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Auf einer Insel im Südpazifik trifft sich 1965 eine Gruppe kalifornischer Astronomen, um einen Kometen zu beobachten. Das Gestirn streicht vorbei, aber ein Junge stirbt - ein Erlebnis, das sie nicht mehr loslassen wird. Von nun treffen sich sich alle sechs Jahre, um den Kometen zu beobachten und ihr Leben neu zu vermessen. Der Roman beschreibt das nomadische Zuhause, das wir uns durch Freundschaften schaffen, er evoziert die Sehnsucht, mit der wir an ihnen bauen. Das Mobile der Figuren dreht sich in der Zugluft ihrer Biographien. Einfühlsam zeigt uns Greer die Farbe der Gefühle, die Räume aus Einsamkeit, die Kreuzungen aus Ehrgeiz und Passion. Der Roman ist ein Haus, in dem Helden wie Planeten kreisen.
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Seitenzahl: 509
Veröffentlichungsjahr: 2017
Andrew Sean Greer
Roman
Auf einer Insel im Südpazifik trifft sich eine Gruppe kalifornischer Astronomen, um einen Kometen zu beobachten. Das Gestirn streicht vorbei, aber ein Junge stirbt – ein Erlebnis, das die Wissenschaftler nicht mehr loslassen wird. Von nun an treffen sie sich alle sechs Jahre zu der Zeit, zu der der Komet seinen sonnenfernsten und sonnennahsten Punkt erreicht.
Zwischen diesen Nächten des Kometen passiert aber das Leben. Die Freunde, die sich über all die Jahre nicht aus den Augen verlieren, sind einander Fixsterne, an denen sie ihr Glück und den Fortgang ihrer Karrieren messen, von denen sie aber auch lernen, wie die Intensität einer Liebe, auch einer vergangenen, die Emotionalität eines ganzen Lebens färbt. Der Roman ist ein Haus, in dem die Helden wie Planeten kreisen und Andrew Sean Greer der Vermeer der Literatur.
»Greer beherzigt die wichtigsten Lektionen von Virginia Woolf aufs genaueste – wie man durch geschickte Schattierungen Spannung aufbaut und wie man den Leser vor lauter Überraschung den Boden unter den Füßen verlieren lässt.»
San Francisco Chronicle
»Man legt das Buch nach der Lektüre beglückt zur Seite.«
Neue Zürcher Zeitung
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Andrew Sean Greer hat einen eineiigen Zwillingsbruder und wuchs in einem Vorort von Washington D.C. auf. Schon mit seinem zweiten Roman »Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli« gelang ihm der internationale Durchbruch. Greer lebt zwischen San Francisco und der Toskana, wo er die Santa Maddalena Writer's Residency leitet. Auf Deutsch liegen außerdem Greers Romane »Geschichte einer Ehe«, »Die Nacht des Lichts« und »Ein unmögliches Leben« vor.
Uda Strätling lebt in Hamburg und hat u. a. Emily Dickinson, Henry David Thoreau, Sam Shepard, John Edgar Wideman, Aldous Huxley und Marilynne Robinson übersetzt.
Widmung
Motto
1965 Vor dem Perihel
1971 Vor dem Aphel
1977 Vor dem Perihel
1983 Vor dem Aphel
1990 Vor dem Perihel
Danksagungen
Für David
Wenn wir wüssten, was wir brauchten,
wenn wir es nur wüssten,
die Sterne schauten auf uns und ließen sich leiten.
W. S. Merwin
Jedes Licht besitzt seine eigene Nacht.
Novalis
Kometen sind üble Gestirne. Wann immer sie im Süden erscheinen, geschieht Unvorhergesehenes, wird das Alte hinweggefegt und muss Neuem weichen.
– Li Tschun-fëng, 602–677 v. Chr.
Der Himmel hielt immer Wort.
So hatte sie das schon als Kind gesehen. Mochte es daheim Krach und laute Stimmen geben, mochten die Lehrer in der Schule ungerecht benoten, weil sie übel nahmen, wie viel ein Schulkind wusste: Wenn sich die kleine Denise aus dem Fenster lehnte und den Nebel San Franciscos beschwor, die Klippen freizugeben, erhaschte sie vielleicht einen Blick des aufgehenden Jupiters oder konnte eine Sternschnuppe vom Fell der Nacht zupfen. Selbst wenn dichter Nebel den Himmel verhüllte und das Dunkel sie frösteln machte, wachte sie am Fenster, denn sie wusste, dahinter waren unfehlbar die Sterne, auf sie war Verlass. Je größer sie wurde und je besser sie die Welt verstand, desto unverzichtbarer wurde ihr der Nachthimmel. An der High School und am College kicherten die anderen Mädchen, gingen ins Kino und hatten Rendezvous, Denise aber tauchte spätnachts am Palomar-Teleskop auf, unterhielt sich mit konsternierten Wissenschaftlern und bestand darauf, auch hindurchzuschauen. Oft ließ man sie. Keine Pubertät im üblichen Sinne – zwar schwärmte und träumte sie sich wie jedes junge Mädchen durch die fünfziger Jahre, doch Einstein und der gut aussehende Oppenheimer waren die Helden auf ihren Postern, und wenn sie einschlief, reiste sie auf der Jagd nach Quasaren bis weit hinter den Pferdekopfnebel. Ein seltsames Kind und sie wurde eine seltsame junge Frau. In ihrem Herzen war wenig Platz für andere; es war randvoll mit Sternen. Lange Jahre hielt sie deren ferne Glut für Liebe.
Doch nun, an Deck einer Fähre im Südchinesischen Meer, musste Denise einsehen, dass dieses Gefühl etwas ganz anderes war als Liebe. Mit fünfundzwanzig war sie zum ersten Mal der Liebe begegnet, und wie so oft beim ersten Mal hatte sie sich heftig in den Falschen verguckt und ihn verloren. Carlos hieß er. Das Ganze hatte keine sechs Monate gedauert und doch war es ihr stärker unter die Haut gegangen als erwartet. Hatte ihr je ein astronomischer Fehler so zugesetzt? Denise, spät dran mit einer Phase, der andere längst entwachsen waren, schwänzte Seminare, ließ Mahlzeiten aus, verkroch sich krank vor Kummer tagelang im Bett. Es wurde so arg, dass ihre Mutter eines Nachmittags im grünen Cape mit Hut und goldglitzernder Hutnadel in Denises sonnigem Apartment stand, sanft auf sie einredete und, verborgen in ihrer Alligatorhandtasche, ein Flugticket brachte. Sie tröstete ihre Tochter, und als Denise an ihrem Tiefpunkt das Ticket zum Vorschein kommen sah, war ihr zweierlei klar: erstens, dass ihre Mutter bezahlte, damit sie Carlos vergaß, ihr Amnesie kaufte, wie man sich im Restaurant mit Trinkgeld einen guten Tisch sichert. Und zweitens, dass sie das Angebot annehmen würde.
Es war der Fahrschein zu einem Ereignis, zu dem ihr Doktorvater, der berühmte Kometenentdecker Dr. Swift, einlud. In diesem Jahr nämlich, 1965, kehrte sein Komet wieder, traumhaft genau seiner Vorhersage gehorchend, und um dies zu feiern, würde er mit einigen Kollegen und höheren Semestern eine Exkursion auf die Insel unternehmen, wo er seine Entdeckung gemacht hatte. Der Aufwand wurde damit begründet, dass man den Meteorstrom beobachten wolle, der, ebenfalls Swifts Berechnungen zufolge, im März beim Periheldurchgang des Kometen intensiviert werden würde. Zwar wusste man längst, dass solche jährlich wiederkehrenden Lichtspektakel sich dem Moment verdankten, in dem die Erde eine Kometenbahn kreuzte, Swift aber wollte herausfinden, ob die jüngste Passage des Mutterkörpers den Meteorstrom speisen und ein besonders eindrucksvolles Schauspiel erzeugen würde. Er wollte seinen Kometen von einem Feuerwerk gekrönt sehen, und er hatte sich zur Beobachtung den dunkelsten Winkel der Erde ausgesucht. Der Star der Show – der Komet Swift – stand derzeit von der Sonne überstrahlt am östlichen Himmel, ein langschweifiger chinesischer Drache. Danach würde er 1977 wiederkehren, 1989 und so weiter.
Zu dieser Insel waren sie jetzt auf einer betagten Fähre mit ächzenden Planken unterwegs und trotzten den Hammerschlägen der Mittagssonne. Sämtliche Studenten – die Glücklichen, die aus Swifts Forschungstopf mitfinanziert worden waren, jene, die selbst Stipendien ergattert hatten, und die, die das Geld für die Reise irgendwie zusammengekratzt hatten – waren vor der Glut in den violettblauen Schatten des Sonnensegels geflohen und standen schwatzend und lachend dicht gedrängt beieinander. Denise sah sich den ausgelassenen Pulk Kommilitonen an und fragte sich, ob alle das Gleiche wie sie durchgemacht hatten. Sie waren Wissenschaftler, leidenschaftlich und überheblich. Waren sie alle ähnlich verkümmert und zu klein für die Liebe, als sie ihr endlich begegneten? Hatten sie ihre Herzen gestutzt wie Bonsaibäumchen? Wie hatten sie es bloß geschafft?
Denise schaffte es, indem sie sich ein ein bisschen betrank. Sie trank sonst wenig, aber sie hatte sich einen Flachmann Bourbon mitgebracht, und das linderte etwas, entsprach aber kaum dem, was 1965 von jungen Damen erwartet wurde. Fast ohne ihr Zutun sirrte ihr Verstand unablässig weiter. Ständig rechnete er Bahnkurven, Geschwindigkeiten und bestirnte die Welt mit Zahlen. Das machte Denise so brillant, unter allen Studenten an Bord war sie die begabteste. Zur Schonung ihrer auf Nachtsicht getrimmten Augen ging sie nie ohne Sonnenbrille aus, sie war besessen, und doch fand sie, diese Art Wahn verderbe das Leben ein wenig. Manchmal wünschte sie sich, dümmer auf die Welt gekommen zu sein. Diese verpatzte Liebe zum Beispiel: Ihr Verstand zerrte unerbittlich daran wie ein Hund an einem alten Lumpen.
Und so kam es, dass Denise – fünfundzwanzig Jahre alt und beinahe schön, das Gesicht lichtgescheckt unter dem rissigen Sonnensegel – nach nur der Hälfte der Überfahrt schon beschwipst war.
»Ist es nicht irre?«, fragte sie ihren Freund Eli, grinste, beugte sich von ihrer Taurolle aus mit ihrer Kamera rasch in die heiße Sonne und drückte genau in dem Moment ab, als Eli sich etwas in sein Buch notierte. Der junge Mann schnitt eine Grimasse und versuchte, ihr die Kamera zu entreißen, aber sie war schneller. Sie hatte den Apparat mitgebracht, um Eli zu ärgern, ebenso wie den Wasserzerstäuber, mit dem sie ihn und seine Frau eingesprüht hatte, bis Eli sich gezwungen sah, ihn zu konfiszieren. In zehn Minuten würde er auch ihre Kamera schnappen.
»Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist«, verkündete Denise munter.
»Ich würde sagen, ein halber Liter Bourbon …«
Unter der Krempe ihres weißen Huts kniff Denise die Augen zusammen, am Himmel flirrte die Sonne wie Aluminium. »Was dagegen? Ich finde, ich habe allen Grund zu trinken.«
»Gib mir auch mal einen Schluck«, raunte er, als seine Frau wegsah. Er schielte zu Denise hoch und schluckte vergnügt. Möwen keiften rings um sie her.
Gesichter sind Räume. Denise empfand das ihre als ordentlich, teuer, aber lieblos möbliert. Als wären alle Vorzüge Erbstücke der französischen Verwandtschaft mütterlicherseits. Während diese Vorfahren sicher schön gewesen waren, verstand Denise es nicht, aus ihren Anlagen etwas zu machen. Ihre Züge waren hübsch, aber unscheinbar, sie wusste und akzeptierte das. Mit ihrem Gesicht empfand sich Denise als Untermieter der Schönheit. Stattdessen hatte Denise ihren Verstand, und in ihrem Gesicht konnte man zu jeder Zeit die Gedanken wie auf einem Stuhl sitzen sehen – oder in einer Ecke im Schneidersitz auf einem zerschlissenen Läufer.
Denise musste über Elis gieriges Schlucken lachen. »Schluss jetzt«, sagte sie, entriss ihm den Bourbon und ließ den Flachmann in ihre Handtasche zurückgleiten.
»Muss ich dir erst alles nehmen, was du hast?«
Sie grinste ihn an. Eli hatte sich allein in den zwei Jahren, seit sie sich kannten, stark verändert: das Ziegenbärtchen rasiert, die Locken abgeschnitten. Als sie ihm das erste Mal im Gang vorm Institutssekretariat begegnete, war er ihr so wild vorgekommen. Aber wie ein kühles Laken am Morgen hatte seine Frau ihren jungen Ehemann glatt gezogen.
»Pass auf, dass Kathy nicht über Bord geht«, sagte sie, und rasch wandte er den Kopf nach seiner Frau, einer rätselhaften, weltfremden Erscheinung mit Brille, langem schwarzen Haar und schlechter Haltung. Sie lehnte sich weit über die Reling und warf Brot ins Wasser.
»Kathy!«, rief er, und die Frau hob ausdruckslos das Gesicht. Sie stand zu weit weg, um wirklich zu hören.
»Frag, ob sie was trinken will«, sagte Denise.
Eli sah zu, wie seine Frau sich wieder ihren Brotwürfeln zuwandte, und die beschienene Sichel seines Gesichts war helle Angst. Dann kehrte er sich ab, und der Moment verlor sich im Schatten. »Sie möchte nichts trinken.«
»Ich frag sie selbst.«
»Du weißt, dass sie dir das Zeug sowieso abnehmen, wenn wir da sind.«
Sie hob den halb leeren Flachmann und lachte: »Eben!«
Das Sonnensegel knallte im Wind und gab den Blick auf das Meer und den heißen, lavendelfarbenen Himmel frei. Am Horizont war keine Insel zu sehen, weder vor noch hinter ihnen.
»Besprüh mich ein bisschen mit Wasser«, bat sie Eli, und er holte den Zerstäuber hervor und tat es. Sie quiekte, er griente, und die muslimischen Wachmänner drehten sich nach ihnen um.
Ihr war schwindlig, sie fühlte sich trocken wie Zunder, ihr war übel von den Wellen und der Art, wie sie sich von der Mutter das Herz hatte abkaufen lassen. Später würde sie auf diese Szene zurückblicken, doch würde ihr Blick dann ein anderer sein – alles würde ihr idyllisch vorkommen, heiter und hell vor Sonne. Ehe die Nacht um wäre, sollte etwas geschehen, das für die Wissenschaftler, für sie und Kathy und Eli das Leben auf unmerkliche Art verändern würde. Jahre später würde sie es seltsam finden, dass man nicht wissen konnte, welche Momente im Leben zählen würden, worauf man achten musste, wie man sich aus dem Sumpf des Jetzt ziehen sollte. Wie hätten sie sich denn über anderes Sorgen machen sollen als das, was sie kannten: gescheiterte Liebe, helle Sterne? Wir horchen angespannt auf die Zukunft, würde sie später finden, und sind doch gegen sie taub.
»Nochmal.«
Eli besprühte sie erneut, systematisch, als sprenge er einen Rasen, und Denise fand ihn so alt, so gesetzt, als müsse er sich eigentlich über einen Bart streichen und Pfeife rauchen. Ruhig, ernst und weise. Dabei war er nicht älter als sie: fünfundzwanzig. Würde er sich denn nie jung benehmen? Oder würde es ihn später treffen, ihn ein hemmungsloser Nachholbedarf mit voller Wucht überrollen? Er stopfte den Zerstäuber wieder in seine Tasche.
»Zufrieden?«, fragte er.
»Kaum«, sagte sie.
Und das war der Moment, als Eli ihr die Kamera wegschnappte. Sie kreischte auf, bemerkte die Blicke der Wachmänner und schlug sich die Hand vor den Mund. Da stand Kathy über ihr, die Augen groß hinter den Brillengläsern, um die gespitzten Lippen ein sphinxhaftes Lächeln.
»Denise«, meinte Kathy, »ich habe die Lösung. Ich weiß einen neuen Mann für dich.«
Elis stille, zierliche Frau war merkwürdig einschüchternd. Wie machtvoll ihre geheimen Gedanken und Leidenschaften waren. Gleich einer seltenen, hoch entwickelten Spezies war Kathy undomestizierbar. Bei Abendeinladungen verschwand sie oft stundenlang, setzte sich auf verregnete Veranden und las oder durchforschte die Arzneischränkchen ihrer Gastgeberinnen nach ungewöhnlichen Funden. Eli schien von alledem nichts zu bemerken. Denise mochte Elis Frau sehr, fürchtete sie aber ein wenig, fürchtete, was Kathy von ihrem luxusgewöhnten Leben und Geist halten mochte, doch während Kathy den Großteil von Elis Kommilitonen mit müder Misanthropie betrachtete, war sie zu Denise freundlich und aufmerksam. Sie rief sie manchmal spätabends an und schlug gemeinsame Unternehmungen vor, Kunstausstellungen oder politische Veranstaltungen. Kathy räumte Denise eine Sonderstellung ein, während es Denise immer noch überraschte, dass Kathy überhaupt an sie dachte.
»Ich will aber keinen Mann«, sagte sie jetzt verunsichert. Sie wusste, dass die Herzleere in ihr so weit klaffte, dass jeder beliebige Kerl hineinspazieren könnte, jeder, der auch nur halbwegs nett schiene. Ihre Stimme klang zornig, erschrocken.
»Ich sage doch bloß, dass ich einen wüsste. Du musst ihn ja nicht nehmen.«
Mit argwöhnischer Miene fragte Eli: »An wen denkst du?«
Kathy sagte: »Adam – den Nachnamen weiß ich nicht mehr.«
Eli lachte. »Du bist gut, Kath. Der ist doch vollkommen verrückt.«
»Ha! Genau das Richtige für mich«, meinte Denise. Sie sah Eli den Kopf zur Seite neigen und die dichten Augenbrauen heben. Manchmal, fand Denise, sah er richtig gut aus. Die dunklen, tief unter den starken Brauenbogen liegenden Augen, das blanke Nasenbein, der jungenhaft vor Konzentration halb geöffnete Mund – Denise musste zugeben, dass sie sich ein bisschen verknallt hatte bei ihrer ersten Begegnung damals im Gang, als er ihr voll Leidenschaft von seinen Ideen erzählte. Da hatte sie nicht gewusst, dass er verheiratet war, und inzwischen war aus der Verliebtheit ein harmloses Versatzstück geworden. Sie wusste, wie sehr seine Frau ihn liebte. Einmal hatte Denise bei den beiden zu Hause in der Küche Likörgläser gespült, als sie Kathy wie gebannt auf ihr eigenes Hochzeitsfoto starren sah – sie barfuß mit gelben Margeriten und dazu ein strenger Rabbiner –, und Denise hatte sich ausgemalt, wie Elis jüngeres, schönes Gesicht einer Erscheinung gleich auf seine Frau zuschwebte.
Die Spivaks waren ein komisches Paar. Zusammen waren sie rasant unterhaltsam, doch kaum fand man sich mit einem allein, im Coffeeshop oder abseits auf einer der vielen entsetzlichen Institutscocktailpartys, bei der die üblichen hübschen, missmutigen Anfangssemester winzige Schinkenschnittchen reichten, war unweigerlich vom jeweils anderen die Rede. Verstohlen, verzückt, als kreisten ihre Gedanken tatsächlich ständig umeinander. Kathy und Eli benahmen sich immer noch so verliebt, dass Denise sich manchmal fragte, ob sie schon miteinander geschlafen hatten. Jetzt träumt sie von ihm!, hatte Denise an dem Nachmittag gedacht, als Kathy gebannt auf ihr Hochzeitsfoto blickte, dämlich grinste und ihre Perlenkette um die Finger wickelte. Dabei hat sie ihn doch! Sie hat ihn geheiratet! Im Labor untersuchten Astronomen das Licht der Sterne, um ihren stofflichen Aufbau zu entschlüsseln; im Spektrum der Ehe der Spivaks sah Denise ein einziges goldenes Band.
Ohne sie wie die anderen Paare wortreich zu bemitleiden, hatten die Spivaks die unverheiratete Denise adoptiert. Sie als Nichtjüdin, konnte sich Denise nicht verkneifen zu denken. Sie hatte bislang keine jüdischen Freunde gehabt, und sie gab sich Mühe, nichts zu sagen, nicht besonders zu fragen, als sie das erste Mal miteinander im Esszimmer saßen, in dem (nach Denises Erinnerung) unzählige mehrarmige Leuchter herumstanden, Samtkästchen mit Zeichen, Silberbleistifte ohne Minen, Rollen in Kästen und Urnen. Alles glänzte – wann fand die blaustrümpfige Kathy bloß die Zeit, das ganze Silbergerät zu polieren? Gab es ein koscheres Wundermittel, von dem Nichtjuden nichts wussten? Sie stellte keine Fragen, sie tat, als kenne sie sich aus, als wäre sie selbst fast Jüdin, und sie fand Mittel und Wege, religiöse Themen zu berühren, ohne den Unterschied offenkundig werden zu lassen – diese Mormonen, waren die nicht zum Schreien? Die Spivaks hatten eine Ledige aufgenommen, und die war dankbar. Die naive, noch zu habende kalifornische, bei Tisch politisierende Blondine ahnte nicht, dass es das Sabbatmahl war, ahnte nichts von der Thorarolle der Familie Elis. Vielleicht waren die beiden nicht minder erleichtert – blieben ihnen als Gesprächsstoff doch die Sterne.
»Ich bin felsenfest überzeugt«, erklärte Kathy nun übergangslos, »dass euer Professor Swift einen falschen Bart trägt.«
»Weißt du, Kath«, meinte Eli, ohne mit der Wimper zu zucken, »da könnte was dran sein.«
Vögel zogen kreischend über ihre Köpfe hinweg, und alle drei sahen ihre Schatten auf dem Sonnensegel kreisen, sich schneiden und mit steigender Höhe schwinden. »Bis später«, sagte Kathy, ohne zu lächeln, und stakste unbeholfen über aufgeschossene Taue ins grelle Licht. Eli blickte ihr besorgt nach, er erinnerte Denise an einen jungen Vater, der über sein Kind wacht. Kathy und Eli waren kinderlos.
Wie hatten sie es nur geschafft, wo ihnen doch so viele Sterne im Weg standen? Hatte Eli bei seiner ersten Liebe, der Astronomie, Abstriche gemacht? Oder musste Kathy letztlich den Preis bezahlen und allein schlafen, während er nachts am Teleskop hockte? Denise würde von vorn anfangen müssen, von den beiden lernen, vergessen, was Carlos sie gelehrt hatte. Schließlich hatte ihre Mutter für dieses Vergessen viel Geld bezahlt.
»Was liest du?«, fragte sie Eli, der die Nase wieder in sein Buch gesteckt hatte. Der Umschlag zeigte einen traurigen Mann im weißen Kittel und eine vollbusige Frau in einem gelben Pullover, die sich süffisant abwandte. »Einen Liebesroman?«
Er sah zerstreut hoch, drehte das Buch um und studierte den Umschlag. »Bitte? Nein. Ach so, verstehe. Nein: Die Suche. Nie gelesen? Geht um Chemiker.«
»Wie die Braut auf dem Umschlag?«
Er grinste, schien aber verstimmt. »Nein, die ist keine Chemikerin.«
»Kann ich mir vorstellen.«
Eli vertiefte sich wieder in das Buch, selbstvergessen, als wäre die Druckseite ein Fenster mit herrlicher Aussicht. »Eine Art Liebesgeschichte«, bemerkte er leichthin und musterte sie dann plötzlich scharf. »Und nein, ich kann es dir nicht leihen, weil Kathy es erst lesen muss. Was in den Köpfen von Wissenschaftlern vorgeht. Pflichtlektüre in unserer Ehe.«
Dieser Blick – das vertraute Herzklopfen meldete sich zurück, Denise errötete. Sie fragte: »Und was steht auf ihrer Leseliste für dich?«
Er verzog unwillig das Gesicht. »Virginia Woolf«, sagte er, stand auf, nahm sein Buch, schlenderte übers Deck davon und ließ sie unter dem Sonnensegel allein. Liebesgeschichten im Wissenschaftsmilieu – so etwas konnte auch nur Eli auftreiben. Ein Mann im Laborkittel, eine Puppe im hautengen Pullover, schlichte Version einer komplizierten Geschichte. Da gab es zum Beispiel sie hier in der unbewegt heißen Luft, unter einer Sonne, die weiß war wie Salz, eine Puppe im Laborkittel, der nichts blieb als der mütterliche Befehl zu vergessen, eine versiegelte Order, erst auf hoher See zu öffnen. Sie würde vergessen, darauf baute sie. Aber bitte, flehte sie stumm, nicht gleich.
Als sie ihn das erste Mal sah, hatte Denise Carlos kaum beachtet. Es war auf der Party eines Kommilitonen, und sie hatte nur Mathematik im Kopf gehabt. Als der Gastgeber Jorgeson ihr den hoch gewachsenen, gut aussehenden Mann vorstellte, hatte sie ihn abgeschrieben: umgänglich, eckig, mit militärisch kurz geschorenem, leicht schütterem Haar, ein Schlipsträger und Dauergrinser. Für sie war Carlos durch und durch fünfziger Jahre, durch und durch verheiratet, langweilig. Dass er verheiratet war, besiegelte die Sache. Carlos war vergeben, und die praktische Denise verschwendete an ihn keinen weiteren Gedanken.
Später aber, als sie mit Eli, Jorgeson und anderen im Labor Daten auswertete, machte irgendjemand eine Bemerkung über Carlos und seine Frau, ein keifendes Weib, über ihr liebloses Eheleben. Die Laborkollegen zeichneten von dem verlässlichen, aufrechten Carlos das Bild eines einfühlsamen, zerrissenen, ja verzweifelten Mannes, dem zu seinem Glück nur ein rettender Engel fehlte. Es war gewiss nicht ihre Absicht, Denise zu ködern. Aber die Worte verfingen sich wie eine Klette in ihre Gedanken: nicht wichtig, nicht groß, aber hartnäckig, weil plötzlich aus einem Langweiler ein Problem wurde, zu dem eine Frau die Lösung hätte. Als sie Carlos auf dem Markt an der Telegraph Avenue über den Weg lief, begegnete sie sozusagen einem anderen Menschen. Ich kenne dein Geheimnis, sagte sie sich, während er über das Wetter und Studentenunruhen sprach; du bist gefangen und einsam.
Diesmal bemerkte sie seine kleinen, klaren Augen, das glatt rasierte Kinn mit Unterbiss, die auffällig kleinen Ohren, die vom geschorenen schwarzen Haar abstanden. Normalerweise wäre ein derart adretter, kantiger Mann nicht infrage gekommen, aber nun kannte sie die Wahrheit. Sie nahm sein Auftreten als Show – der höfliche, zuvorkommende Zeitgenosse, der treu sorgende Ehemann. Sie nahm an, dass er unter Konventionen litt, die selbst Mitte der sechziger Jahre längst fragwürdig erschienen. Auf der Stelle versah sie ihn mit einem kompletten Doppelleben; gleich einem Karikaturisten an der Strandpromenade warf sie mit wenigen Strichen eine Skizze hin, die sich Carlos als Spiegel vorhalten könnte. Sie verabredeten sich für den folgenden Nachmittag, um sich gegenseitig Bücher zu leihen, von denen sie gesprochen hatten. Er notierte sich ihre Telefonnummer auf die Rückseite eines Kaugummipapierchens.
»Wenn Sie eines an mir ändern könnten, was wäre das?«, hatte Carlos gefragt, als sie sich bereits verbindlich lächelnd zum Gehen wandte.
»Bitte?«
»An meinem Aussehen«, erläuterte er, stand kerzengerade da und blickte an sich herunter. »Was würden Sie ändern, wie würde ich besser ausssehen? Ich wollte dazu gern mal den Rat einer Frau hören.«
Noch bei der Partybegegnung hätte sie zig Dinge nennen können, die sie an ihm geändert hätte – die beginnende Glatze, die hölzerne Art, die schmalen Lippen –, und sie hätte auch keine Skrupel gehabt, es ihm zu sagen, doch plötzlich fand sie an ihm nichts auszusetzen. Besser aussehen? Längst war, im Laufe eines belanglosen Gesprächs, aus diesem Mann, der aus vielen einzelnen, abzuwägenden und zu verwerfenden Zügen zusammengesetzt war, aus einem fragmentarisch wahrgenommenen Fremden, Carlos geworden. Ein ganzer Mann, dieser grinsende Carlos, zu vertraut, um ihn noch zu zerlegen. Das hier war Carlos komplett. Da stand er.
»Ich würde Ihre Augen blauer machen«, sagte sie.
»Blauer«, wiederholte er, musterte sie und machte dann die Arme breit, präsentierte sich ihr zur Gänze in seinem dunklen Anzug. »Aber der Rest ist in Ordnung?«
»Vollkommen.«
Seine Finger sanken auf ihre Schulter und flogen gleich wieder auf, als er zurücktrat und sagte: »Blauer. Das ist gut. Vielen Dank. Bis morgen also.« Er winkte und verschwand mit seinem Beutel Orangen in der Menge. Verwirrt blieb sie stehen.
Das konnte Carlos: so normal erscheinen, hoffnungslos, fad in einem Maß, dass er Denise langweilte und sie drauf und dran war, Schluss zu machen, und dann plötzlich doch etwas sagen, was sie als Beweis seiner Überlegenheit empfand. Sie war jung, und das Gefühl war unwiderstehlich. Das bislang unbeachtete Gesicht wurde schön – Augen, Nase, Mund, plötzlich hatte alles einen Wert. Wenn sie an ihn dachte, fühlte sie sich reich und klimperte mit dem Kleingeld seiner Reize – und das, noch bevor er mit ihr ins Bett ging, schon bei den heimlichen, knisternden Nachmittagsverabredungen, Matinees und Tassen Kaffee. Nach und nach lockte sie ihn fort von seiner Frau, seinem auf Eis gelegten Verlangen, und das verlieh ihr noch größere Macht. Jedes Mal, wenn er mit eingezogenem Kopf ihr Apartment betrat, sah sie das gleiche Lächeln, die gleiche zum Gruß erhobene Hand, das Grinsen, die Narbe auf seiner Brust, und jedes Mal war es schön. Die Liebe war für sie so neu, dass sie ihn unermüdlich im Schlaf bestaunte oder beim Telefonieren nicht aus den Augen ließ. Was sonst konnte schon faszinieren und sich dabei nie ändern? Der Himmel?
Doch allzu bald änderte sich alles. Vielleicht wurde sie zu anhänglich, vielleicht nutzte sich ihr mädchenhafter Charme ab, Carlos begann jedenfalls, ihr mit Ausflüchten zu kommen, und redete ihr schließlich ein, sie dränge darauf, die Sache zu beenden. Ihr dämmerte schnell, dass jede ihrer Altersgenossinnen es besser gewusst hätte. So deutlich, so dumm.
»Und was erzählst du den Leuten so?«, hatte Carlos wissen wollen, als Schluss war. In einem Café in North Beach, wo ihnen keine Bekannte über den Weg laufen konnten, nippten sie an ihrer Limonade. Denise hatte das volle Gewicht der gemeinsamen sechs Monate gespürt, während ihr natürlich jetzt, rückblickend, nur die erste Begegnung auf dem Markt, ein perfekter Nachmittag an der Steilküste mit Wein und das hier – das Ende – in Erinnerung geblieben war.
»Ich werde sagen, dass du den Verstand verloren hast«, antwortete sie.
Er kniff die Augen zusammen, nahm einen Schluck. »Denise …«
»Ich werde sagen, du hast da ein gewisses Problem«, fuhr sie fort und hörte doch selbst aus jedem ihrer Worte die Verzweiflung heraus und die Gewissheit, ihn so nie zurückgewinnen zu können. »Du wärst bei einem Therapeuten in Behandlung und nimmst irgendein neues Mittel.«
Er hörte ihr wortlos zu, lächelnd, mit zusammengekniffenen Augen, und sagte, er müsse los. Es sei schön gewesen, sie wiederzusehen, und sie solle ihn als Freund betrachten.
Was aber niemand wirklich begriff, war, dass es eigentlich nie um ihn gegangen war. Sicher, sie hatte Carlos geliebt, aber sie hatte von vornherein gewusst, dass sie jeden geliebt hätte, solange er sie nur verführte. Warum erst so spät? War sie es vorher nicht wert gewesen? Denise war wütend und heillos erschrocken, neidete anderen ihr Leben – das Jungsein, das Knutschen in alten Autos und auf Friedhöfen, die heimlichen Zettel und parfümierten Briefchen, den Mut, den sie zusammengenommen hatten, um einen bebenden Körper zu berühren, das Lügengeflüster, um das eine zu erreichen. Wie anders hätte ihre Jugend ausgesehen. Tanzabende, aufreizende Blicke, unwillkommene Avancen. Statt der Sterne. Kein Wunder, dass sie sich so hartnäckig an die Zeit mit Carlos klammerte, auf ein Wort von ihm hoffte, auf seine Rückkehr. Sie war durcheinander und voller Hass, irgendwie hatte sie das Gefühl von letzter Chance, sie sah die anderen um sich herum und glaubte, mit fünfundzwanzig würde im Leben die Summe gezogen und taxiert.
Während sie also fürs Vergessen bezahlt wurde, verbrachte sie ihre Zeit damit, Erinnerungen zu horten. Selbst hier auf dem Schiff konnte sie noch etwas über Carlos in Erfahrung bringen. Einer seiner Freunde war an Bord, der hässliche Doktorand, der sie auf der Party einander vorgestellt hatte. Denise krampfte sich der Magen zusammen. Sie musste mit ihm reden, musste etwas über ihren Exliebhaber erfahren. Sie wusste, wie albern das war, und versuchte, stattdessen an ihre Dissertation zu denken, lockte ihre Gedanken sanft von Carlos weg, etwa so, wie man einem Todesspringer das Hochhaus ausredet. Aber ihr Kopf machte nicht mit. Er zwang sie, ein Auge auf den hässlichen Kommilitonen zu werfen, das verklärte Licht, in dem er wegen Carlos erschien, und sie plante eine Eröffnung. Gott, mit dem Vergessen würde das nie was, das Geld der Mutter war vollkommen verschwendet.
»Hör bloß nicht auf Kathy«, sagte Eli zu Denises Erstaunen; eben noch war er, in seinen Roman kritzelnd, über das Deck spaziert, jetzt stand er vor ihr und starrte sie an, die Brille blind in der heißen Sonne. Sein weißes Hemd war über dem Brustbein durchgeschwitzt, es hatte sich dort ein glasiges Karo gebildet, unter dem man das Brusthaar sah.
»Bitte?«
»Dieser Kerl, mit dem sie dich verkuppeln will. Lass dich nicht darauf ein.« Das machten sie oft. Eli und Kathy arbeiteten scheinbar gegeneinander, während sie in Wirklichkeit, so glaubte Denise, die Arme ein und desselben Geschöpfs waren und sie auf eine Zukunft zuschoben, die sie für sie ausgesucht hatten. Vielleicht die Ehe? Eli sah zu ihr herab, aber sie konnte hinter den spiegelnden Gläsern seine Augen nicht erkennen. »Er ist Schriftsteller oder so«, sagte er. »Nur, irgendwie … ich weiß nicht … anders als wir.«
Wie hatte sie denn ihrer Vorstellung nach zu sein? Allein? War es das – war es den beiden am liebsten, wenn sie ganz allein war?
»Anders als wir?«, wiederholte sie. »Sind wir was Besonderes?«
Er wischte ihre lästigen Worte beiseite. »Er ist etwas gewöhnlich. Nett. Das schon. Und er hat Nixon gewählt. Er merkt sich Witze. So in der Art.«
»Da hast du’s«, sagte sie, wollte sich hochrappeln, aber ihr war vom Stimmengewirr der Menschen, von Wellenstampfen und Salzluft ganz schwindlig. »Da hast du’s: Jetzt bin ich erst recht neugierig.«
»Wenn du meinst«, sagte er, verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte wieder alt, erwachsen und täuschend weise. »Auf deine Verantwortung, ich hab dich gewarnt.«
»Glaubst du, Kathy geht es gut?«, fragte sie.
Elis Augen verengten sich angestrengt. »Wieso, was … Ach, du meinst dahinten?« Er wandte den Kopf nach der dunklen Gestalt am Heck, die sich gerade ein Kopftuch umband. Als hellen Bogen beleuchtete die Sonne die Sihouette ihres Rückens. »Kathy?«, sagte er wie zu sich. »Bestens. Sieh nur, sie hat eine Verehrerin gefunden.« In der Tat sah Denise ein kleines Mädchen – Lydia, die Tochter ihres gemeinsamen Doktorvaters – an Kathys Rock zupfen, bis Elis Frau hinabsah und mit ihr sprach.
»Sie ist großartig«, sagte Denise schlicht. Über ihnen knatterte das Sonnensegel.
Eli wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ja.«
»Wieder mal allein unter BADgrads.« BADgrads wurden die Studenten der Graduate School des Berkeley Astronomy Department genannt – als handelte es sich um Straßenrowdys.
»Jorgesons Freundin ist schließlich mit dabei …« Eli, immer noch dem Heck und dem schäumenden Kielwasser zugewandt, zeigte auf die schmale, scheue Chinesin, die mit dem hässlichen Studenten gekommen war.
Denise beugte sich vor und raunte beglückt: »Versandkatalog.«
»Wer sagt das?«
Sie lächelte. »Kathy.«
Eli lachte, schüttelte auf seine väterliche Art den Kopf und meinte: »Du darfst ihr nicht alles abkaufen.« Er musterte Denise belustigt, in den schmalen Augen ein abwägender, unergründlicher Ausdruck, während das Lächeln blieb. Aber sie witterte dahinter einen emsig arbeitenden Verstand, unwillkürlich strafften sich ihre Schultern, richtete sie ihr Augenmerk auf seine Körpersprache. Das kurze Auflachen, die lose verschränkten Hände. Was ging in seinem Kopf vor? Manchmal sah sie die Menschen als Denkaufgaben: Wenn sie nur genau aufpasste, waren sie vielleicht zu lösen. Gedämpft fragte Eli nun: »Was sagt sie denn überhaupt so?«
Denise schwieg. Offenbar glaubte Eli, seine Frau habe ihr bei einem der zahlreichen Barbecues oder beim Einkaufsbummel ein Geheimnis anvertraut, aber was? Kathy verriet Denise nichts, gar nichts, und es wunderte sie, dass Eli seine Frau so schlecht kennen sollte. Kathy platzte nie vor Mitteilungsdrang; wenn sie Geheimnisse hatte, dann behielt sie sie für sich, unter Verschluss, wasserdicht. Sie gehörte zu den Frauen, fand Denise, die nicht zu knacken waren – sie konnte so wehmütig aufs Meer hinausblicken, als beschäftige sie eine verflossene Liebe oder verpasste Chance, doch wenn man sie fragte, woran sie denke, antwortete sie mit einem leisen Lächeln: »An ein Buch« oder »Ich überlege, ob ich heute Abend Hähnchen mache«. Es gab keine Geständnisse. Wusste Eli das nicht? Stimmte in der Ehe der beiden etwas nicht? Denise war so jung, so damit beschäftigt zu vergessen, dass ihr nie eingefallen wäre, auch ihre Freunde könnten unglücklich sein. Das war eine beängstigende Vorstellung. Sie lachte hilflos.
»Ich habe zu viel getrunken!«, sagte sie und fächelte sich mit ihrem Hut Luft zu.
Schmunzelnd gab Eli auf. »Hältst du es für klug, dich so früh schon zu betrinken?«
»Unbedingt.«
»Gut«, sagte er. »Ich auch.«
Blitzschnell zog er die Kamera aus seiner Umhängetasche und fotografierte die erhitzte, sich fächelnde Denise. Sie kreischte. Dann rief jemand: »Land in Sicht!«, und alle Köpfe flogen herum. Denise hörte die kleine Lydia jammern: »Ich seh nichts!«, hörte das »Pscht!« der Umstehenden, und dann sah sie die Insel: das dunkle, grüne, kauernde Tier am Horizont. Was hatte sie da eigentlich zu suchen?
Das Schiff änderte seinen Kurs, und die Sonne fiel durch einen Riss im Sonnensegel in Denises geöffnete Hand, sodass sie das Licht, das fremde Licht dieser Breiten, wie eine warme Zitrone hielt. Sie wusste, dass ihre Trauer dumm war, aber deshalb nicht weniger real, und dem Wunsch ihrer Mutter zum Trotz konnte sie nicht vergessen. Sie wollte dieses Gefühl zurückhaben, sich wieder lebendig fühlen, bevor ihre Jugend vorbei war; und wenn nicht Carlos, dann ein anderer Mann. Sie erinnerte sich an ihre Verliebtheit, und die Erinnerung glühte blau hinter ihren Gedanken. Aber jetzt war sie unglücklich – jetzt, hier an Bord, in Elis Gesellschaft, im Anblick der näher rückenden Insel und des Lichts in ihrer hohlen Hand. Dieser Moment, da Eli sich ans Gesicht fasste – dieses Hier war aus irgendeinem Grund das Schlimmste, das, jetzt. Sie drehte ihre helle Hand. Es verging, das Licht, es wanderte hinaus aufs weite Wasser.
Da entdeckten auch die anderen die Insel. Ohne den Wunsch, die Zukunft zu kennen.
Wenn man von Singapur zur Hauptinsel Raya flog und von Raya mit dem Propellerflugzeug weiter, sodass man sich der Insel Bukit von oben näherte, konnte man sagen, sie ähnele einem Hasen: die Flanke mit dem bergigen Vulkan, der Rücken mit den Teeplantagen, zwischen denen der Sultan seinen Palast hatte, die helleren Vorderläufe, die allmählich über die Reisterrassen zum Strand abfielen, dann der gesenkte Kopf und, natürlich, die ängstlich angelegten Strandlöffel. Sie wäre ein für alle Male zu diesem Bild geronnen – ein mitten im Dschungel kauernder Hase, erschrocken blinzelnd von einem Archipel Wölfe umlagert – und sie käme einem geradezu lachhaft vor. Die Einheimischen hatten ihre Insel nie so betrachtet. Sie hatten sie nie aus der Luft gesehen. Sie hatten nie einen Hasen gesehen.
Sie lebten ganz anders als die Amerikaner. Wie sollte ein Inselmädchen, das an gebrochenem Herzen litt wie Denise und die soeben von Bord gehende Frau streifte, sie jemals verstehen? Sie staunten sich an – das Mädchen im roten Sarong mit dem Kopfputz und die hoch gewachsene, hellhäutige junge Frau in Khaki und Hellblau – unfähig, das Leben der anderen zu begreifen.
Der Einzige unter den Amerikanern, der die Insel wirklich kannte, war Dr. Manday, der zwanzig Jahre zuvor von dort zum Studium in Kalifornien aufgebrochen und nie zurückgekehrt war. Er stand neben Professor Swift, strich sich den Schweiß aus dem kräftigen Schnauzer und schwatzte mit dem bärtigen Kollegen über seine Insel, den Sultan, die Bräuche. Ihm verriet er, dass die alten Sultane den gregorianischen Kalender – von Papst Gregor 1582 zur Beseitigung der Datumsdifferenz von zehn Tagen eingeführt – abgelehnt hätten, sodass die Insel der übrigen Welt zehn Tage hinterher sei. Genau genommen, erklärte er, betrage die Differenz mittlerweile dreizehn Tage. Auch die Studenten hörten alle zu, als Manday die Hände auf der Brust spreizte, über dem dunklen Schweißherz. »Hier haben wir es dreizehn Tage früher. Nicht den zwanzigsten März, sondern den siebten. Ein kleiner Streich, wissen Sie?«
Aber für sie alle war es mehr. Während sie, begleitet von Trägern in Sarongs, über den heißen Strand stapften, empfanden sie den Schock nun als weniger krass – sie betraten alten Boden, die Vergangenheit. Alles Fremde oder Befremdliche war Mandays kleinem Zeitstreich geschuldet, und so konnten sie sich merkwürdigerweise bequem einreden (obwohl es natürlich Blödsinn war), die moderne Welt werde ihnen in dreizehn Tagen folgen und alles verändern, sie seien hier nicht wirklich gefangen, das Leben sei nicht wirklich so.
»Seht nur«, sagte Eli im Flüsterton zu Kathy und Denise, während sie auf den Schatten eines Baums zuhielten. Er deutete auf einen Mann neben einem bunten Fischerboot, der sie zigaretterauchend beobachtete. »Manday hat erzählt, manche Männer hier messen die Zeit nach Zigaretten.«
»So ähnlich wie Sonnenuhren?«, fragte Kathy.
»So, als würde ich zu dir sagen: ›Ich bin in zwei Zigaretten zurück‹, und du rauchst sie, es vergehen zehn Minuten, und da bin ich wieder. So.«
Denise beschattete ihr Gesicht mit der Hand, sie spürte allmählich die Nachwirkungen des Alkohols, in ihrem Kopf begann es zu flirren und alles ging durcheinander. »Oje.«
Denise, Eli, Kathy, Jorgeson – sie alle wären womöglich leicht verrückt geworden, hätte es nicht Mandays kleinen Zeitstreich gegeben. So durften sie sich wie Fremdlinge fühlen, wie Besucher aus der Zukunft.
Wissenschaftlich betrachtet, war das ein vertrautes Gefühl. Zwar hätten sie wie Normalsterbliche in den Nachthimmel blicken und Lichter von der Erde fortschwärmen sehen können, doch ihr Verstand verdarb das Wunder durch Mathematik. Sie wussten zum Beispiel, wie weit jeder dieser Stecknadelpunkte entfernt war – im schwärzesten All wie in der Zeit. Das Licht der nächsten Sterne war erst Jahre zuvor entstanden, die Nachbilder der fernsten Objekte hingegen waren Jahrmillionen alt. Doch jeder Stern lag gleich allen anderen auf der schwarzen Hand der Nacht. Den Gürtel des Orion schmückten drei gleich helle Sterne, und doch konnte Swift hochzeigen und seiner Tochter (zu ihrer Verwirrung) erklären, dass der äußerste rechte Funkelstein diesen Stern vor zweitausend Jahren darstellte, der mittlere aber um Tausende Jahre älteres Licht – ein visuelles Paradoxon, eine Zeitmaschine. Was sollte die Tochter da noch sagen? Mir doch egal, wenn schon, ich kann sie beide mit dem Daumen verdecken …
Sie durften stolz sein, die Studenten und Professoren, die über den feurigen Sand schritten. Sie durften sich einbilden, sie beherrschten das Licht und die Zeit über ihnen, den hasenförmigen grünen Klumpen Land vor ihnen und jede der lächelnden Frauen, die Körbe voll Obst auf den Köpfen balancierten. Doch daheim waren sie verloren. Sie reisten Tausende von Kilometern und herrschten, daheim aber, wo sie die Welt doch klar und deutlich hätten sehen müssen, waren sie blind – mitternachts einäugig an ihren Okularen klebend – und gehörten bereits der Vergangenheit an. In Berkeley schrieb man das Jahr 1965; die Exkursionsteilnehmer waren alle fünf-, sechsundzwanzig und doch zu früh geboren, um noch jung zu sein. Sie erinnerten sich an das Ende des Krieges, die Atombombe, an Marschmusik, Siegesparaden und Daddys Heimkehr, sie hatten Eltern, die im ersten und zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts geboren waren, sie erinnerten sich an Beatniks, auch dunkel an alte Fernsehgeräte und deren graues Gestöber in Phonotruhen, als junge Männer hatten sie auf der Straße noch Hüte getragen, im College Sakko und Schlips (Denise jeden Tag weiße Handschuhe). Noch letzte Woche hatten sie sich um halb vier in Berkeley in der Lounge von Campbell Hall zum Tee eingefunden – wie jeden Tag, Teestunde in Campbell Hall. Sie waren jung, in der Blüte ihrer Jahre, und dennoch schienen sie zu früh geboren.
Die wirklich Jungen hielten gerade erst Einzug in Berkeley– als unbedarfte Studienanfänger erschienen sie in den ersten Monaten noch in Bleistiftröcken mit toupierten Haaren, tauschten diese aber, sobald es zur Sache ging, gegen abgerissene Hemden und Jeans ein; da kamen sie und schlossen zu Tausenden die Reihen. Lärmend und lustvoll, waren sie nach Zahl und Lautstärke den älteren Semestern wie Denise, Eli und Jorgeson bereits überlegen. Die neuen Studenten kannten die Bilanz der Vietnamtoten, wussten, was es hieß, wenn das Hauptquartier der Black Muslims in San Francisco niedergebrannt wurde, kannten alle Einzelheiten des Angriffs auf Reeb in Alabama. Es kamen die Protestmärsche auf, die Transparente, der Zorn, auch das grundlose, ausgelassene Feiern im Freien. Aber die Zeit hätte nicht diesen Achtzehnjährigen gehören dürfen. Sie gehörte von Rechts wegen den Forschern – den BADgrads –, diese Zeit war ihnen verheißen worden, von Eltern und Lehrern versprochen als Zeit, da sie glänzen und in Amerika die Zügel übernehmen würden. Jetzt war für sie die Zeit gekommen, da sich die Reihen der Alten und ihrer Schatten lichteten, eine Zeit des Nachwuchses und neuer Blüte. Doch sie hatten nur Augen für Kometen und Feuerbälle – nachts im Bett lasen sie Gedichte, laut, und hörten nicht, merkten nicht, dass ihre Zeit usurpiert wurde. Während sie schliefen, erschütterte die Studentenbewegung Amerika in seinen Grundfesten. Erst beim nächsten, von einem Meteorschwarm begleiteten Durchgang ihres Kometen sollten sie begreifen, dass ihre Zeit überhaupt nie angebrochen war.
Deshalb wohl wirkten sie etwas unschuldig, etwas naiv, wie sie dort zum Urwald und ihren Palmhütten unterwegs waren, auf den Mann zeigten, der neben seinem bunten Auslegerboot eine Zigarette rauchte, auf die getriebene Blechkuppel der Moschee und auf die Mädchen, die die Hände vors Gesicht schlugen und Nüsse fallen ließen, über die sogleich aufgeregte Affen herfielen. Eine Bö erfasste die Palmen und drehte sie wie Windräder am Himmel. Zwischen ihnen und der Fähre erhob sich ein Staubschleier. Über dem Vulkanstumpf hing wie ein fliegender Teppich eine Wolke, an den Hängen konnte man das Weiß einzelner Häuser blitzen sehen: in üppigem Dschungelgrün versunkene Knochen. Eine Gruppe lächelnder Frauen in rotgoldenen Sarongs mit langen, spitzen Fingernägeln näherte sich und sie begannen lächelnd zu tanzen, anmutig mit den Armen auszuholen und Reis zu werfen. Die Amerikaner fröstelten, jeder dachte im Stillen: Ich finde mich nicht mehr zurecht, wechselte rasch einen Blick mit dem Nachbarn und stellte erleichtert fest: Aber seht nur, wir sind doch großartig, seht nur. Und weiter hinten am Strand sahen sie Dr. Manday, der eine Frau im Arm hielt, eine stämmige Frau mit einem feinen, hellblauen Schleier ums Haupt, die seinen Mund berührte, seine Wangen, und ihm etwas zuflüsterte. Manday lachte und flüsterte auch, zeigte hinauf in den Himmel.
Sie alle sahen sie den Kopf wenden, eulenhaft, und zum blanken Spiegel des Himmels hochsehen, mit erwartungsvoll geöffnetem Mund, sahen ihr langes, schwarzes Haar Mandays Wange streifen. Unter dem Schleier blitzten zwei goldene Steckkämme. Manday erklärte ihr das mit dem Kometen. Sie suchte in der Nähe der Sonne danach. Sie alle begriffen, dass die Frau nicht verstand, sie alle sahen Manday beharren. Er ergriff ihren Arm, erklärte in ihrer Sprache, aber unbegreiflichen Worten – Perihel, Aphel, Koma –, und sie hob weiter dem Himmel das Gesicht entgegen, nickend, nichts sehend, bange. Sie war seine Ehefrau, erfuhren sie später, er hatte sie acht Jahre nicht gesehen, und sie trug ihm zu Ehren goldene Steckkämme.
Seht nur, dachten sie dort auf dem vogelspukenden Strand vor den tanzenden Frauen, seht nur, wie großartig wir sind.
Abends saß Eli eher schweigsam da. Da nun die Erde auf ihrer Bahn den Kometenstaub passierte, waren die ersten Meteore bereits über den Himmel geglimmt, und hier und da wurden mit dem Ausruf »Zeit!« diese aus dem dunklen Rachen der Nacht gezogenen Zähne bezeugt. Zu früh noch für den eigentlichen Schauer – Mitternacht erst –, doch Eli suchte trotzdem den Himmel ab, und ständig flackerte es vor seinen Augen. Allerdings hatte er im Laufe der Jahre gelernt, die imaginären von den wirklichen Lichtblitzen zu unterscheiden.
In der Nachmittagsschwüle hatten sie zu ihren Hütten gefunden und ausgepackt. Sie hatten unter einem Baldachin aus Palmblättern direkt am Strand zu Mittag gegessen, und Swift hatte in seiner umständlichen Art astronomische Anekdoten und Witze erzählt, während Kathy und Eli Händchen hielten und versuchten, ihre dünne Suppe zu löffeln. Denise hatte stumm auf ihren Teller geblickt, traurig oder verkatert oder beides. Dann waren sie alle in ihre Hütten zurückgekehrt und hatten für die nächtliche Sternwacht vorgeschlafen, sich in der Hitze gewälzt und fiebrig gefühlt. Ringsum hatte der Urwald vor nie gehörten Geräuschen geraschelt. Dann gab es Abendessen und schließlich die vielen Stufen vom Strand hinauf zum geräumigen Ausguck des Sultanpalasts, wo schon Stühle für sie bereitstanden. Sie nahmen ihre Positionen ein: Eli und Denise, die schärfsten Augen, auf der Südseite, Kathy mit anderen Ehefrauen im Norden. Die Spivaks trennten sich mit einem Kuss. Ein paar Kinder, darunter Swifts Tochter Lydia, schliefen auf den nackten Steinfliesen ein, andere warfen einen Baseball hin und her, der über die Brüstung fiel und vom Strand wieder heraufgeholt werden musste. Es war Mitternacht. Die Dunkelheit umspülte die Mauer des Ausgucks, die Flut der Nacht kam heran.
Eli roch das Meer jenseits der weißen Brüstung, einen Hauch Fäulnis mit leicht säuerlichem Einschlag, ähnlich den Blüten des Urwalds unter ihnen. Darüber wölbte sich die Himmelsschale, dazwischen war nichts als die niedrige Brüstung und die kleine, goldene Kuppel über der Treppe. Wegen dieser diamantklaren Sicht waren sie weit gereist. Dr. Manday hatte zur Zeit- und Positionsbestimmung der Meteore einen Notizblock gezückt, er machte in Begleitung eines alten Mannes in Goldbrokat die Runde – dem Sultan persönlich, der murmelnd über die Steinfliesen schlurfte und erklärte, er wolle die Mauer richten lassen, die im Krieg beschädigt worden war. Es war windstill. Hier und da flüsterte jemand. Denise hatte eine Zeit lang geplaudert, doch nun schien sie neben Eli ihren Kater auszuschlafen. Eli lauschte der Stimme seiner Frau auf der anderen Seite des Ausgucks. Nichts als Geflüster, das Meer, Fledermausflattern. Er starrte in den Himmel, dann zur Mauerbrüstung hinüber, auf deren weiß gekalkten Putz ein Gecko gehuscht war. Eli vernahm sein leises Zirpen, ein Quasar in der Nacht, er fixierte die Stelle und fragte sich, ob sich nicht doch alle in ihm täuschten.
Ein Glück nur, dass er so begabt war – sein Vater war doch so brillant gewesen, als Anwalt in Seattle, und alle Welt hatte mit Spannung Elis frühkindliche Entwicklung verfolgt: Was würde aus dem Spross werden? Würde er im Arbeitermilieu am nördlichen Pazifik normal, unauffällig, verschont bleiben? Erst spät, fast halbwüchsig schon, war Eli auf ein Heft der Action Comics gestoßen, und genau so kam er sich vor, wie ein schicksalsgeschlagener Superheld, dessen Eltern über den Wiegenrand spähen und sich bange fragen, ob er nun Mensch oder Auserwählter sei, ob es sich lohne, Capes zu schneidern. Aber er hatte die Prüfung bestanden – eines Tages entdeckte seine Mutter bei der Heimkehr, dass ihr Dreijähriger mit Wachsstift die Buchstaben ELI an die Wand gemalt hatte. Wurde daraufhin wirklich eine Party geschmissen? Als markiere das Ereignis die Initiation zum Genie, ähnlich einer Äquatortaufe, bei der Seeleute sich juchzend mit Milch begießen. Blut und Wasser hatte Eli seither geschwitzt, dass er auch ja den Prognosen gerecht wurde.
Aber sie irrten sich. Klar, er hatte die mathematischen Grundlagen so spielend bewältigt, hatte als Student so geglänzt, dass selbst Swift, kaum dass Eli zum BADgrad aufstieg, auf ihn aufmerksam wurde; und war er nicht einer von nur zweien, deren Reise hierher bezahlt worden war? War er nicht letztlich doch ein Auserwählter? Denise war still, aber viel begabter als er. Nur sah es außer ihm keiner. Sie hatte die Zwischenprüfungen ein Semester früher gemacht und bereitete sich nun auf die Promotion vor. Sah denn niemand hin? Sah sie keiner, die sie ohne Lob, ohne Rückhalt und Beachtung seelenruhig mit ihrem Rechenschieber spielte, bis sie das Ergebnis vor allen anderen hatte? Sie meldete sich nicht, sie sagte nichts, aber sie war die Erste. Sah das keiner?
Eli dagegen ließ nach. Mit fünfundzwanzig sah er seine Begabung schwinden, so wie eine alternde Filmdiva ihr Welken bemerkt. Während er auf die spukweiße Kalkmauer starrte und versuchte, die winzige, zirpende Eidechse auszumachen, schien Eli diese eine Gleichung geradezu zwingend: Wenn Denise begabt war, dann war er es nicht, und es hatten sich eben alle geirrt. Quod erat demonstrandum.
Er wandte sich wieder seinem Himmelsquadranten zu, und da, hoch über ihm, stand das Sternbild, das er Kathy neulich abends beschrieben hatte: Centaurus. Hier am südlichen Himmel, ihrem sonstigen kalifornischen Blick entzogen, spannte sich die Konstellation über ihm, die Gestalt, die man sich, vom Stern Menkent ausgehend, wo das angebliche Menschenhaupt auf sie herabsah, bis hinab zum Kreuz des Südens dachte. Dort aber war nichts, keine Spur mehr von Meteoren – ein ihnen allen vorgezeigtes leeres Behältnis, der Hut eines Zauberers, aus dem heute Abend vielleicht (Kinderglaube im Grunde) noch ein feuerfunkelndes Kaninchen gezogen würde. Das alles sah er mit unbewaffnetem Auge. Die Luft hier war so klar. Und es war für ihn immer noch ungewohnt, die Sterne der südlichen Hemisphäre zu sehen: das Kreuz des Südens, Menkent, den offenen Sternhaufen NGC 3532 etwas östlich der Stelle, wo die Meteore niedergehen würden – erstaunlich! Sein Leben lang hatte bei einem Vorhang den Horizont verhüllt, hier hob er sich wie bei einem Jahrmarktzelt, und seinen Blicken bot sich dieses Kuriositätenkabinett – die Sterne des Südens, der Antike unbekannt, wurden nach Gerätschaften des sechzehnten Jahrhunderts benannt: Uhren, Teleskopen, Luftpumpen.
Aber dergleichen konnte man Kathy nicht erklären. Man konnte es versuchen: die Sterne nennen und sie auf Schmierzetteln mit Strichen verbinden, zeigen, wo im Innersten einer Konstellation versteckt eine Spiralgalaxie brütete. Doch an den trotzig verschränkten Armen, dem glasigen Blick merkte man, dass der Funke nicht übersprang. Selbst wenn sie in seinen Kritzeleien ein Bild erkennen sollte, das wie eine Traube in den Reben der Mathematik hing, war es nicht von Dauer. Ihr Geist war nicht der rechte Ort für seine Art Wunder, zu rasch vergor die Freude zu nichts. Er hatte Kathy, als er sie heiratete, mit hinaufnehmen und ihr zeigen wollen, was ihn als Jungen dazu getrieben hatte, heimlich im Dunkeln zum Observatorium hinaufzuradeln, was noch am College seine Passion gewesen war (inzwischen vorbei, oder verwandelt). Sein Kopf barst, übervoll wie eine bis unter die Decke mit Büchern voll gestopfte Bibliothek mit sich biegenden Tischen und aufgeschlagenen Bänden noch auf dem staubigen Boden; er hatte Kathy seiner Bibliothek einverleiben und sie so weiter füllen wollen – mit Karten, Namen, Nebeln. Doch so ging man nicht mit Menschen um, das wusste er, während er mit bloßem Auge zu den Konstellationen hochblickte (immer noch nichts im Kentaur, noch stoben keine Funken von seinen Hufen), und es tat ihm sehr Leid.
Trotzdem wollte er sie gern näher haben. Er hatte Kathy in Harvard kennen gelernt, durch einen befreundeten Mathematiker und auf einer Party, zu der vor allem Chemiker gekommen waren. Auch sie war damals noch Chemikerin gewesen, gescheit, unabhängig und vielversprechend, in einem weißen Margeritenkleid mit zerfranstem Träger hatte sie mit einem Strohhalm in ihrem Rumcocktail gestochert, das Haar zum schimmernden Pferdeschwanz gebunden. (So würde er sie immer sehen: als ein vom Strohhalm bis zum Haargummi straffes Gesicht, ein Blick von unten, hochgezogene Brauen.) Er hatte in ihrer Nähe gestanden, und seiner Erinnerung nach war sie auf dem roten Plüschsofa etwas beiseite gerückt, um ihm Platz zu machen. Bald waren sie sich in einer Weise näher gekommen, deren Aufgeregtheit rückblickend sehr altmodisch schien: hatten an zu kalten Abenden in Autokinos geknutscht, in exotischen Restaurants gegessen und über missverstandene Bestellungen gelacht. Zuerst hatten sie sich nicht sehr weit vorgewagt – noch vor zwei Jahren schien das undenkbar! –, und sie hatte glucksend gemeint, jetzt seien sie uramerikanische Juden und sie müsste sich wohl demnächst wie die WASP-Schicksen eine runde Anstecknadel besorgen und wasserstoffblond werden. Kathy hatte zunächst noch zwei andere Verehrer gehabt (einen angehenden Mediziner und, ausgerechnet, einen Matheprof), aber denen hatte sie den Laufpass gegeben. Sie wechselte, ohne Eli ein Wort zu sagen, das Hauptfach und studierte fortan englische Literatur. Noch im selben Winter, ihrem letzten Studienjahr, stellte ihnen ein Freund ein Haus in Provincetown zur Verfügung, und zu Elis Erstaunen ließ sich Kathy von ihm ausziehen. Sie schliefen auf der Couch miteinander, in der Kälte wölkte ihr Atem. Eli verliebte sich hoffnungslos. Sie wurde seine Frau.
Aber sein wurde sie nie, stets blieb sie ein klein wenig für sich, und ein klein wenig unglücklich. Die Chemie betrachtete sie als Kinderei, ein Stofftier, das ihr nur noch peinlich war und in der Ecke landete. Sie kochte und putzte für ihn. Irgendwie wuchs sie mühelos in die Rolle der Akademikergattin hinein, umgarnte seine Professoren, seine Kollegen, nahm die arme wächserne Denise unter ihre Fittiche. Kathy war klug, nicht selten zu klug für die Männer am Tisch, während deren Fachsimpelei sie nicht weiter störte. Die störte sie nur bei Eli; die Sterne seien in ihrer Beziehung nicht inbegriffen gewesen, erklärte ihm Kathy, sie wäre keine mythologische Frauengestalt, die sich mit dem Himmel vermähle. Und es gab Zeiten, da hörte er sie unter der Dusche weinen. Es kam ihm so nüchtern vor, Trauer auf die Zeit unter der Dusche zu reduzieren, Tränen im Wasser verschwinden zu lassen, verweinte Augen durch Hitze und Dampf zu tarnen. Er hätte sie doch gehalten. Er beobachtete sie, wenn sie aus der Dusche kam, strahlend schön in ein Badetuch gewickelt, und im Arzneischränkchen kramte – wo war die Scherbe, die in ihr feststeckte, die sie schnitt, wo nur?
Er scheute sich zu fragen. Er wusste aus Erfahrung, dass er mit seinen Vermutungen falsch lag. Er würde auf seine eigenen Sorgen tippen. Er glaubte zum Beispiel, sie weine, weil sie sich Kinder wünsche, dabei sagte ihm die Vernunft, dass das wohl kaum zutraf. Er war derjenige, der gern Kinder wollte. Kathy wechselte dagegen immer das Thema, ob beim Essen, im Bett oder beim Anblick von Kinderwagen.
Wenn er sie abends im Bett an die Wand starren sah, nicht in ihr Buch, an die Wand, dann berührte er sanft ihren Arm, sagte: »Was hast du? Es ist doch alles gut, das Leben ist wunderbar« und zählte ihr all die Dinge auf, die in ihrem Leben großartig waren. Dann wirkte sie zufrieden. Es war doch auch wunderbar! Das Haus hier in der Stadt, ihre Freunde, wie sie aßen und trotz ihrer Geldnot sich vergnügten, die Offenheit ihrer neuen Zeit, seine Karriere. Er nahm sie verliebt in den Arm – es war wunderbar.
»Ich gebe dir einen heißen Tipp«, hatte sie eines Abends gesagt, als er sie umarmte und sie sich in seinen Armen versteifte. Sie lagen in ihrem kleinen Schlafzimmer, kaum mehr als ein begehbarer Kleiderschrank hoch über den Straßen in der Nähe des Campus. An der Wand hing ein altes, vergilbtes Foto von Eli als Kleinkind mit seinen Brüdern. Als Vorhang diente ihnen ein grünes Laken, und das Bett füllte beinahe den ganzen Raum. Er hörte in Kathys Stimme einen Unterton, den er manchmal hasste. Er hätte ihn nicht nachahmen können und vermochte ihn erst zu identifizieren, wenn er ihn hörte, und nun hörte er ihn. Er schlich sich meist dann ein, wenn sie keinen Sex wollte. Sie sagte: »Wenn ich traurig wirke, sollst du mir nicht erzählen, wie wunderbar alles ist und dass ich nicht traurig sein soll.«
»Aber.« Er wollte nicht wütend sein. Er war doch so geduldig, so gut, sah sie das nicht?
Sie schob die Unterlippe vor, als tue er ihr Leid; auch das hasste er. Sie trug das Haar offen, und die Spitzen strichen übers Kissen, durch die Brillengläser wirkten ihre Augen größer und ihr Gesicht dicht über der Nase verkniffen. »Zermartere dir nicht das Hirn über die Gründe oder das, was ich sage. Sag einfach nur: ›Das ist bestimmt schwer.‹«
»Kathy, dann weißt du doch, dass es nur so dahergesagt ist. Ich will dir doch helfen.«
»Vertrau mir. Sag einfach: ›Das ist bestimmt schwer‹, genau so.« Das sehr blasse Gesicht sank in die Kissen. Draußen jagten Sirenen durch die dreckigen Straßen. Beide schwiegen sie. »Du kannst es zum Beispiel jetzt sagen«, meinte sie flüsternd und lächelte schwach. »Ich versinke in Selbstmitleid.«
»Das ist bestimmt schwer«, betete er ratlos herunter, geradezu entsetzt über die Aufforderung, sie so abzuspeisen.
Aber aus unerfindlichen Gründen wirkte es. Ihre innere Spannung ließ nach. »Ist es«, erwiderte sie, ließ ihr Buch auf die Brust sinken und schloss die Augen.
Er hatte ihre verschwitzte Hand gehalten und sich gefragt, warum sie ihn liebte.
Jetzt betrachtete Eli mit zurückgelegtem Kopf den Centaurus oberhalb des Kreuz des Südens, und nur wenige Schritte trennten ihn von ihr. Im Dunkeln bewegte sich etwas – eine Fledermaus; über ihnen flatterten Fledermäuse, die Eli nicht sehen konnte, nur dass gezackte Silhouetten kurz ein paar Sterne ausstanzten. Er zog automatisch den Kopf ein und bemerkte, dass die anderen es auch taten. Denise fuhr mit einem kleinen Schreckensruf hoch. Wo war Swift? Weiter drüben, näher an der goldenen Kuppel, die schlafende Tochter als heller Fleck zu seinen Füßen. Eli richtete den Blick wieder hinauf, und der Kentaur sprang ihm entgegen wie ein Tiger. Zwischen seinen Zähnen lag all das, was die Männer und Ehefrauen hier nicht erkennen konnten, selbst die scharfsichtigsten nicht – etwa die unregelmäßige Galaxie, die das Kentaurenfell fleckte, den Kugelsternhaufen –, und dann gab es da noch die Objekte, die selbst mit Teleskop nicht auszumachen waren, Objekte, von deren Existenz Eli nur deshalb wusste, weil er ganze Nächte in den Bergen von San Jose zugebracht hatte, weit über den Wolken: zwei leuchtende Spiralgalaxien, die im Centaurus kreisten, Gammastrahlen verprassend wie trunkene Matrosen. Es stimmte, was er Kathy erzählte, es stimmte alles – dass das Leben wunderbar war, jedes kleinste, kostbare Teilchen.
Er würde ihr ein Geschenk machen. In seinem Roman hatte er bereits eine Nachricht hinterlassen, in der Hoffnung, dass sie spätabends einmal darauf stoßen würde, wenn er am Teleskop hockte. Er stellte sich vor, wie sie im Bett gähnend, aber stoisch weiterlas, bis sie die kleine Botschaft neben den Zeilen entdeckte. Dann würde sie vielleicht begreifen, was er ihr irgendwie nicht sagen konnte. Und mehr. Er würde ihr morgen etwas bringen, während sie den Schlaf dieser durchwachten Nacht nachholte – keine Aufnahme eines Feuerballs, nichts Selbstsüchtiges, sondern einen dieser goldenen Steckkämme. Wie die im Haar von Mrs. Manday. Er würde versuchen, mit der Insulanerin zu sprechen, die kindlich besorgt neben ihrem Mann saß. Kathy war wunderschön – ihr perlmuttrosa Lächeln, ihr verschlafener, verletzlicher Blick am Morgen, wenn sie schwach und urkomisch war, ihr bohrender Blick von der anderen Seite eines Raums voller Menschen, der signalisierte, dass sie sich langweilte und sich nach ihm sehnte, die seltenen Augenblicke, da er ihre Gedanken lesen konnte, diese Augenblicke – sie waren wunderschön. Wenn sie ihn nur nach dem Himmel fragen würde, ihm ihre Geheimnisse anvertraute. Er spähte nach Kathy, aber sie hatte sich abgewandt. Er würde es ihr sagen. Er würde ihr die Kämme bringen. Dafür liebte sie ihn.
»Tu mir einen Gefallen«, sagte Denise, plötzlich dicht vor ihm auftauchend, ihr Haar wie ein Vorhang zwischen ihnen beiden, ihr Duft zu schwer, zu blumig. Sie hatte ihren Rausch offenbar ausgeschlafen, sah entschlossen aus, wie so oft unter den Sternen. Hinten, am anderen Ende der Ausgucks, machte einer der Kommilitonen Zeichen und kam näher. Eli musterte Denise und sah, dass sich etwas sonnenverbrannte Haut von ihrer Nase löste, ringelnd aufstieg wie Rauch. Er bemerkte auch eine neue Spannung in ihrem Gesicht, einen neuen Unterton in ihrer Stimme.
»Tu mir einen Gefallen, wenn Jorgeson kommt.« Sie sprach von dem schlaksigen Doktoranden mit Hornbrille aus dem mittleren Westen – der mit der Braut aus dem Versandkatalog. »Versuch, etwas über Carlos herauszubekommen.«
Eli machte ihr Umfallen fassungslos, fast wütend. Er beobachtete Jorgesons Fuchtelei. Eben noch hatte sich Eli glücklich und gelöst gefühlt, und nun kam Denise daher, erinnerte ihn an ihre alberne Affäre, ihr Techtelmechtel mit diesem reichen Chicano, diesem verheirateten Republikaner-Schuft mit Amibürstenschnitt. Eli schielte zu seiner beklagenswerten Freundin hin und dachte: Sei nicht so traurig, aber nicht aus Mitgefühl, nicht etwa, weil er Stimmungsschwankungen kannte, die sich in der Seele wie Spinnen abseilten. Es war ein Befehl, ein Wunsch, gedacht, weil er mit traurigen Frauen nicht umgehen konnte, schon gar nicht einer, die nicht seine Frau war. Er hielt solchen plötzlichen, gläsernen Kummer kaum aus. Professor Swifts Voraussage nach würde der Komet heute Abend von einem Meteorschwarm begleitet werden. Warum sich also nicht dergleichen wünschen? Bitte sei nicht traurig. Tausende Sterne standen zum Absturz bereit.
»Bitte?«, fragte Eli scheinheilig. Der »Schwede« war von einem Kollegen angesprochen worden und in einiger Entfernung stehen geblieben.
»Er ist mit ihm befreundet. Horch ihn aus.«
»Wonach denn?«
Denise wandte sich ohne Antwort ab, die Nase stolz in die Tropenluft gereckt.
Eli dachte an ihre erste Begegnung mit Carlos zurück. Ein Gartenfest bei Jorgeson, und Denise in einem grünen Rüschenkleid mit einem gut aussehenden, soldatisch steifen Mann plaudernd, den Kopf samt geziertem Lächeln auf so untypisch kleinmädchenhafte Art zur Seite geneigt, ein Rückfall in die Hautevolee-Koketterie, die man ihr in San Francisco eingebläut hatte. Eli hatte gleich gesehen, dass der Kerl ein Schwindler war. Als er dann mitbekam, dass Carlos’ Frau drinnen im Haus saß, hielt er den Auftritt für harmlos. Carlos ging, Denise gesellte sich zu Eli und lauschte einem seiner Astronomenwitze, nahm mit Kathy ein paar Drinks und alles war beim Alten. Erst nach Monaten hatte Denise gestanden, dass sie sich mit Carlos traf – und dann auch nur Kathy, die es ihm unverblümt weitererzählte, als wäre das der Lauf der Dinge und kein schmerzlicher Missgriff. Die Überfliegerin Denise hatte sich von dem verheirateten Carlos verführen lassen, hatte den Versprechungen eines Mannes geglaubt, die nur leer sein konnten. Und – hatte Kathy ihrem Mann berichtet – die blonde Freundin war verliebt.
Es war zum Auswachsen gewesen. Denise kam seltener zum Essen, erschien kaum noch zu den gemeinsamen Kinobesuchen und behandelte die Spivaks zunehmend wie eine Phase, eine alte Gewohnheit, die sie ablegen wolle. Am Institut war sie weiterhin der gute Kumpel, hatte aber nie Zeit, nach Vorlesungen oder Seminaren mit ihm einen Kaffee zu trinken, weil ihre komplizierten Absprachen mit Carlos darauf hinausliefen, seine Mittags- und sonstigen Pausen zu nutzen – nebst ein paar gestohlenen Stunden an den Wochenenden, ein Liebesstückwerk.