3,99 €
Wenige Tage vor Weihnachten verschwindet die Mutter des elfjährigen Jonas. Der zerstreute Dr. Wilkinson findet den Jungen auf einem Spielplatz und nimmt ihn mit nach Hause, wo er und sein Mitbewohner Tobias versuchen herauszufinden, wer der junge Bursche ist und was sie mit ihm machen sollen. Doch warum ist der Junge so schweigsam. Und was hat es mit den Rotkehlchen auf sich, die Kinder und Erwachsene hinter sich herlocken? Der kleine Junge gelangt zu einem einsamen leerstehenden Haus und will dort in einem Schuppen übernachten. Und dann taucht dort die kleine Jasmin auf. Sie hat sich mit ihrem Vater fürchterlich gestritten. Es ist ein Krimi ohne Tote. Doch mit Schurken, die vor nichts Skrupel zu haben scheinen. Aber es ist Weihnachten und es gibt auch andere Wünsche als Geld. Eine Geschichte, in der kleine Wünsche für die großen und kleinen Herzen mehr als nur wertvoll sind. Eben Weihnachtswünsche.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 262
Veröffentlichungsjahr: 2018
Für Mia
Günter-Christian Möller
Weihnachten - Die verzauberten Vögel
© 2018 Günter-Christian Möller
Umschlag, Illustration: Ingeborg Geib
Lektorat, Korrektorat: Dr.Nicola Peczynsky
Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg
978-3-7469-6799-8(Paperback)
978-3-7469-6800-1(Hardcover)
978-3-7469-6801-8 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
1 Prolog
Es war kurz vor Weihnachten. Draußen war es kalt und es wurde gerade dunkel. Jonas hätte gerne mit seiner Mutter in einem warmen Zimmer an einem gemütlichen Tisch gesessen. Stattdessen kauerten sie nebeneinander auf einer Holzkiste in einer riesigen Lagerhalle. Durch einige Fenster schimmerte spärliches Licht zu ihnen herein. Sie hatten vor zwei Männern fliehen müssen und die Lagerhalle schien ihnen ein passender Zufluchtsort zu sein. Seine Mutter wollte nun die Dämmerung draußen abwarten. Dann könnten sie es wagen, ihr Versteck zu verlassen. Die Dunkelheit würde sie beschützen.
Seine Mutter las ihm eine Geschichte im matten Schein des Lichts vor, das die untergehende Sonne noch spendete: Ein junger Wolf, den Jäger verfolgten, hatte sich versteckt. Er hockte hinter einigen Büschen und hoffte, dass sie seine Spur verlieren würden. Doch dann hörte der Wolf das Bellen von Hunden, die seinen Geruch aufgenommen hatten. Sie kamen immer näher und so lief er ängstlich davon, denn die Hunde würden seine Spur niemals verlieren. Schließlich erreichte er eine tiefe, enge Schlucht. Die hölzerne Brücke, die sich einst darüber gespannt hatte, war jedoch eingestürzt und aus dem Stand würde er niemals hinüberspringen können. Der Wolf hatte große Angst vor den Hunden. Was würden sie mit ihm machen, wenn sie ihn gefunden hatten? Würden sie ihn zerreißen? Sehr wahrscheinlich! Er musste es versuchen, doch es blieb ihm nur eine Chance. Also drehte er sich um und lief den Hunden, die immer näher kamen, entgegen, denn er brauchte Anlauf für seinen großen Sprung. Er wartete, bis sie nur noch ein paar Meter entfernt waren. Dann raste er auf den Abgrund zu, immer schneller und schneller. Das Bellen der Hunde hinter ihm rückte bedrohlich näher. Dann war die Lücke vor ihm da. Er sprang ab und flog und flog – und schaffte es. Seine Vorderpfoten trafen die erste Bohle auf der anderen Seite. Hinter sich hörte er die Hunde, die jaulten und bellten. Sie waren vor dem tiefen, dunklen Loch zurückgeschreckt und trauten sich nicht zu springen. Den einen fehlte der Mut, den anderen der Platz, um ausreichend Anlauf zu nehmen. Stattdessen drängten sie sich zusammen.
„Ist der Wolf jetzt in Sicherheit?“, fragte Jonas.
Seine Mutter lächelte. „Ja, das ist er.“
„Aber vielleicht gibt es noch einen anderen Weg über die Schlucht“, erwog der Junge. Die Mutter lächelte wieder, denn sie freute sich, dass ihr Sohn zum ersten Mal seit Monaten einen langen Satz gesprochen hatte.
„Vielleicht“, entgegnete sie und steckte das Buch in ihre Handtasche. „Aber den müssen die Hunde erst finden. Der Wolf hat inzwischen Zeit, seinen eigenen Weg zu finden und seine Verfolger in die Irre zu führen.“
Nun holte sie eine Tablettenpackung aus der Tasche hervor. Sie öffnete sie und nahm den Zettel mit der Beschreibung heraus. Als sie ihn fast zu Ende gelesen hatte, sagte sie leise:
„Der Wolf weiß wenigstens, wann er in Gefahr ist. Wir Menschen wissen das nicht immer. Aber wenn ich diesen Beipackzettel hier lese, dann weiß ich, dass es richtig war, aus dem Pflegeheim abzuhauen, wo sie mich untergebracht haben.“
Sie blickte kurz zu den Fenstern hinüber. Draußen war es nun fast völlig dunkel. Schließlich faltete sie das Blatt wieder zusammen und steckte es in die Packung zurück.
„Sie wollen mich loswerden, für immer. Und dich wahrscheinlich auch, mein Liebling.“ Sie zog Jonas in ihre Arme und drückte ihn fest.
„Aber wir lassen das nicht mit uns machen! Wir müssen einen anderen Arzt finden. Jemanden, dem wir vertrauen können.“
Da hörten die beiden, wie am anderen Ende der Lagerhalle eine Tür quietschte. Der Junge blickte hoch in das Gesicht seiner Mutter und sah, wie Angst ihr Gesicht überflutete. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und hielt einen Zeigefinger vor ihren Mund. In der Ferne waren jetzt Schritte zu hören, die langsam näher kamen. Sie beugte sich zu ihm herunter und begann zu flüstern:
„Ich werde die Männer von dir weglocken. Du versteckst dich dort hinten zwischen den Kartons und bleibst dort – egal, was passiert. Ich hole dich später ab, wenn die Luft wieder rein ist. Und erzähl niemandem, wie du heißt, falls sie dich finden! Verstanden?“
Jonas nickte und seine Mutter nahm ihn in ihre Arme und drückte ihn ganz fest. Dann kroch er zwischen die zwei Kartonreihen, auf die sie gezeigt hatte. Mit Mühe zwängte er sich durch den schmalen Gang, bis er nach einem guten Meter in einen kleinen Hohlraum gelangte. Er sah noch, wie seine Mutter aufstand und langsam in der Dunkelheit verschwand. Ängstlich kauerte sich der Junge an die Kartons und hörte, wie fremde Schritte sich näherten. Lichtstrahlen tasteten die Räume zwischen den gelagerten Waren ab. Auch die Holzkiste, auf der er vor Kurzem noch gesessen hatte.
Eine Stimme erklang:
„Sie müssen hier drinnen sein! Draußen war niemand und die Türen der anderen Hallen waren alle verschlossen, nur diese nicht. Und über den Drahtzahn können sie niemals ohne Hilfe gelangt sein.“
„Was passiert mit ihnen, wenn wir sie haben?“, fragte eine andere Stimme, die sehr tief klang.
„Na ja, die Mutter kommt dahin, wo sie hergekommen ist, in ihr verdammtes Pflegeheim. Und der Junge kommt weit, weit weg, denke ich. Für immer!“
Stille folgte und die Schritte entfernten sich wieder. Dann gab es ein krachendes Geräusch und einige Sekunden später hörte er eine Scheibe splittern.
„Da hinten war was!“, schrie die tiefe Stimme. „Das müssen sie sein. Los hinterher!“
Zwei Lichter huschten an seinem Versteck vorbei, gefolgt von lauten Geräuschen, die sofort wieder leiser wurden. Danach war es still. Nichts geschah mehr.
Ängstlich wartete er und wartete. Jonas wusste, dass seine Mutter kommen und ihn holen würde, sobald sich eine Gelegenheit ergab. Doch irgendwann überkam ihn die Müdigkeit. Er hörte nicht mehr, wie sich draußen vor der Halle zwei Wachleute mit zwei Polizisten beratschlagten und zu guter Letzt die Halle betraten, um nach dem Rechten zu sehen. Den Jungen entdeckten sie jedoch nicht und schließlich fuhren sie wieder weg, nachdem sie die Halle abgeschlossen hatten.
Als Jonas aufwachte, war es bitterkalt. Ein Traum hatte ihn geweckt. Zunächst hatte er auf einer Schaukel gesessen und seine Mutter hatte ihn immer wieder angestupst, um ihm Schwung zu geben. Dann saß er plötzlich mit ihr im Auto. Sie fuhren eine Straße entlang. Bäume flogen vorbei, doch von einer Minute auf die andere drehte sich alles und wurde dunkel. Das Auto war von der Straße abgekommen und einen Abhang hinuntergestürzt.
Mühsam rappelte sich Jonas auf und stellte fest, dass er eingezwängt zwischen Kartons saß. Ein mattes Licht schimmerte irgendwo am anderen Ende der Lagerhalle. Der Junge kroch aus seinem Versteck zurück zur Holzkiste. Draußen setzte gerade die Dämmerung ein, ein neuer Tag brach an. Ihn fröstelte, weil von irgendwoher kalte Luft zu ihm drang. Als er der Brise folgte, kam er zu einem Fenster, das jemand eingeschlagen hatte. Dieser Jemand war jedoch entweder sehr vorsichtig oder sehr klein gewesen, denn nur ein kleiner Teil der Scheibe war zerbrochen. Einige kleine Splitter lagen davor auf dem Boden. Durch das Loch passte vielleicht eine Katze hindurch, aber er auf keinen Fall. Deshalb wollte der Junge lieber eine offene Tür suchen.
Jonas drehte sich gerade um, als ein kleiner Vogel durch die Öffnung flog und sich auf die Fensterbank setzte. Der Piepmatz pickte ein paar Krümel auf, blickte dann zu ihm auf und zwitscherte ein paar Töne. Erstaunt blieb der Junge stehen und schaute den Vogel neugierig an. Es war ein Rotkehlchen und es sang ein weiteres Mal eine einfache Melodie. Fasziniert summte der Junge sie nach. Nun flog der Vogel zu ihm und setzte sich auf seine Schulter. Er spürte das kleine Wesen, obwohl es federleicht war, aber er wagte nicht, ihm den Kopf zuzuwenden, weil er es nicht erschrecken wollte. Erneut sang der Piepmatz sein wunderschönes Lied. Jonas lächelte. Dann flog der Vogel zur Fensterbank zurück, blickte den Jungen noch einmal an und verschwand wieder nach draußen. Dieser ging nun wie von einer magischen Schnur gezogen ebenfalls zum Fenster und blickte hinaus. Das Tier saß draußen auf dem Zweig eines Busches, nur ein paar Meter entfernt und trällerte immer noch seine Melodie.
Jonas schaute sich das Fenster genauer an. Es gab einen Griff, den er drehen konnte, obwohl ein Schloss daran war. Das Fenster öffnete sich. Mit einem Stückchen Karton, das er auf dem Boden fand, wischte er einige weitere Scherben von der Fensterbank. Dann kletterte er hinaus. Kaum stand er auf dem Rasen vor der Halle, flog der Vogel wieder auf seine Schulter und zwitscherte ihm liebliche Töne ins Ohr. Doch dann flog er zu einem Baum in der Nähe und wiederholte dort sein Lied. Der Junge folgte ihm. Da flog das kleine Wesen über einen hohen Drahtzaun, der das Grundstück hinter dem Baum begrenzte. Jonas folgte dem Piepmatz mit den Augen und erspähte ein Loch im Stacheldraht. Jemand hatte an dieser Stelle die Maschen aufgeschnitten! Ob er dort hindurch kam? Und hatte der Vogel ihn etwa darauf hinweisen wollen?
2
An diesem Abend wartete Tobias Leuchtner auf Dr. Alfred Wilkinson. Der Mann war vierzig Jahre alt und damit einige Jahre älter als er. Dr. Wilkinson wohnte erst seit ein paar Monaten bei ihm, nachdem er seinen Beruf vor einem Jahr hatte aufgeben müssen. Damals hatten die Ärzte nach einem Nervenzusammenbruch festgestellt, dass er manischdepressiv sei und von nun an behandelt werden müsse. Dr. Wilkinson nahm regelmäßig Tabletten, die sein Verhalten stabilisierten. Doch die Firma, bei der er gearbeitet hatte, wollte ihn nun loswerden. Man habe momentan keine Arbeit mehr für ihn. Eine schöne Ausrede dafür, dass man ihn für bekloppt hielt. In Wirklichkeit wollte ihn seine Arbeitsgruppe, in der Mobbing an der Tagesordnung und Intelligenz nur scheinbar vorhanden war, nicht mehr. Tobias dagegen dachte oft, dass Dr. Wilkinson eigentlich völlig normal sei. Allerdings gab es auch Tage, an denen er kaum ansprechbar war und unerklärlich ängstlich und nervös wirkte.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm jetzt, dass es bereits halb zehn und sein Mitbewohner immer noch nicht zurückgekehrt war. Tobias machte sich langsam Sorgen und überlegte, wo er ihn vielleicht suchen könnte.
In diesem Moment klingelte sein Handy. Er schaute auf das Display. Es war Yvonne von Staudacker, seine Freundin. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Schnell drückte er auf den grünen Hörerknopf und sagte: „Hallo Yvonne!“
„Bist du allein? Hast du Zeit zum Reden?“
Nur Yvonne stellte solche Fragen. Sie arbeitete bei der Kriminalpolizei und hatte oft selbst keine Möglichkeit zum Reden.
„Ich warte auf Dr Wilkinson.“
„Auf deinen Verrückten? Ist er nicht da?“
Er hasste es, wenn sie seinen Mitbewohner als Verrückten bezeichnete.
„Nein, er ist noch unterwegs. Außerdem ist er nicht verrückt, nur manischdepressiv. Ich mache mir Sorgen, weil es schon so spät ist.“
„Dann ruf doch die Polizei“, riet sie ihm genervt.
„Quatsch! Nur weil er etwas später dran ist als sonst? Dr. Wilkinson wird mir Vorwürfe machen.“
„ Du bist für ihn verantwortlich, nicht er für dich“, sagte sie.
„Er ist kein kleines Kind mehr, sondern ein erwachsener Mensch. Außerdem ist er völlig in Ordnung, solange er keine manischen Phasen hat oder Angstzustände bekommt. Und er nimmt auch regelmäßig seine Tabletten.“
„Vielleicht ist er ja gerade in einem manischen Zustand und braucht Hilfe!“
„Yvonne, ich mache mir einfach nur Sorgen um ihn.“ Und so war es auch.
„Dann ruf ihn doch an.“
„Er hat sein Handy vergessen. Es liegt hier auf dem Küchentisch.“
„Dann musst du nochmal mit ihm reden. Er darf es auf keinen Fall vergessen, damit du ihn in so einem Fall erreichen kannst. Lass dich nicht von ihm verarschen! Das letzte Mal hat er sieben kleine Katzen mitgebracht, die er gefunden hatte. Und auch noch die Mutterkatze! Damals ist er auch spätabends nach Hause gekommen. Also, ich würde mir das nicht bieten lassen.“
Nun war es heraus. Wollte Yvonne etwa, dass Dr. Wilkinson verschwand? Offensichtlich glaubte sie, dass nur so die Macken seines Mitbewohners dauerhaft entschärft werden könnten. Tobias nahm ihn in Schutz.
„Dr. Wilkinson hat eben ein gutes Herz. Er hat die Tiere in einer Mülltonne gefunden, wo sie zu verhungern drohten. Kein guter Ort für kleine Kätzchen! Sollte ich die armen Wesen einfach wieder aussetzen?“
„Nein, natürlich nicht. Aber ihr hättet sie ins Tierheim bringen können.“
„Am Ende haben wir die Kätzchen ja auch weggegeben, aber an Leute, die sie gut behandelt haben. Die Tierärztin hatte uns damals verboten, die Babys gleich von der Mutter zu trennen. Sie waren doch viel zu klein.“
„Es stank damals bei euch wie im Tierheim, nein schlimmer noch, wie auf einer Müllhalde. Ich hab mich echt davor geekelt, dich zu besuchen.“
Tobias durchzuckte der Gedanke, ob er zu dieser Zeit möglicherweise auch muffig gerochen und Yvonne innerlich geschaudert hatte? Vorsichtshalber verwarf er ihn schnell. Stattdessen sagte er milde:
„Nun sind sie ja weg und es riecht wieder ganz normal in unserer Wohnung.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Außerdem war es Dr. Wilkinson, der die geniale Idee für unsere Klingelanlage hatte: Sechs Sekunden lang den Klingelknopf neben der Wohnungstür drücken und schon geht die Tür dank des Türöffnerrelais von alleine auf. Gerade Dir hat dieser Trick doch sehr geholfen, weil du oft vergessen hast, unseren Haustürschlüssel beim Gang zum Bäcker mitzunehmen.“
Yvonne schwieg zunächst, dann murrte sie leise und so fuhr Tobias fort:
Kommst du heute Abend noch vorbei?“
Ihre Antwort fiel leider negativ aus, was er sehr bedauerte.
„Nein, ich habe Bereitschaftsdienst.“
Und wie zur Bestätigung hörte Tobias ein anderes Handy im Hintergrund summen.
„Ein Anruf vom Chef. Ich hab dich lieb.“ Und weg war sie.
Nach diesem unbefriedigenden Gespräch strömten trübe Gedanken durch seinen Kopf. Erst Wut, weil er gehofft hatte, sie würde doch noch vorbeikommen. Dann Müdigkeit. Schließlich beschloss er, sich hinzulegen und zu entspannen.
Tobias ging nachdenklich in sein Zimmer. Sollte er vielleicht doch versuchen, Dr. Wilkinson wieder loszuwerden? Eben weil er mitunter so unberechenbar war, einfach verrückt.
Andererseits hatte Dr. Wilkinson auch phänomenale Talente. Er besaß eine unwahrscheinliche Geschicklichkeit darin, Computerprobleme zu analysieren und zu lösen. Leider nicht immer auf legale Weise. Besonders Geldkonten hatten es ihm angetan. Selbstverständlich hatte er auch Tobias Konto gehackt. Dabei war ihm eine fehlerhafte Überweisung eines Bankangestellten aufgefallen, auf die er Tobias aufmerksam gemacht hatte.
„Ich kann das bereinigen, wenn Sie wollen.“
Dieser Satz von Dr. Wilkinson war in seinem Gedächtnis hängen geblieben. Tobias hatte sein Tun damals stillschweigend gebilligt und so war das Geld wieder auf sein Konto zurück überwiesen worden. Ein anderes Mal hatte er vergeblich versucht, sich Daten zu einem Bankkonto zu beschaffen, als es um einen Betrugsfall ging, in dem er ermittelte. Schließlich hatte er Dr. Wilkinson davon berichtet, nicht ganz uneigennützig, wie er sich eingestehen musste. Dieser hatte ihm zwei Stunden später eine Auflistung aller Geldtransfers zu dem Konto überreicht. Tobias war zwar froh über die Informationen gewesen, weil er sie wirklich gut gebrauchen konnte. Dennoch war ihm die Bemerkung herausgerutscht, dass das ziemlichen Ärger bedeuten könnte, wenn es herauskäme.
„Ja, aber nicht für uns. Die Informationen habe ich mir über den Computer des Gemeindevorstehers besorgt. Genauer: Sie wurden mir in Form einer pdf-Werbebroschüre über die Gemeindearbeit zugeschickt. Der Mann ist übrigens auch sonst ziemlich neugierig.“
Von da an nannte Tobias Dr. Wilkinson insgeheim den „Gelehrten“. Er lächelte bei dem Gedanken an diesen Vorfall und kurz darauf war er eingeschlafen.
~~~
Tobias erwachte vom Klingeln einer Uhr. Instinktiv blickte er auf seinen Wecker. Es war kurz nach elf Uhr abends. In diesem Moment hörte er die Küchentür zuschlagen und da wurde ihm bewusst, dass es gar nicht der Wecker, sondern die Eieruhr gewesen war, die ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Geschwind stand er auf und öffnete seine Zimmertür. Er sah gerade noch Dr. Wilkinson in seinem Zimmer verschwinden, aus dem das Radio zu ihm herüberschallte.
Er ist also wieder da! Tobias spürte große Erleichterung, jedoch auch eine Menge Wut. Bei nächster Gelegenheit musste er ihm unbedingt sagen, dass er ihm wenigstens mitteilen solle, wo er hinging und wann er wiederkam. Tobias entschied, dass jetzt ein guter Zeitpunkt dafür wäre, und klopfte an die Tür seines Mitbewohners. Als nichts geschah, öffnete er sie leise. Erstaunt riss er die Augen auf. Es war noch jemand im Raum. Deshalb beschloss er, sich als stiller Beobachter hinter den Kleiderschrank zu verdrücken.
Ein kleiner Junge saß auf dem Boden und baute ein Kartenhaus. Er mochte um die zehn oder elf Jahre alt sein und trug ein hellblaues Hemd, eine graue Weste und eine dunkelblaue Hose. Seine Kleidung sieht aus wie eine Uniform aus einem katholischen Waisenheim, dachte Tobias.
Dr. Wilkinson hatte ein Tablett auf den Boden gestellt, auf dem sich zwei Teller und ein Becher befanden. Außerdem lagen darauf fünf Scheiben Brot, eine Packung Margarine – Dr. Wilkinson aß keine Butter – sowie ein weiterer kleiner Teller mit Käse- und Wurstscheiben. Und dann gab es noch eine Kanne voller Kakao, der einen betäubend leckeren Schokoladenduft verbreitete. Dieser füllte das ganze Zimmer aus und überdeckte alle anderen minder schönen Gerüche. Kakao mit einem kleinem Häufchen Schlagsahne und Zuckersplittern oben drauf, das war etwas, was Dr. Wilkinson echt gut zubereiten konnte. Tobias lief das Wasser im Mund zusammen und er hätte um ein Haar den Redefluss seines Mitbewohners unterbrochen, nur um auch eine Tasse von diesem leckeren Getränk zu bekommen. Doch er unterdrückte diesen Impuls und hörte stattdessen zu, wie der Gelehrte auf den Kleinen einredete.
„Möchtest du etwas essen? Oder vielleicht einen Schluck Kakao? Ich trinke ihn immer zum Frühstück.“
Keine schlechte Idee, dachte Tobias, der kurz an den glitzernden Raureif auf den Blättern der Bäume draußen dachte, den er an diesem Morgen so bewundert hatte. Passend zur Jahreszeit, denn in ein paar Tagen war Weihnachten.
Dr. Wilkinson füllte einen der beiden großen Becher, die neben der Kanne standen. Eine milchige Dampfwolke kringelte sich aus dem Gefäß heraus. Dann goss er etwas kalte Milch dazu und hielt dem Burschen den Becher hin. Der Kleine griff gierig nach ihm und nahm ihn in beide Hände. Nach dem ersten Schluck hielt er inne und ein Leuchten breitete sich über sein Gesicht aus. Noch ein zweiter Schluck, dann schüttete er alles auf einmal hinunter. Es folgten noch ein zweiter und dritter Becher und dann war die Kanne leer. Befriedigt rülpste der kleine Junge. Das war’s dann wohl mit dem Kakao, dachte Tobias enttäuscht.
Nun war das Brot an der Reihe. Entschlossen legte der Junge zwei Wurstscheiben auf die erste Schnitte. Dann biss er genüsslich mit halb geschlossenen Augen hinein. Nach der zweiten Schnitte musste er wieder aufstoßen. Trotzdem griff er auch noch zur dritten Scheibe. Zögernd hielt er sie in der Hand und legte sie schließlich wieder auf das Tablett. Stattdessen rollte er sich auf dem Teppich zusammen und seufzte müde, aber zufrieden. Also, wenn ich nicht gewusst hätte, was Hunger, Durst und Erschöpfung sind, hier hätte ich es lernen können, dachte Tobias, der die Szene beobachtet hatte.
Dr. Wilkinson legte die Brotscheibe ordentlich zu den übrigen beiden auf dem Teller. Dann schob er das Tablett etwas weiter weg. Leise ging er zum Bett, holte eine Decke und legte sie über den kleinen Körper. Danach griff er ein Kopfkissen und schob es unter den Kopf des Jungen. Nun räusperte sich Tobias leise. Dr. Wilkinson drehte sich um und erblickte seinen Mitbewohner, der ein vorwurfsvolles Gesicht machte.
„Wer ist das?“, fragte Tobias.
Der Gelehrte runzelte für einen Moment die Stirn.
„Das ist mein Neffe“, erwiderte er dann mit unschuldiger Miene.
Tobias meinte für einen kurzen Moment den Hauch eines schlechten Gewissens zu erkennen.
„Ich wusste gar nicht, dass sie Geschwister haben.“
„Eine Halbschwester.“
„Ist es nicht ziemlich spät für den kleinen Kerl? Er ist doch höchstens elf Jahre alt. Wann soll er denn zu Hause sein?“
„Er übernachtet heute hier.“
„Wir haben doch gar keine Matratze für ihn.“
„Er schläft hier in meinem Zimmer. Die große Decke wird sein Bett sein. Mein Neffe ist etwas autistisch und außerdem hat er eine Sprachstörung.“
„Stottert er?“
„Nein, er spricht nur sehr wenig.“
„Und wie heißt er?“
Dr. Wilkinson zögerte. „Öh … Rafael Rosenstern.“
Merkwürdiger Name, dachte Tobias und sah seinen Mitbewohner misstrauisch an.
„Meine Schwester hat gesagt, dass es gut für ihn ist, wenn er manchmal woanders schläft. Er schläft auch besser, wenn er abends lange auf ist und viel isst“, ergänzte dieser schnell.
Tobias Bedenken wurden größer.
„Trinken fördert seinen Schlaf anscheinend auch“, bemerkte er trocken.
„Er hat wohl tagsüber etwas wenig getrunken“, erwog Dr. Wilkinson.
Sein Gesicht wirkte allerdings irgendwie schuldbewusst. Da ist was faul, dachte Tobias nun ärgerlich.
„Vielleicht sollten wir seine Mutter mal anrufen. Wie ist denn die Telefonnummer?“
Panik breitete sich jetzt im Gesicht von Dr. Wilkinson aus.
„Sie hat vor Kurzem eine neue Telefonnummer bekommen … und ich … weiß … nicht …“
„Nun“, meinte Tobias, „wir können die neue Nummer bestimmt googeln.“
„Nein, das glaube ich nicht“, sagte Dr. Wilkinson verzweifelt.
„Doch! Wenn Sie mir ihren Namen nennen, werde ich sie herausfinden.“
„Nein … “
„Also, wie ist ihr Name?“, wiederholte Tobias energisch und schaute dem Gelehrten in die Augen. Doch der wandte sich ab und fing an zu stottern.
„Ich … hab ihn … auf… einem Kinderspielplatz gefunden … er war so allein… und suchte in einem Mülleimer … nach … nach etwas Essbarem. Ich konnte ihn doch nicht einfach so dalassen … “
Tobias seufzte und schüttelte den Kopf. Dann griff er Dr. Wilkinson an die Schulter, drückte sie kurz und fragte:
„Und warum sagen sie mir nicht die Wahrheit? Der Junge muss doch zurück zu seinen Eltern. Die machen sich sicher große Sorgen und verbringen eine schlaflose Nacht.“
Eine Pause entstand und der Gelehrte konnte seine Augen nicht vom Boden heben.
„Ich glaube, dass er allein ist“, flüsterte er dann.
Tobias war ratlos und schüttelte den Kopf. „Was soll das heißen: allein?“
Der Gelehrte schwieg.
„Wo haben Sie ihn genau gefunden, Dr. Wilkinson?“
„Auf einem Spielplatz in der Nähe vom Nordfriedhof. Er war dort ganz allein und sah so traurig aus. Zuerst saß er auf einem Karussell, das vier Plätze hatte: einen roten, einen grünen, einen gelben und einen blauen. Der Junge saß auf dem roten Sitz. Dann stand er auf und fing an, den Mülleimer zu durchsuchen. Da habe ich ihn angesprochen. Wir haben noch gut drei Stunden dort gesessen. Keine Mutter hätte ihn so lange grundlos allein gelassen.“
„Wann war das?“
„ Kurz, bevor es dunkel wurde. Er war so allein!“
„Warum waren Sie eigentlich auf dem Spielplatz?“
Schweigen.
„Warum waren Sie dort?“, wiederholte Tobias seine Frage mit Nachdruck.
„Ich fand eine Karte in unserem Briefkasten, mit dem Foto dieses Kinderspielplatzes. Auf der Rückseite standen drei Buchstaben: SOS!“
„Kann ich die Karte mal sehen?“
Dr. Wilkinson holte aus seiner Hemdtasche ein Foto, das einen Kinderspielplatz zeigte. Tobias drehte es um und sah die drei Buchstaben „SOS“. Eine Briefmarke fehlte.
„Vielleicht steckt der Junge in Schwierigkeiten, vielleicht wird er misshandelt“, erwog der Gelehrte. „Er hat mir mitgeteilt, dass er mit seiner Mutter vor irgendjemandem geflohen ist.“
„Und vor wem?“
„Das habe ich leider nicht herausbekommen. Er spricht kaum, sagt fast nur ja und nein.“
Warum hatte Dr. Wilkinson Bedenken gehabt, den Jungen nicht gleich zur Polizei zu bringen?, überlegte Tobias. Doch in diesem Moment war es vorbei mit der Zurückhaltung seines Mitbewohners. Leidenschaftlich brach es aus ihm heraus:
„Wir müssen herausfinden, wer die Karte in unseren Briefkasten geworfen hat. Derjenige war noch vor der Post bei uns, denn die Briefe lagen auf dem Foto. Also, schon vor zwölf Uhr.“
Tobias dachte nach. Hatte Dr. Wilkinson recht? Steckte der Junge in Schwierigkeiten? Er schaute genauer in das kleine, entspannte Gesicht. Nirgendwo war ein blauer Fleck zu sehen. Keine Schwellung. Ob er am Körper Spuren von Gewalt hatte? Unmöglich, das jetzt zu erforschen. Tobias überlegte einige Momente. Wenn das Leid nicht auf dem Körper zu erkennen war, dann konnte es immer noch in der Seele verborgen sein. Beunruhigend war auch, dass der Junge kaum ein Wort sprach. Das Einschalten der Polizei oder des Jugendamtes konnte durchaus in einem Martyrium enden. In manchen Familien waren die Väter oder Mütter die größte Gefahr für ihre Zöglinge. Tobias nahm sich noch ein paar Momente Zeit, ehe er sich entschied.
„Also gut: Wir behalten ihn über Nacht bei uns“, sagte er dann. „Wir können ja morgen noch einmal zum Spielplatz gehen und fragen, ob jemand den Jungen dort schon früher gesehen hat. Vielleicht erkennt ihn jemand.“
3
Sie waren am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück aufgebrochen und hatten den Spielplatz bald erreicht. Schweigsam trottete der Junge hinter den beiden Erwachsenen her. Er war tatsächlich sehr still. Außer ja oder nein hatte Tobias an diesem Morgen kein Wort von ihm gehört. Auf die Frage wie sein Name war, hatte er nur weggeschaut. Es war ihm ein Rätsel, wie Dr. Wilkinson aus ihm herausbekommen hatte, dass er mit seiner Mutter vor wem auch immer geflohen war.
Auf dem Spielplatz waren nur zwei kleine Mädchen mit ihren Müttern zu sehen. Doch sie kannten weder den Jungen noch konnten sie sonst in irgendeiner Weise weiterhelfen. Enttäuscht ließen sich Tobias und sein Mitbewohner auf einer Bank in der Sonne nieder. Gerade wollte er mit Dr. Wilkinson den gestrigen Nachmittag noch einmal durchgehen, da klingelte sein Handy. Tobias hatte eine SMS von Yvonne erhalten, die er nun beantwortete. Währenddessen begann Dr. Wilkinson, den großen Spielplatz mit den Augen zu erkunden. Es war heute ziemlich leer hier, fand er. Nur ein paar Meter entfernt vergnügten sich die beiden kleinen Mädchen beim Schaukeln.
Da näherten sich plötzlich drei ältere Jungen. Sie mochten um die fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein. Eine übertriebene Heiterkeit ging von ihnen aus. Der Größte von ihnen sah aus wie ein Riesenbaby: bestimmt einsneunzig groß und ziemlich dick. Er trug ein schwarzes Käppi mit einem Totenkopf auf der Vorderseite. Aus dem Hemdkragen quoll ein ziemlich dicker Hals mit einem eiförmigen Kopf hervor. Über dem Gürtel seiner Hose waberte ein stolzer Rettungsring.
Das Riesenbaby setzte sich auf einen der vier Sitze des Kinderkarussells. Dort wippte er auf dem viel zu kleinen Karussellsitz hoch und runter. Plötzlich gab es ein knackendes Geräusch, als ob etwas gebrochen wäre. Er versuchte, das Karussell zu drehen, doch dieses gab nur noch einen kreischenden Laut von sich. Der Dicke freute sich immens darüber.
„Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist heute leider abgelaufen“, grölte er lachend. Seine Kumpels johlten.
Dann ging er zu den Kindern an der Schaukel.
„Darf ich auch mal?“ Seine Stimme klang spöttisch und forderte ein Ja.
Das kleine Mädchen auf der Schaukel mochte um die fünf oder sechs Jahre alt sein und sah den riesigen Jungen mit großen Augen an. Doch sie schwieg. Auch das andere kleine Mädchen, das ihr hin und wieder noch einen Schubs gab, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich waren ihre Mamas in der Nähe, auch wenn diese im Moment in ein Gespräch vertieft waren und nichts mitbekamen.
„Ich geb dir mal richtig Anschwung“, meinte der Dicke jetzt, dem die Gelassenheit der beiden nicht gefiel.
Er drängte die Kleine hinter der Schaukel beiseite und gab dem anderen Mädchen einen kräftigen Schubs. Diese fing sofort an, hektisch zu zappeln und ängstlich zu schreien.
Die beiden Mütter schreckten aus ihrem Gespräch auf, doch Dr. Wilkinson war schneller. Er war bereits aufgesprungen und rannte auf die Schaukel zu. Tobias blickte ihm nervös hinterher. Das Wort „Ärger“ summte durch seinen Kopf. Deshalb stand er ebenfalls auf und eilte hinter seinem Mitbewohner her.
„Lass das Kind in Ruhe!“, schrie Dr. Wilkinson.
Er war immer noch einige Meter von den Jugendlichen weg. Der Dicke hörte abrupt auf, das kleine Mädchen zu traktieren. Auch die beiden Mütter kamen nun heran.
„Ich hab dem Kind nur Anschwung geben wollen“, sagte der Kerl trotzig. Doch er fügte sogleich hinzu: „Was geht Sie das überhaupt an? Das ist ein Kinderspielplatz und nichts für alte Gammler wie Sie.“
Mit neuem Selbstbewusstsein ging der Dicke auf Dr. Wilkinson zu, der kurz vor ihm stehen blieb. Obwohl er einen halben Kopf kleiner war und höchstens die Hälfte wog, setzte er empört zu einer strengen Zurechtweisung an. Da schubste ihn das Riesenbaby mit seinem dicken Bauch, sodass er in den Sand vor ihm fiel. Die beiden Mütter, die sich um ihre Töchter kümmerten, aber das Geschehen aus den Augenwinkeln beobachtet hatten, schrien entsetzt auf. Auch Tobias beschleunigte seine Schritte, denn sein Mitbewohner konnte sehr impulsiv und wütend werden. Dr. Wilkinson stand inzwischen wieder, riss seine Brille herunter und steckte sie in die Tasche. Dann ballte er seine Hände zu Fäusten und schrie den immer noch grinsenden Jungen an:
„Das ist ja wohl der Gipfel! Eine bodenlose Frechheit! Das kleine Kind traktieren und mich angreifen.“
Mit seiner rechten Hand holte er weit aus. Da ergriff Tobias seinen Oberarm und versuchte, ihn zu beruhigen:
„Das war doch alles nicht so schlimm, Dr. Wilkinson, ein blöder Jungenstreich. Es ist doch nichts passiert.“
Doch dieser ließ sich nicht beruhigen. Er krempelte sich seine Ärmel hoch und spannte seine kleinen Muskeln an.
„Ich werde ihm sein winziges Mückengehirn etwas durchkneten“, schnaufte der Gelehrte. Er versuchte erneut, mit dem rechten Arm auszuholen, was Tobias verhinderte, indem er seinen Körper gegen den Arm presste. Sein Mitbewohner tobte weiter:
„Lassen sie mich los! Der Dicke kriegt jetzt eine Abreibung.“
Sofort legte Tobias fest einen Arm um Dr. Wilkinson und hinderte ihn daran, auf den Jungen loszugehen.
„Das lohnt doch gar nicht die Mühe, so ein Riesenbaby durchzukneten, Dr. Wilkinson“, redete Tobias weiter auf seinen Schutzbefohlenen ein.
„Hä?“, mischte sich der Dicke ein. Seine Stimme wurde lauter: „Ihr habt’s gehört. Der Typ hat mich beleidigt. Das nehmen Sie zurück oder es wird Ihnen leid tun.“
Tobias schüttelte leicht den Kopf in Richtung des Gelehrten und schob ihn sicherheitshalber behutsam hinter sich. Dann drehte er sich langsam um und blickte den großen Jungen an. Der grinste Tobias herausfordernd an. Furchtlos trat er nun so dicht an ihn heran, dass er ihn fast berührte. Doch als er diesmal Luft holte, um Tobias mit dem Bauch wegzudrücken, machte dieser einen kleinen, raschen Schritt zur Seite. Mit einer anschließenden rasanten Drehung verpasste er stattdessen dem Jungen einen Stoß mit seinem Ellenbogen. Der Dicke musste einen Schritt nach vorne machen. Tobias nutzte die Gelegenheit, ihm ein Bein zu stellen, was ihn zusätzlich ins Stolpern brachte. Er fiel zwar nicht hin, doch sein Selbstvertrauen hatte einen Riss bekommen.
„Ich habe heute leider keine Zeit mehr für dich“, sagte Tobias betont gleichgültig. „Deshalb schlage ich vor, dass wir alles Weitere auf Morgen vertagen, zum Beispiel ,Luftballons aufpusten’. Wer schneller ist, der hat gewonnen.“
„Die sind ja verrückt“, sagte der Dicke verächtlich zu seinen Kumpels und setzte eine wichtigtuerische Miene auf. „Kommt, lasst uns gehen!“
Nörgelnd und grummelnd verließen die Jugendlichen den plötzlich so gefährlich gewordenen Kinderspielplatz.
Tobias sah zu den beiden kleinen Mädchen hinüber. Zusammen mit ihren Müttern, die dankbar in seine Richtung winkten, standen sie immer noch an der Schaukel. Tobias nickte lächelnd zurück. Er sah noch, wie die beiden jungen Frauen ihre Töchter an die Hand nahmen und energisch mit sich wegzogen. Dann glitt sein Blick zu seinem Mitbewohner, dessen Aufmerksamkeit längst von etwas Neuem gefesselt wurde.