lag, sondern dass ein anderer Einfluss sie sanft zur Seite drängte, damit sie passieren konnte. Ihr entging nicht, dass ein leichtes Lächeln die Lippen des alten Mannes umspielte. Seine Augen unter der Kapuze glitzerten.

»Seid gegrüßt, stolze Celestaine, Streiterin von Forinth!« Seine Stimme klang warm und onkelhaft. »Möchtet Ihr Euch nicht zu mir setzen und vielleicht etwas erfahren, das für Euch von Vorteil sein könnte?«

Sie ließ den Blick durch den Schankraum gleiten, falls es sich doch um einen Hinterhalt handelte und nicht um das, was sie vermutete. Vielleicht wäre ihr der Hinterhalt sogar lieber gewesen. Obwohl der Raum voll war von Kriegsveteranen, noch gehfähigen Verwundeten und jenen, die harte Entscheidungen hatten treffen müssen, schienen alle nur auf unschuldige Unterhaltung aus zu sein. Sie setzte sich.

»Ein seltsamer Zufall führt die Schlächterin des Blutschlächters an diesem Abend zu mir«, setzte der alte Mann an, doch sie zeigte mit einem Finger auf sein Gesicht und hätte ihn beinahe in sein funkelndes Auge gebohrt.

»Das reicht«, knurrte sie. »Denkst du etwa, ich würde dich nicht erkennen?«

Einen Augenblick sah er so verblüfft und zugleich verletzt aus, dass sie fast darauf reingefallen wäre. Vielleicht war er wirklich nur ein geheimnisvoller alter Mann, der sich in einem Gasthaus entspannte und darauf wartete, dass ein sich auf einer Suche befindender Held vorbeikam. Aber sie hatte hinter das unbekannte Gesicht geblickt und erkannt, dass sich hinter diesem großväterlichen Blick etwas verbarg. Eigentlich hatte sie gehofft, sie wäre ihn losgeworden, doch dieses Glück war ihr wohl nicht vergönnt.

»Sag, was du willst«, verlangte sie, »oder ich verrate jedem hier, wer du wirklich bist.«

»Ist ja schon gut.« Das Gesicht veränderte sich nicht, doch die Art, wie er sich hielt, war mit einem Mal anders. Seine Freundlichkeit verpuffte und hinterließ etwas, das deutlich zwielichtiger und flüchtiger war. Aber selbst dieser Gesichtsausdruck schien nicht zu einem Halbgott zu passen.

»Deffo«, sagte sie, »wie kann ich dich nur dazu bringen, mich endlich in Ruhe zu lassen?«

Laut der Geschichten und Lieder hatten die Götter ihre unsterblichen Boten und Diener vor eintausend Jahren in die Welt gesandt, um die unerfahrenen sterblichen Völker anzuleiten und zu beschützen und ihnen den Weg der Götter zu weisen. Wächter wurden sie genannt, und in jenen ersten Tagen reisten sie von Ort zu Ort und stellten sich den urzeitlichen Monstern, die in der Erde herangewachsen waren, verbannten Riesen, lehrten so manches und wurden ihrem Namen gerecht. Es waren nie besonders viele, und die meisten fingen an, Liebe und Wertschätzung für die gebrechlichen Völker, die man ihnen anvertraut hatte, zu empfinden. Und wenn es nicht genug von ihnen gab, damit sie sich um alle kümmern konnten, war dann nicht zu erwarten gewesen, dass gewisse vernachlässigte Völker später auf Irrwege geraten würden? Und wenn einer von ihnen weniger begeistert darüber war, bis in alle Ewigkeit geringeren Wesen dienen zu sollen, blieb das unbemerkt, selbst bei seinen folgsameren Standesgenossen.

Die meisten wurden von dem einen oder anderen der auftauchenden Kulte angezogen, aus denen später Tempel und Priester hervorgingen, und nahmen die Verehrung aus zweiter Hand nur zu gern entgegen. Die Schreine und Kirchen, die der Blutschlächter stehen gelassen hatte, feierten die großen Taten noch immer mit Statuen, Friesen und Liedern. Sie sprachen von den Wächtern als Wall und Wanderer, Zorn und Wahrsager, Lichtträger und Unbesiegter.

Celestaine starrte den Unbesiegten über den Tisch hinweg an oder zumindest das Gesicht des alten Mannes, das er nun trug, und rief sich in Erinnerung, dass er sich diesen Namen verdient hatte, indem er so schnell weglief, wie ihn seine halbgöttlichen Beine zu tragen vermochten, und indem er keinen Finger gerührt hatte, um den freien Völkern im Krieg beizustehen. Er hatte nicht daran geglaubt, dass man den Blutschlächter besiegen könnte, und sich lieber in irgendeinem Loch verkrochen. Der Blutschlächter hatte andere Wächter getötet und war so zu seinem Namen gekommen. Mehrere aus Deffos Sippschaft hatten im Krieg den Tod gefunden, ob nun auf glorreiche oder entwürdigende Weise, doch der Unbesiegte war keiner von ihnen gewesen. Was ihn in eine unangenehme Lage brachte, da der Blutschlächter nun tot war und man Lieder über die Sieger sang.

»Hör mich an«, bat der Wächter und zuckte leicht zusammen, als sie ihn anstarrte. »Ich schlage ja nur vor, dass du darüber nachdenkst. Ich verfüge noch immer über Macht. Sieh mich nicht so an. Nur weil ich … bedeutet das noch lange nicht, dass mich die Götter nicht einst hergeschickt haben.«

»Sie haben dich wohl wissen lassen, dass du nun wieder gut bei ihnen angeschrieben bist, was?« Celestaine zog eine Augenbraue hoch. Denn womöglich abgesehen von jüngsten Entwicklungen sprachen die Götter mit absolut niemandem. Der Blutschlächter hatte sie zu Beginn des Krieges von ihren Anhängern getrennt, und seitdem hatte kein Priester oder Wächter mehr ihre Berührung gespürt.

»Ich brauche die Götter nicht«, zischte der Unbesiegte und machte sich etwas kleiner. »Du hast recht; sie sind fort und kehren vermutlich nicht zurück. Wahrscheinlich haben sie schon lange vor dem Krieg das Interesse an all dem hier verloren, denkst du nicht auch? Aber du, Celest …« Er hielt inne, als sie eine schnelle Handbewegung machte. »Nun, dann eben Celestaine.«

»Weißt du, wer mich Celest nennen darf? Andere Schlächter, zwei Yorughan und der Wanderer, falls er je zurückkehren sollte. Du nicht.«

»Ja, ja.« Er wischte ihren Einwand fort und sah sich um, während er versuchte, eine etwas vertraulichere Stimmung zwischen ihnen aufzubauen. »Nur ein Wort, Celestaine. Ein freundliches Wort ist alles, was ich brauche. Von dir hat es Gewicht. Du hast den Blutschlächter bezwungen.«

»Ich hatte Hilfe, allerdings nicht von dir.«

»Wer weiß, hm?« Sein schmeichlerisches Grinsen jagte ihr einen Schauder über den Rücken. »Flüster dem Minnesänger dort nur etwas ins Ohr. Sag ihm, der Unbesiegte hätte dich unterstützt. Erzähl ihm, ich hätte dir die Tür aufgehalten, dir Geheimnisse anvertraut, einige Vathesk oder einen Umbrawurm getötet, damit du dorthin gelangen konntest, wo du hinmusstest. Es muss nichts Großes gewesen sein, aber sag einfach, ich hätte dir geholfen.«

»Das wäre aber gelogen.«

»Das würden sie doch nicht wissen.«

»Weißt du, wer geholfen hat? Der Wanderer. Von euch Mistkerlen war er als Einziger tatsächlich zur Stelle, als Hilfe gebraucht wurde. Er hat nicht feige gekniffen und dafür gesorgt, dass Leute starben, er schlich nicht irgendwo herum, wo der Krieg niemals tobte, er hat sich nicht in ein Wiesel verwandelt und sich in einem Kaninchenbau versteckt.«

»Es war ein Dachs«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und wo ist dein wertvoller Wanderer jetzt? Glaubst du, ihr würdet uns Wächter nicht brauchen? Wer steht denn sonst an eurer Seite?«

Sie schnitt ihm das Wort ab. »Jetzt hör mir mal gut zu. Ich werde den Aethani beim Wiederaufbau helfen. Dafür sorgen, dass sie ihre Flügel zurückbekommen. Kannst du das für mich tun, Deffo?«

Der Unbesiegte starrte sie an.

»Oder weißt du, wie ich das anstellen kann?«, hakte sie nach.

»Das ist … unmöglich. Allein diese Macht.« Er schüttelte den Kopf. »Warum machst du dir überhaupt die Mühe? Das ist ein totes Volk, eine verlorene Sache. Sie müssen sich erneuern.« Sein Gesicht hellte sich auf wie bei einem Siebenjährigen, der eine Idee hatte, wie er an mehr Süßigkeiten gelangen konnte. »Geh zum Rat der Forinthi. Sie suchen noch immer nach Nachkommen der königlichen Linie, nicht wahr? Ich könnte ihnen weismachen, dass du ihre Erbin bist. Als Wächter muss ich nur behaupten, die Götter hätten es mir vor dem Krieg enthüllt. Schließlich werden sie jetzt nichts Gegenteiliges mehr behaupten, nicht wahr? Du könntest Königin sein und einfach sagen, dass ich …«

Sie stand abrupt auf und war froh, ihr Schwert bei Heno gelassen zu haben. »Lass mich einfach in Ruhe! Von mir brauchst du keine Bestätigung zu erwarten.« Während sie die Stufen wieder hinaufging, um sich abermals zu Amkulyah zu gesellen, konnte sie seinen verzweifelten, kriecherischen Blick im Rücken spüren.

3

Sie musste also ohne göttlichen Beistand auskommen. Letzten Endes gab es ohnehin nur einen Wächter, dem sie auch nur ansatzweise vertraute, und der war verschwunden, wie der Unbesiegte richtig erkannt hatte.

Also brauchte sie Magie, aber Magie in einer solch unglaublichen Größenordnung, wie sie nicht einmal die stärksten Zauberer besaßen. Magie aus den ersten Tagen, in denen die Götter der Welt noch näher, die Wächter noch stärker, die Zustände auf der Welt noch wilder gewesen waren. Damals hatte selbst der Blutschlächter einen anderen Namen getragen und einen deutlich besseren Ruf gehabt, und laut der Sagen gab es in jenen Tagen mächtige Dinge in Hülle und Fülle. Die Welt war in einem Wirbel aus stürmischer Magie erschaffen worden, und die zahlreichen Götter strebten in unterschiedliche Richtungen, jedenfalls in Celestaines Vorstellung. Nicht all ihre Stärke war dort angekommen, wo sie hinsollte. Die frühe Welt war ein Ort voller Schimären und außergewöhnlicher Talente gewesen. Es hatte große Monster gegeben, die so gerissen wie der Mensch waren und über Elementarkräfte verfügten: Phönixe und Salamander, Basilisken und Donnerdrachen, Rinder aus Gold und Schlangen aus Edelsteinen. Für bloße Sterbliche war das Leben zu jener Zeit hart gewesen, und aus diesem Grund hatte man ihnen die Wächter geschickt. Einige dieser Fabelwesen waren erschlagen worden, andere hatten sich dezimiert oder waren schwächeren Nachkommen gewichen, aber hin und wieder fand man noch einen Zahn, eine Klaue oder ein erhaltenes Auge, in dem die Flammen nach wie vor zuckten. Man entdeckte Juwelen, geschliffen von alten Handwerkern, die mehr als menschlich gewesen waren, Stoff, gewebt vom Wind und der See, Schwerter, die alles zu durchtrennen vermochten …

Ihr Schwert besaß nur eine einzige Kraft. Es konnte so bald weder Wunden heilen noch Flügel wachsen lassen. Der Krieg hatte jedoch noch andere solcher Artefakte zutage gefördert, die entweder gegen den Blutschlächter eingesetzt oder von ihm geborgen worden waren, denn er hatte schon immer nach mehr Macht gegiert. Vor einem Jahrhundert war er trunken vom Blut eines seiner Brüder gewesen, hatte sich seinen neuen Namen verdient und seine wahre Natur enthüllt. Die anderen Wächter hatten ihn dann in die Erde hineingetrieben und nach Rache verlangt, waren jedoch nicht in der Lage gewesen, ihn zu vernichten. Als er ein Jahrzehnt später wieder aufgetaucht war, um den Krieg anzuzetteln, hatte er jedes Relikt und jedes bisschen Macht an sich gerissen, derer er habhaft werden konnte, um damit all die Armeen der freien Völker herauszufordern und zu zerbrechen und zudem ein halbes Dutzend weiterer Wächter zu töten.

Und wir haben ihn zur Strecke gebracht. Diese Erinnerung war nicht nur von Triumph, sondern auch von Chaos und Panik durchtränkt. Sie hatten die Gunst der Stunde genutzt und genau gewusst, dass ihnen nicht viel Zeit blieb. Lathenry und Spinaros und der Rest, alle hatten sich zusammengetan und Magie, Pfeile und Klingen sprechen lassen. Durch Henos und Nedlams Hilfe waren sie zum Blutschlächter gelangt, während sich dieser ausruhte und in den vor den Mauern seiner Festung tobenden Kampf vertieft war.

Sie wusste noch genau, wie er die Hand ausgestreckt und Lathenry das Herz aus der Brust gerissen hatte, wobei die Rüstung des alten Mannes wie die Schale einer Orange aufgeplatzt war. Und sie hatte sie abgetrennt, diese Hand. Die Klinge, die alles durchschnitt, hatte auch vor dem Handgelenk des Blutschlächters nicht haltgemacht. Erst da war ihr bewusst geworden, dass er besiegt werden konnte. Ein von Macht besessener Halbgott, und doch lag seine Hand auf dem Boden und zuckte wie eine sterbende Spinne.

Und ich hätte direkt in seine Schatzkammern gehen und mir sämtliche Relikte aneignen sollen. Aber so weit hatte sie damals nicht gedacht. Die Festung des Blutschlächters war von Hunderten gründlich geplündert worden, sowohl von den freien Völkern als auch den unabhängigeren seiner einstigen Schergen. Alle hatten sich zerstreut, und sie hatte nicht gewusst, wo sie anfangen oder wonach sie überhaupt suchen sollte. Sie hatte Amkulyah Hoffnung geschenkt, dabei wusste sie überhaupt nicht, wie sie seinem Volk helfen konnte; sie wollte es nur unbedingt tun und nach und nach eine bessere Welt aus alldem machen.

Sie hatte Heno, Nedlam und den Aethani-Prinzen im Schädelkrug zurückgelassen und darauf gehofft, dass ihre Anweisung ausreichte, damit sich niemand an ihnen vergriff, und dass Heno Nedlam davon abhalten konnte, dass sie sich an irgendjemandem vergriff. Das Gefühl, dass der Sand unaufhörlich durch das Stundenglas rann, ließ sie nicht mehr los, während sie sich auf dem überdachten Markt durch die Menge quetschte, als könnte sie auf dem Tisch eines Oerni-Händlers ein für ein paar Kupferscits zum Verkauf stehendes Wunder entdecken.

Hier hielten sich sehr viele Oerni auf, die beinahe so groß, wenn auch nicht so breit wie die Yorughan waren. Oerni lebten in Enklaven in allen Reichen der freien Völker, eine weitere Gruppe, die der Blutschlächter begeistert versklavt hatte. Er schätzte lediglich ihre brutale Stärke; ihre Handwerkskunst oder ihre lange Geschichte kümmerten ihn jedoch nicht im Geringsten. Ralas der Barde hatte ein Dutzend Oerni-Familiensagas gekannt, die alle akribisch ausgearbeitet waren und lückenlos von einer Generation an die nächste weitergegeben wurden. Hunderte solcher Geschichten waren verloren gegangen, als sich ganze Familien für den Blutschlächter zu Tode schuften mussten.

Doch obwohl die Oerni in alle Winde zerstreut waren, hatte es der Blutschlächter nie geschafft, ihre Kultur zu zerstören. Sie waren noch immer bereit, an einen anderen Ort umzusiedeln, wenn es sie überkam, und sie waren unabhängig und zäh. Zudem konnten sie kämpfen: Sie waren zwar nicht zum Kämpfer geboren, sondern hatten in den Armeen der Freien als Pioniere und Schmiede gedient, hatten notfalls aber auch mit schierer Kraft und ihren schweren Rüstungen die Stellung halten können. Und jetzt, nach Kriegsende, waren sie als Erste wieder auf den Beinen, was sich allein daran zeigte, dass sie zwei von drei Händlern auf diesem Markt stellten, die Celestaine mit Kopf und Schultern überragten.

Vieles von dem, was hier angeboten wurde, war nichts Besonderes – oder wäre es zumindest vor dem Krieg nicht gewesen. Doch im Augenblick herrschte ein Mangel an vernünftigen Töpfen und Pfannen, Möbelstücken, Werkzeugen und vor allem Nahrungsmitteln, nachdem zu viele Ernten verrottet oder verbrannt waren. Rings um Celestaine herum bauten die Leute alles wieder auf, und die Oerni halfen ihnen dabei. Gut, sie verlangten Kupferscits und Silberpollys dafür, aber die Preise waren weitaus geringer, als sie erwartet hatte. Die großherzigen Riesen arbeiteten überall an ihren Drehbänken, Ambossen und Webstühlen, um die Welt für alle zu einer besseren zu machen.

Celestaine ging in sich und stellte fest, dass sie eifersüchtig war. Ich wäre im Augenblick lieber Zimmerfrau oder Tischlerin als Kriegerin. Was nutzen mir meine Fähigkeiten, und was bringen sie der Welt? Sie hatte den Blutschlächter vernichtet, aber andere bauten die Welt wieder auf. Aber vielleicht, nur vielleicht, kann ich die Aethani retten.

Sie lief an dem Gewühl alltäglicher Händler vorbei und hielt Ausschau nach selteneren Waren. Am hinteren Ende des Marktes standen weniger Oerni, dafür nahm ein breit gefächerter Haufen zwielichtig aussehender Charaktere ihren Platz ein. Sie bemerkte mehrere Cheriveni von jenseits der Grenze, die, opportunistisch wie immer, Bücher und Schreiberdienste, Tränke, Salben und magischen Tand feilboten – die Art von Waren, die meist schon am Tag nach dem Kauf nicht mehr funktionierten, anders als ein Stuhl oder ein Hammer. Da war eine Tzarkomanin, die als Tätowiererin arbeitete und die Tinte mit Segnungen versah, während sie sie in die fleckige Haut eines Oernis stach. Celestaine ging weiter, schaute sich nach rechts und links um und behielt vorsichtshalber eine Hand an ihrem Geldbeutel. Sie spürte, dass zusätzlich zu den Spielereien der Cheriveni und minderwertigen Beschwörungen eine große Macht in der Luft lag. Wer oft genug mit Zauberern gereist war und gegen genug Herzfresser und Todeskultisten gekämpft hatte, kannte diesen Geruch. Gewiss würde sie hier nichts bekommen, womit sich die Welt auf den Kopf stellen ließ – nicht hier, nicht im offenen Verkauf –, aber sie war auf Informationen aus, und der Handel wusste, was gehandelt wurde.

Der Stand, auf den sie stieß, war mit Vorhängen und Teppichen verhüllt, wodurch ein ungleichmäßiges, großes Zelt auf dem mit Stoffbahnen verhängten Markt entstanden war. Behelfsmäßige Tische waren mit wackeligen Haufen aus allem möglichen Tand bedeckt, wobei gewisse Teile vermutlich für einige Leute von Wert waren. Sie duckte sich unter der Stoffbahn am Eingang hindurch und wappnete sich für einen Angriff; diese Warnungen aus einem Teil ihres Verstands hatte sie seit Kriegsende noch nicht abschalten können. Möglicherweise war ihr der Geruch des Feindes in die Nase gedrungen, denn das erste lebendige Wesen, das ihren Blick erwiderte, war ein Grennish, ein dürres Ding mit langen Gliedmaßen, das selbst neben Amkulyah gebrechlich gewirkt hätte. Es hockte auf einem hohen Stuhl, hatte sich Cheriveni-Linsen auf die Stirn geschoben und schien gerade dabei zu sein, einen abgetrennten Messingkopf zu begutachten, den Celestaine wiedererkannte: Er stammte von der berühmten und – als es zum Krieg kam – überwiegend nutzlosen mechanischen Armee von Herzog Timoran. Einige Schergen des Blutschlächters hatten wohl Gefallen daran gefunden, das Haupt deutlich mit der Axt zu bearbeiten, aber der Grennish hatte die Hoffnung anscheinend noch nicht aufgegeben. Von allen Sklaven des Blutschlächters hatten die Grennish am bereitwilligsten die Freiheit gesucht. Sie waren klein genug, um nicht bedrohlich zu wirken, besaßen zahlreiche nützliche Fähigkeiten und waren dazu gezüchtet worden, mitzudenken und Probleme zu lösen, was bedeutete, dass sie schon immer weniger unter der Knute des Feindes gestanden hatten als der Rest. Dieser hier hatte die Kämpfe jedoch nicht unbeschadet überstanden, denn eines seiner Beine endete in einem mit einer Messingkappe verdeckten Stumpf. Als er sie ansah, erblickte sie sechs Augen in Reihen auf seiner Stirn, die träge blinzelten, jedoch alles andere als synchron. Die Grennish unterschieden sich sehr voneinander.

»Der Boss ist hinten«, teilte er ihr mit und schaffte es irgendwie, diese einfache Aussage wie eine der Gesundheit unzuträgliche Einladung klingen zu lassen. Seine Hauer waren fast vollständig abgefeilt worden.

Sie zuckte mit den Achseln. »Verkauft ihr irgendwelche Heilmittel?«