Geschichte einer Ehe - Andrew Sean Greer - E-Book

Geschichte einer Ehe E-Book

Andrew Sean Greer

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Beschreibung

»Wir glauben, die zu kennen, die wir lieben.« Ein Roman über das Geheimnis eines Lebens und die erschütternde Zärtlichkeit der Liebe. San Francisco: Draußen am Strand glaubt sich Holland sicher – hier in seinem kleinen Haus mit seiner Frau Pearlie und dem Sohn. Doch die Vergangenheit klopft an die Tür, und Pearlie begreift, dass sie nur ein Teil in einem Dreieck ist. Drei Außenseiter, die mit ihren Leidenschaften ringen, und ein Gebot von 100.000 Dollar, um dem Leben eine neue Richtung zu geben – die Geschichte einer Ehe. Andrew Sean Greers großartiger Roman entfaltet einen poetischen Sog, dem sich niemand entziehen kann, der schon einmal um ein Herz gekämpft hat – darum, es zu kennen, es zu halten oder, notfalls, freizugeben. »Bewegend«, urteilte John Updike.

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Seitenzahl: 315

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Andrew Sean Greer

Geschichte einer Ehe

Roman

Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungIIIIIIIV

Für David Ross

I

Wir glauben, die zu kennen, die wir lieben.

Unsere Ehemänner, Ehefrauen. Wir kennen sie, wir sind sie – etwa, wenn wir in Gesellschaft einen Moment getrennt werden und plötzlich ihre Ansichten vertreten, für ihr Lieblingsessen und ihre Lieblingsbücher schwärmen, Anekdoten aus ihrem Leben erzählen, nicht unserem. Wir kennen ihre Eigenheiten, wie sie reden, wie sie Auto fahren, wie sie sich kleiden, wie sie einen Zuckerwürfel in ihren Kaffee halten und gebannt warten, bis Weiß zu Braun wird, um ihn schließlich, zufrieden, vom Löffel zu kippen. Genau das sah ich meinen Mann jeden Morgen tun; ich war eine sorgsame Frau.

Wir glauben sie zu kennen. Wir glauben sie zu lieben. Aber was wir lieben, ist in Wahrheit unsere eigene schlechte Übersetzung aus einer Sprache, die wir kaum beherrschen. Wir wollen zum Original vordringen, aber es gelingt nicht. Wir kennen das alles. Aber haben wir verstanden?

Eines Morgens wachen wir auf. Der vertraute schlafende Körper neben dem unseren im Bett: auf ganz neue Art fremd. Mir ist es 1953 passiert. Plötzlich stand mir im eigenen Heim einer gegenüber, dem bloß das Gesicht meines Mannes hingehext war.

Vielleicht kann man eine Ehe nicht sehen. Ist sie wie ein ferner, fürs bloße Auge unsichtbarer Himmelskörper messbar nur an ihrer Schwerkraft, an dem Sog, den sie auf ihr gesamtes Umfeld ausübt. So stelle ich mir das vor. Dass ich den Blick auf all das richten muss, was sie umgibt, die vielen verborgenen Geschichten, die ungesehenen Teile, bis sie sich irgendwo in der Mitte endlich zeigt – rotierend wie ein dunkler Stern.

*

Schon die Geschichte, wie ich meinen Mann kennenlernte, ist nicht einfach. Wir haben uns zweimal kennengelernt: einmal in unserer Geburtsstadt in Kentucky und einmal in San Francisco am Strand. Zweimal Fremde: der stehende Witz unserer Ehe.

Ich habe mich schon als ganz junges Ding in Holland Cook verguckt. Wir stammten aus derselben Farmgegend; an Jungen zum Lieben herrschte kein Mangel – und Gefühl schwitzte ich aus allen Poren wie ein giftgrüner Amazonasfrosch –, nur leider warf niemand ein Auge auf mich. Andere konnten sich vor Verehrern nicht retten, aber auch dass ich mich frisierte wie die anderen Mädchen, dass ich genauso den Spitzenbesatz von Dachbodenkleidern riss und mir an die Rocksäume nähte, half nicht. Meine Haut spannte wie die Sachen, aus denen ich zu schnell herauswuchs; ich fand mich schlaksig, dürr, ungelenk, und weil niemand mich schön nannte – nicht meine Mutter, nicht mein unwirscher Vater –, hielt ich mich für eine graue Maus.

Als es daher mit einem Mal einen Jungen gab, der meinem Blick nicht auswich, der plötzlich nach der Schule auf dem Heimweg auftauchte und es so hinbog, dass er auf einen Bissen hereingebeten wurde, wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Dass er etwas wollte, war klar. Es konnte ihm nur um Schulnoten gehen, beschloss ich und passte ab da auf, dass ich meine Hefte seinem Blick entzog und im Unterricht nicht neben ihm saß, ich wollte für niemanden nur zum Spicken da sein. Aber darum ging es natürlich gar nicht, er war gut in der Schule. Was er wollte, hat er nie gesagt, die ganzen gemeinsamen Jahre nicht, aber man beurteilt einen Mann nicht nach dem, was er sagt. Man beurteilt ihn nach dem, was er tut, und an einem lichten Abend im Mai, als wir am Erdbeerfeld entlanggingen, nahm er meine Hand und hielt sie ganz bis nach Childress. Mehr als diese leichte Berührung war nicht nötig damals, als ich meine Nerven auf der Haut trug wie Spitze. Natürlich verliebte ich mich.

Dort in Childress erlebte ich mit Holland den Zweiten Weltkrieg. Ihm gefiel, dass ich »redete wie in den Büchern« und nicht wie die anderen Mädchen, und als er schließlich zur Army musste, sah ich dem Bus hinterher, der ihn in den Krieg trug. Einsamer Kummer für ein junges Mädchen.

Selbst fortzugehen wäre mir nicht in den Sinn gekommen, bis ein Mann von der Regierung bei uns anklopfte und namentlich nach mir fragte. In meinem verschossenen Sommerkleid polterte ich die Treppe hinunter zu dem rotgesichtigen, glatt rasierten Mann mit der goldenen Anstecknadel der Freiheitsstatue, die zu besitzen ich alles gegeben hätte. Mr Pinker hieß er. Die Sorte Mann, der man gehorchte. Er sprach mit mir über Arbeit in Kalifornien, darüber, wie sehr die Industrie tüchtige junge Frauen wie mich brauche. Seine Worte rissen einen Vorhang auf und gaben den Blick auf eine Welt frei, von der ich nicht die geringste Vorstellung gehabt hatte: Flugzeuge, Kalifornien; das war so, als willigte ich in eine Reise zu den Sternen ein. Als ich dem Mann dankte, sagte er: »Wie wär's, wenn Sie mir zum Dank einen Gefallen tun?« Ich war jung und unwissend und fand nichts dabei.

»Das ist der erste vernünftige Vorschlag aus deinem Mund«, brummte mein Vater, als ich laut übers Weggehen nachdachte. Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, dass er mich irgendwann sonst so eindringlich angesehen hätte wie an diesem Tag. Ich packte meinen Koffer und kehrte Kentucky für immer den Rücken.

Auf der Busfahrt nach Kalifornien sah ich Berge in die Wolken steigen und darüber, als säßen sie auf einer Wolkenbank, noch höhere Berge aufragen. So etwas hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Als wäre die Welt schon immer verzaubert gewesen, nur hätte es mir niemand gesagt.

Was den Gefallen betraf, um den Mr Pinker bat: Ich sollte ihm einfach nur schreiben. Über die Mädchen bei mir auf der Flugzeugwerft, die Maschinen, was so geredet wurde, das tägliche Allerlei, was wir aßen, was ich trug, was ich sah. Lachend fragte ich mich, was er damit nur wollte. Heute lache ich höchstens über meine Naivität – die Regierung interessierte sich für alles, was verdächtig schien, aber davon sagte er nichts. Bloß, dass ich mir vorstellen sollte, ich würde Tagebuch führen. Ich tat sogar dann noch brav meine Pflicht, als ich die erste Stellung aufgab, um als WAVE – bei den Women Accepted for Volunteer Emergency Service – freiwillig Dienst bei der Navy zu leisten und mir mit anderen jungen Frauen aus ähnlichen Verhältnissen das picklige Gesicht mit Noxzema zu reinigen, mit den Hüften zur Radiomusik zu wackeln, mich an Cola als Ersatz für rationierten Kaffee zu gewöhnen und an chinesisches Essen anstelle von Hamburgern. Abend für Abend gab ich mir Mühe, alles haarklein festzuhalten, nur kam mir mein Leben so dürftig vor, kaum der Rede wert. Wie so viele Menschen war ich taub gegenüber den eigenen Geschichten. Also schummelte ich.

Mein eigenes Leben mochte zwar öde sein, nicht aber die Bücher, die ich las, und so schrieb ich fleißig ab – klaute bei Flaubert, Ford und Ferber, erzählte von Intrigen und Kümmernissen, hellen, aufstrahlenden Freuden: erdichtet fürs Vaterland, verklammert mit Schweigen und Lügen. Das ist es, was letztlich ein Land zusammenhält. Ich machte meine Sache gut, verfasste meine Briefe in der Schrift, die meine Mutter mir beigebracht hatte, beständig, steil und stolz, mit dem besonderen geschlungenen P für Pearlie darunter, das ich mir mit neun ausgedacht hatte, und gerichtet an Mr William Pinker, 62 Holly Street, Washington, D.C.

Was hast du im Krieg gemacht, Grandma? Ich habe meinem Land etwas vorgelogen, ich habe so getan, als verpetzte ich Freunde. Ich war mit Sicherheit nur eine von vielen tausend in ihrem gewaltigen Kummerkasten für einsame Herzen. Stellt euch den Werbejingle vor: »Niemand petzt flinker für Mr Pinker!«

Dann war der Krieg vorbei und Schluss mit der Fabrikarbeit für Frauen, Schluss mit der Arbeit als WAVE. Meine Bulletins an Washington hatte ich längst eingestellt, ich hatte andere Sorgen – und die Näharbeit, mit der ich mein Geld verdiente. Eines Tages, als ich allein am Strand unterwegs war, kam ich an einem Matrosen auf einer Bank vorbei, er hatte ein Buch umgekehrt auf dem Schoß liegen wie ein Feigenblatt und starrte hinaus aufs Meer.

Ich wusste nicht viel über Männer, und ich erschrak über die Verzweiflung in dem schönen, ebenmäßigen Gesicht. Ich kannte den Mann. Es war der Junge, der ganz bis nach Childress meine Hand gehalten und dessen Herz mir, zumindest kurze Zeit, gehört hatte. Holland Cook.

Ich begrüßte ihn.

»Ach … Sarah, wie geht's? Wie geht's dem Hund?«, fragte er freundlich. Der Wind war mit einem Mal weg, als könnte auch der sich nicht mehr erinnern. Ich hieß nicht Sarah.

Einen Augenblick verharrten wir dort in der austergrauen Luft, während sein Lächeln langsam wegsackte, ich mir mit einer Hand den Mantelkragen an den Hals drückte, der Wind an meinem bunten Kopftuch riss und mir flau wurde im Magen. Ich hätte gehen können, einfach weitergehen, damit er niemals erfuhr, wer ich war. Eine Fremde bleiben, vom Nebel verschluckt.

Stattdessen nannte ich meinen Namen.

Da hast du mich dann erkannt, stimmt's, Holland? Deine erste kindliche Liebe. Pearlie, die dir Gedichte vorlas, die bei deiner Mutter Klavierstunden nahm; wir lernten uns nun zum zweiten Mal kennen. Plötzliche Erinnerung an die alte Heimat, aufgesprungen wie die Seite in einem Pop-up-Buch. Er unterhielt sich mit mir, brachte mich sogar ein bisschen zum Lachen, und als ich erwähnte, dass ich für Freitag keine Kinobegleitung hätte, und ihn bat, mitzugehen, da zögerte er einen Augenblick, ehe er mich ansah und leise sagte: »Abgemacht.«

Als er dann im Logierhaus erschien, war ich entsetzt. Die schwachen Glühbirnen zeigten einen abgehärmten, müden Mann, Hut in den Händen, Haut fahl, die schöne Krawatte schief. Jahre später sollte er behaupten, er habe keine Ahnung mehr, was er oder was ich an jenem Abend angehabt hätte: »War es das grüne Kleid?« Nein, Holland, es waren schwarze Rosen auf weißem Grund, das Muster hängt gerahmt in meiner Erinnerung neben dem der Tapete in unserem Honeymoon-Hotel (blassgrüne Girlanden). Ich hielt ihn für betrunken, fürchtete, er könnte umkippen, aber er bot mir lächelnd seinen Arm und nach der Vorstellung führte er mich in ein teures Lokal in North Beach. Er sprach und aß kaum. Er nahm mich kaum wahr, ebenso wenig wie die Blicke der anderen Gäste, denn den seinen hielt er auf die zwei gusseisernen Hunde geheftet, die den leeren Kamin bewachten. Als uns die Trambahn zurückgetragen hatte und der Moment des Abschieds gekommen war, verblüffte er mich, indem er sich mir abrupt zuwandte und mich auf den Mund küsste. Ein Glücksstrom durchfuhr mich. Er trat hörbar atmend zurück und schloss sein Jackett. »Ich muss noch zu einem Freund«, sagte er schroff.

»Holland«, hob ich an. Er wandte rasch den Kopf, als hätte ich an einem Band gezogen. »Holland«, wiederholte ich. Er wartete. Und irgendwie fand ich die richtigen Worte. Es war das einzige Mal, dass mir das gelang: »Lass mich für dich sorgen.«

Seine dunklen Augen erwachten. Glaubte er, ich wolle ihn an unsere gemeinsame Zeit in Kentucky erinnern, halte ihm die sanfte Drohung der Vergangenheit hin? Zwischen seinen Brauen erschien eine steile Falte.

Er sagte: »Du kennst mich doch gar nicht, nicht wirklich.«

Ich sagte: Macht nichts, meinte aber eigentlich, dass er sich irrte, dass ich von damals in unserem kleinen Kinderkaff alles über ihn wüsste, alles kannte – das Gras hinter dem Schulhof, das wir mit Stöcken peitschten, den Weg von Franklin nach Childress mit den Zaubernusssträuchern und dem Springkraut und den Trichterwinden, die Eiswürfel der Sommerlimonade seiner Mutter, die im Krug bebten – die versunkene Welt, an die nur ich mich erinnerte. Wir waren so weit weg von Zuhause. Dem einen, das für immer verloren war. Wer sollte ihn besser kennen als ich?

Was ich tat, tat ich blindlings. Ich hätte alles getan, um ihn dort auf den schimmernden Straßenbahnschienen zu halten. »Lass mich wieder für dich sorgen.«

»Das meinst du doch nicht ernst?«, fragte er.

»Holland, mich hat noch nie ein anderer geküsst.«

»Das kann nicht sein, es ist Jahre her, Pearlie. Es hat sich so viel verändert.«

»Ich habe mich nicht verändert.«

Da packte er mich an der Schulter und presste seine Lippen auf meine.

Zwei Monate später flüsterte er dort an ebendiesen Straßenbahnschienen: »Pearlie, du musst mich heiraten.« Er warnte mich, er meinte, ich wisse im Grunde nicht viel von seinem Leben, und er hatte natürlich recht. Und doch heiratete ich ihn. Einen so bildschönen Mann konnte ich unmöglich ziehen lassen, und ich liebte ihn ja.

*

Das war immer das Erste, was Fremden an meinem Mann auffiel, sein Aussehen. Hoch gewachsen, dunkel, mit einem sonnigen Lächeln, das ganz unverstellt wirkte, ein Mann von dieser mühelosen Schönheit, der weder Last noch Krankheit etwas anhaben können, die getriebenem Gold gleicht, das selbst verbeult oder eingeschmolzen noch rein wäre, kostbar. So wirkte Holland auf mich, so hatte er schon damals auf mich gewirkt, als ich noch Schülerin war und im Klassenzimmer den Blick nicht von ihm wenden konnte. Ich war nicht die Einzige; auf alle wirkte er so.

Schönheit ist eine Linse, die verzerrt. Sein Aussehen rief unweigerlich ein Lächeln, bereitwillig ausgestreckte Hände hervor, zweimaliges Hinsehen, einen länger als sonst verweilenden Blick, denn ein solches Strahlen, ein solches Gesicht, die vergaß man so schnell nicht. Selbst wie er die Zigarette hielt oder wie er sich bückte, um einen Schnürsenkel zu binden, war von einer solchen männlichen Anmut, dass man sich wünschte, zeichnen zu können. Was für ein geblendetes Dasein. Jobs, Mitfahrgelegenheiten, Drinks angeboten zu bekommen – »geht aufs Haus, Schätzchen« –, zu spüren, wie sich ein Raum verändert, den man durchquert. Immer und überall Blicke auf sich zu ziehen. Einer zu sein, den andere besitzen wollen, nichts anderes gewöhnt zu sein, als so unbedingt und so beständig begehrt zu werden, dass man selbst noch nie gewusst hat, was man will.

Und er gehörte mir, das war das Unfassbare.

Was hätte ich wohl in den zarten Anfängen unserer Ehe von meinem Mann erzählt? Einfach nur, dass er eine wunderschöne Baritonstimme besaß. Seinen Whiskey pur trank. Dass er auf Anhieb einem Wildfremden zwanzig Dollar lieh, wenn er ihn für eine ehrliche Haut hielt, oder dass er später, als wir einen Sohn hatten, stets dessen Gesundheit im Blick behielt, den Arzt rief, sobald wir uns sorgten, und sanft Sonnys Beine in der Wanne einseifte, als wäre alles in bester Ordnung. Immer gut angezogen, immer von einem Hauch Leder und Holz umgeben, wie ein Lieblingsmantel oder -sessel. Er rauchte gern, aber ungern vor anderen – eine alte Angewohnheit aus der Soldatenzeit –, und gelegentlich überraschte

ich ihn bei uns daheim auf der Schwelle zur Terrasse gegen den Türpfosten gelehnt wie Kalifornien an den Pazifik, Einsamkeit im Blick, die rechte Hand untätig nach drinnen baumelnd, während aus der linken nach draußen der Rauch aufstieg. Jeden Morgen um acht verabschiedete er sich mit einem Kuss, abends um sechs begrüßte er mich so, er arbeitete hart, um uns über die Runden zu bringen, und hatte im Kampf für sein Land fast sein Leben gelassen. Loyal, anständig, ein Soldat: amerikanische Tugenden. Das alles stimmt, nur erklärt es den Mann nicht. Es ist einfach das, was man gern auf einen Grabstein setzt. Es wurde auf den Grabstein von Holland Cook gesetzt.

*

Bald nach unserer Verlobung machten mir Hollands Tanten im Logierhaus ihre Aufwartung. Alice und Beatrice, genau genommen nicht Tanten, sondern ältliche Zwillingscousinen, die bei seiner Übersiedelung nach San Francisco erklärt hatten, sie seien jetzt seine Mütter, und sich in seinem Leben einnisteten wie hinderliche Katzen, die es sich zwischen den Laken eines ungemachten Betts bequem machen.

Sie führten mich für teures Geld aus, sie meinten, es gebe etwas, was ich wissen müsse, ehe ich Holland heiratete. Der Ort war gut gewählt. Wir saßen, nachdem wir zunächst an zwei anderen Adressen abgewiesen worden waren, in einer besonderen Ecke des Speisesalons eines Kaufhauses, und zwar drei Etagen über dem Union Square unter einem gewaltigen Schoner aus Buntglas zwischen hin- und her hastenden alten Kellnern in Livree, zu einer Zeit, da Kaufhäuser noch Rotunden mit Gemäldegalerien und Bibliotheken hatten, deren Bände man kaufen oder auch ausleihen konnte. Man denke nur, einst konnte man bei Macy's Bücher entleihen! Ich saß mit den dürren alten Damen in dem funkelnden Saal, und sie musterten mich traurig. Ich war jung und starb vor Angst. »Du solltest über Holland Bescheid wissen«, sagte die eine – noch konnte ich sie nicht auseinanderhalten –, und die andere nickte. »Er ist krank. Das hat er dir bestimmt nicht gesagt.«

»Krank?«

Sie wechselten einen Blick – ich war zu jung, um ihn zu deuten –, und Alice fuhr fort: »Man kann gegen sein Leiden nichts tun.«

»Es geht schon besser, aber kurieren kann man es nicht«, bekräftigte ihr Zwilling. Später würde ich lernen, sie daran zu unterscheiden, dass die Ältere ein Muttermal hatte, während der Jüngeren dreißig Jahre zuvor ein verheirateter Mann das Herz gebrochen hatte. Als hinterließe auch das ein Mal.

Ich senkte den Blick und sah, dass ich die ganzen köstlichen Hörnchen verputzt hatte.

»Er hat es nicht leicht gehabt«, fiel ihr Alice ins Wort, doch was sie sagte, ergab für mich keinen Sinn. »Der Krieg, der Tod seiner Mutter …«, und mit einem kleinen Schluchzer wandte sie sich ab und starrte zu den großen Fenstern hinaus auf die Siegessäule, die Deweys Triumph im Pazifik verewigt.

Ich fragte, was ihm denn fehle. Die jüngere Tante hob die Hand an die Lippen, was sie aussehen ließ wie ein altes Standbild, und sagte, anfällig eben, ein verdrehtes Herz, man könne dagegen nichts tun.

»Aber«, versprach ich, »ich werde gut für ihn sorgen.«

»Wir haben gehört, wie du im Krieg für ihn gesorgt hast«, sagte Beatrice.

»Ja«, meinte ich vorsichtig, »ich und seine Mutter.«

Sie beäugte mich wissend. Ich war in einem Alter, wo man allen möglichen Unsinn glaubt, eben auch, dass Erwachsene keine Ahnung haben und dass besonders Frauen wie Kinder sind und man sie sanft und mit Nachsicht behandeln muss und dass nur man selbst – die man immerhin einen Kriegsheimkehrer geküsst hat – die Welt kennt. Als die beiden Frauen so von oben herab mit mir redeten, gab ich daher nicht viel auf ihre Worte.

»Miss Ash«, sagte die ältere Tante und sprach mich dann weiter mit Vornamen an: »Pearlie. Wir zählen auf dich. Lass ihn nicht aus den Augen. Du weißt, er stürzt sich gern ins Leben, aber das wäre fatal. Mir gefällt ganz und gar nicht, dass er die alte Immobilie draußen in den Outside Lands übernehmen will, es raubt mir den Schlaf, aber wer weiß, vielleicht tut es ihm gut dort an der Seeluft. Da braucht er nicht in die Stadt zu fahren oder vergangenen Zeiten nachzuhängen. Seine Familie wird ihm genügen, Pearlie. Du wirst ihm genügen.«

»Sicher.« Ich hatte keine Ahnung, was für Sachen er nachhängen sollte. Ich war abgelenkt, weil der Kellner, ein Farbiger, vom anderen Ende des Saals lächelnd mit einer gefalteten Serviette auf uns zuhielt. »Ich weiß nichts von vergangenen Zeiten. Wir machen uns nicht viel aus eitlen Vergnügungen. Dafür ist er nicht in den Krieg gezogen.« Ich wählte meine Worte mit Bedacht; mit der Erwähnung seines Kriegseinsatzes hoffte ich, die Andeutung von Schwäche wettzumachen.

Doch Alice steigerte sich in irgendetwas hinein. Sie hielt den Blick starr vor sich auf den Tisch gerichtet und sog scharf die Luft ein, wie eine Grotte die Flut. Als Beatrice ihren Arm berührte, schüttelte sie den Kopf. Ihr Collier glitzerte im grauen Widerschein der Sonne. Dann sagte sie etwas, bei dem ich augenblicklich beschloss, ich müsse mich verhört haben, weil es so absurd war, so verrückt, und wir unterbrochen wurden, ehe ich sie bitten konnte, ihre Worte zu wiederholen. Es trat nämlich eine Freundin der beiden zu uns an den Tisch, eine Frau mit mondäner Fasanenfeder am Hut, sie fragte die beiden Misses Cook nach dem Daffodil Festival und ob sie meinten, es werde in diesem Jahr mehr Narzissen geben oder weniger. Weniger, beschloss man, wegen des winterlichen Wetters. Während die Damen sich unterhielten, traf der Kellner endlich ein, schlug seine Serviette zurück und hielt mir einen bronzegoldenen Stapel frischer Hörnchen hin. Es war so wunderbar damals, jung zu sein.

*

Die rechte Hand, zur Faust geballt, ans Golden Gate klopfend, entspräche der Form nach meinem San Francisco. Der kleine Finger wäre der sonnige Stadtkern an der Bucht, der Daumen unser Ocean Beach draußen am blauen Pazifik. »The Sunset« wurde die Gegend genannt. Dort lebten wir mit unserem Sohn in einem alten Haus, das wie ein ungeschliffener Stein inmitten der Tausenden von funkelnagelneuen Eigenheimen saß, die für die Kriegsheimkehrer und ihre Familien am Stadtrand errichtet wurden, dort, wo bis nach Kriegsende eigentlich niemand baute. Dann aber wurden Dünen planiert, wurde Mutterboden auf den Sand aufgeschüttet und ein Schachbrett kleiner pastellfarbener Bungalows angelegt mit Garagen und Ziegeldächern und Panoramafenstern, die bei Sonnenaufgang blinkten, in Reih und Glied, fünfzig Avenues bis hinunter zum Pazifischen Ozean. Dort waren wir ganz aus der Welt. Der Chronicle hat einmal eine Karte der zu erwartenden Schäden bei einem Atomschlag gegen San Francisco abgedruckt mit lauter Ringen aus Feuer und Schutt. The Sunset war der einzige Stadtteil, der stehenblieb.

Als wir nach dem Krieg dorthin zogen, gab es so viele Baugrundstücke, dass immerzu Sand in der Luft flirrte und über Nacht einen Gemüsegarten unter sich begraben konnte. Das Brüllen der Brandung übertönten morgens manchmal die Löwen im nahegelegenen Zoo. The Sunset war mit keinem anderen Teil der Stadt zu vergleichen, es gab keine Hügel, keine Aussicht, keine Bohemiens, nichts Italienisches oder Viktorianisches, das einen Schnappschuss lohnte. Ein neuer Lebensstil, von Downtown durch mehr als bloß einen Hang mit Tunnel getrennt. Wir saßen am äußersten Ende eines Kontinents in Nebel so dicht und silbrig, dass in Sunset selten ein sunset zu sehen war; strahlendes Licht kam oft nur von der Tram, die wie ein Kumpel aus dem Stollen auftauchte und zufrieden ihre Bahn zum Ozean zog.

Es war Samstag. Es war 1953, und wir hatten wenige Wochen zuvor im Fernsehen die Vereidigung von Eisenhower und Nixon gesehen. Die erste Regierung, seit wir denken konnten, die nicht von FDR geführt wurde oder in seinem Geiste. Die Inauguration vollzog sich vor dem bangen Hintergrund des Koreakriegs, der Rassenfrage, der Rosenbergs, der uns umstellenden Kommunisten, der Bomben der Russen, in die wie Voodoo-Sprüche unsere Namen graviert wurden: Pearlie, Holland, Sonny. Wir sahen fern. Und sagten uns:

Die Rettung naht.

Die Menschen haben von den Fünfzigern eine ganz bestimmte Vorstellung. Sie reden von Pudel-Röcken, vom Busboykott und von Elvis, sie reden von einer jungen Nation, einer unschuldigen Nation. Ich weiß nicht, wie sie so falsch liegen können; die Erinnerung rafft offenbar gern, denn das alles kam später, als das Land sich wandelte. 1953 hatte sich noch gar nichts geändert. Wir lebten noch immer im Schatten des Krieges. Fluoridierung empfanden wir als schreckliche Neuerung, den Woolworth's an der Market Street als glorreiche. Die Feuerwehrleute trugen noch Lederhelme, der Seltzer-Boy William Platt brachte noch perlende Flaschen Selters an die Tür, deren Klirren auf dem Betonsockel mich weckte, der Milchmann fuhr noch seinen altmodischen Wagen mit der goldenen Firmenaufschrift – Spreckels Russell –, und der Eismann zerrte, unglaublich, aber wahr, noch mit seiner mittelalterlichen Zange Blöcke für die letzten Haushalte ohne Eisschrank aus seinem Laderaum wie ein Kieferorthopäde, der einem Walfisch einen Zahn zieht. Der Obstverkäufer, der Kohlenhändler, die Eierfrau, der Scherenschleifer und der Lumpensammler – sie alle drehten laut rufend ihre Runden durch die Straßen: »Lumpen, Eisen, Knochen und Papier, ausgefallene Zähne sammeln wir!«, Lieder, die auf immer verloren sind. Noch hatte niemand wildere Töne gehört als eine Big Band, hatte niemand einen Mann gesehen, dessen Haar weiter gereicht hätte als bis zu den Ohrläppchen. Wir versuchten noch immer dahinterzukommen, wie man im Krieg nach dem Krieg leben sollte.

Für Mütter herrschte finsterstes Mittelalter. Mit drei spielte mein Sohn Sonny eines Tages mit seinem Vater hinten im Garten, als ich plötzlich Geschrei hörte. Ich stürzte hinaus; mein Sohn lag hilflos in der Jasmintrompete. Mein Mann hob den verängstigten Kleinen hoch, wiegte ihn in den Armen und bat mich, rasch den Doktor zu rufen. Damals kannte man weder den Erreger der Kinderlähmung noch ein Heilmittel. Der Arzt erklärte mir, die Infektion »bringe der Frühsommer« – magische Diagnose in einer Stadt, die gar keinen Sommer kannte. Seine Kur bestand in Beinschienen, Bettruhe, heißen Umschlägen, die ich pflichtschuldig anbrachte, sonst blieb uns nur der Trost von Gottesdiensten, bei denen weinende Frauen Fotografien ihrer Kinder hochhielten. Die Fünfziger waren keine Jahre des Aufbruchs und der Freiheit. Es waren Jahre des Grauens; im Vergleich zu ihnen war der Krieg leicht gewesen. Es grenzt an ein Wunder, dass wir nicht brüllend auf die Straße stürzten und uns gegenseitig die Häuser ansteckten.

Stattdessen versteckten wir unsere Ängste voreinander. So wie meine Mutter die Locke eines toten Bruders im Ausschnitt ihres hochgeschlossenen Sonntagskleids barg, in einer extra eingenähten Tasche. Wir können nicht Tag für Tag vor Gram und Angst gebeugt herumlaufen; das lassen unsere Mitmenschen nicht zu, sie bedrängen uns mit Tee und dem Rat, nach vorne zu blicken, Kuchen zu backen, die Wände zu streichen. Wer kann es ihnen verdenken, hat man uns doch vor langer Zeit beigebracht, dass die Welt auseinanderfiele, unsere Städte wucherndem Grün und wilden Tieren anheimfielen, wenn wir uns von der Trauer beherrschen ließen wie ein wahnsinniger Lear. Also lassen wir uns bedrängen. Wir backen Kuchen, streichen die Wände, lächeln, wir kaufen einen neuen Gefrierschrank, als planten wir für die Zukunft. Doch insgeheim – in den frühen Morgenstunden – nähen wir die kleine Extratasche ein. In die Halsgrube. So dass sie, sobald wir lächeln oder beim Elternsprechtag nicken oder uns nach einem gefallenen Löffel bücken, drückt und zwickt und brennt und uns klarmacht, dass wir nicht nach vorne geblickt haben. Das auch nie vorhatten.

Zu leben in einem tragischen Land sei leben in tragischer Zeit, schrieb damals ein Dichter.

Unser Heim aber war mir alles. Schließlich hatte ich es ausgesucht; den Tanten zum Trotz hatte ich Holland gedrängt, die alte Sunset-Immobilie zu übernehmen, und am Anfang war es die Erfüllung unserer Träume. Ein Haus mit Garten, ein extra Zimmer für meinen Sohn, Teppiche und Jalousien und hinter dem Badezimmerspiegel sogar ein kleines Fach für Hollands Rasierklingen. Wie ein Wunder: ein Haus, das für mich längst an alles gedacht hatte. Hätte mir jemand damals weismachen wollen, dass dieses weinumrankte Haus Schauplatz aller wahren Augenblicke meines Lebens sein würde, ich hätte es, jung, wie ich war, nicht geglaubt, so wenig, wie ein Telefontechniker einem jungen Paar wird weismachen können, dass die schönsten und schrecklichsten Nachrichten ihres Lebens sie über dieses schwarzglänzende Ding erreichen werden. Noch heute fällt es mir schwer, mir vorzustellen, dass die niedliche Milchmagd aus Ebenholz, die Hollands Tanten uns im ersten Jahr unserer Ehe schenkten und die auf dem Bücherbord stand, aus ihren aufgemalten Augen jede wichtige Entscheidung mitansehen würde, die ich je traf. Wie auch der Bambus-Couchtisch. Und der »Scherbentopf«, den Sonny aus einem Wasserglas, Isolierband und Schellack gebastelt hatte. Der Strickpilz, die kaputte Kaminuhr. Sie alle wurden Zeugen der ganzen sechs Monate jener Geschichte, und beim Jüngsten Gericht werden sie vermutlich aufgerufen und in meiner Sache aussagen.

Was aber die Worte betraf, die Hollands Tanten bei jenem Lunch zu mir sagten, so hatte ich längst beschlossen, sie zu vergessen. Ich dachte nur an die Ehe, das neue Heim, die Sorge für mein Kind. Ich schenkte der Erinnerung an eine alte zischelnde Frau keine Beachtung:

»Tu's nicht! Heirate ihn nicht!«

*

Es war 1953. Ein Samstag.

Vier glückliche Ehejahre waren vergangen, die Tanten waren nach wie vor Teil unseres Lebens. Sie waren fülliger geworden und erinnerten, an ihren gewaltigen Hüten nestelnd, mit ihren herzförmigen, am Kinn spitz zulaufenden Köpfen noch mehr als früher an die Herzogin aus Alice im Wunderland, wenn sie am Küchentisch die neuesten Sensationsmeldungen wiedergaben. Darunter lag, versteckt hinter apfelrotem Wachstuch, mein kleiner Junge.

»Ach, Pearlie, wir haben dir noch gar nicht von dem Mord erzählt!«, sagte Alice.

Beatrice war im Begriff, ihren Hut aufzusetzen, die Nadel im Anschlag wie ein Harpunier. »Eine furchtbare Geschichte!«

»Ja«, sagte ihre Schwester.

»Hast du denn gar nichts davon gehört?«, fragte Beatrice mit besorgter Miene. »Im Norden?«

Ich schüttelte den Kopf, nahm die Zeitung hoch und zückte meine Schere. Sonne strömte zum Küchenfenster herein, die Scheibe trübten Fingerabdrücke meines Sohns. Es war zwei Uhr, in meinen Ohren bimmelte noch eine Fahrradglocke.

»Ein Mord, Pearlie –«, hob Alice an.

»Eine Frau, die sich scheiden lassen wollte –«

»Oben in Santa Rosa –«

Beatrice warf die Hände hoch, dass ihre Hutnadel aufblitzte, als bliebe eine Libelle einen Augenblick in der Luft stehen und schösse dann mit ihren Worten davon. »Passiert immer wieder. Sie wollte sich von ihrem treulosen Kerl scheiden lassen. Du weißt, das ist gar nicht so einfach. Also ist sie mit so einem Schnüffler hochgefahren zur Blockhütte, wo ihr Mann sich herumtrieb – das wussten sie –, mit seiner … na, du weißt schon …«

Ihre Schwester ergänzte: »Mit der anderen.«

»Seiner Mätresse, Pearlie«, setzte Beatrice einen oben drauf, »seiner Geliebten.«

Beatrice richtete ein ungefähres Lächeln auf die Stelle, wo sich mein Sohn unter dem Küchentisch verbarg. Er hielt es nun schon eine Stunde aus da unten, ohne Spielzeug, ohne den Hund (der zu meinen Füßen lag); ein wunderbares Rätsel. Mein Kind, glücklich und zufrieden unter einem Wachstischtuch. Ich weiß noch, dass ich dachte: Wenn die Spülmaschine durchgelaufen ist, kommt er heraus. Die war ein Luxus, ein Geschenk der Tanten. Während sie schwatzten, stand ich da und lauschte dem Gerät, das neben mir mahlte und murmelte wie ein Traum, aus dem wir jeden Moment aufwachen müssen.

Ich fragte, ob es eine farbige Frau gewesen sei.

»Eine was? Nein, die Frau war weiß, die Geliebte auch. Wie kommst du darauf –«

»Wie auch immer«, fuhr die ältere Zwillingsschwester fort und neigte sich vor lauter Sensationslust vor. Sie fuchtelte mit den Händen, sie zeigte den Flur hinab auf das Fenster vorne, als hätte sich das alles direkt hier unter meinem Dach zugetragen. »Jedenfalls haben sich der Detektiv und der Fotograf und sie zur Hütte hingeschlichen, um Aufnahmen zu machen. Als Scheidungsgrund, verstehst du, sie brauchte ja für die Scheidung einen Beweis seines … seines … außerehelichen Verkehrs. Sie brauchte ein Foto von dem Mann und seiner –«

»Also sind sie eingebrochen!«, rief Alice. »Das Blitzlicht kracht! Und dann –«

»Hatte der Mann einen Revolver. Er hielt sie für Räuber.« Sie erzählten jetzt im Duett.

»Na ja. Ist doch klar!«

»Wer sonst sollte denn da einsteigen?«

»Wer sonst?«

»Und dann«, sagte Beatrice, während sie sich den Strohhut aufsetzte, »dann hat er seine Frau totgeschossen.« Sie sah mir direkt in die Augen. »Totgeschossen!«

Die Hutnadel verschwand mit einem Knirschen im Hut.

Sagte die Schwester: »Passiert immer wieder!«

Während sie ihre Schauergeschichte zum Besten gaben, saß ich im Hauskleid unter dem langen, weinumrankten Fenster; da saß ich täglich und zensierte die Zeitung meines Mannes. Ich musste fertig werden, ehe er nach seinen Überstunden heimkam, ich wollte ihm eine Zeitung hinlegen können, in der nur Erfreuliches stand. Das gehörte zu den vielen Dingen, die ich voller Stolz für Hollands Gesundheit, für sein Herz tat. Über die Tanten ist leicht lachen, aber ich glaube schon, dass sie mir damals bei unserem Lunch hatten helfen wollen, als die jüngere sich so erregte – »Heirate ihn nicht!«

Doch eigensinnig, wie ich war, hatte ich den Rat der guten Tanten in den Wind geschlagen und beschlossen, Holland auf meine Weise zu schützen. Sie konnten ja nicht ahnen, was er mir bedeutete, diese beiden Frauen, die nie einen Mann gehabt hatten. Und so hatte meine Einbildungskraft, dieser achtlose Künstler, aus ihren warnenden Worten – »anfällig eben, ein verdrehtes Herz« – ein versetztes Organ gemacht. Ich hatte mir eingebildet, darin bestehe sein Leiden. Ich stellte es mir vor wie ein Diapositiv, das man in einem verdunkelten Hörsaal Medizinstudenten vorführt: der arme Holland mit seinem angeborenen Herzfehler, seinem wie eine Kirsche rechts in der Brust baumelnden Herz. Ich stellte mir ein Holland-Modell vor, bei dem die Organe ineinanderpassten wie bei einem Puzzle, und einen Dozenten, der ihm an den Brustkorb tippte: »Diese rechtsseitige Anlage beobachten wir nur in einem von zehntausend Fällen.« Es war das perfekte Leitbild für mein Eheleben. Ich war stolz auf meinen außergewöhnlichen Mann und auf meine außergewöhnlichen Pflichten als Ehefrau: ihn zu schützen und, besser noch, über alle Gefahren im Dunkeln zu halten. Seiner Gesundheit erfreut sich nur, wer nicht ahnt, dass sie ihn eines Tages im Stich lassen wird. Darin ist sie der Jugend vergleichbar.

Ich nahm meine Pflichten sehr ernst. Mit Hollands stillschweigender Billigung errichtete ich ein ausgeklügeltes System zur Schonung seines Herzens. Vor allem verwandelte ich unser Heim in einen Hort der Stille; das Telefon schnurrte statt zu schellen, die Türglocke summte statt zu schrillen (Sie werden es gleich hören); ich kaufte ihm einen Wecker, der am Morgen nur lustvoll vibrierte – ich fand sogar einen Hund, der nicht bellte. Ich hatte in der Zeitung von der Rasse gelesen und mit einiger Mühe einen auftreiben können. Er saß nun auf dem Küchenlinoleum zu meinen Füßen, die Augen im Genuss meiner schieren Anwesenheit geschlossen: der stumme, gescheckte Lyle. Unseren Sonny zu bändigen bestand kein Anlass; der war still zur Welt gekommen, als wäre er das Gegengift zum Herzen meines Mannes. So musste ich nur mich selbst in Schach halten und erhob niemals die Stimme. Ich wusste instinktiv, dass das meinen Mann erschüttern würde, dass es allem widerspräche, was ich für diese Ehe gelobt hatte, also brachte ich alles in mir zum Schweigen, was nicht gut und sanft war.

Meine Aufgabe an jenem Samstag bestand darin, die Zeitung ins Haus zu holen und zu überfliegen, ehe Holland etwas vor die Augen kam, was zu gewaltsam, zu schockierend war, was sein empfindlich versetztes Herz brechen könnte.

»Die eigene Frau umzubringen –«, setzte die Ältere noch einmal an.

»Ach, lass uns nicht mehr davon sprechen, Beatrice. Nicht heute. Nicht vor dem Jungen.«

Die alte Dame konnte sich ein boshaftes Grinsen nicht verkneifen. »Ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich nicht der Frau die Schuld gebe!«

»Beatrice!«

Im selben Moment aber hörte man am Ende der Straße die Tram, und die beiden Damen sahen auf ihre Uhren.

»Jetzt aber los!«, meinte Beatrice. »Wir können nicht auf Holland warten. Ich weiß wirklich nicht, weshalb du ihn die kleine DeLawn herumkutschieren lässt. Das gibt noch Ärger.« Mir fiel die Fahrradglocke wieder ein.

»Grüß ihn herzlich von uns, Pearlie«, sagte die Schwester und schob ihren Hüfthalter zurecht.

»Und behalte unseren Holland im Auge.«

Ich bat Sonny hervorzukommen und sich zu verabschieden, aber sie winkten ab und meinten, darauf komme es nicht an, so seien Jungs nun mal.

»Wiedersehen, Schätzchen«, sagten beide, als sie mich küssten.

Zwei Minuten und zwei Küsse später waren wir allein. Zehn weitere Minuten später sollte es an der Haustür läuten – oder gurren, vielmehr, wie eine Ringeltaube gurrt –, und unser Hund Lyle würde hochspringen, und ich würde aufmachen, und da stünde er dann, der Fremde: »Guten Tag, Ma'am, können Sie mir vielleicht helfen?« Diese unspektakulären Worte würden alles verändern.

Aber noch war die Welt friedlich und still. Von meinem Sohn sah ich unter dem Tisch nichts als die Schuhe, reglos wie die einer Bronzefigur. Es war bestimmt schön dort unten. Tiefbraunes Marmoleum wie gefrorener Lehm, an einigen Stellen, wo es auf die Unterschränke stieß, eingerissen,

recht abgelaufen auch vor der Spüle, wo er mich ungezählte Stunden auf Nahtnylons hatte stehen sehen, ehe die Spülmaschine (ein Monstrum) hereingerollt wurde. Damals trug ich Strümpfe mit kleinen Goldrauten und einem P (für Pearlie) an der Fessel, und mehr sah er von mir nicht, nur diese Goldrauten, die zu den wenigen Erinnerungen an mich zählen, die ihm aus seiner Kindheit geblieben sind.

Seine Schuhe, der linke größer als der rechte. Sie waren ein Geschenk seines »Schuh-Kumpels« in Montana. Wir profitierten von den Wohltätigkeitsaktionen des »March of

Dimes«; man hatte für uns einen Jungen mit Polio ausfindig gemacht, dessen ungleiche Füße genau das Gegenstück zu Sonnys bildeten. Wann immer wir Schuhe kaufen gingen, nahmen wir gleich zwei Paar, von denen wir den kleineren linken und den größeren rechten behielten und die anderen dem gleichaltrigen John Garfield in Montana schickten. Wir legten immer einen Brief bei, und Johns Mutter schrieb immer zurück und schickte die Schuhe, die sie ihrem Sohn gekauft hatte. Es war die perfekte Lösung. John und mein Sohn blieben »Schuh-Kumpel«, bis sie Teenager waren, bis ihre Krankheit ausgeheilt war. Bei ihrer Musterung konnten die Ärzte später kaum noch feststellen, dass sie überhaupt je Kinderlähmung gehabt hatten, und stuften erstaunlicherweise beide als wehrtauglich ein. Der Krieg verändert so viele junge Männer. Mein Sohn setzte sich nach Kanada ab, während der arme patriotische John, wie wir später erfuhren, nach Vietnam musste und dort starb, fernab von seinen geliebten Rocky Mountains.

Am Fenster zur Straße ertönte ein Räuspern. Lyle sprang verspätet aus seiner Halbmondstellung und riss den Kopf herum wie ein Aufziehspielzeug. Seine stumme kleine Schnauze öffnete sich einen Spaltbreit in der für Hunde typischen freudigen Erwartung, ein kleiner Bittsteller mit Fell, und ich bückte mich und kraulte ihm die Ohren.

Wir saßen alle drei still wie Statuen. Durchs Fenster wehte beschwingte Musik: die Anfängerklavierstunde eines Kindes, das sich an einem Kirchenlied abmühte. Eine Eintagsfliege streichelte die Scheibe. Dann, endlich, stöhnte die Spülmaschine und rülpste ihr graues Wasser ins Becken.

Jetzt kommt er heraus, dachte ich.

Und da kam er, mein kleiner Junge: ein Meterknirps in Denimhosen und Frotteehemd, das über und über mit walter walter walter bestickt war, ein Geschenk der Tanten, sein Lieblingshemd, obwohl wir selbst ihn nie »Walter« riefen, sondern immer nur Sonny, helle Augen in einem hellen Gesicht, die Zunge rot von den Beeren, die er genascht hatte – ein wunderliches Wesen, und mir anvertraut. Ich nannte seinen Namen, und er lachte. Ich würde alles für ihn tun.

Die Türglocke summte. Der Hund sprang hoch.

Ich band meine Schürze los und folgte Lyle in die Diele, wo ich – als dunklen Fleck im runden Guckfenster der Tür – den verschwommenen Umriss einer Hutkrone erahnte. Ich sah mich nach meinem Jungen um und zwinkerte. Ich winkte ihm noch mal, ehe ich aufmachte.

*