Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli - Andrew Sean Greer - E-Book

Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli E-Book

Andrew Sean Greer

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Beschreibung

»Jeder von uns ist die Liebe im Leben eines anderen«, beginnt Max Tivoli die unerhörte Geschichte seines Lebens, das sich in einem Detail von allem unterscheidet. Und dieses Detail hütet er wie ein Geheimnis: Alt geboren, wird er seinem Ende entgegen zum Kind. Als das Erdbeben San Francisco erschüttert, ist er Mitte dreißig, und gegen Ende seines Lebens werden die ersten Radios in die Autos eingebaut. Die Achse, um die sich sein Leben dreht, heißt Alice. Max liebt sie sein Leben lang, doch als sie jung ist, wirkt er alt. Erst viel später schlagen die Uhren der beiden für kurze Zeit im gleichen Takt und ihre Liebe erhält eine zweite Chance. Doch auch sie bleibt nicht von Dauer. Selten wurde die Tragik und das Glück einer sich verfehlenden Liebe so packend inszeniert wie hier. Andrew Sean Greer evoziert in seinem Roman ein Leben voll Sehnsucht und Einsamkeit. Mit Staunen und Verwunderung feierte die amerikanische Kritik die Wahrheiten einer rückwärts gelebten Biographie. "Nur sehr selten macht eine wirklich originelle neue Stimme auf sich aufmerksam und erzählt eine noch nie gehörte Geschichte. Andrew Sean Greer ist ein phantastischer Schriftsteller und Max Tivoli markiert den Beginn eines bemerkenswerten Werkes, das bleiben wird." Michael Cunningham

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Seitenzahl: 425

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Andrew Sean Greer

Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli

Roman

 

Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling

 

Über dieses Buch

 

 

»Jeder von uns ist die Liebe im Leben eines anderen«, beginnt Max Tivoli die unerhörte Geschichte seines Lebens, das sich in einem Detail von allem unterscheidet. Und dieses Detail hütet er wie ein Geheimnis: Alt geboren, wird er seinem Ende entgegen zum Kind. Als das Erdbeben San Francisco erschüttert, ist er Mitte dreißig, und gegen Ende seines Lebens werden die ersten Radios in die Autos eingebaut.

Die Achse, um die sich sein Leben dreht, heißt Alice. Max liebt sie sein Leben lang, doch als sie jung ist, wirkt er alt. Erst viel später schlagen die Uhren der beiden für kurze Zeit im gleichen Takt und ihre Liebe erhält eine zweite Chance. Doch auch sie bleibt nicht von Dauer. Selten wurde die Tragik und das Glück einer sich verfehlenden Liebe so packend inszeniert wie hier.

Andrew Sean Greer evoziert in seinem Roman ein Leben voll Sehnsucht und Einsamkeit. Mit Staunen und Verwunderung feierte die amerikanische Kritik die Wahrheiten einer rückwärts gelebten Biographie.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Andrew Sean Greer hat einen eineiigen Zwillingsbruder und wuchs in einem Vorort von Washington D.C. auf. Schon mit seinem zweiten Roman »Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli« gelang ihm der internationale Durchbruch. Greer lebt zwischen San Francisco und der Toskana, wo er die Santa Maddalena Writer's Residency leitet. Auf Deutsch liegen außerdem Greers Romane »Geschichte einer Ehe«, »Die Nacht des Lichts« und »Ein unmögliches Leben« vor.

 

Uda Strätling lebt in Hamburg und hat u. a. Emily Dickinson, Henry David Thoreau, Sam Shepard, John Edgar Wideman, Aldous Huxley und Marilynne Robinson übersetzt.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Widmung

I

II

III

IV

Anmerkung zum Text

Danksagungen

Für Bill Clegg

… Liebe, die, weil sie nie genug bekommt,

stets schon im Augenblick lebt, der noch kommen wird.

Marcel Proust

I

25. April 1930

Jeder von uns ist die Liebe im Leben eines anderen.

Das möchte ich schon einmal für den Fall festhalten, dass ich entdeckt werde und diese Seiten nicht zu Ende bringen kann, für den Fall, dass du vor Entsetzen über mein Bekenntnis und das Geschehene alles verbrennst, noch bevor ich dazu komme, dir von Mord und großer Liebe zu berichten. Ich könnte es dir nicht verdenken. Es spricht so vieles dagegen, dass je ein Mensch meine Geschichte hört. Und immerhin gilt es eine Leiche zu erklären. Eine dreimal geliebte Frau. Den Verrat an einem Freund. Und die lange Suche nach einem Jungen. Deshalb lass mich gleich mit dem Schluss beginnen und dir sagen, dass jeder von uns die Liebe im Leben eines anderen ist.

Ich sitze hier an einem herrlichen Apriltag. Um mich verwandelt sich alles; die Sonne zeichnet tiefe Schatten hinter die Kinder und Bäume und radiert sie, kaum dass eine Wolke aufzieht, wieder aus. Das Gras füllt sich mit Gold, dann zerfällt es zu nichts. Der ganze Schulhof wird mit Sonne bespritzt und besprengt, bis alles vor erhabener Schönheit leuchtet und es mir den Atem raubt, dem Schauspiel beizuwohnen. Niemand sonst achtet darauf. Die kleinen Mädchen sitzen im Kreis, ihre Kleider knistern vor Stärke und Heimlichkeiten, die Jungen sind entweder auf dem Baseball-Feld oder hängen kopfüber in den Bäumen. Am Himmel darüber erstaunt mich ein Flugzeug mit seinem Brausen und seinem braven Kreidestrich. Ein Flugzeug; das ist nicht mehr der Himmel, den ich einmal kannte.

Und ich sitze in einem Sandkasten, ein Mann von fast sechzig Jahren. Es ist frisch und der Sand fest, die kleineren Kinder können kaum graben, außerdem ist das jagende Licht zu verlockend und alle stürmen Schatten nach, also bin ich ungestört.

Wir wollen mit Abbitten beginnen:

Für die lappigen Heftseiten, die du in Händen hältst, ein trauriges Reliquiar für meine Geschichte und nicht reißfest, aber Besseres konnte ich nicht erbeuten. Für den Diebstahl, sowohl der Hefte wie auch des herrlichen Füllfederhalters, mit dem ich schreibe, den ich so viele Monate auf dem Pult meiner Lehrerin bewundert habe und den ich einfach an mich bringen musste. Für den Sand zwischen den Seiten, der sich nicht vermeiden ließ. Sicher, es gibt schlimmere Vergehen, eine verlorene Familie, einen Verrat und die vielen Lügen, die mich hierher in diesen Sandkasten geführt haben, und ich bitte um Vergebung noch für ein Letztes: Meine kindliche Handschrift.

Wir alle hassen, was aus uns wird. Da bin ich nicht der Einzige; ich habe Frauen in Restaurants in die Spiegel starren sehen, wenn sich ihre Männer kurz mal entschuldigten, Frauen im Bann ihres Selbst, wenn sie dort jemand erblickten, den sie nicht wieder erkannten. Ich habe Kriegsheimkehrer in Schaufenster blinzeln sehen, während sie die Schädel unter ihrer Kopfhaut spürten. Sie hatten geglaubt, sie könnten dem Schlimmsten ihrer Jugend entrinnen und das Beste des Alters gewinnen, aber die Zeit fegte über sie hinweg und begrub ihre Hoffnungen im Sand. Meine Geschichte ist ganz anders, aber am Ende kommt sie aufs Gleiche hinaus.

Einer der Gründe dafür, dass ich hier im Sand sitze und hasse, was aus mir geworden ist, ist der Junge. Eine so lange Zeit, eine so lange Suche, die vielen Lügen, die ich Bürovorstehern und Pfarrern auftischen musste, um die Namen der Kinder in der Stadt und in den Vororten zu erfahren, das Erfinden alberner Decknamen, schließlich Tränen in einem Motelzimmer und die Frage, ob ich dich je finden würde. Du warst gut verborgen. Wie der junge Prinz im Märchen vor dem Oger versteckt wird: in einem hohlen Baumstamm, in einem Dornendickicht, an einem kargen Ort ohne Zauber. Kleiner, verborgener Sammy. Aber der Oger findet das Kind immer, nicht wahr? Denn da bist du.

Solltest du das hier lesen, lieber Sammy, dann verachte mich nicht. Ich bin ein armer alter Mann; ich wollte dir nie Böses. Behalte mich bitte nicht nur als Kinderschreck in Erinnerung, obwohl ich auch das gewesen bin. Ich habe nachts in deinem Zimmer gelegen und im Dunkeln deinen rauen Atem gehört. Ich habe dir ins Ohr gesäuselt, während du träumtest. Ich bin, was mein Vater mich immer genannt hat – eine Missgeburt, ein Monstrum –, und noch während ich diese Zeilen niederschreibe (verzeih), beobachte ich dich.

Du bist der, der mit seinen Freunden Baseball spielt, während das Licht in deinem goldenen Haar kommt und geht. Der Braungebrannte, unverkennbar der Anführer, dem die anderen Jungen grollen und den sie doch lieben; es ist gut zu erkennen, wie sehr sie dich lieben. Du stehst am Schlagmal, hebst aber die Hand, weil dich irgendwas stört: ein Jucken, vielleicht, denn jetzt fährst du dir am Nacken unwirsch ins Haar, und dann, nach diesem plötzlichen Koller, rufst du laut und bist wieder beim Spiel. Ihr Jungen, ihr seid ohne jede Anstrengung ein Wunder.

Du bemerkst mich nicht. Warum solltest du? Für dich bin ich nur der Freund im Sandkasten, der vor sich hinkritzelt.

Wollen wir doch mal sehen: Ich winke dir. Da, siehst du, jetzt stützst du kurz den Schläger auf und winkst zurück, auf deinem sommersprossigen Gesicht ein keckes Grinsen, überheblich, aber völlig ahnungslos. Wie viele Jahre, wie viel Mühe es mich gekostet hat, hierher zu gelangen. Du weißt nichts, argwöhnst nichts. Wenn du mich ansiehst, siehst du einen Jungen wie dich selbst.

Ein Junge, ja, das bin ich. Ich bin so viele Erklärungen schuldig, aber zuallererst glaub mir:

In diesem elenden Körper werde ich an Geist und Seele alt. Doch äußerlich werde ich jung.

Es gibt keinen Namen für das, was ich bin. Ärzte begreifen es nicht; meine Zellen wuseln unter dem Mikroskop falsch herum, teilen sich und verdoppeln ihre Unwissenheit. Ich selbst aber sehe mich als uralten Fluch. Den gleichen, mit dem Hamlet Polonius bedachte, bevor er den Alten aufspießte, nämlich dass er »wie ein Krebs rückwärts« kriecht, immer rückwärts.

Schließlich sehe ich, während ich dies schreibe, aus wie ein zwölfjähriger Junge. Mit fast sechzig habe ich Sand am Hosenboden und Dreck am Schirm meiner Mütze. Mein Lachen ist frisch wie ein Apfelbissen. Und doch hat man mich schon für einen Jüngling von zweiundzwanzig gehalten, mit Gewehr und Gasmaske. Davor für einen Mittdreißiger, der im Erdbeben seine Liebste suchte. Einen arbeitsamen Vierzigjährigen, einen ängstlichen Fünfzigjährigen und älter und älter, je näher wir meiner Geburt kommen.

»Alt werden kann jeder«, sprach mein Vater gern aus dem Bukett seines Zigarrenqualms. Aber ich bin auf die Welt geplatzt wie vom anderen Ende des Lebens, und die Tage seither waren solche der physischen Umkehr, der schwindenden Krähenfüße, des Dunkelns des weißen und dann grauen Haars, der muskulöser werdenden Arme und sich rosig verjüngenden Haut, des Aufschießens und dann wieder Schrumpfens zu dem bartlosen, harmlosen Jungen, der dieses blasse Bekenntnis kritzelt.

Ein Mondkalb, ein Wechselbalg, so aus der Menschenart geschlagen, dass ich schon auf der Straße gestanden und jeden verliebten Mann gehasst habe, jede Witwe in Schwarz, jedes von einem ergebenen Hund hinter sich hergezerrte Kind. Ginbeduselt habe ich geflucht und Wildfremde angespuckt, die mich für das Gegenteil dessen hielten, was ich im Innern war – für einen Erwachsenen das Kind, für einen Schuljungen den alten Mann, der ich jetzt bin. Ich habe gelernt, was Mitgefühl heißt, und bedauere die Leute ein wenig, weil ich besser als jeder andere weiß, was ihnen noch bevorsteht.

Ich bin im September 1871 in San Francisco zur Welt gekommen. Meine Mutter stammte aus einer wohlhabenden Familie in Carolina und wuchs im vornehmen Viertel South Park auf, in dem sich einst die Südstaatenaristokratie niedergelassen hatte, das jedoch seit dem verlorenen Krieg jedem offen stand, der reich genug war, um zum Austernsouper zu bitten. Längst war der Maßstab meiner Stadt nicht mehr Geld – der blausilberne Lehm von Comstock hatte zu viele Habenichtse in fette, betuchte Herren verwandelt –, also zerfiel die Gesellschaft in zwei Klassen: Grandes und Goldgräber. Meine Mutter gehörte der ersten, mein Vater der elenden zweiten an.

Nicht verwunderlich also, dass sie sich verliebten, als sie sich im Schwimmbassin des Hotel Del Monte durch das feinmaschige Netz beäugten, das Männer und Frauen trennte. Unter Umgehung der Anstandsdamen trafen sie sich noch am selben Abend auf dem Balkon, und mir wurde berichtet, meine Mutter habe sich mit dem dernier cri aus Paris geschmückt: einem lebenden, am Dekollete mit goldenem Kettchen befestigten Käfer mit schillernden Flügeln. »Ich muss dich küssen«, flüsterte mein Vater fiebernd vor Liebe. Der Käfer, metallisch grün, krabbelte Mutter auf die nackte Schulter und wollte auffliegen. »Ich werde es tun, ich werde dich jetzt küssen«, bekräftigte er, unternahm aber nichts, also packte sie ihn an den Bartkoteletten und zog ihn zu sich heran. Der Käfer zerrte an seiner Leine und landete in ihrem Haar. Ihr Herz zersprang.

Den ganzen Herbst des Jahres 1870 hindurch trafen sich der Däne und die Debütantin heimlich, suchten versteckte Ecken des neu angelegten Golden Gate Park auf, wo sie turteln und tatschen konnten, während nahebei die Bisons in ihren Rundpferchen brummten. Aber gleich dem rankenden Wein muss die Leidenschaft irgendwohin führen oder welken, und so führte sie zum Folgenden: der Sprengung von Blossom Rock. Es war dies ein großes Ereignis, und Mutter gelang es, Großmutter und South Park zu entkommen, um sich mit ihrem dänischen Liebhaber, ihrem Asgar, zu treffen und den Festivitäten beizuwohnen. Es sollte die größte Explosion in der Geschichte der Stadt werden – die Dynamitsprengung von Blossom Rock, der Felsenbank in der Meerstraße von Golden Gate, die seit einem runden Jahrhundert Schiffsrümpfe zermalmte. Während sich optimistische Fischer auf einen Jahrhundertfang freuten, warnten pessimistische Forscher vor einer gewaltigen »Erdwelle«, die sich quer über den Kontinent wälzen und Bauten aller Art zuschanden bringen werde; die Bevölkerung solle fliehen. Floh sie? Nur auf die höchsten Hügel, von denen man die beste Aussicht auf den Weltuntergang haben würde.

Meine Eltern fanden sich also unter den Tausenden auf Telegraph Hill wieder, und aus Angst, entdeckt zu werden, retteten sie sich in die Ungestörtheit der alten Spiegeltelegrafenstation. Ich stelle mir Mutter im rosa Seidenkleid auf dem ehemaligen Signalhocker vor, sehe sie die Finger an die Scheibe legen und ein Oval in den alten Staub wischen. Von dort konnte sie die feierlich schwarz gekleidete Menge aufs Meer hinausblicken sehen. Während sie die Finger meines Vaters an ihrem Spitzenbesatz spürte, sah sie kleine Jungen Austernschalen nach den höchsten der steifen Hüte und feierlichen Angströhren werfen.

»Liebste«, flüsterte ihr Geliebter und knöpfte lange Knopfreihen auf. Sie wandte sich nicht nach seinen Küssen um, sondern erschauerte nur. Seit dem Tag ihrer Geburt war sie nur selten entkleidet gewesen, selbst zum Wannenbad trug sie im warmen Wasser stets ein langes weißes Unterkleid. Nun legte sie mein künftiger Vater frei wie eine seltene Auster, und sie zuckte entsprechend, fröstelnd und weinend nicht mehr nur aus Liebe –»mein Darling, mein yndling«, flüsterte er –, sondern vor Erleichterung über das, was sie verlieren sollte.

Um 1:28 Uhr wurde auf Alcatraz ein Warnschuss abgefeuert, und im selben Augenblick endete rein technisch gesehen die Unschuld meiner Mutter. Ein kurzes Japsen in der kalten Luft, ein Blitzen der Spiegel an der hinteren Wand, und schon stöhnte mein Vater ihr ins Ohr, raunte Dinge, die er unmöglich meinen konnte und auf die niemand als zornige Eltern ihn je festnageln würden. Mutter blieb gelassen, sie sah den johlenden Bengeln draußen vor dem staubigen Fenster zu. Die Menge war unruhig, aber freudig erwartungsvoll. Und Mutter – nun, wer weiß, was Mütter empfinden, wenn Väter sie das erste Mal besitzen?

Und dann – genau um 2:05 Uhr (alle Achtung, junger und eifriger Vater) – brüllte ihr Geliebter vor Lust im selben Moment, da ein gewaltiges Grollen die Luft erfüllte. Rechts im Fenster bot sich Mutter der erstaunlichste Anblick ihrer verlorenen Mädchenjahre: Eine Säule Wasser von zweihundert Fuß Durchmesser schoss schwarz wie Jett hinauf in die kalte Luft über dem Golden Gate. Darauf taumelten gewaltige Brocken des zersprengten Blossom Rock, es sah wahrhaftig aus, als schwinge die siegreiche Faust eines Titans nach den Wolken. So gigantisch, so dräuend. Um sie herum brüllte die Welt so, dass sie die Schreie ihres jungen Mannes kaum hörte. Dampfschiffe tuteten, viele Hundert Gewehrsalven zerrissen die Luft. Die dunkle Säule stürzte ins Wasser zurück, und dann, zu ihrer Verwunderung, wälzte sich eine zweite hinauf – just, als das Stöhnen des Geliebten wieder anschwoll –, und auch sie fiel ins brodelnde Schwarz und in die steilen Kreiswellen der Bucht zurück, die nach jedem Fangboot auf See ausschlugen.

Schließlich beruhigte sich ihr junger Mann und murmelte Fremdes und Verzücktes an ihr Schlüsselbein. »Ja, Lieber«, sagte sie, und wandte zum ersten Mal den Kopf nach ihm. Wie ein gurgelnder Säugling lag er an ihrer Brust. Sie berührte das heiße Gold seines Haars, und er seufzte, tastete blind mit starken Händen im Gespinst ramponierter Spitze. Wie der glänzende Käfer des Abends ihres ersten Kusses lag er an ihrer Schulter glücklich in Ketten. Da wurde ihr einen Augenblick lang mulmig, eingedenk anderer South-Park-Töchter, die fehlgegangen und verschwunden waren. Sie hörte im Seufzen des Geliebten sehr wohl, wie wenig ihn die Zukunft kümmerte.

Und irgendwann im postkoitalen Tätscheln und Turteln, in dem sich besänftigenden Schwell des schwarz gewordenen Golden Gate, während Felsbrocken durch rußiges Wasser sanken, um für immer auf tiefem Grund zu ruhen, irgendwo in den bitteren Klagen der Glaser und Fischer, die nichts von der erträumten Beute erjagt hatten, irgendwo inmitten der Jubelrufe und Salven und dem Tuten, der überspannten, hutwerfenden Menge, irgendwo inmitten dieses Charivaris, entstand ich.

Die Frage ist bloß: Hatte die berserkerhafte Explosion von Blossom Rock genügt, um meinen Zellen einen umgekehrten Wachstumsschock zu versetzen? War meine Mutter von dem Lärm so erschreckt oder über sich so bekümmert, dass sie das bisschen, was von mir existierte, verkorkste? Es erscheint lachhaft, aber bis ans Ende ihrer Tage haderte meine Mutter mit dem Preis, den sie für die Liebe zahlte.

Am Morgen meiner Geburt, so erzählte es meine Mutter, reichte ihr die Hebamme ein Flanellbündel und flüsterte: Wird wohl nicht zu halten sein, der Doktor meint, er ist nicht recht geraten. Eine Augenweide war ich nicht. Greisenhaft verhutzelt, greinend und aus blinden, bewölkten Augen in die Welt blinzelnd. Meine Mutter war sicher entsetzt. Sie mag sogar aufgeschrien haben. Aber in der Ecke stand mein Vater – mit verschränkten Armen, im Mundwinkel die unweigerliche Sweet Caporal, betrachtete er mich ohne Schrecken. Vater trat näher, spähte durch seinen Kneifer und erblickte eine Sagengestalt aus seiner dänischen Kindheit.

»Ah!«, rief er, lachte und rauchte unter dem angststarren Blick meiner Mutter seelenruhig weiter, als die Hebamme mich weghob. »Er ist ein Nisse!«

»Asgar …«

»Er ist ein Nisse! Das bedeutet Glück, Liebste.« Er beugte sich hinab, um ihr und dann mir die Stirn zu küssen, die fälschlich wie von uralten Sorgen zerfurcht war. Er strahlte seine Frau an und sagte dann streng zur Hebamme: »Er gehört zu uns, wir halten ihn.«

Es stimmte nicht mit dem Glück. Er meinte vielmehr, dass ich den kleinen greisen Kobolden glich, die in Dänemark unter den Hügeln lebten. Ich glich einem Gnom. Einem Monstrum. Und bin ich das nicht auch?

Ich roch nicht wie ein Neugeborenes. Das sei ihr gleich beim Stillen aufgefallen, sagte meine Mutter, und obgleich sie sich nie dazu hinreißen ließ, schlecht von mir zu sprechen, und meine mit Altersflecken übersäten Arme stets badete, als bedecke sie zarteste Babyhaut, räumte sie ein, dass mein Duft zwar köstlich, aber nicht im Entferntesten mit dem irgendwelcher Säuglinge ihrer Bekanntschaft zu vergleichen war. Eher mit Büchern, wunderbar muffig, aber verkehrt. Und meine Proportionen waren ungewöhnlich: magerer Rumpf und kleiner Kopf, lange Arme und Beine und eine überraschend scharfe Nase, die Anlass zu mindestens einem der chloroformierten Schreie aus dem Geburtszimmer gegeben haben musste. Babys haben keine Nasen – das wird dir jeder bestätigen –, aber ich hatte eine. Und ein Kinn. Außerdem ein mit Elefantenhaut aufgepolstertes und mit den trüben, traurigen Augen der Blinden geknöpftes Gesicht.

»Was fehlt ihm, Suh?«, lispelte Grandmother in ihrem Südstaatenakzent. Sie trug den schwarzen Bombasin und den Schleier, die sich in meiner Erinnerung wie eine Kruste über sie legen.

Der Doktor bot die ganze Kunst seiner Arzttasche auf – Lederhörrohr zum Abhorchen, Mittel wie Bibergeil, Jalapenwurzel, Kalomel, Wickel –, schüttelte aber zuletzt nur den Kopf.

»Es lässt sich noch nicht sagen, Leona.«

»Die ›Rückverwandlung‹?«, flüsterte sie. Sie meinte den Mongolismus.

Er wies den Gedanken mit einer unwirschen Handbewegung von sich. »Das Kind ist rhinozeroid«, erklärte er, und ich möchte wetten, er hatte das Wort soeben erfunden, aber Großmutter griff es dankbar auf als etwas, was sie Gott im Gebet zutuscheln könnte.

Später sollte ich mit verängstigten siebzehn – bei Gaslicht – als Mann Anfang fünfzig durchgehen, aber in meinen ersten Lebensjahren war alles andere als offensichtlich, was ich war oder was noch aus mir werden könnte. Kannst du es da meinem armen Kindermädchen Mary verdenken, dass sie ihre irischen Gebete wisperte, dass sie meinen Kopf mit Tränen benetzte, wenn sie mich – dreimal täglich – in Sahne badete, mich wieder und wieder einweichte wie Stockfisch? Kannst du meiner Mutter und meiner Großmutter ihre sorgfältigen Vorbereitungen auf die Besuchstage verdenken – jeweils der zweite und vierte Freitag im Monat –, wenn sie aus Angst vor hohem Damenbesuch die Brüste meiner Mutter mit Laudanum betupften und mich so sanft und berauschend stillten, dass ich oben tief benommen und lautlos schlummerte, während sie unten in ihren gestreiften Röcken auf den Kanapees saßen? Ich fasse es möglichst als Kompliment auf: dass eben die christlich-konföderative Welt mit ihren Ulmen, stolzen Villen und Seidenparasols so etwas wie mich noch nie erblickt hatte.

Die Jahre vergingen, und ich wandelte mich so verblüffend wie normale Kinder auch, nur ließ meine Verfassung vermuten, dass mein Körper rückwärts alterte, sich sozusagen verjüngte. Als hutzeliges, scheinbar hochbetagtes Wesen geboren, wuchs ich zum Kleinkind mit dem dichten weißen Haar eines Sechzigjährigen heran, dessen Locke seine Mutter in ihr Album legte. Aber ich war kein alter Mann, ich war ein Kind. Ich alterte nur dem äußeren Anschein nach verkehrt herum. Ich glich einer Gestalt aus alten Mythen, doch innerlich war ich wie jeder Junge – so, wie ich jetzt zwar einem Bengel in Knickerbocker und Mütze gleiche und doch im Innersten bin wie jeder wehmütige alte Mann.

Vielleicht lesen Ärzte mit; ich sollte genauer sein. Äußerlich bin ich der Welt entgegengesetzt gealtert. Kurioserweise ergeben mein wahres und mein scheinbares Alter zusammengenommen stets siebzig Jahre. Das heißt, dass ich mit zwanzig fünfzigjährigen Frauen begegnete, die mit mir schäkerten wie mit einem Altersgenossen, und als ich fünfzig war, ließen junge Frauen auf der Straße für mich endlich aufreizend ihr Kaugummi schnalzen. Alt in meiner Jugend und nun, da ich alt bin, jung. Ich biete dafür keine Erklärungen, das überlasse ich euch, euch Ärzten der Zukunft. Ich biete lediglich mein Leben.

Ich bin eine Rarität. Ich habe Jahrhunderte Medizingeschichte durchforstet und auf der ganzen Welt nur wenige gefunden wie mich, und selbst sie waren, leider, nicht ganz wie ich.

Die ersten zeit-veränderten Wesen der einschlägigen Literatur waren die Frabbonière-Zwillinge, 1250 in einem kleinen Weiler in der Grafschaft Béarn geboren. Aveline und Fleur kamen in der beklagenswerten Gestalt alter Weiblein zur Welt. Im Säuglingsalter wurden die beiden den Herrscherfamilien Englands und Frankreichs vorgeführt und auch dem Papst, denn man hielt sie nicht für kindliche Dämonen, sondern für einen Fingerzeig Gottes und Vorboten der Wiederkunft Christi. Pilger reisten an, um die Kleinen zu berühren und in der Hoffnung auf eine Offenbarung des bevorstehenden Endes ihrem Gebrabbel zu lauschen. Ihr Aussehen veränderte sich im Gegensatz zu meinem nicht, sie wuchsen alt heran, und sobald sie eine glaubwürdige Größe erreicht hatten, wurden sie wie alte Bäuerinnen behandelt und vergessen. Nur Ärzte und Gläubige suchten sie weiterhin auf. Als Aveline und Fleur das Alter erreichten, das sie dem Aussehen nach hatten, legten sie sich in das Bett, das sie teilten, fassten sich an den Händen und starben. Es gibt von dieser Sterbeszene einen grotesken Holzschnitt. Er hing früher über meinem Bett.

Ein weiteres Zwillingspaar, Ling und Ho, berühmt geworden durch eine Reihe Pamphlete gegen die Syphilis aus dem achtzehnten Jahrhundert, führte ein Leben, das dem meinen schon eher ähnelte. Oder vielmehr trifft das nur für einen der beiden zu: den armen, verfluchten Ho. Die Brüder wurden als Kinder einer Shanghaier Prostituierten geboren (so das Pamphlet), und während Ling als ganz gewöhnlich sabbernder, rosiger Säugling das Licht erblickte, kam Ho ziemlich genauso wie ich zur Welt: vom anderen Ende des Lebens. Während Ling zu krabbeln und glucksen begann, entwickelte Ho sich zurück. Das Leiden jedoch, das wir teilen, machte Ho von Anbeginn an zum Krüppel. Er blieb eine Art bettlägrige Mumie. Selbst zu Zeiten, da er etwas jugendlicher schien, etwas normaler, lag er steif und tumb da, konnte nur Rinderbrühe zu sich nehmen und schäumte innerlich angesichts des Glücks seines Bruders. Schließlich, mit fast dreißig, näherten sich beide optisch dem gleichen Alter. Und Ho konnte endlich das Leben auftauen, das so lange in ihm eingefroren gewesen war. Ling verließ sein Dorf, seine Frau und die Kinder, um sich an diesem gemeinsamen Geburtstag zu seinem Bruder zu begeben. Als er das Zimmer seines Zwillings betrat und sich über das Bett beugte, um ihn zu küssen, ließ Ho das Messer niedersausen, das er verborgen hatte, und wendete es, als sein Bruder zu Boden sank, gegen sich selbst. Hingestreckt in ihrem klebrigen Blut, waren die Zwillinge endlich identisch geworden, und da niemand sie unterscheiden konnte, wurden sie in ein gemeinsames Grab gelegt, auf dessen Mal geschrieben stand, der eine sei gesegnet gewesen, der andere ein Teufel, aber welcher welcher sei, wisse keiner.

Der letzte, den ich entdeckte, war ein weniger weit zurückliegender Mann: Edgar Hauer. An diesen kuriosen Fall erinnerte sich sogar meine Großmutter. Der Sohn eines Wiener Kaufmanns lebte bis zum dreißigsten Jahr ganz normal und frei von Symptomen. Erst dann begann sich sein Äußeres umzukehren wie bei mir, und den Rest seines Lebens wurde er augenscheinlich jünger und jünger. Ich habe seinen Fall eingehend studiert, in der Hoffnung, aus seinem Tod Schlüsse ziehen zu können (eine brennende Frage für mich, jetzt, fast am Ende), doch zu seinem Glück starb Edgar vor seinem fünfzigsten Jahr an Influenza, und an seinem Bett blieb weinend seine Frau zurück, in den Armen den Körper eines scheinbar zehnjährigen Jungen.

Mehr gibt es nicht. Und keine der Geschichten endet glücklich.

Ich sollte vielleicht meine Verkleidung erklären. Es klingt wenig überzeugend, wenn ich sage, dass ich mich deshalb als zwölfjähriger Junge ausgebe, weil ich so aussehe, aber genauso ist es. Ich bin klein und sommersprossig und einsam; ich trage Flicken an meinen Knickerbockern und Frösche in den Taschen. Nur einem sehr scharfen Beobachter würde auffallen, dass ich für ein Kind von zwölf Jahren zu viele verblasste Narben habe, einen zu lauernden Blick, und dass ich mir manchmal übers zarte Kinn streiche, als hätte ich mal einen Bart getragen. Aber es sieht niemand so genau hin. Ich weiß, dass es kaum glaubhaft klingt, aber die Welt ist restlos überzeugt, dass ich bin, was ich zu sein behaupte, und das nicht nur, weil ich mich nach so vielen schlimmen Jahren so gut verstellen kann. Sondern weil niemand abgerissene kleine Jungen beachtet. Wir verschwinden einfach im Dreck.

Für die Bewohner der Stadt steht fest, dass ich Waise bin. Gerüchten zufolge habe ich vor knapp zwei Monaten meinen Vater im frühjahrsvernebelten See verloren und bin seither ganz allein. Ich war im Haus eines Jungen aus der Stadt zu Gast, und seine Mutter erbarmte sich meiner und nahm mich auf. Der Junge warst du, Sammy, du unwissender Komplize. Die Mutter war deine Mutter, Mrs. Ramsey, eine hiesige Künstlerin. Seither lebe ich hier.

Ah, jetzt weißt du, wer ich bin, nicht, Sammy? Der betrübte blonde Waisenjunge, der gezwungenerweise dein Jugendzimmer teilte. Der komische Knirps im unteren Etagenbett, dessen Schnarchen – darauf wette ich – du auch heute noch auswendig kennst. Wenn du das hier liest, bist du selbst älter, und vielleicht wirst du mir vergeben.

Um meine Deckung zu wahren, muss ich allerdings jeden Tag zu Fuß in die Schule marschieren und idiotische Unterrichtsstunden absitzen. Heute zum Beispiel war die Geographie unseres Kontinents dran, und dabei wurden uns allerhand Lügen aufgetischt, darunter die Behauptung, dass Kalifornien (mein Heimatstaat) jede erdenkliche Art von Terrain kennt. Ich musste mir auf den guten Ticonderoga-Bleistift beißen, um nicht aufzubegehren. Vulkane? Steppen? Tundra? Aber ein Zwölfjähriger kann das nicht wissen, und ich darf mich um keinen Preis verraten.

Nur, wozu mich als Junge ausgeben? Warum nicht einfach wie jeder anständige Liliputaner auf dem Rücken eines Zirkuselephanten in die Stadt einreiten? Warum nicht den zerdrückten Hut und den Mantel des alten Mannes tragen, der ich eigentlich bin? Es gibt zwei Gründe. Der erste, auf den ich gleich noch komme, ist Die Regel. Der zweite, lieber Sammy, bist du. Ich habe lange genug darüber nachgedacht, wie ich dich finden soll, wie ich mich in dein Leben einschleichen könnte, wie ich ins Etagenbett unter dem deinen schlüpfen und dem Welpenjapsen deiner Träume lauschen sollte.

Es heißt, als Erster hätte nicht etwa ein Arzt meinen Zustand erkannt, sondern unsere Mary. Das Dienstmädchen war bei uns häufig Zielscheibe von Spott – Großmutter erzählte Besuchern gern, das arme Ding sei es so sehr gewohnt, Heuleitern hoch- und runterzusteigen, dass es immer noch rückwärts die Treppen hinabgehe –, aber in Wirklichkeit war Mary eine zerbrechliche und überspannte junge Frau mit einem Hang zur Eifersucht und zu Tränen, bei Schmeicheleien und Lob neigte sie hingegen zum Gickeln, sie war also für jeden gewieften Kerl leichte Beute. Folglich kam sie, wie in so vielen irischen Balladen, von rechten Weg ab. Ich war noch ein Wickelkind, als Mary fortgeschickt wurde – und fortgeschickt wurde sie, denn der ungenannte Freier ließ der armen Mary nichts als ein tot geborenes Kind, einen Distelanhänger und ein leeres Versprechen. Marys Nachfolgerin – die rothaarige und einfältige Maggie – war ihr zum Verwechseln ähnlich, Mary hingegen wurde nie wieder erwähnt, außer von Vater, wenn die Herren sich in den Rauchsalon zurückzogen, und dann nur als eine andere Art Witz. So wurde Mary aus den Annalen der Nummer 90 South Park Avenue gestrichen.

Aber wenige Jahre später kehrte sie zurück, verschaffte sich durch die Hintertür Einlass und war in die obere Diele gelangt, ehe Großmutter sie entdeckte.

»Mary!«, rief die alte Dame und griff sich an die Jett-Brosche.

»Mrs. Arnold, ich –«

»Wie bist du hereingekommen?«

Mary hatte nun nichts mehr von einem jungen Ding an sich. Ihr Gesicht war noch hübsch, aber hart, wie es unreife Früchte sind, und das Gesetz der Straße hatte ihren Blick, der einst so munter umhergeflogen war, zurechtgestutzt. Sie war gut, wenn auch etwas auffällig gekleidet, erst bei genauerem Hinsehen erkannte man die Fadenscheinigkeit der Stoffe, als trage und wasche sie ihr Kleid täglich. Ihre Hände waren vom Staub der Stadt, der Asche, die von den Fabriken regnete, schmuddelig. Damals trugen wahre Damen Handschuhe, und warum? Weil die Welt Dreck war. Doch Mary hatte keine Handschuhe, sie erwehrte sich des Drecks, doch sie war kein Mädchen mehr, so viel war klar. Mary war gefallen.

Sie lächelte wie niemals zu Zeiten ihres Diensts bei uns. »John hat mich reingelassen.« Sie meinte John Chinaman, so nannten wir den Koch. »Es ist nur eine Kleinigkeit, nur –«

»Tut mir leid, Mary«, herrschte Großmutter sie an. »Wie man sich bettet, so liegt man …« Großmutter setzte zu ihrer üblichen Predigt über Wäsche und Schicksal an, aber just in dem Moment brachte mich das Kindermädchen nach meinem morgendlichen Besuch aus dem Zimmer meiner Mutter. Obwohl ich fast drei war, trug mich Nurse auf dem Arm. Den wenigen Photographien dieser Epoche nach zu urteilen war ich, als ich Mary erspähte, im abscheulichsten Alter und in viel Spitze verpackt. Weil man mich sorgsam von der Welt abschottete, bekam ich selten andere Menschen als meine Großmutter, meine Mutter und das Kindermädchen zu Gesicht. Ich muss freudig gejuchzt haben.

»Sieh mal, wer da ist!«, rief Mary zu Großmutters Entsetzen. Die alte Dame riss hastig einen Arm hoch, um Mary den Weg zu versperren, aber Mary schritt durch die Diele und berührte mein Rosinengesicht. »Aber«, meinte sie verblüfft und fuhr herum. »Der sieht ja aus wie mein Pa, und er hat kein weißes Haar mehr!«

Großmutter wurde streng. »Mary, ich muss dich bitten, deine Taschen zu leeren.«

»Aber Ma’am, er wird jünger.«

Da stutzten Großmutter und das Kindermädchen. Es hatte eines Paar Augen bedurft, das mich länger nicht gesehen hatte, um den greisen Säugling mit dieser neuen, glatteren Gestalt vergleichen zu können. Das wirre irische Mädchen wurde rasch aus dem Haus bugsiert (was hatte sie überhaupt gewollt: stehlen, betteln, spuken?), aber ihre elektrisierende Wirkung auf den Haushalt ließ sich nicht leugnen. Was Schwärmen von Ärzten entgangen war, das sah die Gestrauchelte auf einen Blick.

»Ich fürchte«, sagte der Arzt zu Großmutter, als sie ihn auf einen gut gereiften Brandy zu sich bat, »sie hat Recht.« Er saß im oberen Salon, genoss seinen Brandy und sah sich um wie ein selbst ernannter Erbe. »Und für sein Alter, muss man sagen, ist er äußerst rüstig.«

Es war Großmutter, die mich großzog. Sie überwachte Ernährung und Pflege, sie öffnete dem kalten Nebel die Fenster, weil sie hoffte, er könnte mich heilen. Meine Mutter erzählte mir später, die alte Dame habe sie aus dem Kinderzimmer verbannt, weil sie überzeugt war, ich werde nur Kummer bereiten, werde binnen Monatsfrist zum kleinen Grabstein wie so viele Kinder, aber ich hege die Vorstellung, dass Großmutter mich in dem hohen, kahlen Raum für sich behielt, weil sie einsam war und hoffte, mich eine Zeit lang lieben zu dürfen: den letzten Alten ihres Lebens.

Großmutter war eine seltsame Frau; ich erinnere mich nur dunkel an sie, aber ich habe sie geliebt. Stundenlang konnte ich ihre Gumminase betrachten und das Feuerwerk geplatzter Äderchen, das sich von der Nase über ihre Wangen zog; ich mochte die komische Spitzencapote, die sie trug, und wie deren fest geknotetes Band in ihr schlaffes Kinn schnitt und lange, rote Striemen zurückblieben, wenn sie sie ablegte. Ich liebte sie, wie wir die Menschen an unserer Seite lieben lernen, weil sie unsere einzigen Gefährten sind.

Bestimmt hast du längst nachgerechnet. Ein Junge, der 1871 geboren wurde und allem Anschein nach siebzig war, wie lange würde er wohl leben? Siebzig Jahre natürlich. Und hättest du wie meine Großmutter an meiner Wiege gesessen und deine Perlenkette befingert wie einen Abakus, dann wärst du von der Lebenserwartung zu der nahe liegenden Schlussfolgerung gelangt: meinem voraussichtlichen Todesjahr. Genau das nämlich tat Großmutter, während sie im Pelz am offenen Fenster stand und meine glucksende, wie ein wackliger Pudding aus der Wiege quellende Gestalt betrachtete.

Als Großmutter das Jahr kannte, ließ sie meine Mutter rufen und trug ihr einen derart exzentrischen Botengang auf, dass die Ärmste mit dem Wenigen nach Luft rang, was oberhalb ihres Korsetts überhaupt atmen konnte. Man hätte meinen können, der Auftrag gelte einem Prinzen im Märchen; man hätte meinen können, die alte Dame liebe mich über alles und packe die Zahlen wie wärmende Decken um meine gebrechliche Jugend. Aber ihre Liebe galt Gott. Wie die Fox-Schwestern in ihrer zugigen Villa horchte sie nach den Klopfzeichen seines Geistes am hölzernen Rumpf meines Körpers. Der goldene Anhänger, den sie für teures Geld formen und hämmern ließ, war also nicht für mich, sondern für Ihn, sollte, als man ihn mir um den Hühnerhals hängte, beweisen, dass sie nicht blind gewesen war, sie hatte Ihn endlich erkannt.

Als man Großmutter zu Grabe trug, weinte ich. Ich durfte nicht zur Bestattung, aber ich erinnere mich sehr deutlich an die Kutsche, die vorm Haus hielt, und meine vollkommen schwarz verschleierte, verhüllte und bekränzte Familie im Eingang. Mutter beugte sich zu mir herab, erklärte mir, dass ich nicht mit dürfe und reichte mir zum Trost ihr schwarz gesäumtes, tränenfeuchtes Taschentuch. Vater winkte mir und nahm sie bei der Schulter, und ich entwand mich dem Griff des Kindermädchens, stieg auf die Truhenbank und presste mein Gesicht ans Fenster. Mit Mutters Taschentuch wischte ich den Kaminruß von der Scheibe und verfolgte unter Tränen die Abfahrt. Die Pferde trugen Federbüsche, die schwarzen Kutschen waren aus Lack und Glas. Langsam umrundete der Trauerzug die Ulmen von South Park und verschwand dann – wie alles immer ohne mich – hinter den schmierigen Scheiben des Fensters.

Den Anhänger habe ich aufbewahrt. Alles, was ich geliebt habe, ging verloren – ist verkauft, wurde mir genommen oder ist verbrannt –, nur das glitzernde Halsband ist geblieben, das ich mein Leben lang gehasst habe. Engel lassen dich im Stich, Teufel sind verlässliche Feinde. Ich habe ihn hier auf der Seite abgepaust. Und wenn du an das Datum am Anfang dieses Tagebuchs denkst, dann wirst du erkennen, was für ein Schicksal meine Großmutter mir vergoldet hat:

Bis jetzt habe ich dir von meiner Geburt und von meinem unausweichlichen Tod berichtet. Jetzt wollen wir endlich zu meinem Leben kommen.

Ich wurde beim Schreiben von einem Jungen unterbrochen. Von dir, Sammy.

Du bist auf deine übliche fuchtelnde Art herbeigeeilt, als wärst du eine Horde von zehn Jungen auf einmal, und bist kurz vor mir im traurigen Staub dieses Schulhofs stehen geblieben. In dem Bäumen tschilpten Vögel oder Mädchen. Die Zeitungsjungenmütze, die du sonst immer trägst, war irgendwo im Gebüsch gelandet, in das dich die Aufsicht später abkommandieren würde, um sie zu suchen, aber jetzt stellte sich dein Haar entfesselt dem Wind, quecksilbrig wie ein Gedankenblitz, du hattest deine Knickerbocker an den Knien losgemacht und hochgerollt, die Gummibänder deiner Kniestrümpfe waren gerissen, und die Strümpfe ringelten sich, deine Weste, deine Hose, dein Hemd – alles an dir war mit Staub verschmiert wie ein Brötchen mit Butter, und du standst lebendiger vor mir, als ich es wohl je war.

»Willste mitmachen?«

»Wenn ich ans zweite Mal darf?«, meinte ich. Ich forderte eine hohe Ehre.

»Wir brauchen jemand im rechten Feld.«

»Ach so.«

»Machste mit?«, fragtest du, schon ungeduldig.

»Nein«, sagte ich. »Ich schreibe. Hier, schreib du auch was«, fügte ich hinzu und riss eine Heftseite heraus. »Für deine Mom.« Worauf du nur schnattertest und wie ein Mädchen davonstobst, denn du bist ein Affe, Sammy, ein Affe, der auf allen Vieren angerannt kommt und brüllt und brüllt, aber wenn dir irgendjemand die Hand hinstreckt, turnst du kreischend hoch in die Bäume. Wenn ich die Hand ausstrecke. Denn ich bin ein Scheinjunge, eine Fälschung, und wie ein Tier auf Beutezug witterst du die Wahrheit, dein Blut gefriert in der Gegenwart des stinkenden Untiers, egal wie jungenhaft seine Gestalt, also bist du heute vor mir davongerannt und zu einem Pulk ringender Bengel zurück, die abgekämpft und betört in einer Staubwolke lagen und freudig die Köpfe hoben, als du ihnen zuriefst: echte Jungen.

Aber lassen wir das. Die Pausenaufsicht ist in der Tür erschienen und trillert unerbittlich. Ich muss diese Seiten auf ein andermal verstauen; jetzt wartet auf mich das Große Einmaleins.

Meine Lebensgeschichte beginnt im Grunde mit Alice. Zu jener Zeit war meine Missbildung am schlimmsten, aber um Alice zu verstehen und weshalb ich mich unbedingt verlieben musste, musst du von Woodward’s Gardens hören und von Hughie. Aber zuerst musst du Die Regel kennen lernen.

Es geschah an einem Winterabend nicht lange nach Großmutters Tod. Ich erwachte vom Puff des Gaslichts in meinem Zimmer, und als der flackernde Zauber sich ausbreitete, sah ich meine Eltern raschelnd vor Seide und Stärke in Operntoilette an meinem Bett sitzen. Ich weiß nicht, wie ihnen an diesem Abend geschehen war, welche Tragödie sie bezeugt oder welchem berühmten Hypnotiseur sie ihren Fall gebeichtet hatten, jedenfalls machten sie Gesichter wie reuige Mörder, die ihr Opfer bei einer Séance beschworen haben, und als Vater die Düse der Gaslampe aufdrehte und sich das Zimmer mit rosigem Glanz und einem scharfen Geruch füllte, kniete sich Mutter dicht vor mein müdes Gesicht und nannte mir Die Regel. Sie gab keine Erklärung ab, sondern wiederholte sie nur, damit ich begriff, dass es sich hier um eine Lektion handelte, die es zu lernen galt, und nicht etwa einen Traum; sie erlegte mir einen Zauber auf, und als gehorsamer Sohn würde ich ihr gestatten, ihren Bannkreis zu ziehen. Mein Vater stand an der Lampe und verschloss vor dem Grauen die Augen. Und dann schlief ich ein und weiß sonst nichts mehr. Die Regel hat fast mein Leben lang mein Handeln bestimmt. Als Gegebenheit hat sie mir erlaubt, alle schweren Entscheidungen zu vertagen, und sie hat mich deshalb weiter gebracht, als ich von mir aus je gegangen wäre, ganz aus meiner Heimatstadt bis in den kalten Sandkasten, in dem ich meine nackten Zehen nun vergrabe.

»Sei, wofür sie dich halten«, flüsterte meine Mutter mir an jenem Abend ein, und in ihren Augenwinkeln schimmerten Tränen. Sei, wofür sie dich halten. Sei, wofür sie dich halten.

Ich habe es versucht, Mutter. Es hat mir Herzeleid gebracht, aber es hat mich hierher gebracht.

In den Tagen nach Großmutters Tod wurde für mich alles anders. Wir zogen in ein kleineres, aber stilvolleres Haus hoch oben auf dem neuen Nob Hill. South Park war »herabgesunken«, wie Mutter es beschämt ausdrückte, die neueren Häuser am Park wurden aus Holz und nicht mehr aus Stein errichtet, man unterteilte sie in Wohnungen, und anstelle der wohlhabenden alten Virginia-Damen, die einst unter schwarzen Sonnenschirmen und bebänderten Hauben flaniert waren, zogen Händler und jung verheiratete Paare ins Viertel. Auch wir ließen das alte Haus in mehrere Wohnungen aufteilen und vermieteten das obere Stockwerk an ein junges Ehepaar, das untere an eine jüdische Witwe mit Töchterchen. Dann zogen wir mit den übrigen Reichen nach Nob Hill, wo man uns eine Aussicht verhieß, die sich allerdings fast immer in dichten Nebelpelz hüllte.

Und ich wurde freigelassen. Zwar war ich mit Mutter ein paarmal draußen gewesen, auf dem Markt oder im Park. Meist aber waren meine Abenteuer auf die schmale Aussicht beschränkt geblieben, die mir das Kinderzimmer gewährte – eine Herde Gänse mit Jungen, eine offene Kutsche mit einer Picknick-Gesellschaft darin, der Milchmann, der seine Kannen an heißen Herbsttagen mit einem nassen Teppich schützte; jeder Hund, jede Katze, die schnuppernd vorbeikamen und hochsahen, versetzten mich in die gleiche Erregung, die ein Astronom verspürt haben würde, wenn der Mann im Mond seinen Rücken gewendet und ihm zugelächelt hätte.

Insofern glich es einer Verkündigung, als Mutter mir eines Morgens an ihrem Frisiertisch verriet, dass man mich nach Woodward’s Gardens ausführen werde. Ich war sechs, wenig größer nur als ein Kind, aber dem Aussehen nach alles andere. Mutter saß vor mir und erhitzte eine Haarnadel in der Kerzenflamme, um sich damit die Wimpern hochzubiegen, und ich rupfte die Haare aus ihrer Bürste und stopfte sie in den dafür vorgesehenen Behälter aus Porzellan. Mir gefiel, wie das dichte, wundersam tote Zeug sich so übel verfilzte, ich spürte gern die langen Haarfäden, die sich so fein und luftig aus der Bürste lösten und dann so dunkel und buschig im Porzellanbauch verschwanden. Mutter sammelte das Haar und knüpfte es. Sie hatte aus Großvaters Haar ein Armband geflochten, das Großmutter noch im Grab trägt, und später knüpfte sie ein zweites aus dem Haar meines Vaters und grünem Band. Es umschloss mit seinem kleinen Emailleporträt Mutters Handgelenk noch lange, nachdem er fort war.

»Was ist Woodward’s Gardens?«, fragte ich und drängte mich an sie.

Sie lächelte traurig und hielt meine Hand. »Ein Park. Draußen.«

»Ach so.«

»Ich sollte dich vielleicht warnen, dass dort Kinder sein werden.«

Nicht ›andere Kinder‹, nur ›Kinder‹.

»Aha.«

»Kleiner Bär«, sagte sie sanft; ich war stets ihr ›kleiner Bär‹. Ich schob die letzten Haare in die enge Öffnung und beäugte sie misstrauisch. Sie war damals so jung, so schimmernd schön wie der Himmel nach einem Regen.

»Willst du nicht?«, fragte sie mich mit ihrer jungen, lieblichen Stimme.

Mehr als alles auf der Welt, Sammy.

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Es leben noch Menschen, die sich an Woodward’s Gardens erinnern und an die Maifeiertage, an denen Woodward – reich geworden durch das What Cheer House, sein Hotel unten an Meigg’s Wharf – für sämtliche Kinder aufkam, die ganze Schar der städtischen Jugend, damit sie in seinem Garten spielte:

Es gab Reihen kleiner, pelziger Dromedare mit den getrockneten braunen Tränen im Augenwinkel, auf denen Kinder und junge Burschen im Jockeykostüm ritten; den See mit einer Brücke und einem Pavillon wie im Morgenland; die Rennbahn; den Maibaum; Becken voller brüllender Seelöwen; ein Rotor-Boot rund wie ein Donut im eigenen kleinen Becken, das Kinder endlos im Kreis ruderten; phantastische Erfindungen aller Art, darunter ein Zoographikon, das Orchestrion und Edisons Sprechapparat; eine Voliere, in der sich junge Paare zwischen die Farne stahlen und unter einer Vogelwolke poussierten; Herden von Emus, Straußenvögeln, Kasuaren; ein ›Happy Family House‹, wo die Affen saßen und die Menschen nachahmten, indem sie sich herzten und küssten; aber am stärksten sind mir von jenem staunenswerten Tag zwei Dinge in Erinnerung geblieben, für das eine musste man hinab-, für das andere hochsehen. Die beiden Dinge und, natürlich, die Begegnung mit Hughie.

Als unser flotter Zweispänner sich der hohen Hecke zwischen Thirteenth und Mission Street näherte, kriegte ich kaum noch Luft. »Es gibt Seehunde«, sagte Vater, dessen Backenbart die Worte wie zwischen zum Tuscheln an den Mund gelegten Händen hindurchließ und ihnen dadurch die Atemlosigkeit eines Geheimnisses verlieh, »und Papageien und Kakadus«. Er schwärmte natürlich für die Gärten, denn hatte er den eigenen Namen nicht zu Ehren eines ebensolchen Vergnügungsparks geändert? Auf der Überfahrt von Dänemark hatte sich Asgar Van Daler eines Orts aus längst versunkenen Tagen erinnert, wo die Schwäne auf ihren Seerosenteichen klagten wie Loreleis, und weil ihm sein Name für dieses neue Land der Smiths und Blacks und Jones unangemessen schien, hatte er sich nach dem alten kerzenschimmernden Park genannt – seinem Tivoli.

»Schwäne!«, rief er und grinste. »Ein berühmter Tanzbär!«

»Wie ich? Ein Bär wie ich?«

»Wie du!«

Und ehe ich mich versah, waren wir drinnen. So gefesselt hatten mich seine Beschreibungen, so verzaubert die in Reih und Glied ihren Lehrerinnen folgenden Schulklassen, die Kinderwagen und Menschen und pittoresk platzierten ausgestopften Ibisse und Flamingos vor mir in den Büschen, dass ich ein kleines, trauriges Detail nicht einmal bemerkte. Im selben Moment, da ich übers Gras lief, steckte Vater drei rote Eintrittskarten weg. Er hatte für drei Erwachsene gelöst.

Damals war ich nicht einmal ein sehr überzeugender alter Mann, versteht sich – bartlos, zu klein für einen Erwachsenen, zu groß für einen Jungen –, aber die Leute glotzten nur kurz und ließen mich ziehen. Es gab zu viel anderes zu bestaunen. Während mir vor Wundern ringsum schwindelte, läutete eine Glocke und ein Mann kündigte an, Splitnose Jim trete jetzt in der Bärengrube auf. Ich warf meinen Eltern einen flehentlichen Blick zu, und Mutter band sich den Schleier enger ums Kinn und nickte ihre Zustimmung. Minuten später saßen wir in einem Amphitheater voller Kinder und gut gekleideter Paare auf einer Kiefernbohle inmitten des zeitlosen Kindheitsdufts von Popcorn und Staub. Ein Mann trat unten in den Ring und kündigte den Auftritt eines »furchterregenden Bären« an, »der einst für einen Italiener in den Straßen der Stadt tanzte, der jedoch eines Tages im Zorn den Ring aus seiner Nase riss und über seinen Führer herfiel! Weil er für die Gehsteige zu gefährlich war, brachte ihn Mr. Woodward zu eurer Unterhaltung hierher.« Und schon wankte er herein, der Splitnose Jim.

Ein abgetakelter Bär wird für diejenigen unter euch, die als Kinder Löwen und Hyänen im Zirkus erlebt haben, nicht sonderlich aufregend sein, aber ich hatte in meinem ganzen Leben noch kein solch gewaltiges Tier gesehen. Ich schrie zweimal, einmal aus Angst, dann noch mal vor Entzücken, als der alte Jim sich auf die Hinterbeine stellte, schnupperte und dabei wiederholt nickte wie der vornehme Gast, der sein Stammlokal betritt.

Für eine Erdnuss führte er ein paar armselige Kunststückchen vor, kletterte Pfähle hinauf und fläzte weit über unseren Köpfen resigniert auf Plattformen. Was immer der Führer erzählte: wie gefährlich der wild durch den Yellowstone Park streifende Jim gewesen sei, wie man ihn eingefangen habe und was für ein außerordentliches Kunststück er uns als nächstes vorführen werde – wir klatschten. Unter Applaus lehnte sich Jim gegen das Geländer zurück, Erdnuss auf der staubigen Spaltnase, und träumte wie jeder beliebige Arbeiter vor sich hin, bis der Boss wieder mit der Peitsche knallte und es Zeit war, sich sein Brot zu verdienen. Ich liebte den alten Jim, und ich beklagte sein Schicksal. Ich begriff sehr wohl, dass er eingesperrt war, einsam, verwirrt, nur Wärter als Freunde. Aber Kinder sind zu Bedauern nur begrenzt fähig. Es nagt, es juckt, bis wir rasch eine Lösung für die Unterdrückten zurechtphantasieren: uns selbst. Und so rettete ich den alten Jim in meinen ungenauen Jungengedanken, indem ich ihn mit nach Hause nahm und wieder in einer Festung leben ließ, auf Nob Hill, wo er sich im Treppenhausfarn verbergen musste, in den Speiseaufzug kriechen und auf diesem Wege in den Keller stehlen, wo wir die Kartoffeln und den guten Wein lagerten, wo seine müden alten Augen meinen Schlaf bewachten und er überhaupt mein Leben mit genau den Schrecken und Abenteuern versah, deretwegen man ihn eingesperrt hatte. Ich würde Jim retten und er mich, voll Liebe und Dankbarkeit würde er mir mit einer Zunge so schwarz und lang wie ein Stiefel die Stirn lecken.

Nach der Bärengrube wollte mein Vater, dass wir alle gemeinsam Rollschuh laufen, aber das fand Mutter zu gewagt. Stattdessen folgten wir den Schildern zur Himmelfahrt, etwas, was selbst Mutter, die sich die Schweißperlen aus dem Haaransatz tupfte, unwiderstehlich fand.

Der Ballon entlockte meinem Vater, der mit fuchtelnden Armen in die gewaltige silbrige Pracht hinaufstarrte, Seufzer und ein breites Grinsen. Er schwärmte für Erfindungen und technische Neuerungen, besonders alles Elektrische, und unser Haus wäre eines der ersten mit Fernsprechapparat geworden, hätte meine Mutter nicht darauf hingewiesen, dass es, abgesehen von den exorbitanten Kosten, im ganzen Land nur dreitausend andere Menschen gebe, die man anrufen könne, und dass sie uns alle, ungeachtet ihrer Herkunft, erreichen könnten. Es wurde ihm untersagt, seinem technischen Faible nachzugehen, aber ich entsinne mich an einen Abend Jahre nach dem Besuch in Woodward’s Gardens, an dem er meiner Mutter – entweder aus Liebe zu ihr oder zu allem Neuen – ein als Brosche gearbeitetes elektrisches Kleinod überreichte. Er legte das winzige galvanische Element ein und steckte ihr den Schmuck an den Aufschlag, wo er herrlich gespenstisch leuchtete. Mutter hörte sich lächelnd Vaters Erläuterungen an, der betonte, das sei der allerletzte Schrei. Dann jedoch schenkte ihm Mutter einen mitleidigen Blick und sagte: »Asgar, ich danke dir, aber es geht nicht«, um ihm prompt auseinander zu setzen, dass eine Dame, ebenso wie bei der französischen Couture, die neueste Mode erst anderen überlasse.

Das war die letzte der Übertretungen Vaters, aber keineswegs die erste. Zurzeit meines Ausflugs war er bereits dazu verdonnert, seine geliebten Wunder zu verstecken – etwa die durchsichtigen, spitzen Glühfadenlampen, die ich eines Tages in einem Nest Watte verborgen im hohlen Globus seines Studierzimmers entdeckte, als wären es die eben abgelegten Eier einer gläsernen Eidechse – oder sich mit öffentlichen Wunderwerken wie dem zu begnügen, vor dem wir jetzt standen.

»Sieh nur, alter Knabe!«, sagte mein Vater zu mir mit seinem seltsamen Akzent. »Sieh nur!«

Hoch über dem Gelände, hoch über dem Korral der Zuschauer, so dass selbst das große gestreifte orientalische Zelt der Voliere daneben zwergenhaft wirkte, schwebte das schimmernd gesteppte Silber von Professor Martins Ballon. Während ein Ausrufer der Menge seine Geheimnisse anpries und der Professor sich auf seinen Aufstieg vorbereitete, schien der sich leise und gewaltig im Wind wiegende Ballon in einer entgegengesetzten Dimension zu existieren, als gewaltiger Kopf stehender Regentropfen von der Erde zu baumeln und gen Himmel zu beben.

»Auweia!«, hörte ich neben mir eine Stimme zirpen. Der Ausspruch gehörte nicht zum Wortschatz meiner Eltern, ich kannte die Wendung nur von meinem Kindermädchen. »Auweia, was ist das denn?«

Genau das fragte ich mich auch. In der ganzen Aufregung des Parks hatte ich die vielen Menschen nicht weiter beachtet. Doch dort, direkt neben mir, stand das exotischste Schaustück von allen: ein gewöhnlicher Junge.

Ich wusste, dass ich anders war. Vater hatte mich zu sich in seinen dunklen Salon gerufen und aus dem Dickicht seines Zigarrenqualms erklärt, dass die häufigen Besuche des Arztes zwar ungewöhnlich seien, das aber nur daran liege, dass ich, wie er sich ausdrückte, »ein wenig verzaubert« wäre. Mutter, zu deren Kosenamen für mich ›Alterchen‹ und ›kleiner Bär‹ gehörten, erklärte mir eines Morgens, während sie ihre Magnolien-Creme auftrug, dass ich niemandem sonst auf der ganzen Welt gleiche, keinem Jungen sonst, nicht einmal meinem Vater als Jungen, nicht den Bediensteten, nicht dem Koch noch irgendjemandem sonst. Aber das bekommen alle Kinder zu hören; wir sind großartig, wir sind was Besonderes, wir sind einzigartig. Dass ich wahrhaftig anders war, wusste ich nur deshalb, weil Bedienstete tuscheln und ich einmal, als ich mich im Kartoffelkeller versteckt hielt, Maggie dem Hausmädchen sagen hörte, wie leid es ihr tue, dass ich »so lieb, aber so komisch geraten« sei.