Die erstaunlichen Sinne der Tiere - Ed Yong - E-Book

Die erstaunlichen Sinne der Tiere E-Book

Ed Yong

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Beschreibung

Jede Spezies auf der Erde nimmt nur bestimmte Reize aus ihrer jeweiligen Umwelt wahr: welche, wie und warum genau, das birgt verblüffende Entdeckungen. Wissenschaftsjournalist Ed Yong nimmt uns mit auf eine erstaunliche Reise zu den Sinnen der Tiere. Nur wenn wir darum wissen, was sie sehen und wie sie die Welt erleben, können wir schützen, was im Begriff ist, verloren zu gehen. Wir begegnen Käfern, die von Feuer angezogen werden, Schildkröten, die die Magnetfelder der Erde aufspüren können, Fischen, die Flüsse mit elektrischen Botschaften füllen. Wir erfahren, dass die Schuppen im Gesicht eines Krokodils so berührungsempfindlich sind wie die Fingerspitzen eines verliebten Menschen; dass der Riesenkalmar mit seinen fußballgroßen Augen seinen Feind, den Pottwal, erkennen kann; warum Blätter synchron zum Rhythmus der unhörbaren Gesänge balzender Buckelzikaden vibrieren und was für einen komplexen Sehsinn Kammmuscheln besitzen. Wir entdecken, was Bienen in Blüten sehen, was Singvögel in ihren Melodien hören. Doch indem der Mensch die Sinne der Tiere durch Lichtverschmutzung, Lärm und andere Reizüberflutungen aus dem Gleichgewicht bringt, gefährdet er die Artenvielfalt und den Reichtum der Natur. Nur wenn wir darum wissen, was sie sehen, wie sie die Welt erleben, können wir schützen, was im Begriff ist, verloren zu gehen.

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ED YONG

DIE ERSTAUNLICHENSINNE DER TIERE

ERKUNDUNGEN EINERUNERMESSLICHEN WELT

Aus dem Englischenvon Sebastian Vogel

Verlag Antje Kunstmann

Für Liz Neeley

How do you know but ev’ry Bird

that cuts the airy way,

Is an immense world of delight,

clos’d by your senses five?

WILLIAM BLAKE

INHALT

EinleitungDie einzig wahre Reise

Kapitel 1Sickernde Substanzen – Geruch und Geschmack

Kapitel 2Sehen auf unzähligen Wegen – Licht

Kapitel 3Rurpur, Grurpur, Gurpur – Farben

Kapitel 4Der unerwünschte Sinn – Schmerzen

Kapitel 5Echt cool! – Wärme

Kapitel 6Ein grober Sinn – Kontakt und Strömung

Kapitel 7Auf zitterndem Boden – Vibrationen der Oberfläche

Kapitel 8Ganz Ohr – Schall

Kapitel 9Widerhall aus einer schweigenden Welt – Echos

Kapitel 10Lebende Batterien – Elektrische Felder

Kapitel 11Sie wissen den Weg – Magnetfelder

Kapitel 12Alle Fenster auf einmal – Die Sinne fließen zusammen

Kapitel 13Rettet die Stille, erhaltet die Dunkelheit! – Bedrohte Sinneslandschaften

Dank

Anmerkungen

Bibliografie

Abbildungen

Register

EINLEITUNG

DIE EINZIG WAHRE REISE

Stellen wir uns einmal einen Elefanten in einem Raum vor. Nicht das sprichwörtliche offensichtliche Problem, das niemand sehen will, sondern einen echten, schweren Elefanten. Stellen wir uns weiter vor, der Raum sei groß genug für ihn, beispielsweise eine Schulturnhalle. Jetzt stellen wir uns vor, dass auch eine Maus dort hineingehuscht ist. Neben ihr hüpft ein Rotkehlchen. Auf einem Balken über unseren Köpfen sitzt eine Eule. Eine Fledermaus hängt kopfüber an der Decke. Über den Boden schlängelt sich eine Klapperschlange. In einer Ecke hat eine Spinne ihr Netz gewoben. Eine Mücke summt durch die Luft. Auf einer Topfsonnenblume sitzt eine Hummel. Und schließlich fügen wir in unserem hypothetischen Raum noch einen Menschen hinzu. Nennen wir sie Rebecca. Sie ist scharfsichtig, neugierig und (glücklicherweise) tierlieb. Machen wir uns keine Gedanken darüber, wie sie in das ganze Durcheinander geraten ist, und denken wir auch nicht darüber nach, was all die Tiere in einer Turnhalle zu suchen haben. Sehen wir uns lieber an, wie Rebecca und die übrigen Mitglieder der Menagerie sich gegenseitig wahrnehmen.

Der Elefant hebt den Rüssel wie ein Periskop, die Klapperschlange lässt ihre Zunge herausschnellen, und die Mücke durchschneidet die Luft mit ihren Antennen. Alle drei schnuppern rundum und nehmen die schwebenden Düfte auf. Der Elefant riecht nichts Bemerkenswertes. Die Klapperschlange nimmt die Spur der Maus wahr und rollt sich wie in einem Hinterhalt zusammen. Die Mücke registriert das verlockende Kohlendioxid aus Rebeccas Atemluft und das Aroma ihrer Haut. Sie landet auf ihrem Arm und ist zum Fressen bereit, aber bevor sie stechen kann, schlägt Rebecca sie weg – das Klatschen scheucht die Maus auf. Sie quiekt beunruhigt in einer Tonhöhe, die für die Fledermaus hörbar ist, für den Elefanten ist sie hingegen zu hoch. Der Elefant lässt seinerseits ein tiefes, donnerndes Rumpeln hören, das für die Ohren der Maus oder der Fledermaus zu tief ist, aber von der Klapperschlange mit ihrem erschütterungsempfindlichen Bauch wahrgenommen wird. Rebecca bekommt weder vom Ultraschallquieken der Maus noch von dem Infraschallrumpeln des Elefanten etwas mit; sie lauscht stattdessen auf das Rotkehlchen, dessen Gesangsfrequenzen sich besser für ihre Ohren eignen. Aber ihr Gehörsinn ist so langsam, dass er nicht alle komplexen Informationen, die der Vogel in seinem Lied codiert, aufnehmen kann.

Die Brust des Rotkehlchens sieht für Rebecca rot aus, aber nicht für den Elefanten: Seine Augen sind auf Schattierungen von Blau und Gelb beschränkt. Die Hummel sieht ebenfalls kein Rot, ist aber empfänglich für die Ultravioletttöne, die hinter dem anderen Ende des Regenbogens liegen. Die Sonnenblume, auf der sie sitzt, trägt in der Mitte einen ultravioletten Kreis, der die Aufmerksamkeit des Vogels wie auch der Hummel erregt. Rebecca kann den Kreis nicht sehen – für sie ist die Blüte nur gelb. Ihre Augen haben im ganzen Raum den schärfsten Blick: Im Gegensatz zum Elefanten oder zur Hummel kann sie auch die kleine Spinne ausmachen, die in ihrem Netz sitzt. Als allerdings das Licht im Raum ausgeht, sieht sie so gut wie nichts mehr.

Von Dunkelheit umgeben, tappt Rebecca langsam und mit ausgestreckten Armen vorwärts, immer in der Hoffnung, Hindernisse zu bemerken. Das Gleiche tut auch die Maus, allerdings wedelt sie mit den Haaren in ihrem Gesicht jede Sekunde mehrmals hin und her, um so eine Landkarte ihrer Umgebung zu erstellen. Wenn sie zwischen Rebeccas Füßen herumschleicht, sind ihre Schritte für den Menschen zu leise, aber die über ihren Köpfen sitzende Eule hört sie ohne Weiteres. Der Kranz aus steifen Federn rund um das Gesicht der Eule lenkt Geräusche zu den empfindlichen Ohren, von denen eines ein wenig höher sitzt als das andere. Wegen dieser asymmetrischen Anordnung kann die Eule sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Richtung lokalisieren, woher die Trippelgeräusche der Maus kommen. Gerade in dem Augenblick, in dem die Maus in Reichweite der wartenden Klapperschlange gerät, stößt sie herab. Die Schlange nimmt mit zwei Gruben am Maul die Infrarotstrahlung wahr, die von warmen Gegenständen ausgeht. Eigentlich sieht sie die Wärme; für sie strahlt der Körper der Maus wie ein Leuchtturm. Die Schlange schießt nach vorn – und kollidiert mit der herabstoßenden Eule.

Die Spinne bekommt von der ganzen Aufregung nichts mit: Sie kann die Beteiligten kaum hören oder sehen. Ihre Welt wird fast ausschließlich durch die Erschütterungen definiert, die durch ihr Netz laufen – eine selbst gebaute Falle, die wie eine Erweiterung ihrer Sinne funktioniert. Verirrt sich die Mücke in die seidenen Fäden, nimmt die Spinne die verräterischen Erschütterungen der strampelnden Beute wahr, nähert sich ihr und bringt sie um. Während des Angriffs bemerkt sie aber nichts von den hochfrequenten Schallwellen, die auf ihren Körper auftreffen und zu dem Lebewesen zurückgeworfen werden, das sie ausgesendet hat: zur Fledermaus. Das Sonar der Fledermaus arbeitet so präzise, dass sie die Spinne nicht nur in der Dunkelheit findet, sondern sie genau genug lokalisieren kann, um sie aus ihrem Netz zu reißen.

Während die Fledermaus frisst, spürt das Rotkehlchen ein vertrautes Ziehen, das die meisten anderen Tiere nicht fühlen. Die Tage werden kühler, und es ist an der Zeit, in ein wärmeres südliches Klima zu fliegen. Selbst in der geschlossenen Turnhalle nimmt das Rotkehlchen das Magnetfeld der Erde wahr; von seinem inneren Kompass geleitet, schlägt es Richtung Süden ein und entkommt durch ein Fenster. Es lässt einen Elefanten, eine Fledermaus, eine Hummel, eine Klapperschlange, eine leicht benommene Eule, eine äußerst glückliche Maus und eine Rebecca zurück. Diese sieben Lebewesen teilen sich den gleichen physischen Raum, erleben ihn aber auf wundersame Weise höchst unterschiedlich. Das Gleiche gilt für die Milliarden anderen Tierarten auf der Erde und die unzähligen Individuen dieser Arten.* Auf der Erde wimmelt es von visuellen und haptischen Sinneseindrücken, Geräuschen und Schwingungen, Gerüchen und Geschmack, elektrischen und magnetischen Feldern. Aber jedes Tier kann nur einen kleinen Bruchteil der gesamten Realität anzapfen. Jedes Tier ist in seiner eigenen, einzigartigen Sinnesblase eingeschlossen und nimmt nur einen winzigen Ausschnitt einer ungeheuer großen Welt wahr.

Für diese Sinnesblase gibt es ein großartiges Wort: Umwelt.1 Definiert und in Umlauf gebracht wurde der Begriff 1909 vom baltisch-deutschen Zoologen Jakob von Uexküll. Als »Umwelt« bezeichnete Uexküll aber nicht einfach die Umgebung eines Tieres; er meinte damit genau den Teil dieser Umgebung, den ein Tier wahrnehmen und erleben kann – seine Wahrnehmungswelt. Viele Lebewesen können sich wie die Bewohner unserer imaginären Turnhalle in demselben physischen Raum aufhalten und doch vollkommen unterschiedliche Umwelten haben. Eine Zecke, die auf Säugetierblut aus ist, kümmert sich um Körperwärme, die Berührung von Haaren und den Geruch von Buttersäure, der von Haut ausgeht. Diese drei Dinge machen ihre Umwelt aus. Das Grün der Bäume, das Rot der Rosen, das große Blau des Himmels und das Weiß der Wolken sind nicht Teil ihrer wundersamen Welt. Die Zecke lässt sie nicht willentlich außer Acht, sondern kann sie einfach nicht wahrnehmen und weiß nicht, dass sie existieren.

Uexküll verglich den Körper eines Tieres mit einem Haus.2 Er schrieb: »Jedes Haus hat eine Anzahl von Fenstern, die auf den Garten münden — ein Lichtfenster, ein Tonfenster, ein Duftfenster, ein Geschmackfenster und eine große Anzahl von Tastfenstern. Je nach der Bauart dieser Fenster ändert sich der Garten vom Hause aus gesehen. Er erscheint keineswegs wie der Ausschnitt einer größeren Welt, sondern ist die einzige Welt, die zum Hause gehört – seine Umwelt. Grundverschieden ist der Garten, wie er unserem Auge erscheint, von dem, der sich den Bewohnern des Hauses darbietet …«3

Das war zu jener Zeit ein radikaler Gedanke – und in manchen Kreisen ist er es vielleicht heute noch. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen betrachtete Uexküll die Tiere nicht nur als Maschinen, sondern als empfindende Wesen, deren Innenwelt nicht nur existiert, sondern auch einer näheren Betrachtung wert ist. Uexküll stellte die Innenwelt von Menschen nicht über die von Tieren; für ihn war der Begriff der Umwelt vielmehr eine vereinheitlichende, nivellierende Kraft. Das Haus eines Menschen mag größer sein als das einer Zecke, weil mehr Fenster auf einen größeren Garten hinausführen, aber jeder von uns befindet sich dennoch in einem Haus und blickt hinaus. Auch unsere Umwelt ist begrenzt; es fühlt sich nur nicht so an. Auf uns macht sie einen allumfassenden Eindruck. Sie ist alles, was wir kennen, und so halten wir sie fälschlicherweise leicht für alles, was man kennen kann. Das ist eine Illusion, und diese Illusion hat auch jedes Tier.

Schwache elektrische Felder spüren wir nicht, Haie und Schnabeltiere spüren sie sehr wohl. Wir haben keinen Zugang zu den Magnetfeldern, die Rotkehlchen und Meeresschildkröten wahrnehmen. Wir können die unsichtbare Spur eines schwimmenden Fisches nicht verfolgen wie eine Robbe. Wir fühlen die von einer summenden Fliege erzeugten Luftströmungen nicht wie eine Kammspinne. Unsere Ohren hören weder die Ultraschallrufe der Nagetiere und Kolibris noch die Infraschallgeräusche der Elefanten und Wale. Unsere Augen sehen nicht die Infrarotstrahlung, die eine Klapperschlange aufnimmt, und auch nicht das ultraviolette Licht, das Vögel und Bienen wahrnehmen.

Selbst wenn Tiere die gleichen Sinne besitzen wie wir, können sie eine ganz unterschiedliche Umwelt haben. Manche Tiere hören Geräusche, wo für uns vollkommenes Schweigen zu herrschen scheint, sie sehen Farben, wo es für uns vollkommen dunkel ist, und spüren Schwingungen, obwohl für uns alles völlig bewegungslos ist. Manche Tiere tragen die Augen auf den Geschlechtsorganen, die Ohren an den Knien, die Nase auf den Extremitäten und die Zunge überall auf der Haut. Seesterne sehen mit den Spitzen ihrer Arme, Seeigel mit dem ganzen Körper. Der Sternmull fühlt mit seiner Nase, die Seekuh nutzt dazu die Lippen. Auch wir sind sensorisch keine Versager. Unser Gehörsinn ist ganz anständig und sicher besser als der vieler Millionen Insekten, die überhaupt keine Ohren besitzen. Unsere Augen haben einen ungewöhnlich scharfen Blick und können auf dem Körper von Tieren Muster unterscheiden, die das Tier selbst nicht sieht. Jede Spezies ist in manchen Wahrnehmungsfeldern eingeschränkt, in anderen hingegen nicht. Deshalb ist dies kein Buch, in dem wir Tiere kindisch je nach der Schärfe ihrer Sinne auflisten und nur für wertvoll erachten, wenn ihre Fähigkeiten unsere eigenen übersteigen. Dieses Buch handelt nicht von Überlegenheit, sondern von Vielfalt.

Es ist auch ein Buch über Tiere als Tiere. Manche Forschenden beschäftigen sich mit den Sinnesorganen von Tieren, um uns selbst besser zu verstehen. Dazu nutzen sie außergewöhnliche Arten wie elektrische Fische, Fledermäuse oder Eulen als »Modellorganismen«, an denen sie herausfinden wollen, wie unsere eigenen Sinnessysteme funktionieren. Andere analysieren die Funktionsweise der Sinne von Tieren, um neue technische Möglichkeiten zu schaffen: Hummeraugen dienten als Anregung für Weltraumteleskope, die Ohren einer parasitischen Fliege hatten Einfluss auf die Entwicklung von Hörgeräten, und das militärische Echolot wurde mit Arbeiten zum Sonar von Delfinen verfeinert. Das alles sind vernünftige Motive, aber ich interessiere mich für keines davon. Tiere sind nicht nur Stellvertreter für Menschen oder Futter für die Suche nach Ideen. Sie tragen ihren Wert in sich selbst. Wir werden ihre Sinne erkunden, um ihr Leben besser zu verstehen. Der amerikanische Naturforscher Henry Beston schrieb: »Sie stehen für Vollkommenheit und Vollendung; sie sind mit Fähigkeiten der Sinne ausgestattet, die wir verloren oder nie besessen haben, sie sind für Stimmen empfänglich, die wir nie hören. Sie sind keine Brüder und Schwestern und keine Unterlegenen, sondern je eigene Geschöpfe, die gemeinsam mit uns im Netz aus Raum und Zeit gefangen sind, Mithäftlinge, die das irdische Leben in seiner Herrlichkeit wie in seiner Mühseligkeit mit uns teilen.«4

Ein paar Begriffe sollen uns auf unserem Weg als Orientierungsmarken dienen. Wenn Tiere die Welt wahrnehmen, nehmen sie Reize auf – Größen wie Licht, Geräusche oder chemische Substanzen – und wandeln sie in elektrische Signale um, die dann entlang der Nervenzellen oder Neuronen zum Gehirn wandern. Die Zellen, die für die Aufnahme der Reize verantwortlich sind, nennt man Rezeptoren: Photorezeptoren nehmen Licht wahr, Chemorezeptoren nehmen Moleküle wahr, und Mechanorezeptoren nehmen Druck oder Bewegungen wahr. Oftmals liegen solche Rezeptorzellen in hoher Dichte in Sinnesorganen wie Augen, Nase oder Ohren. Die Sinnesorgane bilden zusammen mit den Neuronen, die ihre Signale weiterleiten, und den Gehirnteilen, die diese Signale verarbeiten, die Sinnessysteme. Zum Sehsystem gehören beispielsweise die Augen, die darin liegenden Photorezeptoren, der Sehnerv und die Sehrinde des Gehirns. Zusammen verschaffen diese Strukturen den meisten von uns den Sehsinn.5

Der vorangegangene Abschnitt könnte aus einem Schulbuch stammen. Aber nehmen wir uns einmal einen Augenblick Zeit und denken darüber nach, was für ein Wunder er beschreibt. Licht ist schlicht elektromagnetische Strahlung. Schall besteht aus Druckwellen. Gerüche sind kleine Moleküle. Unsere Fähigkeit, das wahrzunehmen, ist durchaus nicht selbstverständlich, ganz zu schweigen davon, dass wir irgendetwas davon in elektrische Signale umsetzen oder ihnen das Schauspiel eines Sonnenaufganges, den Klang einer Stimme oder den Duft frisch gebackenen Brotes entnehmen. Die Sinne wandeln das hektische Chaos der Welt in Wahrnehmungen und Erlebnisse um, sodass wir darauf reagieren und entsprechend handeln können. Sie ermöglichen es der Biologie, die Physik zu zähmen. Sie verwandeln Reize in Informationen. Sie ziehen Bedeutung aus Zufälligkeit und flechten Sinn in buntes Durcheinander ein. Sie verbinden Tiere mit ihrer Umgebung. Und sie verbinden Tiere über Ausdrücke, Darbietungen, Gesten, Rufe und Neigungen auch untereinander.

Die Sinne schränken das Leben eines Tieres ein und setzen Grenzen für das, was es wahrnehmen und tun kann. Sie definieren aber auch die Zukunft einer Spezies und die evolutionären Möglichkeiten, die vor ihr liegen. Vor 400 Millionen Jahren zum Beispiel verließen einige Fische erstmals das Wasser und stellten sich auf das Leben an Land ein. Unter freiem Himmel konnten diese Pioniere – unsere Vorfahren – viel größere Entfernungen überblicken als im Wasser. Nach Ansicht des Neurowissenschaftlers Malcolm MacIver gab diese Veränderung den Anlass zur Evolution höher entwickelter geistiger Fähigkeiten wie Planung und strategischem Denken.6 Die Tiere reagierten an Land nicht nur auf alles, was unmittelbar vor ihnen lag, sondern konnten proaktiv handeln. Indem sie weiter sahen, konnten sie auch weiter denken. Mit ihrer Umwelt erweiterte sich ihr Geist.

Eine Umwelt kann sich aber nicht unbegrenzt erweitern. Sinne haben immer ihren Preis. Tiere müssen die Neuronen ihrer Sinnessysteme ständig in Bereitschaft halten, damit sie sofort loslegen können, wenn es notwendig ist.7 Das ist anstrengender, als wenn man einen Bogen spannt und ständig festhält, damit man einen Pfeil abschießen kann, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Selbst wenn wir die Augen geschlossen haben, zehrt unser Sehsystem gewaltig an unseren Reserven. Deshalb kann kein Tier alle Dinge gleichermaßen gut wahrnehmen.

Das würde auch kein Tier wollen. Es würde von einer Welle von Reizen überrollt werden, von denen die meisten bedeutungslos sind. Die Sinne haben sich während der Evolution nach den jeweiligen Bedürfnissen ihres Eigentümers entwickelt; die Sinnesorgane sortieren ständig unendlich viele Reize, filtern Unwichtiges heraus und fangen Signale für Nahrung, Obdach, Gefahren, Verbündete oder Partner zur Paarung ein. Sie gleichen kritischen persönlichen Assistenten, die nur die wichtigsten Informationen an das Gehirn weiterleiten.* Über Zecken schrieb Uexküll: »Die ganze reiche, die Zecke umgebende Welt schnurrt zusammen und verwandelt sich in ein ärmliches Gebilde« aus nur noch drei Reizen. »Die Ärmlichkeit der Umwelt bedingt aber gerade die Sicherheit des Handelns, und Sicherheit ist wichtiger als Reichtum.«8 Kein Tier kann alles wahrnehmen, und kein Tier muss alles wahrnehmen. Das ist der Grund, warum es überhaupt Umwelten gibt. Es ist auch der Grund, warum die Betrachtung der Umwelt anderer Lebewesen etwas so zutiefst Menschliches und Ergreifendes ist. Unsere Sinne filtern das heraus, was wir brauchen. Alles andere können wir nur in Erfahrung bringen, wenn wir uns dazu entschließen.

Menschen sind schon seit Jahrtausenden von den Sinnen der Tiere fasziniert, und doch bleibt immer noch eine Fülle an Rätseln. Die Lebensräume vieler Tiere, deren Umwelten sich von den unseren am stärksten unterscheiden, sind unzugänglich oder undurchdringlich – schlammige Flüsse, dunkle Höhlen, das offene Meer, tiefe Abgründe oder unterirdische Regionen. Natürliches Verhalten lässt sich dort nur schwer beobachten und noch schwerer deuten. Viele Forschende beschränken sich auf die Untersuchung von Lebewesen, die man in Gefangenschaft halten kann, einschließlich aller damit verbundener Besonderheiten. Aber selbst im Labor ist die Arbeit mit Tieren eine Herausforderung. Experimente, mit denen man herausfinden will, wie sie ihre Sinne einsetzen, sind insbesondere dann schwierig zu konzipieren, wenn diese Sinne sich tiefgreifend von den unseren unterscheiden.

Regelmäßig werden verblüffende neue Details und manchmal sogar ganz neue Sinne erkannt. Furchenwale tragen an der Spitze ihres Unterkiefers einen Sensor von der Größe eines Volleyballs, der erst 2012 entdeckt wurde. Seine Funktion ist bis heute nicht geklärt.9 Manche Geschichten auf den nun folgenden Seiten sind Jahrzehnte oder Jahrhunderte alt, andere kamen erst ans Licht, als ich bereits an diesem Buch arbeitete. Und immer noch gibt es vieles, was wir nicht erklären können. »Mein Papa ist Atomphysiker und hat mir einmal eine ganze Reihe Fragen gestellt«, erzählt mir Sonke Johnsen, ein Sinnesbiologe. »Nachdem ich ein paarmal einfach ›ich weiß es nicht‹ geantwortet hatte, sagte er: ›Ihr Burschen wisst wirklich überhaupt nichts.‹« Durch dieses Gespräch angeregt, veröffentlichte Johnsen 2017 einen Artikel mit dem Titel »Wir wissen wirklich überhaupt nichts, oder? Offene Fragen der Sinnesbiologie«.10

Betrachten wir einmal eine relativ einfache Frage: Wie viele Sinne gibt es eigentlich? Aristoteles schrieb vor etwa 2370 Jahren, sowohl Menschen als auch andere Tiere hätten fünf Sinne: Sehen, Hören, Geruch, Geschmack und Tastsinn. Diese Zahl hat sich bis heute gehalten. Nach Ansicht der Philosophin Fiona Macpherson gibt es aber gute Gründe, daran zu zweifeln. Zunächst einmal übersah Aristoteles sogar bei Menschen einige Sinne: die Propriozeption, das heißt die Wahrnehmung des eigenen Körpers, die sich vom Tastsinn unterscheidet, und den Gleichgewichtssinn, der in Verbindung mit Sehen und Tastsinn steht.11

Die Sinne mancher anderer Tiere lassen sich noch schwerer in Kategorien einteilen. Viele Wirbeltiere (also Tiere mit einem Rückgrat) besitzen für die Wahrnehmung von Gerüchen ein zweites Sinnessystem, das vom sogenannten Vomeronasalen Organ (auch Jacobson-Organ) gelenkt wird; ist dieses Organ ein Teil des eigentlichen Geruchssinnes oder etwas Eigenes? Klapperschlangen nehmen die Körperwärme ihrer Beutetiere wahr, aber ihre Wärmesensoren sind mit dem Seezentrum des Gehirns verknüpft; ist dieser Wärmesinn einfach ein Teil des Sehens oder etwas Eigenes? Der Schnabel eines Schnabeltiers ist voller Sensoren, die elektrische Felder wahrnehmen, andere Sensoren sprechen auf Druck an; verarbeitet das Gehirn des Schnabeltiers diese Informationsströme einzeln, oder verschmelzen sie zu einem einzigen »Elektroberührungssinn«?

Wie wir an solchen Beispielen ablesen können, »lassen sich die Sinne nicht einfach in eine begrenzte Zahl verschiedener Typen unterteilen«, schrieb Macpherson in The Senses.12 Statt uns darum zu bemühen, die Sinne der Tiere in aristotelische Schubladen einzuordnen, sollten wir sie so studieren, wie sie sind.* Ich habe dieses Buch in Kapitel gegliedert, die sich jeweils um bestimmte Reize wie Licht oder Geräusch drehen, aber das diente hauptsächlich der Bequemlichkeit. Jedes Kapitel eröffnet den Zugang zu vielfältigen Wegen, auf denen Tiere mit den einzelnen Reizen umgehen. Wir werden uns nicht damit aufhalten, Sinne zu zählen oder Unsinn über einen »sechsten Sinn« zu verbreiten. Stattdessen fragen wir, wie Tiere ihre Sinne nutzen und sich bemühen, damit in ihre Umwelt vorzudringen.

Einfach ist das nicht. In seinem klassischen, 1974 erschienenen Aufsatz »Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?« vertrat der amerikanische Philosoph Thomas Nagel die Ansicht, andere Tiere hätten bewusste Erlebnisse, die von ihrem Wesen her subjektiv sind und sich kaum verständlich beschreiben lassen. Fledermäuse nehmen die Welt beispielsweise durch ein Sonar wahr, und da dieser Sinn den meisten Menschen fehlt, »besteht kein Grund zur Annahme, dass es subjektiv irgendetwas anderem gleicht, was wir wahrnehmen oder uns auch nur vorstellen können«, meinte Nagel. Man kann sich vielleicht vorstellen, man hätte ein Netz an den Armen oder Insekten im Mund, und doch schaffen wir damit nur eine mentale Karikatur von uns selbst als Fledermaus. »Ich möchte wissen, wie es sich für eine Fledermaus anfühlt, eine Fledermaus zu sein«, schrieb Nagel.13 »Aber wenn ich versuche, mir das auszumalen, bin ich auf die Ressourcen meines eigenen Geistes beschränkt, und diese Ressourcen sind der Aufgabe nicht gewachsen.«

Wenn wir an andere Tiere denken, sind wir durch unsere eigenen Sinne und insbesondere durch das Sehen voreingenommen. Anblicke sind für unsere Spezies und Kultur eine so starke Triebkraft, dass selbst Menschen, die von Geburt an blind sind, die Welt mit visuellen Worten und Metaphern beschreiben.* Wir sind mit anderen Menschen einer Meinung, wenn uns ihre Aussage einleuchtet oder wir ihre Sichtweise teilen. Wenn wir Dinge vergessen, haben wir einen blinden Fleck in unserer Erinnerung. Eine hoffnungsvolle Zukunft ist hell und glänzend; schlechte Aussichten sind düster und trüb. Selbst wenn Forschende von Sinnen sprechen, die Menschen völlig fehlen, beispielsweise von Fähigkeit zur Wahrnehmung elektrischer Felder, erwähnen sie Bilder und Schatten. Sprache ist für uns Segen und Fluch zugleich. Sie stellt die Hilfsmittel bereit, mit denen wir die Umwelt eines anderen Tieres beschreiben können, gleichzeitig lässt sie unsere eigene Sinneswelt in diese Beschreibungen mit einfließen.

Fachleute für Tierverhalten erörtern oftmals die Gefahren des Anthropomorphismus – wir neigen dazu, anderen Tieren unpassenderweise menschliche Gefühle oder geistige Fähigkeiten zuzuschreiben. Aber die vielleicht am weitesten verbreitete und am wenigsten erkannte Ausprägung des Anthropomorphismus ist unsere Neigung, andere Umwelten zu vergessen – und das Leben eines Tieres mit Begriffen unserer statt ihrer Sinne zu erfassen. Diese Einseitigkeit hat Folgen. Wir schädigen Tiere, weil wir die Welt mit Reizen überfluten, die ihre Sinne überfordern oder benebeln, beispielsweise wenn wir Lichter an der Küste aufstellen und damit frisch geschlüpfte Schildkröten vom Meer weglocken, wenn wir mit Unterwassergeräuschen die Rufe der Wale ersticken oder wenn wir Glasplatten aufstellen, die für das Sonar der Fledermäuse aus Wasser zu sein scheinen. Wir deuten die Bedürfnisse der Tiere, die uns am nächsten sind, falsch, halten geruchsorientierte Hunde davon ab, ihre Umwelt zu erschnuppern, und zwingen ihnen die visuelle Welt der Menschen auf. Und wir schaden uns auch selbst, wenn wir unterschätzen, wozu Tiere in der Lage sind, wenn wir die Chance verspielen, zu verstehen, wie umfassend und wundersam die Natur in Wirklichkeit ist – Genüsse, die, wie William Blake schrieb, »verschlossen sind durch unserer Sinne fünf«.

In diesem Buch wird immer wieder die Rede davon sein, welche Fähigkeiten von Tieren lange Zeit als unmöglich oder absurd galten. Der Zoologe Donald Griffin, Mitentdecker der Echolotung bei Fledermäusen, vertrat die Ansicht, Biologen hätten übermäßig oft »Einfachheitsfilter« angewandt, wie er es nannte.14 Die Möglichkeit, dass die von ihnen studierten Sinnesorgane komplizierter und raffinierter sein könnten, als es aus den erhobenen Daten hervorging, mochten sie nicht einmal in Erwägung ziehen. Seine Klage steht im Widerspruch zu »Ockhams Rasiermesser«, dem Prinzip, wonach die einfachste Erklärung in der Regel auch die beste ist. Aber dieses Prinzip gilt nur, wenn alle notwendigen Informationen zur Verfügung stehen. Griffin ging es aber gerade darum, dass dies unter Umständen nicht der Fall ist. Wissenschaftliche Erklärungen über andere Tiere sind abhängig von den gesammelten Daten; die wiederum hängen davon ab, welche Fragen man stellt, und das ist von der Fantasie gesteuert, und die ist durch die eigenen Sinne begrenzt. Die Grenzen der Umwelt eines Menschen sind oft der Grund, warum die Umwelten anderer für uns undurchschaubar bleiben.

Griffins Worte sind kein Blankoscheck, mit dem wir komplizierte oder paranormale Erklärungen für das Verhalten von Tieren vertreten könnten. Ich halte sie und Nagels Essay für eine Aufforderung zur Demut. Sie erinnern uns daran, dass Tiere hoch entwickelt sind und es uns bei aller vielfach gepriesenen Intelligenz schwerfällt, andere Lebewesen zu verstehen oder uns der Neigung zu widersetzen, ihre Sinne durch unsere eigenen zu betrachten. Wir können die physikalischen Verhältnisse in der Umwelt eines Tieres studieren, können uns ansehen, worauf es reagiert und worauf nicht, und das Netz der Neuronen nachzeichnen, das die Sinnesorgane mit dem Gehirn verbindet. Aber die eigentliche Leistung des Verstehens – herauszufinden, wie es ist, eine Fledermaus, ein Elefant oder eine Spinne zu sein – setzt immer »einen begründeten Fantasiesprung« voraus, wie die Psychologin Alexandra Horowitz es nennt.15

Viele Sinnesbiologen haben einen künstlerischen Hintergrund und sind deshalb vielleicht besser in der Lage, über die Wahrnehmungswelt, die unser Gehirn automatisch schafft, hinauszublicken. Sonke Johnsen hat beispielsweise Malerei, Bildhauerei und modernen Tanz studiert, bevor er sich mit dem Sehvermögen von Tieren beschäftigte. Um die Welt um uns herum darzustellen, so erklärt er, müssen Künstlerinnen oder Künstler gegen die Grenzen ihrer Umwelt angehen und »unter die Motorhaube blicken«. Ihm selbst hilft diese Fähigkeit, »über Tiere nachzudenken, die eine andere Wahrnehmungswelt besitzen«. Außerdem stellt er fest, dass viele Sinnesbiologen auf ganz unterschiedliche Weise wahrnehmen. Sarah Zylinski beschäftigt sich mit dem Sehvermögen von Tintenfischen und anderen Kopffüßern; sie hat Prosopagnosie und kann selbst vertraute Gesichter wie das ihrer Mutter nicht erkennen. Kentaro Arikawa erforscht das Farbensehen von Schmetterlingen; er selbst ist Rot-Grün-farbenblind. Suzanne Amador Kane interessiert sich für die visuellen Signale und Vibrationen von Pfauen; ihre eigene Farbwahrnehmung ist auf einem Auge ein wenig unterschiedlich, so sieht sie auf einer Seite alles in einem rötlichen Farbton. Nach Johnsens Vermutung schaffen solche Abweichungen, die manch einer vielleicht als »Störungen« einstufen würde, bei Menschen in Wirklichkeit die Möglichkeit, aus ihrer eigenen Umwelt herauszutreten und sich in die Umwelt anderer Lebewesen hineinzuversetzen. Wenn Menschen ihre Welt auf eine Weise wahrnehmen, die als untypisch gilt, besitzen sie vielleicht ein intuitives Gefühl für die Grenzen des Typischen.

Zu alledem sind wir in der Lage. Zu Anfang habe ich Sie gebeten, sich ein Zimmer voller Tiere vorzustellen, und ähnliche Fantasieleistungen werde ich auch in den nächsten 13 Kapiteln voraussetzen. Das wird, wie von Nagel vorhergesagt, schwierig werden. Aber es ist eine wert- und verdienstvolle Anstrengung. Auf unserer Reise durch die Umwelten der Natur wird die Intuition uns die größten Dienste leisten, und die Fantasie wird unser größter Aktivposten sein.

Am späten Vormittag eines Junitages 1998 wanderte Mike Ryan in den Regenwald von Panama. Zusammen mit seinem früheren Studenten Rex Cocroft suchte er nach Tieren. Normalerweise hätte Ryan Ausschau nach Fröschen gehalten, aber Cocroft hatte eine besondere Vorliebe für Buckelzirpen (auch Buckelzikaden genannt) entwickelt, Insekten, die sich von Pflanzensaft ernähren. Jetzt wollte er seinem Freund etwas Tolles zeigen. Die beiden machten sich von ihrer Forschungsstation aus auf den Weg, bogen von einer Straße ab und gingen an einem Fluss entlang. Plötzlich sah Cocroft den richtigen Strauch. Er drehte ein paar Blätter um und fand schnell eine Familie winziger Buckelzirpen der Spezies Calloconophora pinguis. Eine Mutter war von ihren Jungen umgeben, und deren schwarze Rücken waren jeweils von einem nach vorn weisenden Buckel gekrönt, der aussah wie eine Elvis-Tolle.

Buckelzirpen verständigen sich, indem sie über die Pflanzen, auf denen sie stehen, Vibrationen aussenden. Diese Schwingungen sind nicht hörbar, lassen sich aber leicht in Geräusche umwandeln. Cocroft befestigte ein einfaches Mikrofon an der Pflanze, reichte Ryan einen Kopfhörer und sagte ihm, er solle zuhören. Dann schüttelte er das Blatt. Die Buckelzirpenbabys rannten sofort davon und erzeugten dabei Schwingungen, indem sie die Muskeln auf ihrer Bauchseite zusammenzogen. »Ich hatte mit so etwas wie einem Laufgeräusch gerechnet«, erinnert sich Ryan, »aber stattdessen hörte es sich an, als würden Kühe muhen.« Es war ein tiefes, volltönendes Geräusch, wie man es von einem Insekt nie erwartet hätte. Als die Babys sich beruhigten und zu ihrer Mutter zurückkehrten, verwandelte sich das Durcheinander der muhenden Schwingungen in den Einklang eines Chors.

Ryan nahm die Kopfhörer ab, behielt die Tiere aber im Auge. Um sich herum hörte er den Gesang von Vögeln, das Heulen von Brüllaffen und das Surren von Insekten. Die Buckelzirpen waren still. Ryan setzte die Kopfhörer wieder auf und »war sofort in eine völlig andere Welt versetzt«, wie er selbst es formulierte. Wieder verschwanden die Geräusche des Regenwaldes aus seiner Umwelt, und die muhenden Buckelzirpen kehrten zurück. »Das war ein ganz tolles Erlebnis«, sagt er. »Es war eine Sinnesreise. An ein und demselben Ort wechselte ich zwischen zwei unglaublichen Umwelten hin und her. Es war ein krasser Beweis für Uexkülls Idee.«

Der Umweltbegriff wirkt manchmal vielleicht wie eine Einschränkung, denn er legt nahe, dass jedes Lebewesen im Haus seiner Sinne gefangen ist. Für mich ist es aber eine großartig weit gefasste Idee. Sie besagt, dass nicht alles ist, wie es scheint, und dass alles, was wir erleben, nur eine gefilterte Version von allem ist, was wir erleben könnten. Sie erinnert uns daran, dass Licht in der Dunkelheit ist, Geräusch in der Stille, Reichtum im Nichts. Sie lässt das Unvertraute im Vertrauten aufflackern, das Außergewöhnliche im Alltäglichen, das Großartige im Banalen. Sie zeigt uns, dass das Befestigen eines Mikrofons an einer Pflanze ein kühner Forscherakt sein kann. Von einer Umwelt in die andere zu treten oder es zumindest zu versuchen, ist, als würde man einen fremden Planeten betreten. Uexküll bezeichnete seine Arbeit sogar als »Reisebericht«.

Wenn wir anderen Tieren unsere Aufmerksamkeit schenken, wird unsere eigene Welt weiter und tiefer. Man braucht nur den Buckelzirpen zuzuhören, dann wird einem klar, dass die Pflanzen vor stummen Schwingungsliedern vibrieren. Sehen wir einem Hund beim Spaziergang zu, so erkennen wir, dass die Städte kreuz und quer von Duftspuren durchzogen sind, in denen sich das Leben und die Geschichten ihrer Bewohner widerspiegeln. Wir beobachten eine schwimmende Robbe und begreifen, dass auch das Wasser voller Fährten und Wege ist. »Wenn man das Verhalten eines Tieres durch die Brille dieses Tieres betrachtet, fällt einem plötzlich die ganze Information ins Auge, die man ansonsten übersehen würde«, sagt Colleen Reichmuth, eine Sinnesbiologin, die sich mit Robben und Seelöwen beschäftigt. »Man gewinnt Wissen wie mit einer Zauberlupe.«

Als die Tiere das Land besiedelten, wurde ihr größeres Gesichtsfeld nach Ansicht von Malcolm MacIver zum Auslöser für die Evolution von Planungsfähigkeiten und die Weiterentwicklung der Kognition: Ihre Umwelten erweiterten sich, und damit erweiterte sich auch ihr Geist. Ganz ähnlich ergeht es auch uns, wenn wir in andere Umwelten eintauchen: Wir sehen weiter und denken tiefgründiger nach. Mir fällt dabei Hamlets Mahnung an Horatio ein: »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde …, als sich eure Schulweisheit träumen lässt.« Das Zitat gilt häufig als Appell, an Übernatürliches zu glauben. Ich sehe darin eher die Aufforderung, Natürliches besser zu verstehen. Sinne erscheinen uns nur deshalb paranormal, weil wir so eingeschränkt und uns diese Einschränkungen so schmerzhaft wenig bewusst sind. Philosophen haben lange den Goldfisch in seinem Glas bedauert, der nicht weiß, was jenseits davon liegt, aber auch unsere Sinne schaffen eine Glaswand um uns herum – und meist gelingt es uns nicht, sie zu durchdringen.

Wir können uns aber darum bemühen. Science-Fiction-Autoren beschwören gern Paralleluniversen und alternative Realitäten herauf, in denen die Dinge ähnlich sind wie in der Wirklichkeit, nur ein wenig anders. Doch es gibt sie, die anderen Sinneswelten! Wir werden sie nacheinander aufsuchen, und wir beginnen mit den ältesten, am weitesten verbreiteten Sinnen: Den chemischen Sinnen wie Geruch und Geschmack. Von dort aus gelangen wir auf einem unerwarteten Weg in den Bereich des Sehens, der Form der Sinneswahrnehmung, die in der Umwelt der meisten Menschen die beherrschende Stellung einnimmt und doch eine Fülle von Überraschungen birgt. Wir werden in der wunderbaren Welt der Farben Station machen und uns dann in das unwegsame Gelände von Schmerzen und Wärme begeben. Wir werden reibungslos durch die verschiedenen mechanischen Sinne segeln, die auf Druck und Bewegungen ansprechen – auf Berührungen, Schwingungen, Geräusche und die eindrucksvollste Form des Hörens: die Echolokation. Und dann werden wir als erfahrene Sinnesreisende, deren Vorstellungsvermögen ausreichend vorbereitet ist, den schwierigsten Fantasiesprung vollziehen. Er führt uns zu den seltsamen Sinnen, mit denen Tiere im Gegensatz zu uns elektrische und magnetische Felder wahrnehmen. Schließlich, am Ende der Reise, werden wir erfahren, wie Tiere die Informationen verknüpfen, die sie mit ihren Sinnen gewonnen haben, wie Menschen diese Informationen verschmutzen und verzerren und wo heute unsere Verantwortung gegenüber der Natur liegt.

Der Schriftsteller Marcel Proust schrieb einmal: »Die einzig wahre Reise … wäre für uns, wenn wir nicht neue Landschaften aufsuchten, sondern andere Augen hätten, … die Hundert verschiedene Welten sehen könnten.«16 Fangen wir also damit an.

* Wenn man verstehen will, wie unterschiedlich die Sinne schon bei einer einzigen Spezies sein können, braucht man sich nur die Menschen anzusehen. Für manche Menschen sehen Rot und Grün gleich aus. Für andere riecht Körpergeruch nach Vanille. Für wieder andere schmeckt Koriander nach Seife.

* Der deutsche Wissenschaftler Rüdiger Wehner bezeichnete sie 1987 als »passende Filter«, Aspekte in den Sinnessystemen eines Tieres, die darauf abgestimmt sind, die am stärksten benötigten Reize aufzunehmen (Wehner, 1987).

* Wer möglichst weit reduzieren will, könnte mit Fug und Recht behaupten, dass es eigentlich nur zwei Sinne gibt: einen chemischen und einen mechanischen. Zu den chemischen Sinnen gehören demnach Geruch, Geschmack und Sehen, mechanische Sinne sind Tastsinn, Hören und die elektrische Wahrnehmung. Der Magnetsinn könnte zu einer der beiden Kategorien oder auch zu beiden gehören. Eine solche Einteilung scheint an dieser Stelle vielleicht keinen Sinn zu ergeben, aber im weiteren Verlauf des Buches sollte sie klarer werden. Ich bin kein begeisterter Anhänger dieser Einteilung, aber man kann die Sinne durchaus unter diesem Gesichtspunkt betrachten, und für alle, die gern Dinge in Schubladen stecken, hat sie sicher ihren Reiz.

* Hier möchte ich nur anmerken, dass es äußerst schwierig ist, ein ganzes Buch lang visuelle Metaphern bei der Beschreibung anderer Sinne zu vermeiden. Ich habe es versucht oder mich bemüht, zumindest umsichtig und bewusst vorzugehen, wenn ich auf visuelle Begriffe zurückgreifen musste.

KAPITEL 1

SICKERNDE SUBSTANZEN

GERUCH UND GESCHMACK

Ich glaube, hier drin war er noch nicht«, sagt Alexandra Horowitz. »Also sollte es stark riechen.«

Mit »er« meint sie Finnegan, ihren pechschwarzen Labradormischling, der oft einfach Finn genannt wird. »Hier« – das ist das kleine, fensterlose Zimmer in New York, in dem sie psychologische Experimente mit Hunden durchführt. Und »stark riechen« bedeutet, dass das Zimmer voller unbekannter Düfte sein sollte und sich deshalb für Finns wissbegierige Nase als interessant erweisen wird. So kommt es auch. Während ich mich umsehe, schnuppert Finn herum. Mit der Nase voraus erkundet er die Umgebung; aufmerksam riecht er an den Schaumstoffmatten auf dem Fußboden, an der Tastatur und der Maus auf dem Schreibtisch, an dem vor eine Ecke gespannten Vorhang und unter meinem Stuhl. Im Vergleich zu Menschen, die eine neue Umgebung mit wenigen Bewegungen von Kopf und Augen in sich aufnehmen können, forscht die Nase eines Hundes so mäandernd, dass man den Vorgang leicht für zufällig und damit zwecklos halten könnte. Horowitz sieht das anders. Nach ihrer Überzeugung interessiert sich Finn für Gegenstände, die Menschen bereits angefasst und benutzt haben. Er verfolgt Spuren und überprüft Stellen, an denen andere Hunde schon gewesen sind. Er untersucht Lüftungsöffnungen, Risse in der Tür und andere Orte, an denen bewegte Luft neue Duftstoffe – Duftmoleküle – heranträgt.* Er schnuppert an verschiedenen Stellen und aus verschiedenen Entfernungen an demselben Gegenstand, »als würde er an einen van Gogh herantreten, weil er neugierig ist, wie die Pinselstriche im Einzelnen aussehen«, sagt Horowitz. »Sie sind die ganze Zeit in einem Zustand der Geruchserkundung.«

Horowitz ist Expertin für den Geruchssinn von Hunden, und ich habe sie aufgesucht, um über alles zu sprechen, was mit Nase und Schnuppern zu tun hat.1 Ich selbst aber bin erbarmungslos visuell eingestellt: Als Finn genug gerochen hat und zu mir kommt, fühle ich mich sofort zu seinen Augen hingezogen – sie fesseln mich und sind braun wie dunkle Schokolade.* Ich muss mich regelrecht anstrengen, um mich wieder auf das zu konzentrieren, was davor liegt: seine auffällige, feuchte Nase mit zwei wie Apostrophe geformten und zur Seite gebogenen Öffnungen. Sie ist Finns wichtigste Schnittstelle zur Umwelt. Und sie funktioniert folgendermaßen:

Nehmen Sie einen tiefen Atemzug zur Verdeutlichung und auch, um sich auf die notwendige Terminologie einzustellen. Wenn wir einatmen, erzeugen wir einen Luftstrom, der gleichzeitig dem Riechen und der Luftversorgung dient. Wenn ein Hund schnuppert, teilen Strukturen in seiner Nase den Luftstrom in zwei Ströme auf.2 Der größte Teil der Luft fließt in die Lunge, ein kleinerer »Nebenfluss« dient ausschließlich dem Riechen und gelangt in den hinteren Teil der Schnauze. Dort tritt er in ein Labyrinth aus winzigen knöchernen Wänden ein, die mit der klebrigen, flachen Riechschleimhaut (dem olfaktorischen Epithel) bedeckt sind. Hier werden Gerüche zum ersten Mal wahrgenommen. Die Riechschleimhaut ist dicht mit langen Nervenzellen besetzt. Ein Ende jeder derartigen Zelle ist dem ankommenden Luftstrom ausgesetzt und fängt mit speziell geformten Proteinen, den Geruchsrezeptoren, die Geruchsmoleküle des Luftstroms ein. Das andere Ende ist direkt mit dem Riechkolben verbunden, einem Teil des Gehirns. Wenn die Geruchsrezeptoren ihre Objekte gebunden haben, setzen die Neuronen das Gehirn davon in Kenntnis, und der Hund nimmt einen Geruch wahr. Jetzt können Sie wieder ausatmen.

Grundsätzlich besitzen wir Menschen den gleichen Apparat, nur haben Hunde von allem ein wenig mehr:3 ein größeres Riechepithel, einige Dutzend Mal mehr Neuronen in diesem Epithel, fast doppelt so viele Typen von Geruchsrezeptoren und einen im Verhältnis größeren Riechkolben.* Außerdem ist diese ganze Hardware an einem eigenen Ort versammelt, bei uns hingegen liegt sie offen in dem Luftstrom, der durch unsere Nase fließt. Das ist ein entscheidender Unterschied: Immer wenn wir ausatmen, stoßen wir aus unserer Nase auch die Duftstoffe aus, sodass wir ein schwankendes, flackerndes Dufterlebnis haben. Hunde dagegen erleben Gerüche viel ununterbrochener, denn die Duftstoffe, die ihnen in die Nase steigen, bleiben dort und werden mit jedem Schnuppern nur noch weiter angereichert.

Dazu trägt auch die Form der Nasenöffnungen bei.4 Wenn ein Hund an einer Stelle des Bodens schnuppert, könnte man denken, dass er mit jedem Ausatmen die Duftstoffe auf der Oberfläche von der Nase wegbläst. Aber das geschieht nicht. Wenn Sie das nächste Mal die Nase eines Hundes betrachten, achten Sie darauf, wie die nach vorn weisenden Öffnungen in seitwärts gerichteten Schlitzen auslaufen. Wenn das Tier beim Schnuppern ausatmet, entweicht die Luft durch diese Schlitze und schafft rotierende Wirbel, die frische Duftstoffe in die Nase wehen. Selbst beim Ausatmen saugt ein Hund also immer noch Luft an. In einem Experiment erzeugte ein English Pointer (der seltsamerweise den Namen Sir Satan trug) über 40 Sekunden lang eine ununterbrochene nach innen gerichtete Luftströmung, obwohl er während dieser Zeit dreißigmal ausatmete.

Angesichts solcher körperlichen Merkmale ist es kein Wunder, dass die Nase eines Hundes unglaublich empfindlich ist. Aber wie empfindlich? Forschende sind der Frage nachgegangen, ab welcher Schwelle ein Hund bestimmte chemische Substanzen nicht mehr riechen kann.5 Die Antworten fallen ganz unterschiedlich aus: Die Angaben schwanken von einem Experiment zum nächsten um einen Faktor von mehreren Zehntausend.6* Anstatt sich auf solche zweifelhaften statistischen Angaben zu konzentrieren, ist es aufschlussreicher, sich die tatsächlichen Fähigkeiten von Hunden anzusehen. In früheren Experimenten konnten sie eineiige Zwillinge am Geruch unterscheiden.7 Sie nahmen einen einzigen Fingerabdruck auf einem Mikroskop-Objektträger wahr, der eine Woche lang auf einem Dach gelegen hatte und dort den Elementen ausgesetzt war.8 Sie fanden heraus, in welche Richtung ein Mensch gegangen war, nachdem sie nur an fünf Fußabdrücken geschnuppert hatten.9 Man kann sie darauf trainieren, Bomben, Drogen, Landminen, vermisste Menschen, Leichen, geschmuggeltes Bargeld, Trüffel, invasives Unkraut, versteckte elektronische Geräte, landwirtschaftliche Krankheiten, einen niedrigen Blutzuckerspiegel, Bettwanzen, Lecks in Ölpipelines oder Tumore wahrzunehmen.

Migaloo findet in archäologischen Stätten vergrabene Knochen. Pepper erkennt an Stränden eine nicht beseitigte Verschmutzung mit Öl. Captain Ron entdeckt Schildkrötennester, sodass man die Eier einsammeln und schützen kann. Bear macht auf versteckte elektronische Geräte aufmerksam, und Elvis hat sich auf schwangere Eisbären spezialisiert. Train wurde aus der Schulung für Drogenspürhunde ausgeschlossen, weil er zu lebhaft war, und nutzt seine Nase heute, um die Exkremente von Jaguaren und Berglöwen aufzuspüren. Tucker saß regelmäßig am Bug von Booten und schnupperte nach den Exkrementen von Orcas; mittlerweile ist er im Ruhestand, und seine Tätigkeit wird von Eba weitergeführt. Wenn irgendetwas einen Geruch hat, kann man einen Hund darauf trainieren, ihn wahrzunehmen. Wir verändern ihre Umwelten im Dienst unserer Bedürfnisse und schaffen damit einen Ausgleich für unsere olfaktorischen Schwächen. Solche Wahrnehmungsleistungen sind es wert, darüber zu staunen, es handelt sich aber auch um Taschenspielertricks. Mit ihrer Hilfe können wir abstrakt einschätzen, dass Hunde einen großartigen Geruchssinn haben, aber damit machen wir uns noch nicht klar, was das für ihr Innenleben bedeutet oder wie sich ihre olfaktorische Welt von der visuellen unterscheidet.

Im Gegensatz zu Licht, das sich immer in gerader Linie ausbreitet, können Gerüche diffundieren und sickern, strömen und wirbeln. Wenn Horowitz zusieht, wie Finn einen neuen Raum erschnuppert, versucht sie, so weit wie möglich die klaren Kanten außer Acht zu lassen, die ihr das Sehvermögen vermittelt; stattdessen stellt sie sich »eine schimmernde Umgebung vor, in der es keine scharfen Grenzen gibt«, wie sie es formuliert. »Es gibt konzentriertere Bereiche, aber irgendwie fließt alles ineinander.« Gerüche wandern durch Dunkelheit, um Ecken und unter anderen Bedingungen, die das Sehen erschweren. In die Tasche, die ich über meine Stuhllehne gelegt habe, kann Horowitz nicht hineinsehen, aber Finn kann hineinriechen, kann Moleküle aufnehmen, die von dem darin befindlichen Sandwich ausgehen. Gerüche bleiben anders als Licht bestehen und tragen die Vergangenheit in die Gegenwart.* Die früheren Bewohner von Horowitz’ Zimmer haben keine geisterhaften visuellen Spuren hinterlassen, aber ihre chemischen Fährten sind noch da, und Finn kann sie wahrnehmen. Gerüche können früher eintreffen als ihre Quelle und das Kommende prophezeien. Die Gerüche, die vom Regen ausgehen, der noch entfernt ist, sind ein Hinweis auf ein herannahendes Unwetter; die Duftstoffe, die ein Mensch beim Nachhausekommen aussendet, lassen einen Hund zur Tür laufen. Solche Fähigkeiten werden manchmal als außergewöhnlich bezeichnet, in Wirklichkeit sind sie aber einfache Sinneswahrnehmung. Etwas wird oftmals für die Nase erkennbar, bevor es in den Blick gerät. Wenn Finn schnuppert, beurteilt er nicht nur die Gegenwart, sondern er liest auch in der Vergangenheit und nimmt die Zukunft vorweg. Und er liest Lebensgeschichten. Tiere scheiden eine Fülle von Substanzen aus und erfüllen die Luft mit großen Duftstoffwolken.* Manche Arten von Lebewesen senden gezielt Duftnachrichten aus, unabsichtlich tun wir es aber alle: Tieren mit der richtigen Nase geben wir Auskunft über unsere Gegenwart, unsere Haltung, Position und Identität, unseren Gesundheitszustand und die Dinge, die wir zuletzt gegessen haben.**

»Ich habe nie viel über die Nase nachgedacht«, sagt Horowitz. »Ich bin einfach nicht auf den Gedanken gekommen.«*** Als sie mit der Forschung an Hunden begann, konzentrierte sie sich auf Themen wie ihre Einstellung gegenüber Ungerechtigkeiten – Themen, die für Psychologen interessant sind. Aber nachdem sie Uexküll gelesen und über den Begriff der Umwelt nachgedacht hatte, verlagerte sich ihre Aufmerksamkeit auf den Geruch – ein Thema, für das sich Hunde interessieren.

So ist ihr beispielsweise aufgefallen, dass viele Hundebesitzer ihren Tieren die Freuden des Schnupperns verwehren. Ein einfacher Spaziergang ist für einen Hund eine abwechslungsreiche olfaktorische Erkundung. Wenn der Besitzer das aber nicht versteht, sondern in dem Spaziergang nur eine Frage der Bewegung oder einen Weg zum Ziel sieht, wird jedes Schnuppern lästig. Wenn der Hund stehen bleibt und eine unsichtbare Spur überprüft, soll er schnell weitergehen. Wenn der Hund an einem Häufchen, einem toten Tier oder einem anderen Gegenstand schnuppert, den sein Eigentümer unangenehm findet, muss man ihn wegzerren. Wenn der Hund die Nase in das Hinterteil eines anderen Hundes steckt, ist das unanständig: böser Hund! Schließlich schnuppern Menschen zumindest im westlichen Kulturkreis nicht aneinander.* »Man kann jemanden umarmen, aber an ihm zu schnüffeln, wäre sehr seltsam«, sagt Horowitz. »Ich kann vielleicht sagen, dass dein Haar toll riecht, aber dass du toll riechst, kann ich nicht sagen, wenn wir nicht intim miteinander sind.« Immer und immer wieder zwingen Menschen Hunden ihre Werte – und ihre Umwelt – auf, zwingen sie, zu sehen, statt zu riechen, dämpfen ihre olfaktorische Welt und unterdrücken damit einen wesentlichen Teil ihres Hundelebens. Das wurde für Horowitz ganz klar, als sie mit Finn zum Nosework-Training ging.

Diese Kurse werden seltsamerweise als Sport eingestuft, in Wirklichkeit werden dabei Hunde darauf trainiert, unter zunehmend schwierigeren Bedingungen verborgene Düfte aufzuspüren. Eigentlich sollten sie das von Natur aus können, aber für viele Tiere in Finns Gruppe traf das nicht zu. Einigen schien jeder Antrieb zu fehlen: Ihre Besitzer mussten sie von einer Kiste zur anderen ziehen, oder sie wussten überhaupt nicht, was sie tun sollten. Andere wurden in Gegenwart weiterer Hunde unruhig und fingen an zu bellen. Aber nachdem sie den ganzen Sommer über geschnuppert hatten, ließen solche seltsamen Verhaltensweisen nach. Die zurückhaltenden Hunde erlangten ihren Willen wieder. Reizbare Hunde wurden tolerant. Es war, als würden alle lockerer werden. Horowitz und ihre Kollegin Charlotte Duranton waren fasziniert und führten mit 20 Hunden ein eigenes Experiment durch. Duranton stellte an drei Orten Schüsseln auf: Am ersten enthielt sie stets Futter, am zweiten war sie immer leer, und am dritten war die Sache nicht klar.10 Die Hunde lernten sehr schnell, sich zu der mit Futter gefüllten Schüssel zu begeben und das leere Gefäß außer Acht zu lassen. Aber wie war es mit der zweideutigen Stelle? Wenn ein Hund bereit war, sich dieser Schüssel zu nähern, hatte er eine positive Urteilsverzerrung, wie es in der Kognitionspsychologie heißt – alle anderen würden einfach Optimismus sagen. Wie Horowitz feststellte, wurden die Hunde nach zwei Wochen Nosework-Training optimistischer. Mit einem geschärften Geruchssinn hellte sich auch ihre Einstellung auf. (Dagegen änderte sich bei den Hunden nichts, wenn sie zwei Wochen Bei-Fuß-Training hinter sich hatten, eine Gehorsamkeitsausbildung, bei der weder der Geruchssinn noch Selbstständigkeit eine Rolle spielen.)

Für Horowitz ergeben sich daraus eindeutige Folgerungen: Lassen wir Hunde Hunde sein. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass ihre Umwelt eine andere ist, und uns in den Unterschied einfühlen. Zu diesem Zweck nimmt sie Finn gezielt auf Duftspaziergänge mit, auf denen er schnuppern darf, wie sein Riechkolben will. Wenn er stehen bleibt, bleibt sie auch stehen. Seine Nase gibt das Tempo vor. Die Spaziergänge werden langsamer, aber sie hat dabei kein Ziel im Kopf. Wir gehen gemeinsam auf einen solchen Spaziergang in Richtung einiger Häuserblocks westlich von ihrem Büro und in den Riverside Park von Manhattan. Es ist ein heißer Sommertag, und die Luft ist geschwängert von Müll-, Urin- und Abgasgerüchen – sie sind das Einzige, was ich riechen kann. Finn findet mehr. Seine Nase klebt an den Fugen im Straßenpflaster. Er untersucht ein Verkehrsschild. Er bleibt stehen und schnuppert an einem Hydranten, »denn den haben schon alle anderen Hunde der Columbia University aufgesucht«, wie Horowitz sagt. Manchmal sieht sie, wie Finn an einem frischen Urinfleck schnüffelt, den Kopf hebt, sich umsieht (oder um sich schnuppert) und den Hund finden will, der die Spur gerade zurückgelassen hat. Der Geruch ist nicht nur ein Objekt der Wahrnehmung, sondern auch ein Hinweis, und der Spaziergang ist nicht nur einfach ein Übergangsstadium zwischen den Punkten A und B, sondern ein Rundgang durch Manhattans vielschichtige, unsichtbare Geschichten.

Als wir im Park sind, füllt sich die Luft mit dem Geruch von Pflanzen, gemähtem Gras, Mulch und gegrilltem Fleisch. Als ein anderer Hund vorübergeht, dreht Finn sich um, saugt eine Duftprobe ein und bläst die Wangen auf wie ein Zigarrenraucher. Zwei große Pudel kommen heran, aber noch bevor sie in der Nähe sind, zieht ihr Eigentümer sie weg und drängt sie gegen einen Zaun. Horowitz blickt traurig drein. Fröhlicher wird sie, als sich ein weiblicher Australian Shepherd nähert und Finn umkreist. Die beiden schnuppern gegenseitig begeistert an ihren Genitalien, während wir uns ein wenig mit dem Eigentümer unterhalten. Wir erkennen das Geschlecht des anderen Hundes an den Pronomen; Finn findet es durch den Geruch heraus. Wir fragen nach ihrem Alter; Finn kann es erraten. Wir erkundigen uns, ob sie gesund oder paarungsbereit ist; Finn braucht nicht zu fragen. »Es gab einmal eine Zeit, da habe ich versucht, zu riechen, was er riecht, aber das tue ich jetzt nicht mehr oft, denn ich weiß, dass ich nicht das Gleiche wahrnehme wie er«, sagt Horowitz. Dennoch besteht Spielraum für Verbesserungen. Der menschlichen Nase fehlt zwar die anatomische Komplexität einer Hundenase, und es hilft auch nicht gerade, dass sie weiter vom Erdboden entfernt ist, aber auch sie wird zu wenig genutzt. Horowitz schnuppert selbst öfter und schenkt Gerüchen mehr Aufmerksamkeit; seither kann sie eigenen Angaben zufolge besser riechen – was in Gesellschaft manchmal seltsam wirkt. »Eigentlich haben wir eine ausgezeichnete Nase. Wir nutzen sie nur nicht so gut wie der Hund.«

Wenn man mit Neurowissenschaftlern, die sich mit der Geruchswahrnehmung von Menschen beschäftigen, über Hunde spricht, geschieht etwas Seltsames – das erfuhr Horowitz, als sie ihr Buch Hund – Nase – Mensch schrieb. Sie werden ein wenig revierbewusst, ein wenig … Nun ja – verschnupft. Manchen gefällt es nicht, dass Hunde wie Vorreiter des Geruchssinns behandelt werden, obwohl doch auch viele andere Säugetiere hervorragend riechen können, darunter Ratten (die sogar Landminen aufspüren), Schweine (deren Geruchsepithel doppelt so groß sein kann wie das eines Deutschen Schäferhundes) und Elefanten (auf die wir noch zu sprechen kommen werden).11 Andere weisen darauf hin, dass sich in Studien, mit denen die Fähigkeit von Hunden zur Wahrnehmung bestimmter Gerüche überprüft werden sollte, große Diskrepanzen gezeigt haben. Dies führte zu unterschiedlichen Behauptungen: Hunde seien eine Milliarde Mal empfindlicher als Menschen, oder eine Million Mal, oder nur 10.000 Mal. In manchen Fällen schneiden Menschen sogar besser ab: Von 15 Duftstoffen, die bei beiden Arten untersucht wurden, übertrafen Menschen ihre vierbeinigen Begleiter in fünf Fällen, so bei Beta-Ionon (Zedernholz) und Amylacetat (Bananen).12 Außerdem können Menschen hervorragend zwischen Gerüchen unterscheiden. Man findet leicht zwei Farben, die ein Mensch nicht auseinanderhalten kann, aber ununterscheidbare Geruchspaare zu finden, ist äußerst schwierig. Der Neurowissenschaftler John McGann hatte es versucht und sagte mir: »Wir haben es mit Gerüchen versucht, die eine Maus nicht auseinanderhalten kann, aber die Menschen haben gesagt: Doch, da ist ein Unterschied.«

Dennoch behaupten die Lehrbücher nach wie vor, wir hätten einen schrecklichen Geruchssinn. McGann konnte den Ursprung dieses heimtückischen Mythos bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen.13 Der Neurowissenschaftler Paul Broca stellte 1879 fest, dass unsere Riechkolben im Vergleich zu denen anderer Säugetiere relativ kümmerlich sind. Daraus zog er den Schluss, der Geruch sei ein niederer, animalischer Sinn und sein Verlust sei notwendig gewesen, damit wir höhere Gedanken und einen freien Willen besitzen können. Dann stufte er uns (zusammen mit anderen Primaten und den Walen) als Nichtriecher ein. Das Etikett blieb hängen, obwohl Broca niemals Messungen zur Geruchsfähigkeit von Tieren anstellte; stattdessen griff er lieber auf ungefähre Schlussfolgerungen zurück, die sich auf die Abmessungen des Gehirns stützten. Verglichen mit einer Maus, ist der Riechkolben des Menschen im Verhältnis zu anderen Gehirnteilen kleiner, aber absolut betrachtet, ist er größer, und die Zahl der Neuronen ist ungefähr gleich. Was solche quantitativen Angaben über das Geruchserlebnis eines Tieres aussagen, ist nicht klar.*

Außerdem ist die Lehrbuchmeinung abendländisch geprägt: Sie basiert auf einer Kultur, in der Gerüche lange zu wenig wertgeschätzt wurden. Platon und Aristoteles vertraten die Ansicht, der Geruchssinn sei so unbestimmt und schlecht ausgeprägt, dass er nichts anderes als Gefühlseindrücke vermitteln könne. Darwin glaubte, er leiste »äußerst geringfügige Dienste«.14 Kant schrieb: »Der Geruch lässt sich nicht beschreiben, sondern nur durch Ähnlichkeit mit einem andern Sinn (wie Musik mit Farbenspiel), z. B. des Geschmacks, vergleichen.«15 Die englische Sprache bestätigt diese Ansicht durch nur drei direkt dem Geruch gewidmete Wörter: stinky, fragrant und musty (stinkend, duftend und muffig).16 Alles andere sind Synonyme wie aromatic oder foul (aromatisch, faulig), lockere Metaphern wie decadent und unctuous (dekadent, ölig), Anlehnungen an andere Sinne wie sweet und spicy (süß, würzig) oder die Namen der Quellen wie rose und lemon (Rose, Zitrone). Zu vier der fünf aristotelischen Sinne gibt es einen umfangreichen, sehr gezielten Wortschatz. Der Geruchssinn, so schrieb Diane Ackerman, ist »ein Sinn ohne Worte«.17

Eine ganz andere Meinung hätte da das Volk der Jahai in Malaysia, ebenso die Semaq Beri, die Maniq und viele andere Gruppen von Jägern und Sammlern, die über ein ausgefeiltes Vokabular für Gerüche verfügen.18 Bei den Jahai gibt es ein Dutzend Wörter ausschließlich für Gerüche. Eines beschreibt den Duft von Benzin, Fledermausexkrementen und Tausendfüßern. Ein anderes wird für eine gemeinsame Qualität von Garnelenpaste, Gummibaumsaft, Tigern und verwestem Fleisch verwendet. Wieder ein anderes bezeichnet den Geruch von Seife, den stechenden Geruch der Durianfrucht und den Popcorn-ähnlichen Geruch von Binturongs.15* Sie »haben es leicht, über Gerüche zu reden«, sagt die Psychologin Asifa Majid. Nach ihren Feststellungen können die Jahai Gerüche ebenso leicht benennen, wie englisch sprechende Menschen Farben beschreiben. Wie Tomaten rot sind, so ist der Binturong itpit. Geruch ist auch ein grundlegender Teil ihrer Kultur. Einmal wurde Majid von Jahai-Freunden gerüffelt, weil sie zu nahe bei ihrem Forschungspartner saß, sodass ihre Gerüche sich vermischen konnten. Bei einer anderen Gelegenheit wollte sie den Geruch einer wilden Ingwerpflanze benennen; Kinder machten sich nicht nur deshalb über sie lustig, weil es ihr nicht gelang, sondern auch, weil sie die ganze Pflanze als einen einzigen Geruchsgegenstand behandelte, obwohl Stängel und Blüten doch ganz offensichtlich unterschiedlich rochen. Der Mythos vom schlechten Geruchssinn der Menschen »wäre vielleicht schon viel früher unter die Räder gekommen, wenn man nicht Briten und Amerikaner betrachtet hätte, sondern stattdessen die Jahai«, wie Majid es formuliert.

Aber auch Menschen aus dem Abendland können überraschende Geruchsleistungen vollbringen, wenn sie die Gelegenheit dazu haben. Die Neurowissenschaftlerin Jess Porter führte 2006 mehrere Studierende, denen sie die Augen verbunden hatte, in Berkeley in einen Park; dort sollten sie einer zehn Meter langen Spur aus Schokoladenöl folgen, die sie zuvor auf die Wiese geträufelt hatte.19 Die Versuchspersonen ließen sich auf alle viere hinab, schnüffelten wie Hunde und sahen lächerlich aus. Aber sie hatten Erfolg, und der wuchs mit zunehmender Übung.

Als ich Alexandra Horowitz besuchte, forderte sie mich auf, mich der gleichen Prüfung zu unterziehen, und legte auf dem Fußboden eine nach Schokolade riechende Spur aus. Mit geschlossenen Augen und weit geöffneten Nasenlöchern ging ich auf die Knie und schnupperte. Sehr schnell nahm ich den Schokoladengeruch wahr und folgte ihm. Verlor ich den Geruch, schwenkte ich den Kopf wie ein Hund von einer Seite zur anderen. Damit waren die Ähnlichkeiten allerdings zu Ende. Ein Hund kann sechsmal in der Sekunde schnuppern und wie mit einem Förderband Luft zu seinen Geruchsrezeptoren transportieren. Als ich kurz hintereinander einige Male schnell einatmete, fing ich an zu hyperventilieren, und als ich eine Pause machte, um auszuatmen, verlor ich die Spur. Es gelang mir, den Faden zu verfolgen, aber ich brauchte eine Minute für etwas, das Finn in einer halben Sekunde schafft. Ihm würde ich selbst mit regelmäßiger Übung nicht einmal nahe kommen; dazu besitze ich einfach nicht die Hardware. Und das Wichtigste, so erklärte mir Horowitz, nachdem sie die Spur weggewischt hatte: Ein Hund kann eine Fährte auch dann noch verfolgen, wenn die Geruchsquelle nicht mehr vorhanden ist. Wir versuchten es beide, bückten uns und schnupperten. »Ich rieche nichts mehr«, sagte sie. Wir Menschen unterschätzen unseren Geruchssinn, aber klar ist auch, dass wir nicht in der gleichen olfaktorischen Welt leben wie ein Hund. Und diese Welt ist kompliziert – eigentlich ist es ein Wunder, dass wir sie überhaupt begreifen können.

Viele Lebewesen können Licht wahrnehmen. Manche sprechen auf Geräusche an, einige wenige auch auf elektrische und magnetische Felder. Chemische Substanzen dagegen nehmen alle wahr, vielleicht sogar ohne Ausnahme. Selbst ein Bakterium, das nur aus einer einzigen Zelle besteht, findet Nahrung und meidet Gefahren, indem es molekulare Anhaltspunkte aus der Außenwelt aufnimmt. Bakterien setzen auch eigene chemische Signale frei, um damit untereinander zu kommunizieren; wenn ihre Zahl groß genug ist, setzen sie so Infektionen in Gang und vollziehen andere koordinierte Tätigkeiten. Solche Signale werden von Viren, die Bakterien töten, wahrgenommen und ausgenutzt – auch diese Viren haben einen chemischen Sinn, obwohl sie so einfach gebaut sind, dass in der Wissenschaft noch nicht einmal Einigkeit darüber herrscht, ob es sich um Lebewesen handelt.20 Chemische Substanzen sind also die urtümlichste und am weitesten verbreitete Quelle von Sinnesinformationen.21 Sie sind Teil der Umwelten, seit es überhaupt Lebewesen und ihre Umwelten gibt. Außerdem sind sie ein Bestandteil davon, der mit am schwersten zu verstehen ist.

Forschende, die sich mit Sehen und Hören beschäftigen, haben es relativ einfach. Licht- und Schallwellen lassen sich durch klare, messbare Eigenschaften wie Helligkeit und Wellenlänge oder Lautstärke und Frequenz definieren. Fällt Licht mit einer Wellenlänge von 480 Nanometern in meine Augen, sehe ich blau. Singt jemand einen Ton mit einer Frequenz von 261 Hertz, höre ich ein mittleres C. Eine solche Berechenbarkeit gibt es im Bereich der Gerüche nicht. Die Vielfalt der potenziellen Geruchsstoffe ist so groß, dass man sie durchaus als unendlich bezeichnen könnte.22 Zu ihrer Einteilung verwendet man in der Wissenschaft subjektive Begriffe wie Intensität und Erfreulichkeit, die man nur messen kann, indem man Menschen fragt. Und was noch schlimmer ist: Es gibt keine gute Methode, mit der man aufgrund des chemischen Aufbaus vorhersagen könnte, wie ein Molekül riecht und ob es überhaupt einen Geruch hat.* Und doch kommen viele Tiere ohne jede Ausbildung in Chemie oder Neurowissenschaft mit den Komplexitäten der Geruchswahrnehmung zurecht. Ihre Nasen beherrschen unendliche Räume.23 Wie funktionieren sie?

Die Grundlagen wurden klarer, nachdem Linda Buck und Richard Axel 1991 eine entscheidende Entdeckung gemacht hatten, die ihnen den Nobelpreis einbrachte: Die beiden wiesen eine große Gruppe von Genen nach, die Geruchsrezeptoren erzeugen – Proteine, die Duftmoleküle zunächst erkennen.24** Ihnen sind wir in diesem Kapitel bereits im Zusammenhang mit den Hunden begegnet, sie sind aber im gesamten Tierreich die Grundlage der Geruchswahrnehmung. Vermutlich erkennen Geruchsrezeptoren nur bestimmte Zielmoleküle wie elektrische Steckdosen, die nur passende Stecker aufnehmen können.*

Wenn das geschehen ist, senden die Nervenzellen, die solche Rezeptoren enthalten, Signale an die Geruchszentren des Gehirns, und das Tier nimmt einen Geruch wahr. Die Einzelheiten des ganzen Vorgangs sind aber immer noch schwer durchschaubar. Es gibt für das ungeheuer breite Spektrum möglicher Duftstoffe nicht genügend Rezeptoren, das heißt, die Wahrnehmung eines Geruchs muss auch davon abhängen, in welcher Kombination die Geruchsneuronen ihre Impulse abgeben. Wird eine solche Gruppe aktiv, freuen wir uns vielleicht über den Duft einer Rose. Wird eine andere Gruppe tätig, wird uns durch den Geruch von Erbrochenem schlecht. Es muss einen solchen Code geben, aber wie er im Einzelnen aussieht, ist immer noch ein nahezu völliges Rätsel.

Oftmals sind Geruchsrezeptoren auch individuell höchst unterschiedlich. Das Gen OR7D4 lässt beispielsweise einen Rezeptor entstehen, der auf Androstenon anspricht, die Verbindung, die für den Geruch getragener Socken und auch für den Körpergeruch sorgt.25 Auf die meisten Menschen wirkt er abstoßend. Wenige Glückliche haben jedoch eine geringfügig andere Version von OR7D4 geerbt, und für sie riecht Androstenon nach Vanille. Das ist nur einer von vielen Hundert Rezeptoren, und alle gibt es in vielfältigen Formen, sodass jedes Individuum über seine eigene, geringfügig personalisierte Umwelt verfügt. Wahrscheinlich riecht die Welt für jeden ein wenig anders. Und wenn es schon schwer ist, die olfaktorische Umwelt eines anderen Menschen richtig einzuschätzen, kann man sich vorstellen, wie schwierig das Gleiche erst bei einer anderen Spezies wird.

Gegenüber allen Behauptungen, die den Geruchssinn verschiedener Tiere aufrechnend vergleichen, sollten wir skeptisch sein. Ich habe mehrfach gelesen, ein Elefant habe einen fünfmal empfindlicheren Geruchssinn als ein Bluthund, aber das ist eine vollkommen sinnlose Aussage. Heißt es, dass der Elefant fünfmal mehr Substanzen wahrnimmt? Nimmt er bestimmte Substanzen bei einem Fünftel der Konzentration oder aus der fünffachen Entfernung wahr? Erinnert er sich fünfmal länger an Gerüche? Solche Vergleiche sind immer fehlerhaft, denn Geruch ist vielfältig und lässt sich oft nicht quantitativ erfassen. Wir sollten nicht mehr fragen: »Wie gut ist der Geruchssinn eines Tieres?« Eine bessere Frage wäre: »Wie wichtig ist der Geruch für dieses Tier?« oder »Wozu nutzt es den Geruchssinn?«.

Mottenmännchen sind beispielsweise hervorragend auf Sexuallockstoffe eingestellt, die das Weibchen freisetzt.26 Sie nehmen solche Duftstoffe schon aus mehreren Kilometern Entfernung mit ihren gefiederten Antennen wahr und flattern langsam auf die Quelle des Duftes zu. Der Geruch ist für sie von größter Wichtigkeit: Als man die Antennen weiblicher Schwärmer auf Männchen verpflanzte, verhielten sich die Empfänger wie Weibchen und suchten nicht mehr nach Partnern, sondern nach dem Geruch von guten Stellen zur Eiablage.27 Dass Motten über einen verblüffenden Geruchssinn verfügen, zeigt sich schon daran, dass es diese Tiere nach wie vor gibt. Sie setzen die Fähigkeit aber nur für wenige genau festgelegte Tätigkeiten ein. Motten wurden schon als »duftgelenkte Drohnen« bezeichnet, und das ist keine Übertreibung. Wenn Männchen geschlechtsreif werden, besitzen sie noch nicht einmal Mundwerkzeuge.28