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Es ist Herbst 1892. Kurz vor seinem zwölften Geburtstag sterben die Eltern des jungen Rune Trautner an der Cholera. Als bald darauf nachts der kleine Bauernhof der Eltern in der Nähe von Flensburg in Brand gesetzt wird, beschließt er, auf eigene Faust nach einer Verwandten zu suchen. Doch in der Nähe von Rendsburg wird er überfallen. Mit Mühe gelingt es ihm zu entkommen. Nach einem traumatischen Erlebnis nimmt ihn ein alter Schäfer bei sich auf. Doch zehn Jahre später muss er sich der Vergangenheit stellen. Denn das Bild an eine fast vergessenen Brosche weckt Neugier und Angst in ihm. Die Suche führt ihn zu einem Gestüt in der Nähe des Herzogssitzes in Schleswig-Holstein.
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Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2020
Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung und ihre Darsteller sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen wären reiner Zufall. Die Dörfer Groß- und Kleinhimmelsee gibt es ebenfalls nicht. Nur die Lage des Himmelsees ist dem Wittensee im Bezirk Schleswig verteufelt ähnlich. Die Idee zu diesem Roman entstand aus einigen Erzählungen über einen meiner Urgroßväter. Er hatte einen kleinen Bauernhof in der Nähe von Hamburg und verlor seine erste Frau und zwei Kinder 1892 an die Cholera. Nur er selbst und ein Hütejunge überlebten.
Günter-Christian Möller
Die ertrunkene Angst
Brennende Vergangenheit
© 2019 Günter-Christian Möller
Umschlag, Illustration: Günter-Cristian Möller
Ingeborg Geib
Lektorat, Korrektorat: Dr. Nicola Peczynsky
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN: 978-3-347-15103-1(Paperback)
ISBN: 978-3-347-15104-8(Hardcover)
ISBN: 978-3-347-15105-5 (e-Book)
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Prolog
Schleswiger Nachrichten, 14. September 1892
Von der Cholera.
Recht interessant ist eine in Gotha bei Karl Schwalbe erschienene Broschüre eines Dr. med A. Lünzel, köngl. Großbr. Oberstabsarzt a.D. ‚Die Behandlung der Cholera nach den in Indien gemachten Belehrungen‘. Er hat bei 171 schweren Fällen seines Batallions nur 27 Todte gehabt, indem er die Erkrankten kräftig mit heißem Terpentient reiben und ihnen alle 10 bis 15 Minuten 25 bis 30 Tropfen Chloroform in einer kleinen Quantiät Selterwasser reichen ließ. Sehr energisch widerspricht er der Koche’schen Bazillentherapie, die durchaus nicht mit den von ihm in Indien gemachten Erfahrungen betreffs der Verbreitungsweise der Krankheit übereinstimmt.
Schleswig-Holstein, Bezirk Schleswig östlich Rendsburg Klein Himmelsee, September 1892
Rune war den ganzen Tag gewandert und erschöpft.
Der Gedanke durchzuckte ihn, dass er morgen seinen zwölften Geburtstag hatte. Doch seine Eltern waren tot. Er war allein. Jetzt hast du nur noch dein Leben, sonst nichts mehr, überlegte er. Er wollte nicht mehr daran denken, was es für eine Krankheit war, an der seine Eltern gestorben waren. Er wollte auch nicht daran denken, dass ihr kleiner Bauernhof vorgestern mitten in der Nacht abgebrannt war. Nur ein paar Stunden, nachdem der Arzt da gewesen war und erklärt hatte, dass es sich bei der Krankheit seiner Eltern wahrscheinlich um Cholera handele. Er, Rune, müsse auf dem Hof bleiben und schon morgen würden Männer kommen und seine Eltern beerdigen. Was mit ihm danach geschehen würde, hatte der Arzt nicht gesagt. Rune vertraute ihm nicht. Seine Mutter hatte nie etwas Gutes über ihn erzählt: dass er einmal einem alten Mann neuartige Tropfen gegen sein hohes Fieber gegeben habe und am nächsten Morgen sei er tot gewesen.
Rune hatte nur noch wenige Verwandte. Seine Großmutter mütterlicherseits lebte irgendwo in Dänemark. Die Eltern väterlicherseits waren beide schon tot, aber es gab noch einen Onkel und eine Tante.
Der Vater hatte einen entfernten Verwandten in der Nähe von Hamburg besucht, und sich dort vermutlich mit der Cholera angesteckt. Das jedenfalls hatte der Arzt vermutet. Da wollte Rune also auf keinen Fall hin. Aber es gab noch eine Tante in der Nähe von Lübeck und die wollte er finden. Leider wusste er den Namen des Dorfes, wo sie lebte, nicht mehr. Das Wort „Sieben“ kam ihm immer wieder in den Sinn. Er hoffte, dass ihm dann auch der Rest wieder einfallen würde. Immerhin könnte er nach einem Dorfnamen fragen, der das Wort „Sieben“ enthielt.
Rune war für sein Alter überdurchschnittlich groß, hatte kupferbraune Haare, eine Stupsnase und ein meist entspanntes Lächeln, das ihm einen verträumten Gesichtsausdruck verlieh. Seine Kleidung war alt und abgetragen. Nur seine Schuhe waren recht neu und zum Glück schon eingelaufen, denn die Reise nach Lübeck gestaltete sich schwieriger als gedacht.
Rune getraute sich nicht, mit der Eisenbahn zu fahren, weil er sie noch nie benutzt hatte. Zudem hatte er auch nicht das Geld seines Vaters aus den Flammen retten können. Ein einziger Groschen war ihm geblieben und diesen hatten ihm zwei Männer gestern geraubt. Es war passiert, als Rune südwärts auf der Straße von Schleswig nach Rendsburg, auf dem sogenannten Ochsenweg, ging. In der Nähe des Ortes Kropp hatten sie ihm am Straßenrand in einem Gebüsch aufgelauert. Er hatte gar nicht so schnell weglaufen können, so plötzlich waren sie aufgetaucht. Also musste er ihnen den Groschen aushändigen. Er könne den Rest – gemeint war seine Tasche mit einem Stückchen altem Brot und seinem Angelzeug – behalten, meinte einer der beiden Männer großzügig und grinste ihn verschlagen an.
Eigentlich war Rune nie sonderlich ängstlich gewesen. Doch nach diesem Erlebnis hatte er den Ochsenweg bei der nächsten Abzweigung verlassen und sich nach Osten gewandt. Dort waren die Leute und das Land nicht so arm und kärglich. Statt über Rendsburg würde er eben über Kiel nach Lübeck wandern. Leider war die Straße, auf der er nun entlang ging, noch einsamer als der Ochsenweg. Alle paar Minuten drehte er sich um und bei jedem Geräusch zuckte er zusammen. Und sobald jemand zu sehen oder zu hören war, wich er in die Büsche aus.
Er bat nun auf den Höfen, die wohlhabend aussahen, um etwas Brot. Am Spätnachmittag überließ ihm schließlich eine mitleidige Magd ein kleines Stückchen, nachdem sie ihn teilnahmsvoll gemustert hatte. Klein Himmelsee hieß das Dorf und wie ein Geschenk kam ihm auch die Gabe vor. An einem schmalen Bächlein machte er Rast, trank dort von dem Wasser und ließ sich auf einem alten umgefallenen Baumstamm nieder, der einen traumhaften Blick auf einen weiter unten gelegenen kleinen Sumpfwald eröffnete. Hinter dem kleinen Wald erstreckte sich ein großer See, der über einen Kilometer breit und um einiges länger war. Ein paar Schritte weiter gabelte sich der Weg. Ein Wegweiser mit drei kleinen Schildern stand dort. Der Hauptweg führte durch ein großes Feld und von dort über eine Anhöhe, die den weiteren Verlauf dahinter verbarg. Ein Nebenweg bog zum Sumpfwald ab und führte in ihn hinein. Am Ende ragten drei größere Bäume eindrucksvoll empor, wo sich eine kleine Insel oder Halbinsel abzeichnete. Bestimmt eine gute Möglichkeit, um zu angeln, dachte Rune.
Er beschloss, nur die Hälfte des Brotes zu essen. Stattdessen wollte er schauen, ob der Nebenweg durch dem Sumpf bis zum Wasser führte. Falls ja, würde er dort versuchen, einen Fisch zu fangen, und ihn mit dem Rest des Brotes essen. Als er die Weggabelung fast erreicht hatte, sah er, wie zwei Gestalten über die Anhöhe ihm entgegenkamen. Angst überflutete seine Gedanken. Was sollte er tun? Er konnte versuchen, ins Dorf zurückzukehren, oder den Nebenweg zum Sumpf nehmen. Rune drehte sich Hilfe suchend um, doch hinter ihm war niemand. Auch die beiden Männer, die sich ihm näherten, waren kurz stehen geblieben. Dann jedoch beschleunigten sie ihre Schritte. Schnell wandte er sich zum Sumpfwald und begann zu laufen. Kaum hundert Meter hinter ihm waren die beiden Kerle.
„Bleib stehen!“, schrie eine Stimme, die bedrohlich näherkam.
„Wir kriegen dich sowieso“, rief der zweite Mann, der offenbar stehen geblieben war.
Aber Rune lief nur schneller. Erst als er den Wald erreicht hatte, blieb er stehen und drehte sich schwer atmend um.
Sein einer Verfolger war zwar schlank und jung, doch er humpelte und würde Rune nicht einholen. Der andere hatte sich auch wieder in Bewegung gesetzt, aber er konnte noch nicht einmal mit seinem humpelnden Genossen mithalten. Rune überlegte kurz. Es war Herbst, doch bisher waren nur wenige Blätter hinuntergefallen, sodass man sich gut hinter dem Laub der Büsche verstecken konnte. Nur ein paar Schritte breit war der Damm vor ihm, auf dem etwas Erde zu einem Weg aufgeschüttet worden war. Links und rechts davon säumten Sträucher und kleine Bäume den Weg. Die Verfolger hätten leichtes Spiel, wenn er sich dahinter verbarg. Nein, das war keine gute Idee, entschied er.
Deshalb lief er den Weg, so schnell er konnte, weiter. Trotzdem waren die Schritte seines Verfolgers näher gekommen, die kleine Bedenkpause hatte wertvolle Zeit gekostet. Plötzlich hörte er hinter sich ein Stolpern, dann ein Fluchen. Doch Rune rannte weiter.
Dann war der Weg vor ihm abrupt zu Ende. Ein paar kümmerliche Birken schauten aus dem Wasser, die Stämme von Erde, Gras, Moos und Wurzelwerk umgeben. Sie standen oft nur einen Meter voneinander entfernt. Ganz in der Nähe gab es eine größere Insel. Eine riesige Eiche, die er bereits zuvor gesehen hatte, ragte dort empor. Üppiges Wurzelwerk und undurchsichtige Fliederbeerbüsche wucherten rund um den Stamm. Dort muss ich hin, dachte Rune. Er sprang auf eine der kleinen Bauminseln vor ihm und krallte sich am Stamm fest. Das Wurzelwerk und Moos waren rutschig. Dann zum nächsten Baum. Doch der war über drei Meter entfernt. Deshalb setzte Rune seine Hoffnung auf einen matschigen, wenig Vertrauen erweckenden Grasweg, der zur Insel hinüberführte. Aber als der Junge vorsichtig auf das Grün trat, gab es nach und sein Schuh sank langsam ein. Er schaute sich um und sah eine kleine Sumpfpflanze in der Mitte, auf der ein dickerer Ast lag. Die nutzte er, um zuerst dorthin zu springen und dann sofort weiter zum nächsten Baum. Ein paar Momente später war er über einige weitere kleine Inseln im sumpfigen Morast zur großen Erhebung mit der Eiche gelangt. Dort versteckte er sich hinter den Fliederbeerbüschen.
Er blickte um sich. Ein kleiner, schmaler Sandstrand eröffnete ihm den Weg zum Wasser des Sees. Daneben gab es nur noch Reet. Wenn die Verfolger die Insel erreichen sollten, dann musste er ins Wasser, mit allem, was er jetzt noch besaß, auch mit seiner Tasche. Seine Wasserflasche darin hatte er gerade gefüllt und wollte sie nicht leeren. Er holte sie heraus und legte sie ins Reet. Rune konnte zwar schwimmen, doch vielleicht konnte das einer der beiden Kerle auch. Aber er konnte nur ins Reet fliehen und hoffen, dass sie ihn dort nicht suchen würden. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Eine knappe Minute später hörte er wieder die Stimmen der Männer.
„Du wirst schon sehen. Wir kriegen ihn“, sagte die tiefere Stimme zuversichtlich. „Wenn er sich hinter einem Busch versteckt hätte, hätten wir ihn längst gefunden und den Sumpf kennt er nicht so gut wie wir.“
„Ich kann nur hoffen, dass du recht hast. Und was, wenn er nichts hat? Wenn er ein genauso armer Schlucker ist wie du und ich?“
„Dann haben wir endlich jemanden“, raunte der Dicke kaum hörbar, „der schnell laufen kann und uns die Drecksarbeit abnimmt. Der Junge kann in die Hühnerkäfige klettern und die Eier klauen, die wir verkaufen, und uns morgens die Milch fürs Frühstück besorgen. Mit dem fixen Burschen sind wir ein tolles Erfolgstrio.“
„Hier ist der Weg zu Ende und der Junge ist immer noch nicht in Sicht. Was nun?“, meinte der schlanke Kerl.
Rune blickte durch die Blätter des Fliederbeerbusches. Er atmete so leise und langsam wie möglich, aber sein Herz pochte wild und schnell, denn die beiden Männer beobachteten nun seine Insel.
„Er kann nur auf dieser Insel sein“, sagte der Dicke energisch und zeigte in Runes Richtung. „He, Junge! Wir wissen, dass du auf der Insel bist. Wir haben uns verlaufen und vielleicht kannst du uns sagen, wie wir von hier nach Rendsburg kommen?“
Rune schwieg. Er zog zur Sicherheit schon einmal seine Schuhe aus und steckte sie in seine Tasche.
„Du kriegst auch einen Groschen.“
Rune schwieg und stopfte jetzt auch seine Jacke, die er vorsorglich ebenfalls abgelegt hatte, hinein. So blöd, wie sie hofften, war er bestimmt nicht.
„Es hilft nichts, du musst auf die Insel und ihn herschaffen“, sagte der Dicke nachdrücklich.
„Wieso ich?“, meuterte der Dünne.
„Ich bin viel zu schwer.“
Der Dicke deutete mit einer strengen Geste zum ersten Baum, auf dessen Wurzelwerk auch Rune gesprungen war. Der Dünne fluchte:
„Einmal im Jahr steht das Wasser einen halben Meter höher als sonst und ausgerechnet in diesem Augenblick muss ich hier in diese dreckige Brühe!“
Doch er krempelte seine Hosenbeine hoch. Dann nahm er den gleichen Weg, den der Junge genommen hatte. Kurz darauf stand er vor der über drei Meter breiten Lücke zur nächsten Birke. Rune, der alles beobachtet hatte, spürte, wie seine frisch verheilte Brandwunde an seiner rechten Hand wieder schmerzte.
Ich muss ins Wasser gehen, wenn der Mann den nächsten Sprung schafft, dachte er verzweifelt. Das Brot wäre dann verdorben und er hätte nichts mehr fürs Abendessen. Leise krabbelte er zum Morast und setzte einen Fuß ins Wasser, dann den zweiten. Plötzlich hörte er hinter sich einen dumpfen Aufprall und einen Fluch.
„Verdammt! Verdammt! Verdammt! Du mit deinen verrückten Ideen!“
Rune drehte sich um und kroch vorsichtig zu den Fliederbeerbüschen zurück. Ein Blick durch das Dickicht zeigt ihm, dass der dünne Mann bis zur Brust im Sumpf eingesunken war.
„Keine Angst, ich helfe dir.“
Der Dicke hatte irgendwo einen starken Ast gefunden und stocherte damit im sumpfigen Gras vor sich herum.
„Alles ziemlich morastig hier.“
„Du Idiot!“, murrte der dünne Mann. Doch er hatte es zurück bis an den Baumstamm geschafft, von dem er abgesprungen war. Mühsam krallte er sich an dem Stamm fest. Kurz darauf war er wieder bei seinem Kumpanen und zog sich seine Hose aus. Er wusch sie in dem kleinen Bach, der neben dem Sumpf in den See floss.
„Du kannst den Bengel auch holen, wenn du durch den Bach gehst“, sagte der Dicke. „Von dort kommst du auch auf die Insel und der Bach ist höchstens einen Meter tief. Schau!“ Er tauchte seinen Ast ins Wasser.
Der dünne Mann schnaubte nur, während er sein Hemd reinigte. Nachdem er alles ausgewrungen hatte, zog er das nasse Zeug wieder an, mitsamt der trockenen Jacke.
„Deinen schönen Vorschlag kannst du gerne selber in die Tat umsetzen. Dieses Mal schaue ich zu, wie du baden gehst.“
„Ich kann nicht schwimmen. Womöglich ist das Wasser dahinten viel tiefer als hier.“
„Ich kann auch nicht schwimmen, jedenfalls nicht so weit“, erwiderte der Dünne.
„Aber du bist schon nass“, nörgelte der Dicke.
So stritten sich die beiden noch eine Weile und entfernten sich kurz darauf auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren.
Rune fiel ein Stein vom Herzen. Er beschloss, die Nacht auf der Insel zu verbringen. Womöglich warteten die Gauner am Waldrand auf ihn. Er hatte immer noch Angst. Um sich abzulenken, wollte er lieber versuchen, einen Fisch fürs Frühstück zu fangen. So band er eine seiner Schnüre mit einem Korken, Haken und Köder an einen längeren Zweig und beobachtete aufmerksam das Wasser. So verging die Zeit, bis es dämmerte.
Es war eine gute Stelle zum Angeln, ein Sandstrand, der an den kalten, klaren Bach angrenzte. In den letzten Wochen hatte es viel geregnet und der Wasserspiegel des Sees war deshalb erheblich angestiegen. Als es fast schon dunkel war, sah Rune den ersten Fisch. Er schwamm in Richtung des Baches, der hier in den See floss. Dann schimmerte der Mond durch die Wolken. Gespannt beobachtete der Junge den Korken. Mit einem Mal sah er in der Ferne Lichtblitze und hörte ein dumpfes Grollen. Ein Gewitter nahte. Er holte die Angel ein, um von hier zu verschwinden. Den Weg durch den Sumpf konnte er wegen der Dunkelheit nicht nehmen. Er musste durch den Bach zurück. Zur Not eben auch schwimmen.
Plötzlich hörte er Geräusche. Dort, wo sich der Weg am See entlang schlängelte und der Pfad zur Halbinsel abzweigte, schien eine Kutsche zu halten. Ein Pferd wieherte in der Ferne. Stimmen redeten miteinander, doch sie waren zu weit weg, um zu verstehen, was gesprochen wurde. Hatte da jemand etwa die Halbinsel zum Ziel? Unmöglich! Der Weg war viel zu schmal für eine Kutsche, dachte Rune.
Und trotzdem kamen die Stimmen langsam näher. Der Junge überlegte nur kurz. Er packte wieder seine Schuhe und Jacke in die Umhängetasche. Nach einigen Momenten nahm er eine Laterne wahr, die sich auf ihn zu bewegte. Blitzschnell packte Rune seine Tasche und versteckte sie im dichten Gebüsch am Fuß der Eiche. Dann harrte er der Dinge, die da kommen mochten. Ihm war kalt und es roch nach vermodertem Holz.
Inzwischen konnte er eine dunkle tiefe Stimme und ein helle unterscheiden, die sich miteinander unterhielten. Auf keinen Fall handelte es sich jedoch um die beiden Halunken vom Nachmittag. Trotz der Laterne waren die Gesichter leider von Hüten verborgen und ihre Worte gingen im Rauschen des Reets unter. Dann blieben die Gestalten stehen und sahen in seine Richtung, ein kleiner und ein großer Mann.
„Verdammt! Hochwasser!“, rief der große Mann mit einer tiefen, vollen Stimme. „Es hilft nichts. Du machst trotzdem, was ich dir gesagt habe.“
Plötzlich schlug ein Blitz ganz in der Nähe ein. Rune hörte merkwürdige Wortfetzen. Das grelle Licht und das Rollen des Donners lähmte seine Gedanken. Kleine Mücken tanzten um seine Haare. Er roch seinen eigenen Schweiß durch den brackigen Geruch des Seewassers. Gebannt beobachtete er, wie der kleinere Mann langsam ins Wasser ging und auf ihn zu watete. Seine Bewegungen waren unsicher, denn er trug etwas Schweres. Plötzlich blieb er stehen. Es schien, als ob sich seine Last in irgendetwas verfangen hätte.
Nun stieg auch Rune leise und vorsichtig ins Wasser und watete langsam ins Reet, bis er fast bis zum Hals im Wasser stand. Dunkelheit, Angst und das Reet hüllte ihn ein. Erneut blitzte und donnerte es. Das nahe Klatschen von etwas Schwerem, das ins Wasser fiel, ging in dem Höllengetöse fast unter. Dann löste sich eine Gestalt aus der Finsternis. Rune hatte das Gefühl in seiner Angst zu ertrinken. Nur ein paar Meter entfernt keuchte jemand.
1
Schleswiger Nachrichten 1892
Schleswig, 3. Juli
Die hiesigen Inhabern von Gastwirthschaften sind neuerdings von der Polizeibehörde daran erinnert worden, daß die alte dänische Polizeiverordnung wegen der Pässe und Beherbergung von Reisenden, datiert Kopenhagen, 17. April 1811, noch gültig ist.
Schäferkate Geest, nahe Kropp, September 1902
„Denk dran“, sagte Johannes. „Wenn du bei den Höfen ankommst und an die Tür klopfst, dann hast du jedes Mal einen kleinen Strauß Strohblumen dabei!“
„Natürlich John“, entgegnete Rune lächelnd.
Johannes Silban war Schäfer und versuchte einen Teil seiner Wolle an Bäuerinnen zu verkaufen, die noch immer die Spinnkunst beherrschten und selber eigene Kleidungsstücke anfertigten. Er bekam von ihnen weit mehr Geld, als wenn er die Wolle an den Händler verkaufte, der erst in drei Wochen vorbeikommen würde.
Rune war jetzt zehn Jahre bei Johannes Silban. Die ersten vier Jahre war der Schäfer im Herbst noch alleine losgezogen und hatte Rune mit dem treuen Hütehund Rasmus bei seinen Schafen zurückgelassen. Danach hatte er Rune zu den Höfen in der Umgebung mitgenommen und ihm gezeigt, welche er besuchen sollte und wie er am besten mit den Bauersleuten verhandelte.
Aus dem kleinen drahtigen Jungen war ein recht kräftiger, ansehnlicher junger Mann geworden, der viel lächelte und sein Gegenüber mit einem durchdringenden Blick betrachten konnte. Vor Kurzem hatte ihn John auf einen benachbarten Hof geschickt, um dort einen Hammer zum Verpfählen auszuleihen. Als der Bauer ihm das Werkzeug überreichen wollte, traten seine zwei Töchter neugierig neben ihren Vater. Eine der beiden fragte ihn, ob er auch zum nächsten Fest der Feuerwehr kommen würde. Verträumt hatte Rune die beiden jungen Frauen nacheinander angestarrt und dabei völlig den eigentlichen Zweck seines Besuches vergessen. Schließlich räusperte sich der Alte so lautstark, dass er aus seiner Trance erwachte. Begeistert hatte er jedoch einen Moment später die Einladung der älteren angenommen, zum Fest zu kommen. Er versicherte ihr, dass er dort nur mit ihr tanzen würde, weil es kein schöneres Mädchen gäbe. Nun reichte es dem Bauern und er schickte seine Töchter energisch zu ihrer Mutter. Danach verabschiedete er Rune und schob ihn entschieden zur Tür hinaus, die er ebenso bestimmt hinter ihm schloss.
„Lass dich mit keiner der Töchter ein!“, brummte John, der Runes Bericht interessiert gelauscht hatte. „Die Bauern sind alle zu reich, als dass sie dich armen Schlucker als Schwiegersohn haben wollten. Such dir lieber eine fleißige Magd, die passt besser zu dir.“
John war selbst Bauer, doch er besaß schlechtes Land mit sandigen Böden. Man konnte zwar Kartoffeln darauf anbauen, doch war der größte Teil Heideland, das regelmäßig im Sommer bei stärkeren Regenfällen überflutet wurde. Die Schafe konnten dann auf höhere Gebiete ausweichen, die Kartoffeln nicht. Sie verschimmelten in der Feuchtigkeit und das restliche Land war so karg, dass nichts außer ein paar dürren Grashalmen und Unkraut dort wuchs. John musste deshalb jede Mark zweimal umdrehen.
Als Rune vor zehn Jahren eines Abends alleine vor seiner Tür stand, hatten sie sich fast fünf Minuten schweigend angesehen. Erst, nachdem Rasmus zu dem Jungen gelaufen war und ihn Schwanz wedelnd begrüßt hatte, brach John das Schweigen.
„Na, dann komm herein! Es ist noch etwas zu essen da. Du siehst aus, als ob du es gebrauchen könntest.“
John war ein geduldiger Mensch. Er lebte alleine und hatte Rune nie unangenehme Fragen gestellt. Eigentlich hatte der Schäfer gar nicht die Absicht gehabt, den Jungen bei sich aufzunehmen. Doch als er ihn am Morgen, nachdem Rune bei ihm geklopft hatte, wecken wollte und sah, wie der Junge beide Arme um Rasmus geschlungen hatte, wurden seine Augen feucht. Ab da konnte er ihn nicht mehr zur Polizei schleppen. Als er erfuhr, dass Runes Eltern tot seien, glaubte er dem Jungen, denn er hielt ihn nicht für einen Lügner.
John wartete. Er wusste, dass Rune eines Tages etwas über sich erzählen würde. Es dauerte zwei Wochen. An diesem Tag hatten sie ziemlich viel zu tun gehabt. Sie hatten Johns Schafe und die einiger anderer Bauern zu einem Heidegebiet etwa fünf Kilometer entfernt getrieben. Rasmus und Rune hatten vor allem die Ausreißer eingefangen und sie mit einigen Nachzüglern hinter der Herde hergetrieben. Der Junge war viel hin und her gerannt und lag nun erschöpft auf einer Decke neben einem kleinen Feuer, das John gemacht hatte. Der Schäfer hatte ein paar Kartoffeln und Bohnen gekocht und gab nun ein paar getrocknete Fleischstreifen dazu. Die Flammen strahlten eine wunderbare Wärme aus, aber sie erinnerten Rune auch an den Brand, der den Hof seiner Eltern vernichtet und ihn gezwungen hatte, von dort wegzugehen. Er seufzte. Der sensible Rasmus spürte seine Traurigkeit und kroch zu Rune, seinen Kopf eng an die Schulter des Jungen gekuschelt.
„Na, ihr beide scheint ja recht müde zu sein. Schön, dass es das Feuer gibt und wir wenigstens etwas Warmes zu essen haben.“
Eine Pause folgte.
„Manchmal ist ein Feuer aber auch etwas Schreckliches“, meinte Rune schließlich, ohne aufzublicken.
John blickte zum Jungen hinüber und erkannte, wie unglücklich dieser aussah. Vielleicht war die Zeit gekommen, um über die Vergangenheit zu reden.
„Ja, das stimmt. Ich hab mal erlebt, wie ein Blitz die Heide zum Brennen brachte. Und eine Hütte brannte dabei auch nieder.“
Rune blickte zu John, dessen Augen auf das Feuer gerichtet waren.
„Ich hab mal gesehen, wie ein ganzer Hof abgebrannt ist“, sagte er leise und blickte wieder in die Flammen.
„War denn noch jemand in dem Haus?“, fragte John.
„Ja“, flüsterte der Junge noch leiser.
„Waren es deine Eltern?“
Rune nickte ganz langsam und merkte nicht, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Er nahm auch nicht wahr, wie der Hund seine Hand ableckte und sich noch dichter an ihn schmiegte.
„Und hat ein Blitz das Feuer ausgelöst?“
„Nein“, sagte Rune. „Jemand hat das Haus und die Scheune angezündet.“
Drei Tage später erfuhr der Schäfer, dass die Eltern des Jungen zuvor an der Cholera gestorben waren.
John dehnte in diesem Jahr seine alljährliche Verkaufstour etwas aus. Sie führte ihn in die Gegend, aus der Rune stammte. Dort erfuhr er, dass tatsächlich ein Bauernhof abgebrannt war. Er beließ es dabei und zog keine weitere Erkundigungen beim Pfarrer ein. Der Junge war ehrlich zu ihm gewesen und so wollte er ihm auch weiterhin ein Zuhause bieten. Rune erzählte er nichts davon.
Johns Interesse an dem Jungen war jedoch nicht ganz uneigennützig. Er war schließlich 50 Jahre alt und hatte schon längere Zeit überlegt, wie er jemanden finden konnte, der ihm bei den alltäglichen Verrichtungen zur Hand ging und möglichst wenig kostete. Eines Tages wollte er Rune dafür sein kärgliches Land mit den Schafen unter der Bedingung übergeben, dass er ihn seinen Lebensabend dort verbringen ließe.
Als Rune 18 Jahre wurde, machte John ihm dieses Angebot. Begeistert willigte der junge Mann ein, denn inzwischen liebte er das Leben als Schäfer. In jenem Jahr schickte John ihn auch das erste Mal alleine mit dem Pferdewagen und der Wolle los. Es war Frühjahr, die Zeit nach der ersten Schafschur.
*
Inzwischen hatte Rune seinen 22. Geburtstag gefeiert. Als er sich dieses Jahr auf den Weg machte, stellte John ihm lächelnd zum Abschied wieder die Frage:
„Was wirst du tun, wenn dir jemand die Wolle wegnehmen will?“
„Die nimmt mir keiner weg“, sagte Rune selbstsicher und blickte John mit einem breiten Grinsen an. Der alte Schäfer hatte ihm nicht nur beigebracht, mit einem Beil Verpfählungen für die Schafgehege anzufertigen. Auch wie man damit aus einigen Metern einen Baumstamm traf, hatte er ihm gezeigt. Seitdem hatte Rune bei seinen Touren das Werkzeug immer neben sich auf dem Sitz des Pferdewagens liegen, doch niemand sprach darüber.
Zwei Tage später kam Rune in ein Dorf, das etwas östlich von seiner Route lag. John hatte ihm eindringlich geraten, es dort einmal zu versuchen. Mit der Zeit war es immer schwieriger geworden, den Bäuerinnen die Wolle zu verkaufen, denn sie bevorzugten immer öfter fertige Kleidung, die sie nicht mehr selbst herstellen mussten.
Eigentlich waren es sogar zwei Dörfer, Groß und Klein Himmelsee hießen die beiden Ortschaften, in die der junge Mann nun kam. Zwei Höfe lagen dicht vor dem Ortsschild beidseits des Weges. Rundherum erstreckte sich gutes Land und so war es keine Überraschung gewesen, dass die Bauersfrau des ersten Hofes seine Wolle entschieden abgelehnt hatte.
Nun stand Rune vor dem zweiten Hof, auf der anderen Seite des Weges. Er hatte gerade die kleine Pforte hinter sich zugemacht und sich zum Hauseingang umgedreht, als sein Blick auf die Bank neben der schön geschnitzten, grün-weißen Holztür fiel. Etwas ließ ihn zögern, er wusste selbst nicht was. Unsicher ging er auf die Eingangstür zu.
War er vielleicht schon einmal hier gewesen?
Ein Schild an der Wand verkündete‚ dass der Hof Gustav und Gertrud Streitmann gehörte. Rune klopfte. Leise trippelnde Schritte näherten sich. Dann wurde die Tür geöffnet und ein kleines Mädchen schaute ihn mit großen Augen an.
„Jenny, du sollst nicht die Tür aufmachen, wenn Fremde kommen! Wie oft soll ich dir das noch sagen!“, rief eine Stimme.
„Hab sie gar nicht aufgemacht. Ist von alleine aufgegangen.“
Ein zweites, vielleicht 14- oder 15-jähriges Mädchen kam durch die Diele zum Eingang geeilt und schob die kleine Schwester beiseite.
„Wir kaufen nichts“, sagte sie forsch und blickte Rune zunächst misstrauisch an. Als sie jedoch den kleinen Strauß mit den Ringelblumen erblickte, fing sie an zu lächeln. Ermutigt von ihrem Lächeln zog Rune etwas Schafwolle aus seiner Umhängetasche und hielt es ihr mit einem „Bitte“ hin. Das Mädchen nahm das kleine Knäuel entgegen, während sie errötete. Dann rief sie nach ihrer Mutter. Kurze Zeit später erschien die Bäuerin und befühlte eingehend die Wolle. Sie schien nachzudenken.
„Eigentlich ist das nichts für uns, denn wir haben kein Spinnrad“, sagte sie schließlich.
„Aber Mama!“, protestierte die ältere Tochter. „Linda und Großmama können das doch gebrauchen. Großmama hat ein Spinnrad und sie hat schon letztes Jahr gefragt, ob wir ihr für den Winter nicht wieder Schafwolle besorgen könnten.“
„Und Linda häkelt und näht auch gerne“, ergänzte das kleine Mädchen energisch.
„Hast ja recht, Liebes“, sagte die Bäuerin beschwichtigend.
Rune hatte die Diskussion verfolgt und blickte nun fragend in die Runde.
Schließlich sagte die Mutter der beiden Mädchen:
„Gehen Sie mal zum Krähenhof rüber. Da wohnt unsere Großmutter mit dem Großvater und unserer Cousine, Familie Streitmann. Sie müssen dazu ganz durchs Dorf hindurch und dann hinter der Kapelle in die Sackgasse links hinein und nach zweihundert Metern ist es die Kate an dem kleinen Bach.“
Rune nickte dankbar und überließ ihnen ein größeres Büschel Wolle, worüber sich das ältere Mädchen sichtlich freute.
„Falls sich ein Spinnrad zu dir verirrt oder du einen Bräutigam findest, der dir eines schenkt“, grinste er.
Zehn Minuten später stand Rune vor der Haustür des Krähenhofes. Ein alter Mann mit Brille öffnete ihm die Tür. Er sah die Schafwolle, legte den Kopf schief und rief:
„Berte, es ist für dich. Der Schäfer bringt dir endlich neue Wolle.“
Rune hörte jemanden zur Tür humpeln. Eine kleine gebeugte Gestalt erschien. Im Sonnenschein erkannte er eine alte Frau, die erst ihn mit strahlenden blauen Augen betrachtete und dann auf die Schafwolle blickte.
„Dann kommt der Johannes Silban wohl gar nicht mehr selbst?“
„Nein, der hat Schmerzen in der linken Schulter und bleibt deshalb lieber bei den Schafen, natürlich zusammen mit unserem Rasmus.“
„Ach ja, der Hund. Der ist doch auch schon ziemlich alt, oder?“, meinte die Alte nachdenklich.
„Darum haben wir jetzt einen zweiten Hund, den Rodan. John bildet ihn gerade aus. Er macht sich auch schon ganz gut“, berichtete Rune.
Eine zweite, deutlich jüngere Frau erschien nun hinter der Großmutter. Sie schaute neugierig über deren Schulter, während die alte Bäuerin mit geübter Hand die Wolle befühlte und schließlich anerkennend nickte.
„Wir nehmen zwei Bündel, wenn die Wolle genauso gut ist wie dieses Büschel. Linda, bitte suche zwei schöne Ballen heraus und hilf dem jungen Mann beim Tragen“, entschied die alte Frau Streitmann.
Rune hatte während ihrer Rede neugierig die Cousine gemustert, eine ausgesprochen hübsche Person mit blonden Locken. Sie hatte eine auffallend gerade und stolze Körperhaltung. Ihre großen, blauen Augen faszinierten ihn und ihr Blick war durchdringend wie sein eigener. Er trat ein Stückchen zur Seite und zusammen gingen sie zu seinem Wagen. Linda befühlte einen Ballen nach dem anderen und Rune beobachtete sie dabei fasziniert. Er musste mit ihr ins Gespräch kommen, irgendwie.
„Wie alt sind Sie?“, fragte er also und ärgerte sich im selben Moment über diesen banalen Anfang.
„Achtzehn“, sagte die junge Frau nach einem Moment des Schweigens. Doch nun wandte sich ihr Blick von der Wolle ab und sie musterte ihn neugierig. Ihr Lächeln wurde intensiver und sie legte den Kopf etwas schief. Rune merkte nicht, dass er rot wurde. Er räusperte sich.
„Und Sie kommen hier aus dem Dorf?“
„Nein, ich komme aus einem Dorf in der Nähe von Flensburg, aber meine Eltern sind vor zehn Jahren gestorben.“ Sie wandte sich wieder der Wolle zu. „Meine Großmutter, mit der ich mich schon immer gut verstanden habe, hat mich damals aufgenommen und deshalb bin ich jetzt hier“, antwortete Linda. Sie hatte inzwischen ihre Entscheidung getroffen und blickte ihn offen an.
„Die beiden nehmen wir.“
Sie deutete auf zwei Ballen. Dann ergriff sie einen davon mit ihrer linken Hand und trug ihn zum Haus. Trotz der Last war ihr Gang leicht und federnd wie der einer Tänzerin. Rune nahm den anderen Ballen und folgte ihr. Sie brachten sie in eine kleine Stube, wo ein Spinnrad stand. Dann kehrten sie zurück zum Eingang. Dankbar lächelnd nahm Rune das Geld von der Großmutter entgegen, doch in Gedanken war er immer noch bei der wunderschönen jungen Frau. Er reichte ihr zum Abschied die Hand und überlegte fieberhaft, was er ihr noch sagen könnte. Verlegen und leicht errötend nahm Linda seine Hand. Fragend schaute sie ihre Großmutter an. Rune machte jedoch keine Anstalten, zu seinem Wagen zu gehen. Es war, als hätte er alles rund um sich vergessen. Allerdings rieb er sich ein ums andere Mal nachdenklich sein Kinn und musterte das Gesicht der jungen Frau. Schließlich brach die alte Frau Streitmann das Schweigen:
„Im Herbst feiern wir Erntedankfest. Vielleicht sind Sie dann ja zufällig hier in der Nähe.“ Ihre Worte wurden leiser. „Und vielleicht tanzt Linda ja mit Ihnen auf dem Fest.“
Er überlegte. Es waren über 20 Kilometer bis nach Klein Himmelsee, aber er musste Linda unbedingt wiedersehen.
2
Schleswiger Nachrichten 1902
Schwansen, 13. Juli
Das rätselhafte Verschwinden der seit etwa sechs Wochen vermißten Ehefrau des Kuhhirten Marx in Dorothenthal hat sich gestern durch Auffindung der Leiche derselben am Strande bei Dorothenthal aufgeklärt. Die Ehefrau Marx, welche seit längerer Zeit von ihrem Manne getrennt lebte und auf einem benachbarten Hofe in Dienst getreten war, während ihr Mann mit den 3 Kindern auf seiner Stallung blieb, hatte wegen wiederholter Mißhandlung seitens ihres Ehemannes die Ehescheidungsklage eingereicht. Vor 6 Wochen hat der P. Marx seine Frau unter Vorgabe, daß eins der Kinder krank sei, veranlaßt, in ihre Wohnung zurückzukehren. Seit diesem Zeitpunkt war die Frau verschwunden. (…)
Schäferkate Geest, nahe Kropp, September 1902
John grinste nur, als Rune ihm von der jungen blonden Frau erzählte, die er getroffen hatte und mit der er sich zum Erntedankfest in Klein Himmelsee verabredet hatte. Das Dorf, das so weit weg lag. Über vier Stunden Fußmarsch. Er würde sich im Oktober eine Übernachtungsmöglichkeit suchen müssen. Die beiden Männer saßen bei einer Tasse starkem, schwarzen Tee in Johns gemütlicher Kate und besprachen die Angelegenheit.
„Frag den Pfarrer des Dorfes, ob du bei ihm schlafen kannst. Wenn nicht, dann musst du dir eben eine Scheune bei einem Bauern suchen.“
Rune nickte, doch in seinen Gedanken war er schon wieder bei der wunderschönen Linda und ihrem umwerfenden Lächeln. Selbst der alte Rasmus, der zu ihm gekommen war und den Kopf auf seine Füße gelegt hatte, konnte daran nichts ändern.
„Erzähl mir mehr von deiner Linda“, forderte John ihn nun auf und schmunzelte ihn wissend an.
„Sie hat blonde Haare und strahlend blaue Augen“, wiederholte Rune zum zehnten Mal.
„Gut, gut, aber was ist mit ihrer Familie? Warum wohnt sie bei ihrer Großmutter und nicht bei ihren Eltern?“
Der junge Mann seufzte, dann erzählte er, was er wusste: „Linda kommt eigentlich aus der Nähe von Flensburg, aber ihre Eltern sind vor zehn Jahren gestorben.“
John, der soeben noch gelächelt hatte, stutzte.
„Das war doch ungefähr die Zeit, als du hier aufgetaucht bist.“
Die beiden Männer blickten sich an. Dann schaute Rune wieder verträumt vor sich hin und sagte:
„Ach, John, sie hat so wunderschöne Augen und sie geht so leicht, als wäre sie eine Feder.“
„Schönheit kann man viel leichter in seinem Herzen bewahren als dunkle alte Erlebnisse“, erwiderte der alte Schäfer.
Er wartete, ob da vielleicht noch mehr kommen würde. Doch Rune schwieg unwillig, gefangen in der Erinnerung an Dinge, die sich noch immer als unwirkliche Bruchstücke in seinem Gedächtnis versteckten und die er lieber vollständig vergessen würde. Wie würde John wohl reagieren, wenn er ihm erzählte, dass er damals bei der Begegnung mit Linda so eine komische Ahnung gespürt hatte, sich aus irgendeinem Grund aber nicht wirklich an etwas Konkretes erinnern konnte? Es hatte etwas mit einem See hinter einem Sumpfwald zu tun. Doch immer, wenn er intensiv daran dachte, veränderte sich die Geschichte und die Bruchstücke von damals verschwanden in der Dunkelheit, wie ein Stein, den man in der Nacht in einen Wald warf und nicht mehr hörte, wo er aufschlug. Manchmal war es auch so, als ob er im Traum nach einer Wand in seinem alten Elternhaus tastete und feststellte, dass die Wand verschwunden war und er draußen unter freiem Himmel lag. Unangenehm von der Vergangenheit berührt verdrängte Rune die negativen Gedanken. Lieber wollte er an Linda denken, die er um jeden Preis wiedersehen musste.
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