Guatemala - Der weite Weg ins Licht - Günter-Christian Möller - E-Book

Guatemala - Der weite Weg ins Licht E-Book

Günter-Christian Möller

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Beschreibung

Guatemala Der fünfzehnjährige Marco erwacht in einem winzigen Schuppen, in dem er gefangen gehalten wird. Als er entsetzt merkt, dass das Wasser nach einem starken Regenguss sein kleines Gefängnis mehr und mehr überflutet, gelingt es ihm trotz starker Übelkeit, von dort zu fliehen. Sogar einen Hochspannungszaun kann er durch einen glücklichen Zufall überwinden. Seine Flucht bleibt allerdings nicht unbemerkt und die Verfolger versuchen mit allen Mitteln, ihn wieder in ihre Hände zu bekommen. Als ihm schon Hunde auf den Fersen sind und er droht, in einem See zu ertrinken, wird er von Carla und ihrem Großvater gerettet. Er kann sich weder an seinen Namen, noch an seine Vergangenheit erinnern. Offensichtlich wurde sein Gedächtnis manipuliert, denn die Farm, auf der er gefangen gehalten wurde, hat den Ruf, dass die Gefangenen dort gefoltert und mit Medikamenten gefügig gemacht werden. Sie gehört einem reichen Landbesitzer, der vor nichts zurückzuschrecken scheint. Denn bald darauf wird auch Carlas Großmutter entführt, und kurz danach der Großvater verwundet. Plötzlich sind die beiden Jugendlichen auf sich allein gestellt. Zwei Jugendliche, die fortan gnadenlos gejagt werden, versuchen, ihre Familien zu finden. Ein schwieriges Vorhaben in einem Land, in dem Geld mehr bedeutet als Recht, und in dem der Schatten der Folter selbst die Kinder bedroht. Die Flucht führt sie schließlich über die Grenze nach Mexiko. Doch selbst dort ist ihre Reise noch nicht zu Ende, denn ein Familiengeheimnis, bei dem es um viel Geld geht, bedroht Marcos Leben. Eine Gratwanderung zwischen Liebe, Tränen, Verzweiflung und Glück.

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Seitenzahl: 361

Veröffentlichungsjahr: 2013

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www.tredition.de

Günter-Christian Möller

Guatemala – Der weite Weg ins Licht

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© 2013 Günter-Christian Möller guenter-christian-moeller.de

Illustration Günter-Christian Möller

Lektorat: Astrid Pfister

Verlag: tredition GmbH, Hamburg ISBN: 978-3-8495-7231-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

Für Mia

1

Der Jeep bremste und hielt abrupt an.

Es regnete in Strömen und der Fahrer schimpfte: „Verflucht, man kann ja keine fünf Meter weit sehen. Um ein Haar wäre ich in den verdammten Schuppen hineingefahren.“

Der Fahrer schaute misstrauisch durch die Frontscheibe des Jeeps, auf der zwei Scheibenwischer vergeblich gegen die Sintflut ankämpften, mit der der Himmel über das Fahrzeug herfiel. Nur ein paar Meter vor dem Fahrzeug waren im Scheinwerferlicht die Konturen eines kleinen Schuppens zu erkennen. Die Frau auf dem Beifahrersitz schimpfte ebenfalls.

„Fahr gefälligst nur so schnell, wie es deine Augen dir gestatten, Jeff. Bei dem Regen so zu rasen, das ist schon ziemlich schwachsinnig.“

Der Mann sah das allerdings ganz anders.

„Ich bin ein erstklassiger Autofahrer. Deshalb rase ich auch nicht. Niemals. Im Gegensatz zu dir übrigens, denn du hast den anderen Jeep letzte Woche zu Schrott gefahren, und da hat es nicht einmal geregnet.“

„Sei doch froh, dass der jetzt hinüber ist. So kann er deinen Leuten nicht mehr gefährlich werden. Außerdem war dieser Unfall geplant, wie du selber wissen solltest.“

„Das ist Unsinn. Der Unfall war zwar geplant, aber deine miserable Ausführung dieser Tat hätte uns beinahe um etliche Millionen Dollar gebracht. Du verfügst im Gegensatz zu mir eben nicht über gute motorische Fähigkeiten. Ich bin Arzt, habe Gefühl in meinen Händen und Fingern, während du Rechtsanwältin bist und dein Gehirn sich nur noch darauf beschränkt, die Menschen mit Worten an der Wand festzunageln. Du solltest etwas mehr für deinen Körper tun! Sport treiben, Tennis spielen zum Beispiel.“

Die Frau hatte tatsächlich eine etwas fülligere Figur. Sie bedachte den Vorschlag des Fahrers allerdings mit keinem Wort, sondern fing an, die beruflichen Fähigkeiten des Mediziners anzuzweifeln: „Ha, du und ein Arzt Jeffrey! Alle deine Patienten sind bisher gestorben, nachdem sie deine Medikamente bekommen haben. Wem hast du eigentlich den Eid des Hippokrates geschworen?“

„Ich bin eben nicht nur Arzt, sondern auch ein Wissenschaftler. Ich teste Medikamente an Menschen in extremen psychischen Situationen.“

„Ach, das ist also die moderne Beschreibung für Folter? Du bist ein Experte darin, den Lebenden beim langsamen Sterben mit viel Schmerzen behilflich zu sein, auch wenn sie es gar nicht wollen.

Jeff, wenn ich krank wäre, würde ich bis ans Ende der Welt fliehen, um vor deinen Therapieversuchen in Sicherheit zu sein.“

Der Mann schüttelte den Kopf und sagte verbittert: „Mit meinen ärztlichen Maßnahmen ist alles in Ordnung. Sie erfüllen ihren Zweck. Außerdem ist mit meinen Medikamenten ebenfalls alles in bester Ordnung. Nur die verdammten Patienten kommen mit den Dosierungen noch nicht zurecht. So, und nun lass uns endlich aussteigen. Ramon sagte, dass es dem Jungen schlecht geht. Und wenn selbst dem etwas auffällt, dann muss schon was dran sein.“

Der Arzt nahm seine Tasche vom Rücksitz und öffnete die kleine Fahrertür. Sofort schlug ihm kräftiger Regen entgegen. Nach ein paar Sekunden klebte sein Haar auf seinem Kopf und die Gläser seiner Brille waren völlig beschlagen. Seine Lederjacke nützte ihm nicht viel, denn seine Hose war ebenfalls nach ein paar Sekunden klitschnass. Er lief die paar Meter vom Jeep zu dem Gebäude, doch er tappte von einer Pfütze in die nächste. Als er an der kleinen Hütte ankam, waren seine Schuhe und Socken vollkommen durchnässt. Nun stellte er fest, dass er nicht genug sehen konnte, um das Schloss zu finden. Die letzte Laterne am Weg spendete zwar etwas Licht, wegen der beschlagenen Brille konnte er allerdings fast nichts mehr sehen. Er öffnete seine kleine Tasche und suchte nach seiner Taschenlampe.

Plötzlich erschien ein riesiger Schatten neben ihm. Der Mann war zwar recht groß und hager, doch die Gestalt neben ihm war nahezu genauso groß wie er. Der Schein trog, denn die Person war in Wirklichkeit eine Frau und trug einen Poncho, der über eine riesige Kapuze verfügte. Streben sorgten dafür, dass sowohl der Poncho, als auch die Kapuze nach vorne und zu den Seiten hin abstand. Es schien so, als ob ein riesiger Vampir neben dem Mann stehen würde. Nur das Gezeter ließ darauf schließen, dass die Gestalt neben dem Mann menschlichen Ursprungs war.

„Die Tür ist offen, Jeff, du brauchst keinen Schlüssel suchen.“

Der Mann tastete mit den Fingern an der Tür herum und stellte fest, dass die Frau recht hatte.

„Verdammt, es stimmt. Ich werde mal ein Wörtchen mit Ramon reden müssen. Es fehlt nur noch, dass der Junge jetzt abgehauen ist.“

„Falls er weg ist, dann solltest du Ramon ein paar von deinen Medikamenten geben, du Trottel. Und dir danach einen besseren Aufseher suchen.“

Der Mann tastete in der Hütte vergeblich nach dem Lichtschalter. Die Frau hatte die Tür hinter ihnen geschlossen. Nun konnte der Mann noch weniger sehen, denn nur ein winziges Fenster spendete etwas Licht, das von der Laterne draußen stammte.

„Alles muss man hier selber machen“, nörgelte die Frau und knipste das Licht an, denn ihre Augen kamen problemlos mit der tiefen Dunkelheit zurecht, wie es sich normalerweise eher für einen Vampir gehörte.

„Gott sei Dank, er ist noch da“, sagte der Mann erleichtert, denn auf einer kleinen Pritsche lag eine Gestalt, dessen Körper von einer Decke verhüllt wurde.

Nun stellte er seine Tasche auf einen kleinen Tisch in dem winzigen Raum. Die Hütte war kaum acht Quadratmeter groß. Der Mann griff nach der Decke und schlug sie zurück. Der Atem des Jungen ging schnell und zeitweise röchelnd. Der Mann betrachtete das Wesen oberflächlich und setzte sich auf einen kleinen Schemel neben der Pritsche. Er holte ein trockenes Tuch aus seiner Lederjacke und putzte zunächst intensiv seine Brille. Mit einem anderen Tuch aus seiner Tasche trocknete er sein Gesicht, dann öffnete er das Hemd des Jungen. Die Haut am Bauch war stark gerötet. Er schob das Hemd an einem Arm empor und sah dort ebenfalls die gleiche Rötung.

„Eine allergische Reaktion. Das habe ich befürchtet.“

„Und wann ist er hinüber?“, fragte die Frau hoffnungsvoll.

„Das dauert noch. Zum Glück, denn sonst haben gar nichts von ihm. Eins nach dem anderen. Erst müssen wir sicherstellen, dass er sich an nichts mehr erinnert, dann können wir anfangen, ihn zu malträtieren. Du weißt doch hoffentlich noch, wie wir vorgehen müssen? Und wenn er anfängt, in seiner Vergangenheit herumzustöbern, ist es Zeit, ihn sterben zu lassen, aber jetzt, so kurze Zeit nach dem Unfall ist es – gelinde gesagt – unpassend.“

„Mir geht das alles nicht schnell genug. Ich würde dem kleinen Idioten am liebsten gleich hier und jetzt sein hübsches Genick brechen.“ Die Frau machte eine unmissverständliche Geste mit ihren beiden Händen.

Der Mann griff sich an den Hals und drehte ihn kurz hin und her, nur um sicherzustellen, dass dieses Körperteil noch seine Funktion erfüllte und von seiner Begleiterin nicht zerlegt worden war. Die Frau griff unterdessen an ihre Kapuze und riss sie mit einer raschen Bewegung herunter. Dabei fielen einige Tropfen auf ihre buschigen männlichen Augenbrauen. Eine der beiden künstlichen weiblichen Augenwimpern erschrak sich offenbar darüber so sehr, dass sie abfiel. Die Frau hatte es bemerkt und statt das Ding aufzuheben, trat sie verärgert und wütend mit dem Fuß darauf.

„Das verfluchte Ding erfüllt sowieso nie seinen Zweck“, schimpfte die holde Maid.

Der ärztliche Gentleman versuchte, sie zu trösten. „Auch dich wird bald ein süßer Prinz mit Geschenken überhäufen.“ Sie warf dem Mann einen ungläubigen Blick zu.

Heimlich jedoch dachte der Prophet dieses unwahrscheinlichen Liebesabenteuers, dass es nur mit dem Teufel zugehen könnte, wenn dies wirklich geschähe. Denn als die Frau sich wieder vollkommen aufrichtete, wurden über der Oberlippe dieses bezaubernden Wesens einige weitere männliche Haare sichtbar. Sie strich sich mit der Hand über die Lippen und den darüber entstehenden Bart.

Als der Arzt sah, dass die Haare nach dieser männlichen Geste nicht größer geworden waren, fühlte er sich etwas sicherer und griff in seine Arzttasche. Er nahm eine Ampulle und eine Spritze heraus. Nachdem er die Spritze mit der Flüssigkeit gefüllt hatte, krempelte er einen Ärmel des Jungen hoch und suchte eine geeignete Stelle am Arm. Langsam führte er die Spitze der Nadel unter die Haut. Als er dem Jungen die Dosis verabreicht hatte, die ihm geeignet erschien, schaute er auf die Uhr und kontrollierte mit den Fingern einer Hand seinen Puls. Der Vampir schlich mittlerweile in dem kleinen Raum mit der Energie eines Tigers hin und her.

„Ich kann dir etwas gegen die Überproduktion von Testosteron geben. Was meinst du? Wäre das was für dich?“

„Ich habe keine Hormonstörungen, Jeff! Wann kommt das endlich in deinem verdammten Kopf an!“, schrie die Frau.

„Schrei nicht so. Du störst meine Pulsmessung“, erwiderte der Mann leise.

„Du gehst mir auf den Wecker mit deiner ewigen Quacksalberei, Jeff.“

Der Mann wartete ein paar Minuten, dann packte er seine Sachen wieder in die Tasche und stand auf. „Er stabilisiert sich. Lass uns von hier verschwinden.“

Doch beim Verlassen der Hütte tauchte das nächste Problem auf.

„Wo mag nur das dumme Schloss sein. Hast du es gesehen?“

„Frag Ramon, nicht mich. Ich hab hier drinnen kein Schloss gesehen“, entgegnete die Frau genervt.

„Wir können die Hütte nicht einfach offen lassen. Ist dir das nicht klar?“

„Sieh zu, wie du damit fertig wirst, Jeff. Ich warte im Jeep auf dich“, erklang es von der weiblichen Stimme.

Verdammtes nichtsnutziges Frauenzimmer, dachte er und sah dem verschwindenden Vampir hinterher. Er schaute sich noch einmal gründlich im Zimmer um. Er fand einen alten rostigen Nagel am Boden liegend. Er probierte, ob er draußen durch die Öse des Verschlussmechanismus passte. Es ging. Nur der Nagelkopf passte nicht durch die Öse. Zufrieden schloss er die Tür und steckte den Nagel hindurch. Er rüttelte vorsichtshalber noch einmal an der Tür. Es hielt. Na, vorläufig konnte der Junge nicht weg. Und Ramon würde er nun erst einmal kräftig seine Meinung sagen. Kaum hatte er diesen Gedankengang vollendet, fiel ihm ein, dass er in seiner Tasche extra eine kleine Flasche zum Trinken mitgebracht hatte. Wenn der Patient erwachte und Durst bekam, musste er auch weiterhin das Medikament bekommen. Leider hatte er es nicht in die Flasche hineingegeben. Und nun war seine Brille erneut völlig beschlagen. Er öffnete die Tür und brachte die Flasche zum kleinen Tisch. Er würde eben morgen in aller Frühe noch einmal herkommen müssen. Jetzt hatte er keine Lust mehr, seine Brille zu säubern, das Medikament herauszusuchen und abzufüllen.

Der Junge saß im Auto und sah, dass sich vor ihm auf den Sitzen zwei Frauen befanden. Sie sagten irgendetwas, doch er konnte sie nicht verstehen. Der Wagen fuhr durch eine enge Kurve und plötzlich lag ein Baumstamm auf dem Weg. Der Wagen bremste, fuhr zur Seite und verließ die Fahrbahn. Durch Dickicht und Büsche rollte er einen Abhang hinunter. Unten war Wasser zu sehen. Es kam auf den Jungen zu. Er wollte die Tür öffnen, aber es ging nicht. Dann fiel der Wagen auf die Seite und es wurde dunkel.

Er merkte, dass er nur geträumt hatte und langsam aufwachte. Ihm war übel.

Er öffnete die Augen und erbrach sich. Erschöpft lehnte er sich zurück und wartete. Ihm war immer noch übel. Ein zweites Mal musste er sich übergeben, doch nur gelber Schleim verließ seinen Schlund. Was war nur los? Wieder fiel er zurück auf sein Lager und schnaufte. Nach ein paar Minuten ging es erneut mit der Übelkeit los und bald darauf musste er sich ein weiteres Mal erbrechen. Dann schien es mit dem Brechreiz endlich besser zu werden. Er schaute sich um. Holzwände umgaben ihn. Nicht ein einziges Fenster existierte hier. Nur ein Türrahmen war zu sehen, ein winziger Tisch mit einem Schemel stand neben der Pritsche, auf der er lag. Und über ihm gab es nur das Dach mit dem merkwürdigen Trommelgeräusch. Er schaute wieder zu der Tür hinüber und stellte fest, dass dort am Boden eine kleine Wasserpfütze war. Von Minute zu Minute wurde sie größer. Merkwürdig, dachte er. Wo war er hier überhaupt? Er hatte von einem Unfall geträumt und lag hier in einem Schuppen, soviel stand fest. Dann wurde ihm wieder übel. Nach der nächsten Brechattacke überlegte er, was er wohl machen sollte. Es gab niemanden, den er um Hilfe bitten konnte. Er blickte aus dem Bett zur Tür und stellte fest, dass jetzt schon die Hälfte des Bodens vom Wasser überschwemmt war. Er bekam Panik und wollte aufstehen, aber sofort wurde ihm schwarz vor Augen und er fiel auf die Pritsche zurück. Etwas später spürte er, dass er Durst hatte. Er hatte eine Flasche auf dem Schemel gesehen. Er richtete sich auf und griff danach. Der Verschluss war schnell geöffnet und er nahm einen kleinen Schluck. Herrliches mildes Wasser; hastig nahm er einen großen Schluck und etwas später trank er fast die ganze Flasche aus. Er stellte sie auf den Schemel und sackte auf die Pritsche zurück. Bald darauf wurde er müde und schlief schließlich ein.

Etwas Feuchtes leckte an seiner Hand. Müde öffnete er die Augen. Seine Augen blickten auf eine dunkle matte Oberfläche. Er bewegte die Finger. Es plätscherte. Das konnte nicht sein! Wasser direkt an seinen Fingern. Als er eingeschlafen war, hatte es doch nur eine große Pfütze in dem Raum gegeben. Er hob den anderen Arm und führte die Hand ebenfalls dorthin. Es war feucht. Das Wasser stand dicht unter der Liegefläche der Pritsche. Nun packte ihn das Entsetzen. Er zog die Beine an und setzte sich auf. Dann schaute er sich genauer um. Er sah die Konturen des Tisches, des Schemels, der Flasche und den Spalt an der Tür. Vielleicht war die Tür offen und er konnte hinaus? Er setzte erst einen Fuß ins Wasser und dann den anderen. Vorsichtig watete er die anderthalb Meter zur Tür. Er drückte dagegen und stellte fest, dass er sie nicht öffnen konnte.

Verdammt, dachte er, wenn ich sie nicht öffnen kann, dann werde ich hier ertrinken.

Er drückte fester und schließlich mit aller Macht. Nichts konnte die Tür von der Stelle bewegen. Er zog und sie bewegte sich ein bisschen, bis sie an den Rahmen stieß. Sie ging nach außen auf. Verdammt, dachte er. Vielleicht fand er ein Werkzeug. Er fing an, in dem Raum nach Gegenständen zu forschen. Er spürte etwas auf der Oberfläche des Wassers. Es war ein Schuh. Er legte ihn auf die Pritsche und suchte weiter mit den Händen, bis er den zweiten Schuh fand. Er kehrte zu der Pritsche zurück und beschloss nachzudenken.

Die Schuhe passten tatsächlich. Jemand hatte ihn hier eingesperrt. Warum sperrt mich jemand ein? Wer mochte das wohl tun? Als seine Gedanken vergeblich nach einer Antwort suchten, verfiel er in ohnmächtige Reglosigkeit, bis er mit einem Mal spürte, dass sein Hintern auf der Pritsche nass wurde. Hilflos stand er auf, ging zur Tür und fing nun mit dem Abtasten der Wände an. Er fand eine Stromleitung und verfolgte sie. Sie führte zu dem Gehäuse eines Lichtschalters. Er drückte auf den Schalter und wurde von einer überwältigenden Helligkeit geblendet. Allmählich gewöhnten sich die Augen an das Licht und er begann den Raum erneut nach einem Gegenstand abzusuchen, der ihm den Weg nach draußen öffnen konnte. Nichts.

Schließlich lehnte er sich voller Verzweiflung an eine Wand und schaute zur Decke, die er sowieso nicht erreichen könnte. Keine Luke war dort sichtbar, nur ein Gewölbe, das von Blechplatten bedeckt war. Als er nach unten blickte, fing erst der Schemel und kurz darauf die Pritsche an sich zu bewegen. Kopfschüttelnd dachte er, dass er jetzt ein Boot hätte. Doch als er sich darauf setzte, ging das Boot leider unter. Irgendwann kam er auf die Idee, den Schemel auf die Pritsche zu stellen und sich darauf zu setzen. Bevor der Tisch aufschwamm, stellte er diesen ebenfalls auf die Liege und konnte von dort die Blechplatten des Daches berühren. Die rührten sich leider nicht von der Stelle, als er dagegen drückte. Schließlich holte er den Tisch von der Pritsche herunter und ließ sich darauf nieder. Nun sah er, wie die Pritsche langsam gegen die Tür trieb.

Da bekam er die Idee, dass man die Tür ja mit der Pritsche rammen könnte. Er wusste nicht warum, aber als die Tür nach dem sechsten Rammversuch nicht nachgab, wollte er aufgeben. Vielleicht war es besser, um Hilfe zu rufen.

Statt es zu tun, schaute er sich die Tür noch ein letztes Mal genau an. Diesmal konnte er einen Nagel durch den Schlitz erkennen. Das Wasser hatte fast die Unterseite des Nagels erreicht und das reflektierte Licht auf der Oberfläche des Wassers entschlüsselte das Rätsel dieser Tür. Nun verstand er, welcher Mechanismus ihn hier gefangen hielt. Ein dünner Stock würde ihn retten können. Er schaute in der Hütte umher und sah einige treibende Gegenstände auf dem Wasser. Schließlich war wieder die Pritsche das interessanteste Instrument, das Erfolg versprach bei der Suche nach einem kurzen Stock. Ein Stückchen Holz hatte sich auf der Seite gelöst, mit der er die Tür gerammt hatte. Er brach es ab und siehe da, es passte gerade eben durch den Türspalt. Nach einer Minute des Probierens hatte er den Nagel bis zur Öse hochgeschoben. Ein letzter, kurzer Impuls und er sprang oben aus seiner Halterung. Dann verschwand er in dem dunklen feuchten Element, das ihn hier bedrohte. Ganz langsam schob er die Tür auf und ein unbändiges Gefühl der Freude breitete sich in seinem Kopf aus.

Als er sich umschaute, sah er das helle Licht der Hütte immer noch brennen. Er wusste nicht, warum, aber er wandte sich ein letztes Mal um und watete die paar Meter zurück. Dann erlosch das Licht, das ihm den Weg in die Freiheit geebnet hatte.

Er ging zu der Laterne, die das Licht gespendet hatte, bevor er den Schalter in der Hütte gefunden hatte. Schnell stellte er fest, dass das Wasser dort langsam tiefer wurde. Als ihn erneut der Mut zu verlassen drohte, da er nicht wusste, wohin er sich wenden sollte, hörte er hinter sich in der Ferne eine Ziege meckern. Und als er sich umwandte, sah er in einigen Dutzend Metern Entfernung eine Öffnung im Wald. Das Meckern der Ziege kam dorther. Er ging in die Richtung und schnell wurde die Wasserhöhe niedriger. Schließlich reichte sie ihm nur noch bis zu den Knien. Ein Busch ragte vor ihm aus dem Wasser.

Da hörte er hinter sich plötzlich ein Plätschern und Stimmen.

„Wir sind gleich da, Ramon. Ob wir eine Minute früher da sind oder nicht, was macht das schon? Also hör auf, so zu hetzen.“

„Der Chef ist sauer, weil ich die Tür nicht abgeschlossen habe. Wenn der Junge jetzt tot ist, dann springt er im Dreieck. Und ich kriege das alles ab, Gustavo.“

„Wir können doch nichts für dieses verdammte Unwetter. Und woher sollten wir wissen, dass man nur noch mit einem Boot hierher kommt. Wenn die Bosse wollen, dass dem Jungen nichts passiert, dann müssen sie ihn eben näher an den Wohnhäusern unterbringen.“

„Das ist ja alles richtig, Gustavo, aber er sollte mit niemandem Kontakt haben außer mit mir und ruhig und entlegen eingesperrt werden. So waren nun einmal die Regeln.“

Der Junge hatte sich gerade bemerkbar machen wollen, doch dieser Dialog hielt ihn davon ab, die beiden um Hilfe zu bitten. Besonders der letzte Satz verriet ihm, dass er eingesperrt bleiben sollte. Die beiden Paddler in ihrem kleinen Boot hatten die Hütte erreicht und plötzlich ging das Licht an.

„Verdammt, er ist abgehauen, Gustavo!“

„So? Na, dann lass uns zurückpaddeln, dann erfährt der Boss, dass sein Lieblingsgefangener abgehauen ist.“

„Wir müssen nach ihm suchen, Gustavo, sonst bringt mich der Boss um!“

„Ohne mich. Es regnet zwar nicht mehr so stark, aber ich bin trotzdem pitschnass. Unser Auftrag war es, ihn aus seiner Hütte zu holen. Jetzt ist er weg und der Boss soll selber sehen, wie er den Jungen zurück bekommt.“

Sein Gesprächspartner schwieg zunächst. Stattdessen suchte er mit einem Lichtstrahl in der Nähe der Hütte nach dem Flüchtling. Irgendwann wanderte der Strahl tatsächlich zu dem Geflohenen, der sich im letzten Moment hinter einem Busch verstecken konnte. Die Ziege meckerte ein weiteres Mal, während die Lampe den Waldrand absuchte.

„Lass den Unsinn, Ramon. Selbst wenn er den Weg bis zu der Ziege geschafft hätte, käme er an den dreifachen Zaun, und der mittlere davon ist mit

Hochspannung gesichert. Da kommt er niemals lebend hinüber. Und die Gerüchteküche sagt, dass er früher oder später sowieso sterben wird. Genauso wie alle anderen Gefangenen hier.“

„Du quatscht zu viel Gustavo.“

Plötzlich gingen die Laternen hinter den beiden Männern mit ihrem Boot aus.

„Verdammt Ramon, was ist das? Das Licht ist aus.“

„Bestimmt ist der Hauptgenerator ausgefallen. Wir haben immer noch die Taschenlampe. Wir müssen hinter der Ziege her. Wahrscheinlich hat der Junge diesen Weg auch genommen. Paddel doch mal auf den Busch dort zu, Gustavo.“

Der Junge erschrak und machte sich so klein wie möglich.

2

Mit einem Mal flackerte das Licht der Taschenlampe, dann wurde es dunkel und jemand fluchte. Kurz darauf vernahm der Junge eine Stimme dicht in seiner Nähe. „In Ordnung, wir kehren um und schauen, was passiert ist. Ohne Taschenlampe können wir ihn sowieso nicht durch den Wald verfolgen.“

Als der Junge das Boot mit den beiden Männern nicht mehr hören konnte, erhob er sich hinter dem Busch und folgte vorsichtig der meckernden Ziege. Nach nicht einmal fünfzig Metern fand er den Weg, der durch den Wald führte.

Obwohl es kräftig regnete, konnte er den Pfad gut erkennen, denn der Mond schimmerte durch einige Wolken. Nach einer Viertelstunde ließ der Regen nach und es begann zu nieseln, deshalb konnte er nur knapp zwei Dutzend Meter weit sehen. Die Ziege hatte ihn gefunden und folgte ihm auf dem Pfad durch den Wald. Die Kleider klebten auf seiner Haut. Nicht ein Stückchen seiner Kleidung und des Körpers schien trocken zu sein. Über seine Augenwimpern rollte ein Tropfen nach dem anderen hinab. Hin und wieder leckte seine Zunge über seine Lippen. Er hatte immer noch Durst. Irgendwann fing er an zu frieren. Es war eigentlich nicht kalt, aber die Kälte zog trotzdem von den Beinen langsam seinen Rücken hinauf.

Nun wurde der allgegenwärtige moderige Waldgeruch durch einen neuen Geruch verdrängt und er blieb stehen. War das der Geruch von verbranntem Holz?

Die Ziege, die ihm gefolgt war, kam langsam näher und meckerte. Schließlich stieß sie ihn mit der Nase an und leckte sogar an seiner Hand. Das blöde Biest wird mich am Ende noch verraten, wenn ich in Gefahr gerate, dachte er. Mit einem Mal erkannte er den Geruch: Es roch nach verbranntem Kunststoff. Wie war es möglich, dass es mitten im Wald nach so etwas roch? Nach fünfzig weiteren Metern kam er an eine Lichtung.

Er gelangte auf einen Weg und erkannte, dass hinter einigen Büschen ein Zaun durchschimmerte. Ob dies der Zaun war, von dem die Männer geredet hatten? Er suchte eine Möglichkeit, zu dem Zaun zu gelangen. Also ging er den Weg entlang und kam nach knapp fünfzig Metern an eine günstige Stelle. Kurz darauf stand er vor einem zwei Meter hohen Maschendrahtzaun, über den drei Reihen mit Stacheldraht gezogen waren. Nach ein paar Versuchen unter dem Zaun hindurch zu gelangen, wurde ihm klar, dass er nur über den obersten Draht auf die andere Seite gelangen konnte. Selbst ganz unten befand sich Stacheldraht, damit niemand unter dem Maschendraht hindurch kam. Und selbst wenn er es hinüberschaffen sollte, lag dahinter ein zweiter Zaun, der noch höher war. Dieser Zaun bestand zwar nicht aus Stacheldraht, zeigte jedoch Isolatoren. Selbst wenn er es bis dorthin schaffen sollte, lauerte dort nur der Tod auf ihn. Was konnte er tun? Er kehrte zum Weg zurück und ging ihn entlang. Dann sah er in einiger Entfernung vor sich dunkle Umrisse. Der Weg schien zu Ende zu sein. Nein, er hatte sich getäuscht, nur ein großer Baum war dort umgestürzt. Der Stamm war gesplittert und es roch stark verbrannt. Er war auf den Weg gefallen und hatte dabei den Stacheldrahtzaun unter sich begraben. Ob der Hochspannungszaun auch niedergerissen war, konnte der Junge nicht erkennen, denn durch die Äste und das Blätterwerk konnte er nicht hindurchsehen. Was sollte er also tun?

Er brach einen kurzen Stock von einem der beschädigten Äste ab und ging näher an den Stacheldrahtzaun heran. Bei dem Nieselregen war das Licht einfach zu schlecht, um durch die Äste des umgefallenen Baumes hindurchzufinden.

Plötzlich hörte er Motorenlärm, der schnell lauter wurde. Ein Motorrad näherte sich ihm auf dem Weg von der anderen Seite des Baumes. Schließlich wurde es langsamer und blieb stehen. Der Lichtstrahl des Scheinwerfers schimmerte durch die Äste und Blätter. Dann wurde der Motor ausgestellt und eine Männerstimme erklang: „Roberto hier. Ich bin am Nordzaun, dort wo der Junge eigentlich sein müsste. Einer der großen Bäume, die wir extra stehen lassen sollten, ist umgestürzt und versperrt den Weg. Was soll ich machen?“

Ängstlich und mit rasendem Herzen verfolgte der Junge, was der Mann sagte. Zunächst schwieg dieser einen Moment, bis er erneut anfing, zu reden: „Mit einem der Pick-ups kommt ihr nicht hierher, der Weg ist völlig überschwemmt. Ich hatte schon Schwierigkeiten mit dem Motorrad am Rand des Weges nicht stecken zubleiben.“

Der Mann machte eine Pause. Er schaltete eine Taschenlampe ein und beleuchtete das Dickicht des Baumes auf seiner Seite.

„Ich habe keine Chance durch den Baum oder am Baum vorbei zu kommen, weder am Zaun entlang noch durch den Wald. Ich bin etwa hundert Meter von der Stelle entfernt, an der der Kerl aus dem Wald kommen wird.“

Hier machte die Stimme des Mannes eine Pause. „Ihr braucht eine Kettensäge, oder am besten zwei. Sonst kommt ihr hier nicht durch. Und die Hunde nützen euch im Moment auch nichts. Wenn ihr sie von der Leine lasst und sie Witterung aufnehmen, dann zerfetzen sie den kleinen Kerl womöglich. Wollt ihr das?“

Wieder trat eine Pause ein. Der Junge sah im Lichtschein der suchenden Taschenlampe auf seiner Seite mit einem Mal eine kleine Öffnung im Geäst des Baumes, durch die er ein Stück des Hochspannungszaunes hinter dem Stacheldraht erkennen konnte.

„Nein, einschalten könnt ihr das Hochspannungsnetz bestimmt nicht. Der Trafo, an dem ich vorbeigekommen bin, qualmte noch. Das ist bestimmt kein gutes Zeichen. Und als ich den Kontrollkasten aufgemacht habe, leuchteten nur die beiden Lampen für Störung. Auch nicht so gut, oder?“

Nach einer weiteren Pause merkte der Mann an, dass er zurückkommen würde, und sie anfangen würden den Jungen bei Tagesanbruch zu suchen. Erleichtert versuchte sich der Junge zu entspannen, doch erst als das Motorengeräusch in der Ferne verschwand, fingen seine Augen wieder neugierig an, in der Dunkelheit nach einem Ausweg zu suchen.

Nach ungefähr einer halben Stunde hörte der Regen von einem auf den anderen Moment auf. Kurz darauf schien der Mond intensiv auf ihn herab. Nun konnte er die Öffnung, die er schon im Schein der Taschenlampe des Motorradfahrers gesehen hatte, im Baumgestrüpp erneut erkennen.

Mit viel Mühe zwängte er sich durch eine Öffnung im Dickicht der Äste und Blätter, dann kletterte er über das erste Gitter. Ein weiterer dicht belaubter Ast verbarg den Blick auf den Hochspannungszaun. Nun stand er vor dieser tödlichen Falle und sah, dass dieses Hindernis von der Krone des Baumes ebenfalls niedergerissen worden war. Auch hier gelang es ihm, durch das Zurückbiegen einiger Zweige und Äste seinen Weg über den gefährlichen Zaun zu finden. Danach befand er sich vor dem dritten Gitter, das noch vollständig intakt war, und genauso beschaffen war, wie der erste Zaun. Er ging ihn entlang und suchte nach einer Schwachstelle.

Plötzlich sah er, wie sich vor ihm eine Schlange durch das Gras schlängelte. Erschrocken blieb er stehen und schaute sich um; die Schlange kroch unter dem Zaun hindurch. Da fiel ihm auf, dass dieser Zaun unten über keinen zusätzlichen Stacheldraht verfügte. Vielleicht gelang es ja, unten an irgendeiner Stelle den Zaun anzuheben? Er versuchte es zunächst mit seinem kleinen Stock und stellte fest, dass er einen längeren benötigte. Er ging zurück zum Baum und suchte dort nach einem geeigneten Ast. Der Junge probierte an über einem Dutzend verschiedenen Stellen, den Zaun mit diesem Ast hochzudrücken, bis er irgendwann endlich eine defekte Befestigungsstelle an einem der Pfähle entdeckte, an der der Zaun tatsächlich unten locker war. Dort gelang es ihm, das Maschennetz fast dreißig Zentimeter hochzudrücken. Nun benötigte er nur noch ein Holzstück, um den Ast zu fixieren. Ein letztes Mal musste er zurück zu dem umgefallenen Baum, um dieses Instrument zu besorgen, danach war der Weg in die Freiheit offen.

Kaum hatte er dieses Hindernis überwunden, als er kurz darauf hinter einigen Büschen einen Abhang entdeckte, der ihm den Blick auf einen nahe gelegenen großen See offenbarte. Auf der anderen Seite sah er eine Ansammlung von Lichtern. Es war eine größere Ortschaft oder sogar eine Stadt. Der Abhang war recht steil an der Stelle, an der er stand. Wenn er beim Abstieg hinfiel, dann stürzte er womöglich weitere zehn oder zwanzig Meter hinunter und brach sich seine Knochen. Er musste sich eine Stelle suchen, an der es nicht so steil hinunterging. Er schlich vorsichtig an der Kante des Abhanges entlang und blickte hinab.

Schließlich gelangte er zu einer Stelle, an der sich ein See gebildet hatte, aus dem ein kleiner Bach seinen Abfluss ins Tal gefunden hatte. Als er hinunterschaute, sah er, dass direkt neben dem Bach ein kleiner schmaler Serpentinenweg hinunterführte. Er beschloss, hier den Abstieg zu wagen. Immer noch hatte er den kleinen Stock dabei. Er glaubte, dass ihm dieser Hindernisse auf dem Weg verraten würde und er so vor Stürzen gefeit wäre. Trotzdem fiel er schon kurze Zeit später hin. Der Boden war einfach zu rutschig. Wütend rieb er sich das Knie, das er sich trotz der Hose aufgeschürft hatte. Sein Herz raste. Besorgt stellte er fest, dass er müde wurde. Diese kleine Niederlage hatte seinen Kampfgeist jedoch noch nicht in die Knie gezwungen.

Er stand unverdrossen wieder auf und sah kurz darauf eine Straße. Freudig wollte er anfangen zu laufen, aber dann überkam ihn schlagartig ein Angstgefühl. Etwas war nicht in Ordnung! Sofort blieb er stehen und hockte sich hin. Die Straße war in Wirklichkeit nur ein Weg, er hatte nicht ein einziges Auto gesehen oder gehört, seitdem er den Abhang hinuntergeschaut hatte. Noch etwas anderes störte ihn, er nahm wieder diesen verbrannten Geruch in der Luft wahr. Es roch wieder nicht nach verbranntem Holz. Er schlich gebückt weiter zu dem Weg und schaute vorsichtig hinter den Büschen hervor. Weit und breit war nichts zu sehen. Ob hier wohl auch ein Blitz in einen Baum eingeschlagen hatte? Er schaute ein zweites Mal hinter den Büschen hervor und wollte schon aufstehen, aber dann sah er, dass kaum achtzig Meter entfernt ein roter Punkt glühte. Was mochte das sein? Er traute sich nicht, aufzustehen. Waren das womöglich rote Augen, von denen er nur eines sah? Vielleicht war dort ein Raubtier. Er war neugierig und ängstlich zugleich. Er blickte sich noch ein drittes Mal um und behielt den roten Punkt länger im Auge. Er war mal heller, mal dunkler, dann verschwand er ganz. Kurz darauf sah der Junge, wie ein gelber Blitz aufleuchtete und erlosch, dann begann das rote Glimmen von Neuem. Da hatte jemand eine Zigarette angezündet! Verdammt sie wollen dich fangen, dachte er. Schließlich sah er im Schein des intensiver werdenden Mondlichts die Konturen eines Autodaches. Jemand hatte dort geschickt seinen Wagen versteckt.

Solange Menschen auf ihn warteten, konnte er die Straße nicht überqueren und steckte fest. Er musste zurück, aber wohin, fragte er sich. Er suchte nach einer anderen Möglichkeit. Nichts fiel ihm ein. Mit einem Mal legte sich ein Wolkenschleier vor den Mond. Er schaute zum Himmel. Eine größere Wolke schob sich langsam vor das Licht. Da fing es erneut an zu regnen. Er blickte den Fahrweg zum Auto entlang und konnte erkennen, dass auf der Bergseite ein schmaler seichter Graben entlanglief, dieser würde etwas Schutz vor den Blicken aus dem verdeckten Auto bieten. Wenn er es schaffte, die ersten zehn Meter zu überwinden, dann kam er an den dort lauernden Männern vorbei, denn der Graben wurde auf der restlichen Strecke von allerlei Buschwerk verdeckt. Hinter dem Auto wäre es sicherlich leichter die Straße zu passieren als an diesem hellen Abschnitt.

Er musste es riskieren, denn er wollte nicht auf die Hunde warten, von denen der Motorradfahrer gesprochen hatte. Gebückt schlich er aus seinem Versteck den Graben entlang. Nichts passierte auf den ersten zehn Metern, dann hatte er die Büsche erreicht. Immer weiter tastete er sich neben der Straße entlang, ständig besorgt nicht zu viel Lärm zu machen. Schließlich ging er sogar auf den Boden hinunter und kroch auf Händen und Knien weiter. Jetzt sah er das Dach des Wagens auf der anderen Seite der Straße, das Fahrerfenster war ein Stückchen heruntergekurbelt. Er konnte Stimmen hören. Niemand schien es dort für nötig zu halten, leise zu sprechen.

„Wieso hat der Chef eigentlich gerade uns hierher geschickt, Ramon?“

„Weil er meint, wir wären schuld daran, dass der Junge jetzt weg ist, Gustavo.“

„Du hast vergessen das Schloss abzuschließen, nicht ich.“

„Halt die Schnauze!“

Der so Gescholtene war mit derartig oberflächlichen Argumenten nicht zu überzeugen, denn kurz darauf kam eine neue Beschwerde. „Roberto hat gesagt, dass der Junge es niemals durch den Zaun schafft. Also, warum stehen wir dann überhaupt hier?“

„Du solltest mal die Zigarette ausmachen, Gustavo. Erstens stinkt sie widerlich und zweitens verrät sie dem Jungen womöglich unser Versteck, falls er es über den Zaun geschafft hat.“

Nun traf den Sprecher ein Rauchschwall und gleich darauf eine neue Frage. „Ich verstehe auch nicht, warum wir ihn nicht einfach abknallen sollen, sondern unbedingt lebend zurückbringen sollen. Der Chef ist doch sonst nicht so zimperlich.“

Ramon seufzte und kurbelte das Fenster weiter nach unten. „Wann fängst du endlich mal an, einen Stoff zu rauchen, der nicht so grässlich stinkt, Gustavo? Es ist eine persönliche Sache, die dem Chef einen Haufen Geld einbringen soll. Das ist sozusagen ein Geschäft. Verstanden?“

„Also wenn ich diesen Idioten sehe, dann wird er meine Pistole kennenlernen, Ramon. So viel Ärger wie der, hat mir bis jetzt keiner gemacht.“

„Gut, Gustavo, dann bist du schon mal vorgemerkt als Versuchskaninchen für eine vierzehntägige Folterkur.“

„So war das nicht gemeint.“ Gustavo machte die Zigarette aus.

Von da an schwieg der kleinlaut gewordene Gustavo und kurz darauf war aus dem Wagen ein leises Schnarchen zu hören. Der Junge entschloss sich, den Graben ein Stückchen weiter entlang zu schleichen. Überall tropfte es von den Blättern der Bäume. Nach fünfzig Metern kam er an eine kleine Brücke, unter der ein weiterer Bach ins Tal hinunterströmte. Er ging unter der Brücke neben dem Bach entlang und fand auf der Talseite einen schmalen Weg, der zum in der Dunkelheit verborgenen See hinunterführte. Doch er musste nach kurzer Zeit anhalten, weil er den Pfad einfach nicht mehr erkennen konnte, es war zu gefährlich bei so wenig Licht weiterzugehen. Deshalb hockte er sich hin und wurde müder und müder. Ohne es zu merkten, war er irgendwann trotz der Kälte gegen einen Baumstamm gelehnt eingeschlafen.

Etwas hatte ihn aufgeweckt. Als er sich umschaute, konnte er die Bäume und Büsche deutlich unterscheiden. Es dämmerte, endlich wurde es Tag. Genauso schnell wie die Freude über diese Erkenntnis stiegen auch andere Gefühle in ihm auf.

Hunde sollten angeblich nach ihm suchen. Man wollte ihn fangen und wieder einsperren oder vielleicht sogar umbringen. Er musste hier schnellstens weg. Doch wohin? Er gähnte und merkte, dass er fror. Seine gesamte Kleidung war immer noch durchnässt. Als er aufstehen wollte, wurde ihm schnell schwindelig. Der Stamm gab ihm Halt, sein Herz fing an zu rasen. Er atmete ein paar Mal tief durch und kam langsam auf die Beine. Vor ihm führte ein schmaler Weg neben einem Bach nach unten. Die Schwärze der Nacht verwandelte sich in graue Konturen, jetzt konnte er wenigstens sehen, wohin er treten musste.

Dann begann er mit dem Abstieg.

Zehn Minuten später mündete der Bach in einen kleinen Teich, in dem sich einige Fische tummelten. Nun spürte er seinen Durst überdeutlich und kniete sich nieder. Mit beiden Händen schöpfte er Wasser und probierte es vorsichtig. Es schmeckte herrlich. Mit dem Löschen seines Durstes kehrte ein bisschen Zuversicht in seinen Geist zurück. Er schlenderte am Teich entlang und fand einen schmalen Pfad, an dessen Ende das Wasser des großen Sees durch die Bäume schimmerte.

Plötzlich hörte er über sich von der Straße her, die er in der Nacht überquert hatte, Autogeräusche. Es hielt ungefähr da, wo der Wagen mit den beiden Männern gestanden hatte. Dann hörte er Hundegebell und sein bis dahin ruhig gehender Puls beschleunigte sich schlagartig. Verdammt, sie werden dich jagen.

Er fing an, zu laufen, und erreichte kurz darauf das Seeufer. Auf der einen Seite verhinderte der Wald weiteres Vordringen, auf der anderen gab es einen vier bis fünf Meter breiten Sandstreifen, auf dem er nun anfing, entlangzulaufen. Er merkte, wie seine Kräfte immer mehr schwanden. Der Wunsch nach Wasser war wieder riesengroß geworden. Er hörte, wie die Hunde umkehrten und zu der Brücke strebten, unter der er nachts die Straße gekreuzt hatte. Sie hatten den Weg am Bach entlang gefunden.

Verdammt, dachte er. Ich muss hier weg.

Er schaute hinaus auf den See. In einiger Entfernung dümpelten dort einige kleine Fischerboote. Eines davon befand in unmittelbarer Nähe, zwei Gestalten saßen darin. Er lief durch das Wasser auf dieses Boot zu, bis er anfangen musste zu schwimmen. Als er keine hundert Meter mehr entfernt war, spürte er, dass seine Kräfte nachließen. Er hatte sich verausgabt, er würde es nicht schaffen! Das Boot wandte sich von ihm ab. Er sah ein letztes Mal auf und spürte einen stechenden Schmerz im Bein. Seine Hände griffen hinunter, konnten das Bein aber nicht erreichen und der Schmerz wurde so übermächtig, dass der Junge nicht mehr atmen konnte. Dann wurde es dunkel um ihn herum und er ging unter.

Sie hatten in der Nacht mit ihrem kleinen Boot höchstens zehn Fische gefangen. Carla holte gerade ein letztes Mal ihr Netz ein und stellte fest, dass es wieder leer war.

„Mach dir nichts daraus, Carla. Morgen haben wir bestimmt mehr Glück“, meinte Miguel.

„Ein bisschen mehr hätte es schon sein können, Großvater. Großmutter wird bestimmt schimpfen“, erwiderte das Mädchen. Miguel war eigentlich nicht ihr Großvater, sondern der Bruder ihres Großvaters, denn ihr richtiger Opa war schon vor langer Zeit verschwunden. Damals hatte Bürgerkrieg im Land geherrscht, und als endlich wieder Frieden gewesen war, verschwanden immer noch Menschen.

„Deine Großmutter wird sich schon damit abfinden. Ich hole nur noch den Anker ein.“ Der alte Mann zog an einem Seil.

In diesem Moment hörten die beiden Bootsinsassen plötzlich Hundegebell vom Abhang, dort, wo sich eine verdeckte Straße befand. Carla und ihr Großvater schauten zu der Stelle, doch nichts war zu erkennen. Der Großvater wandte sich wieder seinem Seil zu, bis er den Anker in der Hand hielt.

„Schau mal Großvater“, sagte das Mädchen und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf eine Gestalt, die am Ufer entlangrannte.

Der alte Mann blickte besorgt auf und sagte: „Lass uns bloß verschwinden. Das ist bestimmt ein Flüchtling von Don Joaquins Farm. Wenn wir dem helfen, sind wir auch dran.“

Das Mädchen war beharrlich und trotzig. „Aber Großvater, wir können ihn doch nicht diesen Leuten überlassen. Wir müssen ihm helfen, vielleicht steckt er in Schwierigkeiten.“

„Unsinn, wir müssen uns in Sicherheit bringen. Wenn sie uns hier sehen, bringen sie uns womöglich auch noch um.“ Der Mann setzte sich auf die Ruderbank und brachte zunächst das eine Ruder aus. Er sah, wie die Gestalt am Ufer ins Wasser lief und auf das Boot zu schwamm. Er war keine hundert Meter mehr entfernt. Der alte Mann brachte das zweite Ruder aus und zog nun beide durchs Wasser, um von dem Flüchtling wegzukommen. Das Mädchen zögerte kurz, dann sprang sie ins Wasser und schwamm auf den Kopf zu.

„Verdammt, Carla. Du bringst uns in höchste Gefahr“, rief ihr der alte Mann zu. Trotzdem wendete er das Boot und fuhr hinter dem Mädchen her.

Die Kräfte des Schwimmers schienen nachzulassen, denn er war schon ein gehöriges Stück ins tiefe Wasser geschwommen. Als der Mann mehrere Ruderschläge gemacht hatte, drehte er sich erneut zu dem Mädchen um. Sie war verschwunden. Die Wasseroberfläche schien sie verschluckt zu haben.

Mit einem Mal tauchte sie heftig atmend neben dem Boot auf. Angestrengt hielt sie den Kopf des Jungen über Wasser und keuchte: „Er ist ohnmächtig geworden und untergegangen. Ich glaube, er atmet nicht mehr.“

Der alte Mann schüttelte den Kopf, hievte den Jungen jedoch ins Boot, während das Mädchen auf der anderen Seite hineinkletterte. Er legte den Körper des Jungen so über die Ruderbank, dass der Kopf tief unten lag, und bearbeitete seinen Brustkorb mit den Händen. Irgendwann schoss endlich Wasser aus dem Mund des Jungen. Ein fürchterliches Husten und Hecheln folgte. Bald darauf saß der alte Mann wieder auf der Ruderbank und beförderte den Kahn mit schnellen Zügen auf den See hinaus. Es war nicht das einzige Boot, das dieses Manöver vollführte. Drei weitere Boote machten sich ebenfalls schleunigst aus dem Staub, um keine Bekanntschaft mit den Menschenjägern von der mysteriösen Farm zu machen. Nach fünf Minuten erschien auch die Hundemeute am Strand. Jemand zog ein Fernglas hervor und schaute auf den großen See hinaus.

„Ich kann nichts mehr erkennen, Ramon, sie sind schon zu weit entfernt.“

„Wir werden schon erfahren, wer in diesen Booten gesessen hat, Gustavo. Verlass dich darauf.“

3

Der Junge fühlte, dass sein Rücken auf einem riesigen Wärmekissen lag. Als er die Augen öffnete, sah er über sich einen dunklen Sternenhimmel. Gegen seinen linken Arm drückte etwas Schweres, er wandte den Kopf und sah neben sich die dunklen Umrisse eines umgestürzten Baumes. Der Mond ließ ihn erkennen, dass der Baum schon seit vielen Jahren dort lag und nicht erst vor ein paar Stunden umgestürzt war. Er besaß keinen Blätterwald mehr. Sogar seine Äste hatte ihm jemand gestohlen, denn wo sie früher einmal gewesen waren, gab es jetzt nur noch leere, teils schwarze Stumpen. Die Hände des Jungen lagen beide auf warmem Sand. Er richtete seinen Oberkörper auf und hörte in weiter Ferne laute Musik und hin und wieder eine aufgeregte Stimme aus einem Lautsprecher. Er sah auf die silbern schimmernde Wasserfläche, die ihn von dem Fest trennte. Über dem Glitzern der Lichter tobte der Lärm.

Nun erinnerte er sich wieder an das, was geschehen war. Jemand war auf ihn zu geschwommen, als er einen Krampf im Bein bekommen hatte. Die Leute aus dem Boot mussten ihn gerettet haben. Ob sie noch hier in der Nähe waren?

„Hallo, ist da jemand?“, rief er erst leise, dann etwas lauter und schließlich so laut, wie es seine