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Eine heitere und tiefgründige Liebeskomödie von Pulitzer-Preisträger Andrew Sean Greer über die großen Zeichen der Liebe, die Ungleichzeitigkeit der Gefühle und ein Wohnmobil namens Rosina. »Nur wenige Schreibende beherrschen die Kunst echter, berührender Komik. Und niemand ist besser darin als Andrew Sean Greer. Mr. Weniger ist zurück und wieder von ihm lesen zu dürfen, ist wunderbar, ja geradezu beglückend!« Daniel Schreiber Für Arthur Weniger läuft das Leben erstaunlich gut: Er ist ein mäßig erfolgreicher Schriftsteller, seine langjährige Beziehung mit Freddy Pelu scheint stabil. Aber kein Glück hält ewig, und so fehlt Arthur nach dem Tod einer alten Liebe plötzlich das Geld und Freddy das Vertrauen. Arthur tut das Naheliegende: er legt seinen markanten blauen Anzug ab, lässt sich einen Schnurrbart wachsen und fährt in einem geliehenen Wohnmobil seinen Problemen davon. Im Zick-Zack durchkreuzt er ein Land, das ihn abwechselnd für einen Holländer oder den falschen Arthur Weniger hält. Und während Arthur sein geschundenes Herz spazieren trägt, wartet Freddy darauf, dass sein mäßig erfolgreicher Schriftsteller erkennt, was er zu verlieren droht: die vielleicht größte Chance seines Lebens auf ein Happy End. Andrew Sean Greers erfrischend andere Liebeskomödie »Happy End« ist ein ebenso rasanter wie charmanter Roman über das Geheimnis des Lebens, das Rätsel der Liebe und die Geschichten, die wir auf dem Weg dorthin erzählen. »Tragisch, komisch und so einfühlsam.« Bonnie Garmus
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2023
Andrew Sean Greer
Roman
Unverkäufliches und unkorrigiertes Leseexemplar zu
ISBN 978-3-10-397528-4, ca. 24,00 Euro (Hardcover)
ISBN 978-3-10-491773-3, ca. 19,99 Euro (E-Book)
Voraussichtlicher Erscheinungstermin: 24. Mai 2023
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Für Arthur Weniger läuft das Leben erstaunlich gut: Er ist ein mäßig erfolgreicher Schriftsteller, seine langjährige Beziehung mit Freddy Pelu scheint stabil. Aber kein Glück hält ewig, und so fehlt Arthur nach dem Tod einer alten Liebe plötzlich das Geld und Freddy das Vertrauen.
Arthur tut das Naheliegende: er legt seinen markanten blauen Anzug ab, lässt sich einen Schnurrbart wachsen und fährt in einem geliehenen Wohnmobil seinen Problemen davon. Im Zick-Zack durchkreuzt er ein Land, das ihn abwechselnd für einen Holländer oder den falschen Arthur Weniger hält. Und während Arthur sein geschundenes Herz spazieren trägt, wartet Freddy darauf, dass sein mäßig erfolgreicher Schriftsteller erkennt, was er zu verlieren droht: die vielleicht größte Chance seines Lebens auf ein Happy End.
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Andrew Sean Greer hat einen eineiigen Zwillingsbruder, wuchs in einem Vorort von Washington D.C. auf und lebt mittlerweile in San Francisco. Schon mit seinem zweiten Roman »Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli« gelang ihm der internationale Durchbruch. Für »Mister Weniger« wurde Andrew Sean Greer 2018 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Auf Deutsch liegen außerdem die Romane »Geschichte einer Ehe«, »Die Nacht des Lichts« und »Ein unmögliches Leben« vor.
Charlotte Milsch, Studium der Literaturwissenschaften in Berlin und Hannover, schreibt, übersetzt und lektoriert Lyrik und Prosa und moderiert Lesungen und Podien. Literarische Arbeiten erschienen in verschiedenen Anthologien, Magazinen und Literaturzeitschriften.
[Widmung]
[Motto]
Abenddämmerung
Südwesten
Südosten
Morgendämmerung
für meinen wunderbaren Vater, William Greer
An einem Menschen,
der etwas herzlich Lächerliches aufweist,
ist gewiß mehr, als ihr glauben mögt.
Herman Melville, Moby-Dick
Arthur Weniger hätte schon vor einigen Wochen bei seinem Termin im Krankenhaus wissen müssen, dass seine Beziehung in Schwierigkeiten steckte. Eigentlich war es nicht mehr als eine ganz gewöhnliche Blutabnahme bei einer ganz gewöhnlichen Vorsorgeuntersuchung gewesen, eine von denen, die Männer über fünfzig in den USA einmal im Jahr über sich ergehen lassen mussten. Als er die Tür zum Krankenhaus öffnete, läutete es; ein zweites Mal, als er daran scheiterte, sie wieder zu schließen, und dann ein drittes Mal. Und noch ein Mal. »Entschuldigung!«, rief er in den Wartebereich hinein, in dem sich allerdings nur ein Klemmbrett, ein Wasserspender und ein Aufsteller mit Klatschmagazinen in den absurdesten Farben befanden. Aber sehen Sie sich Weniger an: der Pullover so knallbunt wie ein Textmarker, dazu ein kleiner Fischerhut. Besser, niemand bezeichnet hier irgendwen anders als absurd.
Der Phlebologe (Glatze, taiwanesisch, voller Tattoos und akut an Liebeskummer leidend, der allerdings mit dieser Geschichte nichts zu tun hat) betrat das Behandlungszimmer mit einem Klemmbrett in der Hand und reichte es Arthur Weniger.
»Notieren Sie bitte oben auf dem Blatt Ihren vollständigen Namen«, sagte der Phlebologe, während er auf einem faszinierenden Tablett voller Ampullen alles vorbereitete.
Der Patient notierte den Namen Arthur Weniger.
»Schreiben Sie bitte den Namen Ihres Notfallkontakts auf«, sagte der Phlebologe, während er die aufblasbare Armmanschette bereitlegte.
Der Patient schrieb den Namen Freddy Pelu.
»Bitte notieren Sie den Beziehungsstatus«, sagte der Phlebologe.
Der Patient sah verwundert zu ihm auf. Unser liebeskranker Phlebologe schielte auf den Fragebogen und legte die Blutdruckmanschette mit dem seetangähnlichen Schlauch und dem Ball auf das Tablett neben sich (ein solches Gerät nennt man übrigens Manometer).
»Den Status der Beziehung, Mr. Weniger«, sagte er schroff.
»Schwer zu beantworten«, sagte der Patient. Für einen Moment hielt er inne. Und ein kosmisches Missverständnis später schrieb er schließlich: unsicher.
Eine ähnliche Tölpelhaftigkeit des Herzens zeigte sich auch bei einem gewissen Roadtrip durch Kalifornien: ausgestattet war Weniger lediglich mit seinem Liebsten, einem alten Saab und ein paar eilig zusammengesuchten Camping-Utensilien in Form von zwei miteinander verknüpfbaren Schlafsäcken und einer großen Nylon-Scheibe. Diese Scheibe aus Schweizer Herstellung entfaltete sich zu einem Zelt, dessen geräumiges Inneres einen ungläubig zurückließ. Weniger war ganz fasziniert von den Taschen und Lüftungsöffnungen, dem Außenzelt, dem runden Guggenheim-Dach aus vernähtem Netzstoff. Doch, wie die Schweizer, war es ganz neutral: Es liebte ihn nicht zurück.
Sich seiner Unfehlbarkeit bewusst, öffnete er den Reißverschluss des Insektennetzes und gewährte einer ungehobelten Bachelorette-Party an Moskitos Eintritt, die sich an der menschlichen offenen Bar so volllaufen ließ, dass er sogar den Reißverschluss der Schlafsäcke bis ganz nach oben zuzog. Und am letzten Tag, als zur Mittagszeit ein heftiger Regenschauer einbrach, war entschieden, dass zwar dem Zelt, nicht aber Weniger zu trauen war. Ein Hotelzimmer musste her. Am nächsten lag das Hotel D’Amour. Es entpuppte sich als cremefarbener Kuchen in einem regendurchtränkten Wald, mit vergoldeten Möbeln und weißen Rosen. Die Empfangsdame begrüßte sie freudig überrascht. Aufgrund der kurzfristigen Stornierung einer Hochzeit waren sonst keine Gäste im Hotel. »Wir haben einen Rosenaltar und eine Pastorin und ein Hochzeitsmenü und einen Kuchen und Champagner und einen DJ und alles andere auch!« Sie seufzte und ihre Kollegen schauten erwartungsvoll zu den neuen Gästen herüber. Tauben gurrten romantisch in einem Käfig. Die korpulente Pastorin, deren Gewand vom Regen noch dunkler geworden war, lächelte hoffnungsvoll. Ein Streichquartett spielte »Anything Goes«. Der Sturm draußen verriegelte die Tür und verhinderte die Flucht. Es schien, als ob dem Schicksal nicht zu entrinnen sei.
»Was denkst du?«, sagte ich zu Arthur Weniger.
Ja, ich. Freddy Pelu. Ich bin der Notfallkontakt (der Weniger nach der Blutabnahme, und nachdem er in Ohnmacht gefallen war, aus dem Krankenhaus abgeholt hat). Ich bin ein kleiner und schmächtiger Mann, der auf die vierzig zugeht, ein Alter, in dem die charmanten exzentrischen Eigenheiten der Zwanziger (Hausschuhe mit Hasenohren tragen und mit einem Seidenbonnet schlafen, um die Locken zu schützen) zu den Kuriositäten des mittleren Alters werden. Meine Locken haben Patina angesetzt, wie kleine Muscheln auf altem Silber, meine rote Brille betont meine Kurzsichtigkeit, ich bin aus der Puste, wenn ich mit meinem Hund im Park herumtolle. Und dennoch habe ich bislang keine Falten; ich bin kein Arthur Weniger. Vielmehr bin ich ein Durcheinander (meine Großmutter würde Pasticcio sagen) von italienischen, spanischen und mexikanischen Herkünften – mehrere Nationalitäten, die sich wiederum aus iberischen, indigenen, afrikanischen, arabischen und fränkischen Migrationsbewegungen zusammensetzen. Diese Reihe ließe sich noch weiter herunterbrechen bis zu den ersten Menschen, von denen wir alle abstammen.
Ich habe die letzten neun Monate mit unserem bekümmerten Patienten, diesem Arthur Weniger, dem Schriftsteller und Reisenden, in San Francisco in einem beinahe-aber-doch-nicht-ganz-wasserdichten Einzimmer-Bungalow auf den Vulcan Steps gelebt, den wir liebevoll »die Hütte« nennen, einem Haus, das seinem alten Liebhaber Robert Brownburn gehört und das Weniger seit über zehn Jahren sein Zuhause nennt, ohne dafür Miete zahlen zu müssen. Abgerundet wird dieses Glück von einer Bulldogge namens Tomboy, von der die Menschen ausgehen, sie sei ein Junge, obwohl Tomboys, und Weniger wird nicht müde, dies zu betonen, qua Definition Mädchen seien. Es ist eine Aufgabe und eine Ehre und ein Abenteuer, mit den beiden zusammenzuleben. Neun Monate unverheiratetes Glück. Zuzüglich der neun Jahre, die wir uns bereits kennen.
Wir wurden eher beiläufig ein Paar, als ich siebenundzwanzig und er einundvierzig war, und »ganz beiläufig« hielt ich es auch die darauffolgenden neun Jahre. Weil ich bei meinem übellaunigen Onkel Carlos wohnte und mich in meiner Wahlheimat nicht sonderlich wohl fühlte (ich lebte und atmete mit dem sperrigen Werkzeug einer zweiten Sprache), war die Hütte für mich ein gemütliches Plätzchen zum Schlafen. Weniger drängte mich nie zu mehr als einem Abschiedskuss; ich vermutete, er war zu beschäftigt mit seiner Arbeit oder womit Männer seines Alters sonst so beschäftigt sind. Neun Jahre solcher Mutmaßungen – und auch, wenn es sich gemein anfühlt, das zu behaupten, waren diese Jahre für mich mit die schönsten. Die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich mich wie ein Prinz fühlte. Ich ging ein und aus, gerügt und verehrt. Damals wusste ich nicht, was »Liebe« war.
Das musste ich auf die harte Tour lernen. Eines Morgens erwachte ich am anderen Ende der Welt, weit weg von Arthur Weniger, und sah nichts als das leuchtende Blau seines Anzuges, sein Markenzeichen. Ich verstand, dass das Glück eine Handbreit entfernt ist, und wir bloß danach zu greifen brauchen. Also machte ich mich auf den Weg, ihn zurückzugewinnen …
Doch er heiratete mich nicht an diesem Tag im Hotel D’Amour. Trotz der Tauben und dem Hotelpersonal als Zeugen und dem strömenden Regen, der auf die Dachfenster trommelte. Aus seinem Gesicht sprach ein einziges Wort: unsicher. »Ich muss darüber nachdenken«, sagte er.
Dies ist die Geschichte einer Krise in unserem Leben. Weder im Krankenhaus noch im Hotel D’Amour (oder bei anderen verhängnisvollen Unternehmungen), sondern während einer Reise im Alleingang. Sie beginnt in San Francisco und sie endet in San Francisco. Dazwischen: ein Flugzeug, ein Van, ein Bus, ein Zug; ein Esel, ein Wal und ein Elch. Lassen Sie uns von mir, Freddy Pelu, wegschwenken. Denn ich tauche in dieser Geschichte erst sehr viel später auf.
(Und um das noch kurz klarzustellen: In der Klinik hätte er Lebenspartner schreiben müssen.)
Sehen Sie sich Arthur Weniger heute an:
An Deck einer Fähre vor der Küste San Franciscos stehend, sein grauer Anzug in der Farbe des Nebels, der ihn umgibt, so dass er (einem nicht näher benannten Horrorfilm gleich) wie ein gespenstisch fliegender Kopf erscheint. Sehen Sie sich das schüttere Haar an, vom Wind zu einer steifen, blonden Schaumkrone geformt, seine zarten Lippen, seine spitze Nase und sein längliches Kinn, das an die Wikinger auf dem Wandteppich von Bayeux erinnert, so weiß, wie ein weißer Mann nur sein kann, farblich abgesetzt lediglich die pinken Spitzen von Nase und Ohren und das mundgeblasene Blau seiner Augen. Sehen Sie sich Arthur Weniger an: Die fünfzig bereits überschritten, wahrlich ein Geist seines früheren Selbst, doch als der Himmel dunkler zu werden beginnt, nimmt er die Form eines Mannes mittleren Alters an, der vor Kälte zittert. Hier steht er also, unser Held, und schaut sich um wie ein Mann, der sich einen Schnäuzer hat wachsen lassen und darauf wartet, es möge jemand bemerken.
Er hat sich tatsächlich einen Schnäuzer wachsen lassen. Und tatsächlich wartet er darauf, es möge jemand bemerken.
An diesem nebligen Oktobermorgen ist unser unbekannter US-amerikanischer Schriftsteller auf dem Weg zu einem kleinen Goldgräberstädtchen in der Sierra Nevada, um einen Vortrag in der Reihe »Bedeutende Persönlichkeiten« zu halten. Für jeden anderen würde das eine gerade mal dreistündige Reise bedeuten, doch unser Arthur Weniger muss es auf die harte Tour machen: Er hat sich für Fähre und Zug entschieden. Binnen fünf Stunden sollte er in dem Städtchen ankommen und auf seinem Weg dorthin hofft er, dieselbe Aussicht zu genießen, wie die Goldgräber damals, als sie vom schäbigen San Francisco den kargen Berg ihrer glücklichen Zukunft bestiegen.
Ach, hätte man nur ein Manometer, um das wahre Wesen des Menschen zu messen! Was würde es bei unserem Protagonisten anzeigen, der seiner Stadt sanft zulächelt, wie sie langsam im Nebel verschwindet, wie bei einem Foto, das man zu lange betrachtet? Vielleicht die Rastlosigkeit des Herzens, das im Inneren eines fünfzigjährigen Brustkorbs wankt. Und gleichzeitig denke ich: Vielleicht ist es ja auch die durchdringende Freude der Anerkennung, die den einzigen Passagier auf den oberen Decks an diesem kalten, nebligen Sonntag wärmt, obwohl Schriftsteller ja gerne behaupten, sie wollten lediglich, dass ihre Tinte trocknet, bevor sie diesen Planeten verlassen. Ja, ist er denn keine »Bedeutende Persönlichkeit«? Unterwegs, um den Applaus von Goldgräbern zu hören, so wie Oscar Wilde auf seiner Tour durch den sogenannten Wilden Westen (so groß sind seine Wahnvorstellungen, dass Weniger sich Bergleute und nicht Marihuana-Bauern vorstellt)? Zudem hat Arthur Weniger in den letzten Tagen mehr Einladungen bekommen als im ganzen letzten Jahr zusammen. Ein renommierter Preis hat ihn gefragt, in der Jury zu sitzen, eine Theatergruppe um Erlaubnis gebeten, eine seiner Geschichten aufzuführen. Wäre es möglich, dass ein schweigsames Publikum existiert, das sehnlichst seinen neuen Roman erwartet? Eine verborgene Kraft, von der Welt New Yorker Literaten und Kritiker unbeachtet, die wie eine Raumstation in der Umlaufbahn auf das übrige Amerika blickt, ohne jemals mit ihm zu interagieren?
Vergiss das alles, erinnert er sich an die Worte des Dichters Robert Brownburn. Beim Schreiben kommt es einzig und allein auf die Seite an. Der berühmte Dichter Robert Brownburn, er hat leicht reden: Wende dich von der Liebe ab.
Der Dichter Robert Brownburn – mein Vorgänger. Fünfzehn Jahre waren sie ein Paar und fast die gesamte Zeit lebten sie in der Hütte. Als sie sich in Baker Beach, San Francisco, kennenlernten, war Weniger gerade mal einundzwanzig. Weniger hatte ein Gespräch mit einer Frau mit Sonnenbrille angefangen, die eine Zigarette rauchte und sich als Marian vorstellte, ihm den Tipp gab, seine Jugend auszukosten, sie wegzuwerfen, und ihn dann um einen Gefallen bat: Ob er ihren Ehemann wohl in die gefährliche Brandung begleiten könne? Er konnte; besagter Mann war niemand Geringeres als Robert Brownburn. Dieser verließ Marian, um mit Weniger zu leben. Als er den Pulitzer-Preis erhielt, nahm er Weniger mit zur Verleihung, nahm ihn auch mit nach Paris und Berlin und Italien. Als sie sich trennten, war Arthur Weniger Mitte dreißig. Man könnte also sagen, Robert Brownburn war seine Jugend. Ich bin sein mittleres Alter. Wird es noch einen anderen geben, einen noch nicht Getroffenen, der Arthur Wenigers Lebensabend sein wird? Gut möglich, dass er Robert Brownburn geheiratet hätte, wäre er dazu in der Lage gewesen. Aber es waren andere Zeiten, andere Gesetze. Und ich habe nie danach gefragt.
Zurück in die kalte Brise von San Francisco, wo Weniger an Bord der Fähre den ersten von drei Anrufen an diesem Morgen erhält:
»Hallo-ich-habe-Peter-Hunt-in-der-Leitung-bitte-warten-Sie.«
Weniger wartet, während Céline Dion AC/DC’s »You Shook Me All Night Long« in voller Länge vorträgt, gefolgt von einem Interludium der Stille, gefolgt von der Stimme von Peter Hunt, seinem Literaturagenten: »Arthur, lass uns gleich zum Punkt kommen.« Er überbringt gute wie schlechte Nachrichten auf eine Art und Weise, die einen an Elektroschocks erinnert, mit denen Vieh vorangetrieben wird.
»Peter!«
»Du bist doch in der Jury von diesem Preis«, sagt Peter auf lapidare Weise. Man kann ihn regelrecht vor sich sehen, wie er den weiß schillernden Schweif seines Pferdeschwanzes hinter sich herschwingt. »Ich wünschte, du hättest nicht zugesagt. Dieses Jahr hättest du doch eine Chance auf den Preis gehabt –«
»Peter, mach dich nicht lächerlich –«
»Ich rate dir, gar nicht erst mit dem Lesen anzufangen. Der Gewinner wird zu dir kommen, wie eine Prophezeiung. Deine Zeit kannst du besser auf anderes verwenden.«
»Danke dir, Peter, aber meine Aufgabe –«
»Wo wir schon dabei sind«, drängelt sich Peter dazwischen, »gute Neuigkeiten! Ich habe dir ein Exklusiv-Interview mit H.H.H. Mandern besorgt, ein zehnseitiges Porträt mit Hochglanzfotos und allem Drum und Dran. Und er hat extra nach dir gefragt.«
»Bitte was?«
»Er hat nach dir gefragt, Arthur.«
»Nein, ich meine, wer hat nach mir gefragt?«
»Mandern hat nach dir gefragt. Er war etwas durcheinander, aber ich habe das geklärt. Er ist bald unterwegs auf Lesereise für sein neustes Buch. Du fährst nach Palm Springs und Santa Fe. Interviewst ihn auf der Bühne. Redest mit ihm danach. Und machst daraus ein Porträt für das Magazin. Einziges Problem: Es geht in zwei Tagen los.«
»Dann ist es von meiner Seite ein klares Nein«, sagt Weniger mit Nachdruck. »Ich bin auf dem Weg nach Maine.«
»Arbeitest du an etwas?«
»Peter, in sechs Monaten soll mein Buch erscheinen!«
»Ich bin mir sicher, du hast schon was auf Tasche.«
Natürlich hat er das nicht. Unser Subjekt hat einen gewissen Punkt im Leben eines Schriftstellers erreicht, den Moment, an dem es den Wintermantel letzter Überarbeitungen und grammatikalischer Änderungen abzulegen gilt, nach fruchtlos verschwendeten Monaten auf der Suche nach den letzten, gehorteten Nüssen und Beeren des Geistes, jenen Essays und Rezensionen, die das Unvermeidliche manchmal auf unbestimmte Zeit hinausschieben können, und sich aus dem Winterschlaf in einer Art literarischer Brunst zu erheben: Es ist an der Zeit, einen neuen Roman zu beginnen.
»Palm Springs also –«
»Peter, von meiner Seite ein klares Nein.«
»Dienstag geht es los, denk drüber nach, genieß die Jurysitzungen, willkommen zu Hause –« Und die Leitung ist tot.
Vor der Bucht von San Francisco erscheint mit einem Mal ein Gesicht im Wasser: Ein Seehund richtet seinen starren Blick auf Arthur Weniger, der allein an Deck der Fähre im kalten Wind steht. Weniger starrt zurück. Wer weiß, wovor ihn das Tier warnen will? Der Seehund (oder die Seehündin?) verschwindet im Wasser und lässt Weniger allein zurück.
Willkommen zu Hause. In der Tat! Denn dieser unbekannte US-amerikanische Schriftsteller war schon länger nicht mehr in seiner Heimat. In etwa so lang, dass er jetzt daran denkt wie der Lachs bei seiner Rückkehr zum Flüsschen seiner Eltern, nämlich wie an einen weiteren fremden Ort. Nach einem Zick-Zack-Kurs um die Welt – fast zehntausend Kilometer geflogen wie ein Albatros (aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal) – landete er zu Hause in San Francisco … nur um sich erneut auf den Weg zu machen, um drei USA-freie Monate zu verbringen und seinen Roman zu beenden. Unser sparsamer Autor hatte sich eine solarbetriebene Hütte am Strand von Oaxaca gemietet, die ihn dazu nötigen sollte, zur Morgendämmerung aufzustehen und zu arbeiten, bis der Strom zum Sonnenuntergang wieder ausfiel. Als er zu mir zurückkam, war er ein Wrack, aber ich konnte ihm ansehen, dass er in seinem ganzen Leben nie zufriedener gewesen war.
Wie es sich anfühlt, nach so langer Zeit in das eigene Land zurückzukehren? Weniger hatte erwartet, es wäre ganz so, wie einen Roman weiterzulesen, den man vor einiger Zeit zur Seite gelegt hatte: Vielleicht muss man ein bisschen was nachlesen, sich daran erinnern, wer noch mal Janie und Butch und Jack waren und warum in Newtown-on-Tippet alle so betrübt wegen des Schlosses sind. Aber nein, nein, nein. Es ist noch viel seltsamer. Eher, wie einen Roman weiterzulesen, den man vor einiger Zeit zur Seite gelegt hat, nur um zu entdecken, dass sich das Buch, während man weg war, von alleine weitergeschrieben hat. Weder Janie, noch Butch oder Jack sind da. Es gibt kein Newtown. Kein Schloss. Aus irgendeinem Grund ist man im Weltall und kreist um den Saturn. Schlimmer noch, die vorhergehenden Seiten wurden herausgerissen und es ist schlicht nicht möglich, etwas nachzulesen. Beginnen lässt sich nur von dort, wo man steht – wo das eigene Land ist – und von dort aus wird die Geschichte weitergesponnen. Vielleicht denken Sie: Was ist passiert? Um Gottes Willen, soll das ein Scherz sein?
Doch es ist nun mal ein ungeschriebenes Gesetz, dass niemand zu Scherzen aufgelegt ist.
Der zweite Anruf kommt von mir, Freddy Pelu.
»Freddy, gute Neuigkeiten!«
»Du klingst glücklich!«
»Peter hat eben angerufen und offenbar will H.H.H. Mandern, dass ich ein Porträt über ihn schreibe.«
»Bitte was?«, frage ich.
»H.H.H. Mandern!«, sagt Weniger. »Einer der berühmtesten Schriftsteller unserer Zeit. Es gibt gutes Geld. Ich habe Nein gesagt!«
»Und das sind gute Neuigkeiten?«
Weniger ist überglücklich: »Ich habe Nein gesagt! Denn ab morgen bin ich bei dir in Maine! Ich weiß nicht, was los ist, ich weiß nicht, warum ich in dieser Jury sitze, ich weiß nicht, warum ich heute eine Rede halte, ich weiß nicht, warum Mandern nach mir gefragt hat, aber all das ist einfach schön, Freddy! Es ist schön, gewollt zu werden! Mal ehrlich, wer interessiert sich schon für einen schwulen weißen Romanautor mittleren Alters, von dem noch nie jemand gehört hat?«
»Ich«, sage ich. »Mich interessiert er.«
Ich befinde mich nicht in der Kälte San Franciscos, sondern in der Kälte des Nordostens. Ich bin für die drei Monate meines Sabbaticals in einem kleinen College-Städtchen in Maine und belege einen Kurs zu Formen des Erzählens.
»Tja, dann hast du Glück«, sagt er. »Mein Flug geht morgen Mittag.«
»Du hast wirklich abgesagt?«
»Klar habe ich das! Ich will bei dir in Maine sein, das war unser Plan. Ich möchte nicht monatelang von dir getrennt sein.«
»Aber du liebst es zu reisen.«
»Ich liebe es nicht zu reisen, ich liebe es, zu dir zu reisen«, sagt Weniger und ein Nebelhorn ertönt. »Ich bin jetzt auf dem Weg in diese Bergbaustadt, und dann mache ich mich auf den Weg zu dir nach Maine.«
»Weißt du, was ich an einem schwulen weißen Romanautor mittleren Alters, von dem noch nie jemand gehört hat, gut finden würde? Ein bisschen Selbstvertrauen. Vielleicht bekommst du diese ganzen Einladungen, weil du wirklich ein großartiger Schriftsteller bist.«
»Weißt du was?«, sagt Weniger. »Heute fühlt es sich fast so an, als wäre ich das!«
»Klar bist du das!«, sage ich.
»Entschuldige, Freddy, ich bekomme gerade einen Anruf. Ich liebe dich!«
»Leg auf! Vielleicht ist es ja das Nobelpreiskomitee!«
»Ja, vielleicht!«, sagt er. Ich sage ihm, dass ich ihn liebe. Die Seehunde oder Seehündinnen scheinen aus dem Wasser zu Weniger herüberzuwinken, eine letzte Warnung; er winkt zurück und beantwortet vergnügt das klingelnde Telefon für den dritten Anruf des Morgens. Die Dinge laufen heute so gut, dass es nicht unmöglich scheint, dass am anderen Ende der Leitung das Nobelpreiskomitee sitzt.
Doch es ist nicht das Nobelpreiskomitee. Es ist nun mal ein ungeschriebenes Gesetz, dass es leider nie das Nobelpreiskomitee ist.
Am anderen Ende der Leitung ist eine bedrückte Stimme zu hören: »Arthur, hier ist Marian …«
Stark bleiben, Arthur Weniger. Erinnerst du dich noch an unsere Vereinbarung? Kurz nachdem ich in die Hütte gezogen bin? Es war ein Sonntag und ich hatte den ganzen Tag in dem weißen Bett verbracht (unter dem Fenster mit der Trompetenranke) und Hausaufgaben korrigiert und mich seit dem Frühstück nicht bewegt. Draußen war es schon seit langer Zeit wieder dunkel. Du kamst mit einer Pizza und einer Flasche Wein zu mir herein. Du hattest ebenfalls den ganzen Tag in deinem Bademantel verbracht. Du hast dich auf das Bett gesetzt, mir ein Glas Wein eingeschenkt und gesagt: »Freddy, jetzt, wo wir zusammenleben, habe ich einen Antrag.« Deine Haare waren ein blondes Durcheinander, deine Wangen »errötet«, wie es in britischen Romanen immer so schön heißt; womöglich hattest du bereits die Reste einer anderen Flasche intus.
»Wir sind beide nicht stark. Wir können beide kein Regal aufbauen oder die Spüle reparieren, und keiner von uns wäre in der Lage, eine Maus zu fangen.« Du hast deine Hand auf meinen Arm gelegt. »Aber irgendwer muss die Maus fangen. Deswegen kommt hier mein Antrag. Du bist montags, mittwochs und freitags stark. Und ich werde am Dienstag, Donnerstag und Samstag stark sein.«
Ich wartete misstrauisch. »Und was ist mit den Sonntagen?«
Beschwichtigend hast du mir den Arm getätschelt. »Sonntags ist keiner von uns stark, Freddy.«
In Maine bekomme ich eine Nachricht von meiner Mailbox. »Freddy. Marian, Roberts Exfrau, hat eben angerufen.« Dann eine Pause. »Robert ist vor ein paar Stunden gestorben. Multiples Organversagen. Ich habe meine Veranstaltung heute abgesagt. Ich muss wieder zurück. Marian meinte, sie sei schon in Sonoma losgefahren, sie bleibt über Nacht in der Hütte, wir müssen die Beerdigung planen, die schon morgen stattfindet, also komm nicht extra her. Das wird etwas im kleinen Rahmen, nur wenige Leute. Ich kümmere mich darum und gebe dir dann Bescheid. Ich rufe dich später an. Ich liebe dich.«
Heute ist Sonntag.
Die erste Person, die seinen Schnäuzer nicht bemerkt, ist Robert Brownburns Exfrau.
»Es tut mir so leid, ich sollte hier drinnen nicht rauchen«, sagt Marian Brownburn. Als er in der Hütte ankommt, wartet sie bereits im Schlafzimmer auf ihn. Aus dem Nebenraum ertönt der hurrikanartige Staubsauger; unsere Hippie-Putzhilfe Lydia hat weißes Pulver über alle Teppiche gestreut. Weniger schließt die Tür hinter sich und seufzt.
Klein und robust und wunderschön. Mit fast achtzig Jahren strahlt Marian immer noch genauso vor Lebenskraft wie bei ihrem ersten Treffen am Strand. Ihr Haar – in seiner Erinnerung braun und gelockt und vermutlich dauergewellt – ist mittlerweile zu einem stahlweißen kinnlangen Bob geschnitten, der ihr Gesicht streng einrahmt, als wäre er ein antiker, griechischer Helm. Wenigers Haare hingegen erinnern eher an die Tonsur eines Abtes. Sie trägt einen langen lilafarbenen Poncho oder eine Art Gewand aus Baumwolle und eine Kordel um ihren Hals. Marian lächelt, obwohl ihr Gesicht vom Weinen ganz dunkel und verschmiert ist.
»Ich fröne all meinen Lastern«, sagt sie und schmeißt ihre Zigarette aus dem Fenster. Sie hat Mühe zu stehen, die Knochen beider Hüften, die am Tag ihres ersten Treffens so prächtig im Sand lagen, sind mittlerweile durch etwas ersetzt worden, das ebenfalls stahlweiß ist. »Ich habe bloß noch zwei Laster übrig. Das andere ist mein Optimismus. Obwohl, eigentlich ist es das gleiche Laster.« Sie und Weniger umarmen sich.
»Ach, Marian, es ist schrecklich, einfach schrecklich.«
»Du siehst verändert aus, Arthur.«
»Wirklich?«, fragt er und berührt dabei seinen Schnäuzer.
»Dünner«, sagt sie. »Ich wünschte, die Trauer hätte auf mich denselben Effekt.«
»Dünner, hm, findest du? Du siehst wunderschön aus, Marian.«
Sie setzt sich wieder, lacht und wischt sich dabei mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.
Ist es leichter, den Tod eines alten Geliebten mit achtzig oder mit fünfzig zu ertragen? Schwer zu sagen, schaut man sich diese beiden einstigen Feinde und ihr verblassendes Lächeln an. Marian sieht gleichzeitig lebhaft und verzweifelt aus, wie eine Pflanze, die an der Wurzel ausgerissen wurde; gegen ihren Kummer gibt es keine Abhilfe, und ihre Augen wandern immer wieder zum Fenster, als ob sich dort das Tor zu einer anderen Dimension öffnet, in der all das nie geschehen ist. Und Arthur Weniger. Arthur Weniger sieht aus wie der Assistent eines Zauberkünstlers, bloß ohne Zauberkünstler. Wer wird nun kommen und ihn zersägen?
Weniger setzt sich neben sie auf das Bett. »Marian, wie ist es dir ergangen?« In Roberts Hospiz waren sich die beiden respektvoll aus dem Weg gegangen.
»Ach, weißt du, ich habe angefangen, Teppiche zu weben«, sagt sie und greift dabei, vermutlich reflexartig zur Beruhigung, an den Stein auf ihrer Brust. »Ich webe all diese Teppiche für das Anwesen einer reichen Frau, oben in Montana. Ein Dutzend Räume. Jetzt bin ich fast fertig und, Arthur, ich werde immer langsamer. Es ist, als sei ich mit einem Zauber belegt, und wenn ich den letzten Teppich fertig habe … falle ich tot um.«
»Du klingst wie eine Schriftstellerin«, sagt er wehmütig.
Sie zuckt mit den Schultern und schaut aus dem Fenster. »Ich habe ihr gesagt, dass ich Angst davor hätte, die Aufgabe zu beenden, also hat sie ein Gästehaus bauen lassen. Nur, damit ich noch einen Teppich weben muss.«
Weniger schaut sich um. »Hier muss irgendwo unsere Bulldogge sein …«
»Ich bin ihm schon begegnet, die nette Frau hat ihn im Badezimmer eingesperrt. Und offenbar sind wir hier eingesperrt, während das magische Pulver seine Arbeit auf den Teppichen erledigt. Danke, dass ich hier unterkommen kann.«
Weniger lässt unerwähnt, dass Tomboy ein Mädchen ist. »Es ist schön, dich zu sehen, Marian. Auch, wenn es zu diesem traurigen Anlass ist.«
Sie sieht ihm nun direkt ins Gesicht und bemerkt seinen Schnäuzer noch immer nicht. Die beiden hören, wie der Staubsauger im Nebenraum sich ihnen nähert. Sie sitzen da, ohne zu sprechen, bis der Hurrikan vorbeizieht.
»Und du, Arthur? Du meintest, du seist irgendwohin unterwegs.«
»Ach, bloß nördlich von hier«, sagt er. »Ich habe abgesagt.«
»Ich stelle mir dich immer reisend vor.«
»Das war einmal«, sagt Weniger. »Ich habe einige Anfragen. Und ich bin in der Jury für diesen Preis. Aber ich reise nicht.«
»Weißt du«, sagt Marian. »Für mich ist Robert nicht tot. Ist das nicht albern? Für mich ist er eher wie Merlin, der sich davongemacht hat und nun im Stamm eines Weißdorns verschollen ist. Tausend Jahre lang.«
Weniger ertappt sich dabei, wie er lächelt. »Wirklich? Das ist ja kurios. Er hat öfter von dieser Geschichte gesprochen. Ich dachte immer, er spricht über mich. Dass er meint, ich sei der Baum.«
»Nein, Arthur, ganz und gar nicht.«
»Dass ich ihn dorthin gelockt hätte«, sagt er. »Wie eine Fee, die seine Kräfte gestohlen hat.«
»Nein, Arthur, niemand hat so gedacht. Wenn schon, dann war ich der Baum.« Marian sitzt da, die Hände auf den Oberschenkeln ruhend, und seufzt mit einem Mal. »Das ist wohl die absurdeste Unterhaltung, die je geführt wurde. Wir sind die absurdesten Gestalten.«
»Robert wäre stolz auf uns.«
Ach, Marian! Mach dir keine Illusionen über die Grenzen des Existenten, das Erstaunliches und Unbekanntes bereithält! Denn es gibt eine Gestalt weit absurder als euch, und sie ist im Anmarsch, mit den Krallen über den Boden scharrend, frisch gepudert, schnaufend wie eine Dampflok: eine Bulldogge namens Tomboy, die vor Liebe gerade ihren kleinen Verstand verliert.
Marian hat sich für die Nacht ins Schlafzimmer zurückgezogen, Weniger und ich haben telefoniert, und Weniger, der mittlerweile in seinen Schlafanzug geschlüpft ist und den eigens für seinen Schnäuzer erworbenen Elektrorasierer eingestöpselt hat, entspannt sich jetzt auf dem Sofa, indem er sich Langsame Deutsche Nachrichten anhört, ein Radioprogramm, bei dem eine Frau in einer derartigen Langsamkeit Welt-Artikel vorliest, dass es der Geschwindigkeit von Zugpferden gleicht, die eine Wagenladung Stallmist transportieren. Das Deutsch, das Weniger in seiner Jugend oft praktiziert hat, tritt heute genauso selten in Erscheinung wie eine pensionierte Diva, doch die Langsamen Deutschen Nachrichten spenden ihm nun mal am meisten Trost. Monotone Deutsche Nachrichten, wie ich sie gerne nenne, und Weniger versteckt dann schüchtern die Kopfhörer, als würde er dabei ertappt, Langsame Deutsche Pornofilme zu schauen. Ich glaube, auf seine eigene Weniger’sche Art tut er das auch. »Die wachsende Kluft«, erzählt sie ihm mit ruhiger Stimme, »zwischen dem amerikanischen Volk« – just in diesem Moment erhält er einen Anruf. Diesmal ist es nicht sein Lebenspartner; es ist seine Schwester Rebecca.
»Ach, Archie«, seufzt sie. Sie nennt ihn Archie. Sie hat ihn immer so genannt, und so wird es auch bleiben. »Kommst du klar?«
»Nicht mal ansatzweise. Marian auch nicht. Und so sollte es ja auch sein.«
»Das ist so ein Schock.«
»Eigentlich nicht«, gibt Weniger zu. »Ich wusste ja, dass es bevorsteht. Ich habe mich nur nicht angemessen darauf vorbereitet.«
»Archie, die einzige Aufgabe, die du in den nächsten Tagen hast, ist mit dem Kopf zu nicken, wenn dir Menschen ihre Trauer bekunden, und so viel wie möglich zu essen. Und vergiss nicht, Alkohol zu trinken. Das ist wichtig. Hol dir diese kleinen Fläschchen, die du so magst. Ist da eine deutsche Frau bei dir?«
»Nein, nein«, sagt Weniger und schaltet das Radio aus. »Nein, hier bin nur ich.«
»Okay. Wann ist die Beerdigung?«
»Morgen«, sagt Weniger. »Im Kolumbarium. Wir haben ja nur die Asche. Marian und ich haben uns bemüht, alles zu arrangieren. Sie hat ein paar alte Freunde eingeladen. Ich habe einen Chor organisiert.«
»Wie bitte?«
»Einen Chor. Sänger.«
»Sehr gut.«
»Und danach wird es noch eine kleine Feier zu Ehren seines Lebens geben. Zumindest wurde es so angekündigt. Robert hätte es gehasst. Und bei dir?«
»Nur ich und das Meer.«
Er hört sie seufzen, drei Zeitzonen entfernt t in Delaware. In einer gleichzeitigen Ausdehnung und Reduzierung ihrer Gestaltungsmöglichkeiten zog seine Schwester aus einem Einzimmer-Appartement mit Ehemann in Brooklyn in ein Haus am Atlantik ohne Ehemann. Nach einem Jahr des Streitens wurde die Scheidung letzte Woche rechtskräftig.
»Geht’s dir gut, Bee?«
»So wie uns allen.« Sie spricht über Scheidung in der Familie wie über einen uralten Familienfluch. Und mit Weniger spricht sie über Robert. »Du musstest da ja auch durch. Die Dinge sind schwerer, aber besser. Ich muss mich nicht erst durch die vermüllte Schublade eines anderen wühlen, um die Schere zu finden. Metaphorisch gesprochen.«
»Denkst du, es war auch für Mom schwerer, aber besser?«
»Ich glaube, Dad war verrückt«, sagt seine Schwester. »Stell dir vor, du wachst jeden Tag neben jemandem auf, der dir das Blaue vom Himmel verspricht, und du glaubst daran, und jeden Tag passiert einfach gar nichts.«
»Bee, genauso bin ich früher aufgewacht.«
»Ich bin nur froh, dass ich noch klein war, als Dad uns verlassen hat. Ich erinnere mich eigentlich nur noch daran, dass er mich immer Walloon genannt hat.«
Vergnügtes Lachen auf beiden Seiten. Sie sagt ihm, er solle sich ausruhen, und das Telefonat ist vorbei.
Erst später, nachdem Weniger zur Sicherheit noch eine letzte Runde um das kleine Haus gedreht, er Tomboy zur Schlafcouch getragen und sich die Kopfhörer wieder aufgesetzt hat, und die Frau mit ihrer elfengleichen Stimme zu sprechen beginnt – »Wer weiß, wohin das Land gehen wird?« – fängt Weniger an, heftig zu schluchzen, tief in die Nacht hinein, bis zum nächsten Morgen.
Seine Schwester hat das Wort Walloon benutzt, das für mich deswegen von so großer Bedeutung ist, weil ich stets das Gefühl hatte, dass es etwas über unseren Trauernden aussagt. Meine eigene Herkunft hatte ich ja bereits erwähnt, doch es dauerte einige Zeit, bis ich überhaupt darauf kam, Weniger nach seiner zu fragen. Wir, Weniger und ich, befanden uns im Schlafzimmer der Hütte. Das war in unserer Anfangszeit, als ich noch sehr jung war und Weniger vermutlich ebenfalls. Er lag müde in den zerwühlten weißen Bettlaken unter dem Fenster, das die Trompetenranke schon vor langer Zeit erobert hatte, das gleißende Sonnenlicht drang hindurch und warf einen Schatten aus schmiedeeisernen Blättern auf meinen Liebsten. Ich stand vor dem Spiegel, trug das Jackett seines Smokings und sonst nichts. Draußen war die Nachbarskatze zu hören, ciao … ciao …. ciao.
»Wo kommen eigentlich deine Vorfahren her?«, fragte ich ihn.
Er saß regungslos im Bett und beobachtete mich. »Versprichst du mir, dass du dich nicht über mich lustig machst?«, fragte er.
»Ich verspreche es, Weniger.«
»Du musst es wirklich versprechen. Ich möchte nicht, dass du mich damit aufziehst.«
Halb nackt bekreuzigte ich mich. »Ich würde dich niemals mit so etwas aufziehen.«
Er schaute weg und sagte dann: »Ich bin Wallone.«
Ich dachte darüber nach. »Sag das noch mal.«
»Ich bin Wallone«, sagte er. »Prudent DeWeniger, mein Vorfahre, kam 1638 hierher.«
»Von wo?«
»Aus der Wallonie.«
Ich brach in schallendes Gelächter aus und krümmte mich vor dem Spiegel. Schweigend nippte er an seinem Kaffee. »Es tut mir wirklich leid, ich kann nichts dafür!«, beteuerte ich und krabbelte auf das Bett. »Du bist also ein Wallone aus der Wallonie?« Er nickte ernst. »Bist du eine Art Schlumpf?«
»Ich wusste, du würdest dich darüber lustig machen. Ich wusste es.«
»Okay, okay, okay. Es tut mir leid.« Ich kroch zu ihm und runzelte die Stirn. »Erzähl mir mehr über diesen … Prudent?«
Er zog seine Augenbrauen hoch und fuhr fort: »Prudent DeWeniger. Mein Vater hat uns alles über ihn erzählt. Für Rebecca ist es noch heute die witzigste Geschichte der Welt. Prudent DeWeniger, ein Mann, oder Gauner vielmehr, der 1638 herkam, um New Sweden zu gründen.«
»Es existiert doch aber gar kein New Sweden.«
Weniger erklärte, dass es neben New France, New Spain und New England auch ein New Sweden hätte geben sollen. Zum Scheitern verurteilt, wie sich herausstellte, denn die Möchtegern-Gründerväter überstanden nur wenige Jahre, bevor sie vor New Netherland kapitulierten, was ebenfalls keinen Bestand hatte.
»Und Prudent?«, fragte ich.
»Er war der einzig übrig gebliebene Wallone.«
Ich setzte mich auf und stellte seinen Kaffee auf den kleinen Nachttisch. »Ach, komm schon … in deiner Familie haben wohl kaum über vierhundert Jahre ausschließlich Wallonen untereinander geheiratet. Du musst doch noch etwas anderes sein.«
Er breitete seine Arme aus. »Offensichtlich. Die ganze Walloon-Sache ist Nonsens.«
»Eher eine Erfindung.«
»Es ist dir trotzdem nicht erlaubt, mich damit aufzuziehen.«
Ich war mehr genervt als amüsiert, auch wenn ich damals noch nicht wusste warum. Da war ich nun und erzählte jedem US-Amerikaner, der danach fragte, von meiner Herkunft, wie die Spione in Kriegsfilmen, die ihre Papiere vorzeigen müssen, und mein Liebster konnte so tun, als sei er der Stirn des Zeus entsprungen! Doch alles, was ich an diesem Tag sagen konnte, war:
»Von jetzt an werde ich dich Prudent nennen.« Ich stieg aus dem Bett und schaute im Spiegel erst mich an und dann ihn, wie er hinter mir lag. »Ich finde, der Name passt perfekt zu dir.«
»Bitte nicht, Freddy …«
Prudent steht auf und nimmt seine Ohrstöpsel heraus; Marian hat bereits geduscht und Kaffee gekocht. Als sie ihm eine Tasse bringt, sieht er, dass sie ganz in Schwarz gekleidet ist, und Prudent erinnert sich daran, was ihnen heute bevorsteht.
Die Gedenkfeier findet im Kolumbarium statt – ein Gebäude, das an eine Gugelhupfform im Beaux-Arts-Stil erinnert, eingekeilt zwischen einem Copy Shop und einem Parkplatz im Nordwesten der Stadt –, Aufbewahrungsort für die kremierten Überreste vieler berühmter Einwohner San Franciscos. Wie in den meisten Krematorien wird die Asche der Verstorbenen in Nischen aufbewahrt, doch im Gegensatz zu den meisten anderen sind diese Nischen hier aus Glas, was den Hinterbliebenen die Möglichkeit bietet, nicht nur die Urne auszustellen, sondern alles, was das Herz begehrt: Puppenhausmöbel, Mardi-Gras-Perlen, den Pappkarton eines chinesischen Imbisses oder ein Glas gefilte Fisch. Es ist irgendwie erbaulich, so viele Leben ausgestellt zu sehen. Weniger hätte zum Beispiel vermutet, niemand könne Westwärts zieht der Wind so lieben, dass er mit der DVD bestattet werden wolle, und doch steht hier der unwiderlegbare Beweis! Ebenso Madonnas The Immaculate Collection. Und Judy at Carnegie Hall. Diese Gegenstände enthüllen eine andere Facette der Geschichte San Franciscos: In den frühen Jahren der AIDS-Krise, als viele Friedhöfe sich weigerten, die Körper der Toten zu bestatten, hat dieser wunderliche Ort seine Nischen für die toten schwulen Männer bereitgestellt. Und hier sind sie nun, farbenfroh geschmückte Kammern mit den Todesjahren 1992, 1993, 1994 und so weiter – die schwersten Jahre. Ein bisschen wie auf dem alten Mission Dolores Friedhof, wo auf vielen Grabsteinen die Todesjahre 1850 und 1851 verzeichnet sind – die ein oder zwei Jahre, nachdem Hunderttausende nach San Francisco geströmt waren, um nach Gold zu graben. Sie kamen her und starben hier. Genauso wie diese jungen schwulen Männer. Der karge Berg ihrer glücklichen Zukunft.
»Sieh dir das an«, sagt Marian zu Weniger. Sie sind in Schwarz gekleidet. Marian trägt etwas, das wie ein Nachthemd aussieht, und Weniger hat seinen einzigen schwarzen Anzug an, in dessen Brusttasche ein gefaltetes weißes Stofftaschentuch steckt. Er hatte ihn gemeinsam mit Robert in Paris gekauft vor etwa zwanzig Jahren. Die beiden stehen neben einer Glasvitrine, in der zwei kristallene Bilder die Gesichter zweier junger Männer mit Schnäuzer zeigen. Er geht davon aus, dass die beiden ein Paar waren, doch Marian zeigt auf die Gravur: Sie waren »geliebte Partner« des gleichen Mannes, ein Mann, der offenbar noch zu leben scheint. »Er war mit dem hier zusammen«, sagt Marian, »bis er starb. Und dann war er mit diesem hier zusammen, bis der starb.«
»Um Gottes willen.«
»Stell dir vor, der zweite Mann zu sein. Er muss mit hierhergekommen sein, er muss diese Gedenkstätte gesehen haben. Und als er krank wurde, hat ihm der Mann vielleicht versprochen, dass auch er eine Gedenkstätte bekommen würde. Stell dir das mal vor. Zu Kristall geworden.«
»›Leonard LeDuke‹«, liest Weniger den eingemeißelten Namen dieses geliebten Menschen. »Unglücksrabe.«
»Glückspilz«, kontert Marian.
Von draußen sind Geräusche zu hören und da kommen sie auch schon in ihren schwarzen Anzügen und Kleidern – die alten Sachen, die sie ab und an in ihrem Kleiderschrank finden und denken, das trage ich eh nie, das kann eigentlich weg, nur um beim Herausnehmen der Farbe gewahr zu werden und sich daran zu erinnern, dass der Tod nah ist – da kommen sie, mit ihren Sonnenbrillen und abgewetzten Schuhen, Kleenex in den Taschen, freundlich miteinander schwatzend. Da kommt sie durch die Tore des Kolumbariums: die trauernde amerikanische Gemeinde.
Und da kommt auch die Russian River School. Oder zumindest diejenigen, die von der damaligen künstlerischen Phase Roberts noch übrig geblieben sind. Und wie alt sie geworden sind! Weniger erinnert sich an die Abende oben in der Holzhütte, an Kartenspiele und Rotwein und Geschrei, wie er schüchtern im Hintergrund saß, während Robert stundenlang mit Stella Barry diskutierte. Mit ihren Falten und ihrem Bauchansatz haben sie auf ihn so alt gewirkt, obwohl sie damals selbstverständlich jünger waren als er heute, und es bleibt zu hoffen, dass eine Zeit kommen wird, in der Weniger älter sein wird, als sie es heute sind (für einen ausgefallenen Prosastil kann man sich stets auf die Zeit verlassen). Wird er sich auch dann noch so töricht fühlen? Und Stella heute, ein großer Blaureiher, der jeden Fuß vorsichtig über den Kiesweg hebt, ihr Haar eine weiße Flamme, ihre Haltung hager und unsicher, aber ihr großer Schnabel schwingt noch immer hin und her, während sie mit dem Mann an ihrer Seite spricht. Der Mann an ihrer Seite ist der berühmte Künstler Franklin Woodhouse, der einst einen nackten Arthur Weniger malte (heute in einer Privatsammlung). So vornübergebeugt wirkt es, als schaue er mehr auf seine schlurfenden Füße als auf den Weg, der vor ihm liegt, wie wir es vielleicht alle müssten. Und da sind noch andere, an deren Namen sich Weniger allerdings nicht erinnert, die auf den Fotografien mit ihm nur im Hintergrund zu sehen sind und die sich jetzt mit Stöcken und Gehhilfen und einer sogar mit einem elektrischen Rollstuhl vorwärts bewegen. Alle steuern sie auf den Ort zu, an dem sich Weniger und Marian in Kristall verwandelt haben.
Etwa zur Hälfte ihrer gemeinsamen Zeit als Paar, als der nebulöse Zauber der frischen Liebe verblasst war und der Dunst der Enttäuschung sich noch nicht über sie gelegt hatte – eine romantische Phase, deren Klarheit manchmal durch ihre Gewöhnlichkeit überschattet werden kann, was seine eigene Schönheit hat –, nahm Robert Weniger mit nach Provincetown. Bei jeder Ebbe schlenderten Robert und Weniger durch die Bucht, die nun auf wundersame Weise vom Meerwasser befreit war und den groben dunklen Sand des Meeresbodens und rote Raupen zum Vorschein brachte, die an die Anmerkungen eines Lektors in einem Manuskript erinnerten (dies kürzen und dies und dies), vielleicht, weil für Weniger fast alles an sein anhaltendes Versagen erinnerte, seine Träume nicht zu Papier zu bringen. Über ihnen breitete sich der weiche Himmel wie Wolle in grauen Fäden aus. Sie waren noch immer verliebt.
In Provincetown erfuhr Weniger, ebenfalls bei einem Telefonat mit seiner Schwester, dass seine Mutter Brustkrebs hatte. Er saß zitternd an dem wackligen kleinen Tisch; ein Sturm hatte sie nach drinnen vertrieben. Neben dem Kastenbett knisterte ein Feuer. Weniger sagte, er würde zurück nach Delaware fliegen, und Robert sagte nichts. Weniger sagte, er wolle die Arbeit am Roman aufgeben. Weniger sagte, es sei alles bloß Eitelkeit. Wie hätte er schreiben sollen, während seine Mutter im Sterben lag?