Die falsche Lady Westray - Sarah Mallory - E-Book

Die falsche Lady Westray E-Book

SARAH MALLORY

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Beschreibung

Wer ist diese freche Hochstaplerin, die behauptet, sie sei Lady Westray? Randolph, Lord Westray, kehrt unerwartet auf sein Landgut zurück und findet dort eine blonde Schönheit vor, die behauptet, seine Frau zu sein. Wie amüsant! Er gestattet der bezaubernden Lady Arabella eine Woche als Countess an seiner Seite, um zu sehen, wohin diese Scharade führt. Obwohl er sich mehr und mehr zu ihr hingezogen fühlt, darf er als Gentleman sie natürlich auf keinen Fall verführen. Doch je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto schwieriger wird es für Randolph, der süßen Versuchung zu widerstehen!

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Seitenzahl: 377

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IMPRESSUM

HISTORICAL MYLADY erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2019 by Sarah Mallory Originaltitel: „His Countess for a Week“ erschienen bei: Mills & Boon, London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL MYLADY, Band 617 12/2021 Übersetzung: Renate Körting

Abbildungen: Harlequin Books S.A., Nebs / shutterstock, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751502641

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY

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1. KAPITEL

Der kurze Novembertag neigte sich seinem Ende entgegen, als die Apollonia in den Hafen von Portsmouth einlief. Das Segel leuchtete rot im Licht der untergehenden Sonne. Regungslos inmitten des lebhaften Treibens an Deck stand ein Gentleman und blickte versonnen über das Wasser. Er war eingehüllt in einen schweren Umhang, trug aber keinen Hut. Sein dichtes blondes Haar wurde vom Wind zerzaust, und er blinzelte, geblendet von der tief stehenden Abendsonne.

Der Mann schaute sich jedoch nicht die massiven Mauern oder die bedrohlich wirkenden Befestigungsanlagen ringsumher an, sondern er blickte durch die schmale Hafeneinfahrt zurück zur offenen See.

Der Schiffskapitän trat auf ihn zu. „Bitte um Entschuldigung, Sir, wir legen gleich an.“

„Was?“ Er drehte sich um, brauchte aber einen Moment, um sich auf den Kapitän zu konzentrieren. „Ach so. Ja. Sie möchten wahrscheinlich, dass ich unter Deck gehe, um niemandem im Weg zu stehen.“

Der Kapitän erlaubte sich ein Lächeln.

„Aye, Sir, mit Verlaub. Es sind sehr viele Säcke und Kisten hier an Deck aufgestapelt …“

„… und Sie wollen nicht, dass Ihre Männer über irgendwelche Passagiere stolpern. Wie Sie wünschen, Captain. Ich begebe mich unter Deck, wo ich niemanden störe.“

„Ich danke Ihnen, Sir. Wir lassen Sie sofort von Bord gehen, sobald es möglich ist, das verspreche ich.“

Randolph nickte lächelnd und machte sich auf den Weg zu seiner fensterlosen, stickigen Kabine. Sechs Monate lang hatte er darin gewohnt, darum würde er ein paar weitere Minuten darin auch noch aushalten. Er ließ sich auf die Schlafkoje fallen und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf. Während er den lauten Rufen und dem Gepolter über sich lauschte, dachte er darüber nach – nicht zum ersten Mal –, ob es klug von ihm war, nach England zurückzukehren.

Sechs Jahre hatte er in Australien verbracht und sich dort mittlerweile ein gutes Leben aufgebaut. Er war bei bester Gesundheit und bewirtschaftete in Airds eine eigene Farm auf dem Land, das man ihm nach seiner Begnadigung zugeteilt hatte. Doch Chisletts Brief hatte ihn sehr schnell davon überzeugt, dass es seine Pflicht war, nach England zurückzukehren.

Inzwischen fragte er sich, was ihn hier wohl erwartete. Als er seine Heimat verließ, musste das Land sich noch von dem langen und schmerzvollen Feldzug gegen Bonaparte erholen. Randolph hatte sich in Australien nur wenig für englische Angelegenheiten interessiert, weil er nicht damit rechnete, jemals wieder in die Heimat zurückzukehren. Er hatte nicht geglaubt, dass er alles lebend überstehen würde.

Ein leises Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.

„Entschuldigung, Mylord, wie ich sehe, haben Sie Ihre Koffer noch nicht fertig gepackt. Wenn Sie mir erlauben würden …“

„O ja, Joseph. Kommen Sie herein.“

Randolph stellte die Füße auf den Boden und blieb auf der Bettkante sitzen, während er seinem Diener beim Einsammeln der noch übrig gebliebenen Dinge zuschaute. Den klappbaren Stiefelknecht wickelte Joseph in ein Tuch und verstaute ihn bei den übrigen Sachen in der bereits prall gefüllten Reisetasche, ebenso die Haarbürste und den Kamm. Als er dann noch ein Taschenmesser einpacken wollte, streckte Randolph die Hand danach aus.

„Das nehme ich selbst, danke.“ Er schob das kleine Messer in seine Manteltasche. „Tut es Ihnen eigentlich leid, dass Sie mit mir nach England zurückkommen müssen?“

„Es macht für mich keinen Unterschied, Mylord. Wenn Sie in Airds geblieben wären, hätte ich ebenso zufrieden den Rest meines Lebens dort verbracht.“

„Falls dieses Unternehmen schlecht ausgeht, müssen wir vielleicht sowieso wieder dorthin zurück“, sagte Randolph.

„Wie Sie wünschen, Mylord.“

„Zum Teufel, Joseph, warum bleiben Sie immer so verdammt ruhig?“

Der grauhaarige Diener lächelte, was nur sehr selten vorkam. „Nun, Sir, ich hätte wohl nicht so lange überlebt, wenn ich anders wäre.“

„Wohl wahr!“ Randolph lachte. Er stand auf und legte dem älteren Mann eine Hand auf die Schulter. „Ich war über die Jahre gewiss nicht immer eine angenehme Gesellschaft für Sie, Joseph. Ich verdanke Ihnen so viel. Ohne Sie hätte ich das alles wahrscheinlich nicht lebend überstanden. Ich würde Ihnen sehr gern eine …“

„Wenn Sie mir jetzt eine lebenslange Pension anbieten wollen, Mylord, dann sage ich Ihnen ganz klar, dass ich sie nicht will. Was sollte ich wohl mit meiner Zeit anfangen, wenn ich mich nicht mehr um Sie kümmern könnte?“

„Aye, das haben Sie mir schon früher gesagt, Joseph. Inzwischen sind wir aber zurück in der alten Heimat, und vielleicht überlegen Sie es sich ja doch noch anders. Suchen Sie sich eine Ehefrau. Ich kann mich erinnern, dass Sie sich früher mit der Zofe meiner Schwester gut verstanden haben.“

Randolph sah irgendetwas in Josephs Gesicht, aber er konnte nicht erkennen, ob es Schreck, eine zärtliche Erinnerung oder Verlegenheit war.

„Erst einmal müssen Sie sich hier wieder einleben, Mylord, danach können wir weitersehen“, war alles, was der Mann zu sagen bereit war.

Eine laute Stimme im Gang forderte alle Passagiere auf, sich von Bord zu begeben. Joseph verschloss die Reisetasche und nahm sie in die Hand.

„Nun, Mylord, sollen wir an Land gehen?“

Nach so langer Zeit auf See fühlte es sich für Randolph ganz ungewohnt an, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben anstelle der schwankenden Schiffsplanken. Ihm blieb jedoch nicht viel Zeit, sich umzustellen, denn die Schatten wurden bereits länger. Er schaute sich um und erblickte eine geschlossene Kutsche, neben der eine dunkel gekleidete Person stand. Auch nach so vielen Jahren erkannte Randolph den Anwalt seiner Familie. Er trat auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.

„Mr. Chislett, einen guten Tag.“

Der Mann machte eine tiefe Verneigung. „Mylord.“

„Kommen Sie schon, Mann, nehmen Sie meine Hand“, sagte Randolph. „In den vergangenen sechs Jahren habe ich ganz ohne Zeremoniell gelebt. Ich habe keine Lust, gleich wieder mit so etwas anzufangen, besonders bei einem alten Freund wie Ihnen. Und merken Sie sich bitte, dass ich momentan als einfacher Mr. Randolph Kirkster unterwegs bin.“

„Wie Sie wünschen, Sir.“ Chislett schüttelte ihm kurz die Hand und zeigte dann auf die Kutsche. „Ich habe nur diesen einen Wagen. Wenn Sie viel Gepäck haben, müssen wir noch einen weiteren mieten.“

„Mehrere große Koffer und ein paar Reisetaschen“, entgegnete Randolph. „Ich denke aber, es wird gehen.“

Nach wenigen Minuten war das Gepäck an der Kutsche festgeschnallt, und Randolph setzte sich mit Joseph und Mr. Chislett in den Wagen.

„Ich habe im Admiral Zimmer für Sie gebucht“, erklärte der Anwalt. „Ich wohne ebenfalls dort und hoffe, Sie sind damit einverstanden. Ich dachte, wir könnten uns vielleicht morgen nach dem Frühstück treffen und über Ihre Situation sprechen.“

„Warum sollen wir damit bis morgen warten?“, meinte Randolph. „Je eher wir das Geschäftliche abschließen, desto besser.“ Er blickte aus dem Fenster, als die Kutsche allmählich langsamer wurde. „Sind wir schon da? Famos. Gehen wir hinein. Bestellen Sie bitte das Dinner für drei Personen in einem Privatzimmer, wo wir unter uns sein können, Mr. Chislett. In, sagen wir mal, einer Stunde. Joseph, kümmern Sie sich bitte um das Gepäck, während ich für uns heißes Wasser bestelle und es in unsere Zimmer bringen lasse.“

Damit sprang Randolph aus der Kutsche und ging in den Gasthof hinein. Der Anwalt schaute ihm sichtlich überrascht nach.

Joseph Miller lachte leise. „Seine Lordschaft ist kein Mensch, der sich zurücklehnt und andere für sich arbeiten lässt. Er geht auch nicht langsam, wenn er schnell laufen kann. Kommen Sie, Mr. Chislett, fangen wir an.“

Randolph saß auf seinem Stuhl und seufzte zufrieden.

„Nach so vielen Monaten eintöniger Schiffskost hat mir das Essen heute Abend besonders gut geschmeckt!“

Mit Joseph und Mr. Chislett saß er am Esstisch im Privatraum des Admirals. Die Teller waren bereits abgeräumt worden, und nun stand auf einem Beistelltisch nur noch eine Karaffe vom feinsten Brandy des Wirts, daneben eine Kanne Dünnbier.

Joseph füllte zwei Gläser mit Brandy und schob eins davon zu dem Anwalt.

„Sie warten gewiss darauf, endlich zum Geschäftlichen überzugehen“, bemerkte er, nahm das zweite Glas und erhob sich, um zu gehen.

Ran wies ihn mit einer Handbewegung an, sich wieder zu setzen. „Sie brauchen nicht zu gehen, Joseph. Ich habe, weiß der Himmel, keine Geheimnisse vor Ihnen.“ Sich selbst goss er einen Krug voll mit Dünnbier, dann wandte er sich an den Anwalt. „Nun, Mr. Chislett, wenn Sie einverstanden sind, können wir jetzt über das Geschäftliche sprechen. Vielleicht wären Sie so nett, mir zunächst alles noch einmal von vorn zu erklären, aber ohne die juristischen Fachausdrücke. Ich wüsste zu gern, wie es dazu kam, dass ein in Ungnade gefallener Baron, der in Ketten aus diesem Land fortgeschafft wurde, unverhofft zum Earl of Westray werden konnte. In meinem Zweig der Familie wurde diese Möglichkeit niemals auch nur erwähnt.“

Mr. Chislett nahm sein Glas und wärmte es für einen Moment zwischen beiden Händen.

„Die Geschichte ist einfach, Mylord, aber tragisch“, begann er. „Ihr Großvater hat nie darüber nachgedacht, dass der Titel auf seinen Zweig der Familie übergehen könnte. Er war nur ein Cousin, und der siebte Earl of Westray hatte zwei gesunde Söhne und drei jüngere Brüder. Der jüngste Bruder des Earls starb jedoch ohne Nachkommen, und der Sohn des zweiten Bruders fiel bei Waterloo. Immer noch sah niemand die Erbfolge als Problem an. Dann wurden auch noch die beiden Söhne des Earls dahingerafft – einer durch das Fieber, der andere bei einem Jagdunfall. Der verbliebene dritte Bruder stellte fest, dass es für ihn zu spät war, noch zu heiraten und Kinder zu haben. Als der Earl vor achtzehn Monaten starb, erbte der letzte Bruder den Titel, doch er konnte ihn nur noch wenige Monate tragen. Nach seinem Tod fiel die Grafschaft an den nächsten männlichen Verwandten – Sie, Mylord. Sie sind also nun der neunte Earl.“

„Und wenn ich den Titel gar nicht will?“

„Wie ich Ihnen bereits in meinem Brief erklärte, ist der Titel des Earl of Westray sehr alt. Damit verbunden sind mehrere Liegenschaften, und es gibt eine große Anzahl von Pächtern und Gesinde, die mit ihren Familien von der erfolgreichen Bewirtschaftung der Ländereien abhängig sind. Wenn Sie den Titel nicht beanspruchen möchten, würden wir unser Bestes tun und weiterhin die Güter von London aus verwalten, so wie wir es seit dem Tod des achten Earls getan haben. Der Titel würde dann ruhen und zu gegebener Zeit auf Ihren Sohn übergehen. Sollten Sie ohne Nachkommen sterben, würde der Titel erlöschen.“ Der Anwalt zog ein wenig die Mundwinkel hinab, um seine Missbilligung auszudrücken.

Als er fortfuhr, war seine Stimme frei von Emotionen. „Selbstverständlich, Mylord, könnten Sie auch beschließen, die Bewirtschaftung der Landgüter Ihren Verwaltern zu überlassen, und nur die … äh … Früchte Ihrer neuen Position genießen. Das ist natürlich Ihre eigene Entscheidung.“

„Sie meinen, ich würde wie ein Lord leben, während jemand anders die ganze Arbeit tut? Nein, danke. Wenn ich beschließe, dies auf mich zu nehmen, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um aus den Ländereien das Beste zu machen, nicht, sie auszusaugen!“

Randolph nippte an seinem Bier. Er hatte sich in Australien ein gutes Leben aufgebaut. Die Arbeit in der freien Natur gefiel ihm, ebenso wie die Leitung seiner Farm, die er zu einem florierenden Unternehmen ausgebaut hatte. Auch das Klima bekam ihm gut, und er war gesünder als je zuvor. Selbst die lange Seereise hatte ihm nichts anhaben können. Seine erste Reise war ganz anders verlaufen, und nur Joseph Millers hingebungsvolle Fürsorge hatte ihn damals am Leben erhalten.

„Gott weiß, dass ich den Titel nicht will“, sagte er bedächtig, „doch er gehört nun einmal mir, und ich kann ihn nicht ignorieren. Als Kind ging ich immer aller Verantwortung aus dem Weg, und meine Schwester musste es ausbaden. Ich schäme mich zutiefst wegen der Hölle, die sie meinetwegen durchmachen musste. Ich will mich kein zweites Mal meiner Verantwortung entziehen.“

Nur das fröhliche Prasseln des Feuers milderte das drückende Schweigen. Schließlich war es Joseph Miller, der als Erster das Wort ergriff.

„Also, Lord Westray – bleiben wir in England?“

Die Entscheidung war gefallen, und die Stimmung in dem kleinen Zimmer besserte sich spürbar. Der stets besonnene Anwalt zeigte seine Gefühle nicht offen, doch Ran merkte, wie erleichtert auch er war.

„Sehr wohl, Mylord. Zuallererst werde ich Ihnen den Westray-Ring geben.“ Der Anwalt zog einen kleinen Samtbeutel aus der Tasche und reichte ihn weiter an Randolph. Aufmerksam schaute er zu, wie Randolph den Ring nahm und erst an einem Finger anprobierte, dann an einem anderen. „Wenn er nicht passt, Mylord, können wir ihn weiten lassen.“

„Nein, nein, er passt genau an meinen kleinen Finger“, sagte Ran und hielt die Hand hoch. Der goldene Siegelring fühlte sich schwer an, aber daran würde er sich gewöhnen. So wie er sich daran gewöhnen würde, ein Earl mit allen Rechten und Pflichten zu sein.

Der Anwalt gönnte sich ein kleines Lächeln. „Ich bin hocherfreut. Nun.“ Er holte eine dicke Mappe von der Anrichte und trug sie zum Tisch. „Hier sind noch einige Dokumente, die Ihrer Aufmerksamkeit bedürfen.“

Als Randolph am nächsten Morgen in das Privatzimmer trat, saß dort zu seinem Erstaunen bereits der Anwalt, der gerade sein Frühstück beendete.

„Große Güte, Mann, schlafen Sie denn nie? Sie sind doch erst lange nach Mitternacht ins Bett gekommen!“

„Mir genügen wenige Stunden Schlaf“, erwiderte Chislett. Er nickte Joseph zu, der nach seinem Herrn ins Zimmer trat, und wandte sich wieder an Ran. „Wenn Sie keine weiteren Fragen oder Anweisungen für mich haben, würde ich gern nach London aufbrechen, sobald ich das Frühstück beendet habe.“

„Ich habe sicherlich hundert Fragen“, erwiderte Ran mit fröhlicher Stimme. „Doch vorerst bin ich mit allem so zufrieden, wie wir es geplant haben.“

„Dann mache ich mich gleich auf den Weg.“ Chislett leerte seine Kaffeetasse und erhob sich. „Falls Ihnen noch etwas einfällt, zögern Sie nicht, mir sofort zu schreiben, Mylord. Ansonsten freue ich mich darauf, Sie im Frühling in der Stadt wiederzusehen. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Lord Westray. Mr. Miller.“

Der Anwalt verließ das Zimmer, und Ran trat zum Fenster, um seine Abreise zu beobachten. Erst als die Kutsche fort war, drehte er sich wieder um und sah sich den Frühstückstisch näher an.

„Himmel, was für einen Appetit ich heute Morgen habe, Joseph. Ich möchte mehr Brötchen und Kaffee! Würden Sie wohl nachfragen, ob der Wirt uns noch mehr Eier und vielleicht auch etwas Schinken bringen könnte?“

„Aye, sehr gern.“ Joseph lächelte ihn an. „Soll ich ihm schon verraten, wer Sie sind? Damit er weiß, welch bedeutenden Gast er beherbergt?“

„Nein, verdammt! Dafür bin ich nicht passend gekleidet, außerdem möchte ich gern noch ein wenig länger anonym bleiben.“ Er zögerte. „Sie wissen sicher, alter Freund, dass sich unser Leben von heute an stark verändern wird. Die Güter brauchen eine neue Verwaltung, und auch die Angestellten und Pächter müssen versorgt werden.“

„Aye, Sir, doch das ist nichts, womit wir nicht fertigwerden würden. Nun – Sie setzen sich an den Tisch, während ich das Schlitzohr von Wirt suchen gehe.“

2. KAPITEL

Randolph verbrachte den Tag damit, die Papiere durchzusehen, die Chislett ihm zurückgelassen hatte. Erst als es Zeit für das Abendessen war, legte er sie beiseite, um sich umzukleiden. Er war zum Dinner mit Lord und Lady Gilmorton im King’s Arms verabredet, mit seiner Schwester und seinem Schwager.

Abgesehen von dem Anwalt, den er zur Verschwiegenheit verpflichtet hatte, wussten nur Rans Schwester Deborah und ihr Gemahl, dass er vorhatte, nach England zu kommen. Es hatte ihn daher nicht überrascht, als er eine Nachricht von ihnen erhielt mit der Bitte, sie in Portsmouth zu treffen. Er freute sich sehr, dass sie seinetwegen den langen Weg auf sich genommen hatten. Doch er war auch ein wenig nervös, weil er sie so lange nicht gesehen hatte. Unwillkürlich legte er sich eine Hand auf die Halsbinde, bevor er das Gasthaus betrat.

Als der Schankbursche ihn in den separaten Privatraum führte, schaute Ran dem Mann von hinten über die Schulter, um nach sechs Jahren einen ersten Blick auf seine Schwester zu werfen. Ihm ging sofort das Herz auf. Er hätte sie jederzeit überall wiedererkannt. Wie früher sah sie hübsch und adrett aus in ihrem apfelgrünen Kleid, das braune Haar trug sie aufgesteckt.

„Deborah.“

Sie konnte es offenbar kaum abwarten, bis der Diener die Tür geschlossen hatte, dann flog sie quer durch den Raum in seine Arme. Ihre grünen Augen standen voller Tränen.

„Oh, Ran, Ran. Bist du es wirklich?“

Er drückte sie an sich und lachte. „Nun, ich hoffe doch, dass du dich nicht jedem fremden Mann so an den Hals wirfst!“ Ohne sie loszulassen, nickte er seinem Schwager zu. „Wie geht es dir, Gilmorton?“

Der Viscount erhob sich, um ihn zu begrüßen. Sein ernstes Gesicht, das durch die Narbe auf seiner linken Wange noch düsterer wirkte, wurde von einem Lächeln erhellt.

„Sehr gut, Randolph, vielen Dank. Wenn du meine Frau loslässt, kann ich dir auch die Hand schütteln!“

Die Spannung verflog. Lachend und weinend zugleich zog Deborah ihren Bruder zu dem Sessel neben dem Feuer und bombardierte ihn mit Fragen.

„Lass dem armen Kerl ein bisschen Luft zum Atmen, Liebste“, murmelte Gil. Mit einem Anflug seines Humors fügte er hinzu: „Seit sie erfuhr, dass du nach Hause kommen würdest, ist sie völlig aus dem Häuschen.“

„Du Armer“, meinte Ran und wich einem spielerischen Klaps seiner Schwester aus.

„Deine Briefe waren immer so fröhlich“, sagte sie dann. Sie hielt seine Hand weiter fest und erforschte mit den Blicken intensiv sein Gesicht. „Und geht es dir gut? Wirklich gut?“

Er drückte ihr die Hand, weil er wusste, was sie ihn eigentlich fragen wollte.

„Ja, wirklich. Ich meide Laudanum, trinke nie Hochprozentiges und nur gelegentlich ein Glas Wein. Noch nie habe ich mich so gut gefühlt.“

Ihre Augen wurden wieder feucht. „Dann hast du in deinen Briefen also die Wahrheit geschrieben, als du sagtest, die Deportation habe dir im Grunde das Leben gerettet.“

„Aye. Vermutlich war es so.“

Er hatte ihnen allerdings nichts von den grauenvollen Monaten berichtet, die er auf dem Transportschiff unterwegs nach Sydney Cove verbringen musste. Alle Gefangenen litten unter den harten Bedingungen, den Krankheiten und Entbehrungen, doch ihn quälte zusätzlich noch der harte Entzug von seiner Laudanum-Sucht. Er lag lange im Delirium und verbrachte die meiste Zeit in dumpfer Verzweiflung. Ran konnte von Glück sagen, dass er überhaupt noch lebte. Nur Josephs gewissenhafte Pflege hatte ihn gerettet, und er verdankte ihm buchstäblich sein Leben. Sein Diener hatte sogar seine eigene Freiheit aufgegeben, um ihn nach Australien zu begleiten. Diese Schuld konnte Ran niemals zurückzahlen.

„Ist Miller noch bei dir?“, fragte Gil, als könnte er seine Gedanken lesen.

„Aye. Ich bot ihm an, in Australien zu bleiben und meine Farm zu verwalten, aber er wollte lieber mit mir zurückgehen. Möglich, dass er fürchtete, ich würde auf der Schiffsreise wieder so krank werden wie bei der ersten Fahrt. Aber abgesehen von ein paar Tagen Seekrankheit zu Anfang verlief die Reise ereignislos. Sogar recht angenehm.“

„Also ist Joseph Miller mit dir zurückgekommen“, sagte Deborah, und ihre Augen funkelten spitzbübisch. „Meine Zofe Elsie wird erfreut sein, wenn sie es erfährt.“

„Sag nicht, dass sie all die Jahre nach ihm geschmachtet hat!“, rief Ran erschrocken.

Deborah lachte. „Nein, nein, natürlich nicht. Aber sie standen sich damals sehr nahe, und ich habe mich wirklich gefragt …“

„Meine Frau ist eine unverbesserliche Kupplerin“, unterbrach der Viscount sie kopfschüttelnd. „Lass es gut sein, Deb. Gib deinem Bruder und diesem Mann Zeit, sich in ihr neues Leben einzufügen!“

Das Dinner wurde aufgetragen. Sie setzten sich an den Esstisch und unterhielten sich während des Essens weiter. Ran beschrieb ihnen ausführlich sein Leben in Airds, wo er nach seiner Begnadigung Land zugewiesen bekommen hatte. Die Schwierigkeiten, die er durchmachen musste, spielte er herunter. Es war ihm bewusst, dass er als gebildeter Mann eine bessere Behandlung erfahren hatte als die meisten seiner Mithäftlinge.

„Wie sehen deine weiteren Pläne aus?“, erkundigte sich Deb.

„Er will sich in einen Earl verwandeln“, sagte Gil. „Warum sonst hätte er uns seine Maße schicken sollen? Er hat uns ja sogar gebeten, ihm modische Kleidung anfertigen zu lassen.“

Ran lachte: „Das war eigentlich nicht meine, sondern Josephs Idee. Er weiß, dass ich nichts Passendes besitze.“

„Bedauerlicherweise muss ich ihm zustimmen“, sagte sein Schwager gedehnt und musterte ihn intensiv. „In dieser Jacke siehst du bestenfalls wie ein Gentleman-Farmer aus. Freundlicherweise haben wir deinen Auftrag ausgeführt. Du kannst nachher einen großen Koffer mit Kleidung mitnehmen. Bei unserer nächsten Begegnung muss ich mich hoffentlich nicht mehr schämen, zuzugeben, dass du mein Schwager bist.“

„Wie unglaublich gütig von dir!“, erwiderte Ran breit lächelnd.

„Aber wo willst du überhaupt hin?“, fragte Deb. „Warum kommst du nicht mit uns zurück nach Gilmorton? Little James und Randolph würden sicher gern ihren Onkel kennenlernen, und du könntest den ganzen Winter über bei uns bleiben.“

„Aye, aber du musst nicht nur wegen deiner Neffen kommen“, fügte ihr Gatte hinzu. „Wir würden uns alle sehr freuen, wenn du bei uns wohnen würdest. Solange du möchtest.“

„Vielen Dank, aber das muss leider noch warten. Ich habe jetzt meine eigenen Güter, und die muss ich zuerst aufsuchen.“

„Ach ja. Du bist jetzt ein reicher Mann, Ran.“ Gil lehnte sich zurück und hielt sein Glas in beiden Händen. „Mit großem Vermögen und einem Titel. Du bist jetzt eine gute Partie!“

„Gil!“ Deb stöhnte, halb lachend, halb empört. „Und mir sagst du, ich sei eine Kupplerin!“

Der Viscount schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Habe ich etwa nicht recht? Auch wenn die Klatschblätter sich darüber ereifern, dass der neue Lord Westray ein begnadigter Verbrecher sei, will ich dir etwas verraten, Ray – es wird die berechnenden Mütter nicht von dir fernhalten!“

„Aber wir wissen doch gar nicht …“ Deborah schaute ihren Bruder verschämt an. „Vielleicht gibt es ja eine Lady in Australien …?“

Ran schüttelte den Kopf. „In Sydney Cove oder Airds hatte ich nicht viele Möglichkeiten, Ladys kennenzulernen. Außerdem war ich viel zu sehr damit beschäftigt, mir eine Existenz aufzubauen. Doch nun werde ich vermutlich eine Heirat in Betracht ziehen müssen.“

„O Himmel, Ran, du nimmst deine Pflichten ja wirklich ernst!“, rief der Viscount.

„Ich muss an die Erbfolge denken.“ Er zuckte mit den Schultern. „Es dürfte wohl nicht allzu schwierig werden. Sicher gibt es eine Menge heiratswürdiger Ladys, die geeignet wären. Ich bin nicht besonders wählerisch. Mir genügt eine Frau, die mir eine angenehme Gattin ist.“

Gil schnaubte. „Sich zu verlieben, ist aber nicht unbedingt angenehm, mein Freund. Es kann dir große Freude bringen, ist aber oft auch mit Schmerz verbunden.“ Er lächelte seine Gemahlin an. „Glaube mir, es ist alles andere als immer angenehm.“

„Dann will ich mich nicht verlieben“, sagte Ran nur. „Ich bin zu alt für solchen Unsinn.“

„Mit achtundzwanzig?“ Deborah lachte fröhlich. „Du bist im Begriff, für eine Ehefrau einen großen Narren aus dir zu machen!“

Ran blieb ungerührt. „Schon möglich, aber für solche Dinge werde ich in der nächsten Zeit sowieso nicht viel Zeit haben. Ich habe Chislett aufgetragen, dem Verwalter des Hauptsitzes zu schreiben … also meines neuen Hauptsitzes, Westray Priors in Oxfordshire. Er soll ihm mitteilen, dass ich in England bin und beabsichtige, in wenigen Wochen dorthin zu reisen. Aus den Papieren, die Chislett mir gestern gab, habe ich jedoch erfahren, dass es auch ein kleines Anwesen in Devon gibt – Beaumount Hall, in der Nähe von Tavistock. Es wäre doch schade, es nicht anzuschauen, wenn ich schon mal hier in der Nähe bin.“

„In der Nähe?“ Gil machte ein zweifelndes Gesicht. „Es sind mindestens hundertfünfzig Meilen von hier aus. Und die Straßen werden in einem schlechten Zustand sein.“

„Ich habe nicht vor, den Landweg zu nehmen“, meinte Ray. „Ich habe immer noch meine Seemannsbeine, musst du wissen.“ Er lächelte. „Joseph und ich haben eine Passage auf einem einheimischen Segelschiff nach Plymouth gebucht und brechen mit der Morgenflut auf.“

Die Reise von Randolph und Joseph nach Plymouth verlief sehr angenehm bei schönem Wetter. Nach ihrer Ankunft mieteten sie eine Kutsche, die sie nach Beaumount Hall bringen sollte. Ran schaute sich interessiert um.

„Ich hatte ganz vergessen, wie schön es hier im Herbst ist“, murmelte er in sich hinein. „Die flammenden Farben der Bäume, bevor sie im Winter ihre Blätter abwerfen. Und es ist auch viel grüner hier.“

Zufriedenheit erfüllte ihn. Das Gefühl, nach Hause zu kommen.

Wie der Viscount vorhergesagt hatte, waren die Straßen abseits der Städte nicht gut. Sie waren erleichtert, als nach einer Stunde Fahrt auf holperigen Wegen die Kutsche durch das offene Tor in einen kleinen Park einbog.

„Die Zufahrt scheint in einem sehr ordentlichen Zustand zu sein für ein Anwesen, das seit mindestens einem Jahr leer steht“, stellte Ran fest. „Dann hoffen wir mal, dass es im Haus ähnlich gut aussieht. Chislett sagte, dass noch eine Handvoll Bediensteter hier wohnt. Wie, sagte er noch gleich, hieß der Butler? Meavy. Und seine Frau ist die Haushälterin.“

„Ich finde immer noch, wir hätten unser Kommen ankündigen sollen“, murrte Joseph.

„Zum Teufel damit“, erwiderte der neue Earl vergnügt.

„Wer weiß, ob sie uns überhaupt unterbringen können. Vielleicht müssen wir uns eine Unterkunft in Tavistock suchen!“

„Das bezweifle ich. Außerdem haben wir schon früher unter freiem Himmel geschlafen.“

„Aye, aber das war auf der anderen Seite der Welt!“

Ran lachte nur über die ernsten Worte seines Begleiters und beugte sich vor, um einen ersten Blick auf Beaumount Hall werfen zu können. Seine Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Es war ein schöner Tag gewesen, und nun versank die Sonne mit goldenem Glanz hinter dem Horizont. Die Kutsche fuhr um eine Kurve, und das Haus kam in Sicht.

Das imposante Gebäude bestand aus rotem Backstein und erstreckte sich über drei Stockwerke. Wegen der weißen Pfeiler, die an den Ecken des Gebäudes bis zum Hausdach reichten, machte es einen barocken Eindruck. Weitere Pfeiler standen zu beiden Seiten der Tür, die überdacht wurde von einem Vordach aus Stein, das mit muschelförmigen Ornamenten reich verziert war. Randolph schaute seinen Begleiter erfreut lächelnd an.

„Sie können ganz ruhig sein, Joseph! Das Dach macht einen stabilen Eindruck. Schlimmstenfalls müssen wir heute auf dem Boden schlafen.“ Die Kutsche hielt vor den flachen Stufen am Eingang an. Randolph drückte sich den Hut fest auf den Kopf. „Nun kommen Sie schon. Wir wollen sehen, wie Meavy auf unsere Ankunft reagiert.“

Als sie ins Haus eingelassen wurden, sah der Butler zwar überrascht aus, den neuen Earl zu sehen, aber nicht so entsetzt, wie Randolph es erwartet hatte. Joseph hielt das Erläuterungsschreiben von Chislett bereit, um es dem möglicherweise misstrauischen Haushüter vorzuzeigen, doch der Butler warf nur einen flüchtigen Blick darauf.

„Willkommen, Mylord“, sagte er mit einer Verbeugung. „Es ist schade, dass wir über Ihre heutige Ankunft nicht vorab unterrichtet wurden.“

„Wir hatten nicht genug Zeit“, erklärte Ran und übergab ihm seinen Hut und Mantel. „Falls etwas zu essen im Haus ist, bringen Sie es bitte in den Salon.“

„Sehr wohl, Mylord. Was möchten Sie trinken?“

„Sie haben sicher keinen Kaffee?“

„Bei der Liebe des Herrn, natürlich haben wir Kaffee, Mylord. Und auch Tee.“

„Dann eine Kanne Kaffee.“ Er sah Joseph an. „Sie kommen mit mir.“

Sein Kammerdiener schwieg nur so lange, bis Meavy sie in den Salon geführt hatte und die Tür schloss.

„Man wird es ziemlich seltsam finden, Mylord, dass Sie mit einem Diener speisen.“

„Daran wird man sich gewöhnen müssen. Und Sie sind kein Diener. Sie sind mein Adjutant. Ich habe Sie soeben befördert!“ Er ließ sich auf einen Sessel neben dem Kamin aus Marmor fallen, in dem ein Feuer munter brannte. „Und später werde ich eine Erklärung dafür verlangen, warum zum Teufel sie hier Feuer im Kamin anzünden, wenn kein Bewohner anwesend ist. Im Moment bin ich allerdings verdammt froh darüber.“

„Aye“, sagte Joseph und setzte sich. „Es erscheint mir aber tatsächlich etwas seltsam. Diener in Livree und brennende Feuer im Kamin, obwohl sie nicht wissen konnten, dass der Herr des Hauses heute ankommen würde.“

„Möglicherweise machen sie gelegentlich ein Feuer an, um die Feuchtigkeit zu vertreiben …“ Ran brach ab, als die Tür aufging und Meavy eintrat. Er trug ein Tablett mit Gläsern und einer Karaffe herein. Hinter ihm ging eine rundliche Frau mit weißer Schürze und einem blütenweißen Spitzenhäubchen auf den grauen Locken. Sie stellte sich ihnen als Mrs. Meavy vor, die Haushälterin.

„Der Kaffee wird im Handumdrehen fertig sein, Mylord, aber ich dachte mir, dass Sie in der Zwischenzeit vielleicht gern ein Glas Wein trinken möchten.“ Sie stellte ein Tablett mit Törtchen und Keksen auf einen Seitentisch und wandte sich dann wieder an den Earl. „Schade, Mylord, mehr haben wir im Moment nicht im Hause“, sagte sie mit fröhlicher Stimme. „Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich natürlich ein Dinner für Sie vorbereitet. Aber da Ihre Ladyschaft den ganzen Tag nicht hier war, habe ich nur ein Pie mit Ei und Schinken anzubieten …“

„Einen Moment.“ Ran hob eine Hand, um den Redeschwall zu unterbrechen. „Ihre Ladyschaft?“

Die alte Frau blinzelte ihn an. „Aber ja, Mylord. Die Countess.“

Nun musste Ran auch blinzeln. „Countess? Wollen Sie damit sagen, dass die Witwe des alten Earls hier wohnt?“

Innerlich fluchte er. Diese Möglichkeit hatte er nicht bedacht. Verdammt, warum hatte Chislett ihn nicht vorgewarnt!

Die Haushälterin schmunzelte glucksend. „Aber nein, Mylord. Ich meine doch natürlich Ihre Countess!“

Randolph achtete nicht auf das halb erstickte Geräusch aus Josephs Mund und versuchte, sich seine eigene Überraschung nicht anmerken zu lassen.

„Ach ja, Lady Westray“, sagte er und zuckte mit keiner Wimper. „Sie ist ausgegangen, sagen Sie?“

„Aye, Mylord. Sie ist heute Morgen nach Meon House gefahren, um mit Lady Meon auszureiten, und dann wollte sie dort essen und über Nacht bleiben.“

„Tatsächlich?“ Er fürchtete, gleich zu platzen vor Lachen, und grinste Joseph an, der einen hochroten Kopf vom Husten hatte. „Dann werden wir uns ihr anschließen, sobald wir etwas gegessen haben. Bitte bringen Sie uns von dem Pie, Mrs. Meavy. Und nach dem Essen, Joseph, packen Sie gleich mein neues Abendjackett aus und bürsten es ab!“

Ran betrachtete sich in dem hohen Spiegel. Er bewunderte das schwarze Jackett mit den goldenen Knöpfen, die das Wappen der Westrays trugen. Er hatte es zuvor nur von der Seite sehen können, als er es aus dem Kleiderkoffer der Gilmortons zog. Er nickte anerkennend.

„Deb und Gil haben meine Erwartungen übertroffen“, erklärte er. „Jackett, Kniehosen, ein Hemd aus feinstem Leinen, sogar Strümpfe und Schuhe! Alles, was ich brauche, um Zweifler davon zu überzeugen, dass ich tatsächlich der neue Earl bin.“

Er stand im großen Schlafzimmer, wo in aller Eile ein Feuer angezündet worden war. Joseph bürstete beinahe zärtlich den neuen Hut ab, der zum Ensemble gehörte, aber er warf seinem Herrn einen missbilligenden Blick zu.

„Aye, Mylord. Aber wer ist die geheimnisvolle Frau, die sich für Ihre Gemahlin ausgibt?“ Obwohl sie allein im Zimmer waren, sprach er in gedämpftem Ton. „Ich habe mich erkundigt, diskret natürlich, aber die Diener konnten mir nicht mehr sagen, als dass sie vor zwei Wochen mit ihrer Zofe ankam und seither hier wohnt. Sie erzählte ihnen, dass Sie geschäftlich am anderen Ende des Landes weilten.“

„Und sie nahmen es ihr ab?“ Randolph befestigte eine diamantbesetzte Nadel an seinem schneeweißen Halstuch.

„Warum sollten sie ihr nicht glauben?“ Joseph breitete die Hände aus. „Sie hatten erfahren, der neue Earl sei gefunden und zur Heimreise bewogen worden, um sein Erbe anzutreten. Mehr wussten sie nicht.“

„Und ich dachte, ich hätte Chislett aufgefordert, nichts auszuplaudern“, sagte Ran fairerweise. „Die einzige Person, die uns sagen könnte, was hier gespielt wird, ist die Zofe, die ihre Herrin nach Meon House begleitet hat.“ Er nahm den Hut von Joseph entgegen und setzte ihn sich verwegen schräg auf den blonden Kopf. „Es könnte ein sehr interessanter Abend werden.“

„Vielleicht sollte ich mit Ihnen kommen, Mylord. Falls es Ärger gibt.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich Ihre Hilfe brauchen werde, mein Freund. Sie bleiben hier und kümmern sich darum, dass die Betten ordentlich gelüftet werden und ganz trocken sind. Das Bett ist sehr eilig bezogen worden, und ich will mir nicht in klammen Betttüchern den Tod holen.“

„Nach allem, was wir durchgemacht haben, braucht es mehr als nur ein feuchtes Laken, um Sie dahinzuraffen, Mylord“, brummte Joseph und hielt seinem Herrn die Tür auf.

Meon House lag nur wenige Meilen von Beaumount Hall entfernt, doch Randolphs Kutscher kannte sich in der Gegend nicht aus und nahm eine falsche Abzweigung. Daher war es schon fast neun Uhr, als die Kutsche endlich das Ziel erreichte. Aus jedem Fenster strahlte helles Licht, und es standen viele Wagen in der Einfahrt. Kein Zweifel – hier fand etwas Größeres statt als nur ein ruhiges Dinner.

Es hatte zu regnen begonnen, daher eilte Ran rasch die Stufen zur Tür hoch, die für ihn von einem Diener aufgehalten wurde. Im Eingangsbereich brannte einladend ein Feuer, und aus den angrenzenden Räumen hörte man das Gewirr vieler Stimmen. Der Diener sah ein wenig verwirrt aus, als Ran ihm seinen Namen nannte, aber eine Lady, die gerade den Raum überquerte, blieb stehen und kam auf ihn zu. Sie schickte den Diener fort, also handelte es sich wahrscheinlich um Lady Meon. Sie war schon jenseits der dreißig, ihre üppige Figur war in Goldsatin gehüllt, und die glänzenden dunklen Locken hatte sie oben auf dem Kopf aufgetürmt. Kleidung und Frisur waren sehr vorteilhaft und standen ihr gut. Ran fand sie attraktiv, und sie war sich dessen offensichtlich auch bewusst.

„Lord Westray, welch eine Überraschung.“ Mit ihrem Lächeln auf den üppigen roten Lippen und dem anerkennenden Blick ihrer dunklen Augen ließ sie durchblicken, dass es keine unangenehme war.

„Ja, ich bin Westray.“ Er lächelte sie an. „Ich muss mich entschuldigen, dass ich unangekündigt hier auftauche, aber ich bin gerade erst in Beaumount eingetroffen und hörte, meine Gattin sei hier. Hoffentlich habe ich Ihr Dinner nicht unterbrochen?“

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, Ran ergriff sie und beugte sich darüber. Hoffentlich empfand sie seine Geste nicht als altmodisch. Zu seiner Erleichterung fand die Lady es jedoch anscheinend charmant, und ihr Lächeln wurde noch strahlender.

„Nein, nein, wir sind schon fertig, und alle halten sich im Salon auf. Ich bringe Sie persönlich hin. Das heißt …“. Sie unterbrach sich plötzlich. „Haben Sie schon zu Abend gegessen, Lord Westray? Wenn nicht, können wir sicherlich …“

„Ich habe bereits in Beaumount gegessen, Madam, vielen Dank.“

„Oh, gut.“ Sie hakte sich bei ihm unter. „Kommen Sie mit, Mylord. Gehen wir hinein. Aber ich muss Sie warnen – es ist nur eine kleine Party mit einigen benachbarten Familien. Mehr Gesellschaft gibt es hier nicht an diesem einsamen Ort. Lady Westray wollte unbedingt ihre Nachbarn kennenlernen, und ich erfülle ihr sehr gern diesen Wunsch. Himmel, sie wird so erfreut sein, Sie zu sehen!“

„Nicht annähernd so erfreut, wie ich sein werde, sie zu sehen“, murmelte Ran in sich hinein.

Er begleitete seine Gastgeberin in einen hell erleuchteten, eleganten Salon. Die Kerzen in den Lüstern warfen ihr Licht auf die Juwelen an Hals und Dekolleté der anwesenden Damen und ließen sie funkeln. Die Party war zwar klein, aber offensichtlich eine wichtige Veranstaltung für die anwesenden Gäste.

Es waren ungefähr zwölf Personen versammelt. Nach der Lautstärke im Raum zu schließen, hatten sie dem Wein bereits reichlich zugesprochen. Zwei ältere Ladys unterhielten sich auf einem Sofa am Kamin, ein älterer Gentleman döste in einem Sessel. Alle Übrigen standen in dem großen Erker am Fenster. Lady Meon führte Ran durch den Raum dorthin. Die Gruppe bestand aus drei Frauen und der doppelten Anzahl an Gentlemen, die ihre Aufmerksamkeit offenbar alle auf eine einzige Dame richteten, die mit dem Rücken zum Raum stand. Sie unterhielt sich angeregt mit den Versammelten, bei jeder Bewegung schimmerten die Röcke ihres roten Seidenkleids in einem warmen Glanz.

Ran beobachtete sie schon von Weitem. Selbst von hinten betrachtet, war sie eine auffallende Erscheinung. Sie hatte eine elegante Figur und runde weiße Schultern über dem tief ausgeschnittenen Mieder. Ihr anmutiger Hals wurde von einem Diamantcollier geschmückt, die blonden Locken waren bewusst ungekünstelt und schlicht auf dem Kopf aufgesteckt. Bei jeder ihrer Bewegungen glänzten sie wie frisch geprägte Goldmünzen.

Randolph schaute zu den anderen Frauen, beide grauhaarig und offensichtlich älter. Zu alt, um seine Countess zu sein. Seine Lippen zuckten, als er plötzlich in freudige Erregung geriet. Mit seiner Gastgeberin trat er immer näher. Himmel – diese Traumgestalt in dem roten Kleid war doch wohl nicht …

Lady Meon berührte sachte einen scharlachroten Ärmel.

„Schauen Sie nur, Lady Westray. Sie glauben gar nicht, wie entzückt ich bin, die Verkünderin dieser guten Botschaft zu sein. Hier ist Ihr Gemahl, gerade erst in Devon angekommen und sofort herbeigeeilt, um Sie zu finden!“

Die Lady drehte sich schnell um, und Ran wurde geradezu geblendet von ihrem entzückenden Lächeln. Es verblasste allerdings sogleich, als ihre Lippen ein kleines überraschtes „Oh!“ hauchten. Als sie ihn nun ansah, schien in den Tiefen ihrer smaragdgrünen Augen ein ängstlicher Schatten aufzutauchen. Randolphs Lächeln wurde breiter.

„Nun, meine Liebe, ich glaube, diese Überraschung ist mir gelungen.“ Er wollte ihre Hand ergreifen, doch sie sank ohnmächtig zusammen.

Ran zögerte keinen Augenblick und hob sie hoch. Ihre roten Seidenröcke glitten mit einem wispernden Geräusch über seinen Arm.

Eine der älteren Ladys lachte. „Nun, es besteht wohl kein Zweifel daran, dass Ihnen die Überraschung gelungen ist! Armes kleines Ding. Bringen Sie sie irgendwo hin, wo es ruhiger ist, Mylord, bis sie sich wieder erholt hat. Wir warten gern noch ein wenig länger auf die Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen!“

„Ja genau, hier entlang!“, rief Lady Meon und führte ihn fort von der Gruppe in den angrenzenden Flur. „Da sind wir schon.“ Sie öffnete eine Tür, und Ran trat in ein gemütliches kleines Zimmer, in dem Kerzen brannten und ein Feuer im Kamin prasselte. „Legen Sie sie auf das Sofa, Mylord. Ich werde ihre Zofe rufen.“

„Nein, das wird nicht nötig sein.“ Ran legte seine Bürde vorsichtig ab und setzte sich auf die Sofakante daneben. „Ich kümmere mich jetzt selbst um sie.“

„Ja, natürlich. Wer wäre dazu besser geeignet als ihr eigener Gemahl?“

Seine Gastgeberin schaute anerkennend zu, als er die kleinen Hände seiner angeblichen Ehefrau wärmend rieb. Er schaute zu ihr.

„Kein Grund zur Sorge, Lady Meon. Ihr Puls ist schon wieder gleichmäßig. Bitte gehen Sie doch zu den übrigen Gästen und erklären ihnen, dass es nur eine kleine Ohnmacht war. Wir werden uns bald wieder zu Ihnen gesellen.“

„Selbstverständlich, Mylord. Ich lasse Sie jetzt hier allein, damit Sie sich um Ihre Gattin kümmern können. Sie beginnt sich schon zu bewegen. Gut, gut. Aber klingeln Sie, falls Sie etwas brauchen, egal, was es ist.“

Lady Meon ging, und Randolph war allein mit seiner Lady.

Arabella tauchte allmählich aus ihrer tiefen Bewusstlosigkeit auf. Sie verhielt sich ganz ruhig, weil sie Angst hatte, den Schmerz hinter den Augen noch zu vergrößern, indem sie sie öffnete. Jemand rieb ihre Hände, und eine tiefe Stimme sprach mit hörbarer Belustigung zu ihr.

„Ganz sachte, Mylady. Sie sind bei mir sicher.“

Sicher! Als die Erinnerung allmählich zurückkehrte, begann ihr Herz wieder schneller zu schlagen. Sie befand sich in Meon House und hatte gerade ihre neuen Bekannten mit irgendeiner Geschichte unterhalten. Dann hatte Lady Meon verkündet, ihr Gatte sei hier. Für einen kurzen, seligen Moment hatte sie vergessen, dass George nicht mehr am Leben war. Sie drehte sich erwartungsvoll um, aber sie blickte in das Gesicht eines Fremden.

Was für ein grausamer Schicksalsschlag. Schock, herzzerreißende Enttäuschung und Angst hatten ihr sofort die Sinne geraubt. Doch nun war sie erwacht und sich ihrer Schwierigkeiten nur allzu bewusst.

Der Kopfschmerz war abgeklungen, und sie riskierte es, die Augen zu öffnen. Der Fremde war immer noch hier und hielt ihre Hände ziemlich fest. Er sah völlig anders aus als George. Er war älter, und seine Haare waren blond statt braun. Sie waren noch heller als ihre eigenen Haare. George war in den letzten Monaten sehr krank gewesen, aber dieser Mann strotzte vor Gesundheit und Kraft.

Er lächelte sie an, und in ihr bewegte sich etwas. Sie hätte diesen attraktiven Fremden auch gern angelächelt, und am liebsten wäre sie einfach liegen geblieben. So hätte sie seine Fürsorge ein wenig länger genießen können. Schnell schloss sie die Augen wieder. Himmel, welch ein beängstigender Gedanke!

„Wir sind hier unter uns“, sagte er. „Sie können aufhören, sich zu verstellen.“

„Meine Ohnmacht war keine Verstellung“, sagte sie unwirsch und versuchte sich aufzusetzen. „Wer sind Sie?“

„Ich bin Westray“, sagte er. „Aber wichtiger ist doch wohl, wer Sie sind, Madam.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. Er war nach der neuesten Mode gekleidet, ein Diamant funkelte in den Falten seines Halstuchs, doch er trug keinen weiteren Schmuck außer einem goldenen Siegelring. Konnte er wirklich der gesuchte Earl sein? Ein Verbrecher. Sie wusste, dass Menschen wegen kleinster Vergehen deportiert wurden, und die Berichte sagten aus, dass er eine volle Begnadigung erhalten hatte. Doch nichtsdestotrotz war er ein Sträfling.

Sie schaute ihn sich genauer an. Im Kerzenlicht glänzten seine dichten blonden Haare, und seine Haut war goldbraun wie die eines Mannes, der viel Zeit im Freien verbracht hat. Oder auf einer langen Schiffsreise.

„Nun?“, fragte er, als sie nicht antwortete. „Es ist ein Verbrechen, sich als jemand auszugeben, der man nicht ist. Ich glaube, ich habe eine Erklärung verdient. Zunächst einmal nennen Sie mir bitte Ihren Namen.“

Sie schaute ihn stolz an und hätte gern erwidert, dass er ein Verbrecher sei, über den sie in der Zeitung gelesen hatte. Er wartete jedoch gelassen auf ihre Antwort, und ihr Widerstand wurde schwächer. Er sah eigentlich gar nicht aus wie ein Krimineller. Doch egal, was er getan hatte, um sich die Begnadigung zu verdienen – es hieß noch lange nicht, dass sie ihm trauen konnte.

Er war ganz lässig, anscheinend sogar belustigt, doch dahinter spürte sie eine eiserne Stärke. Sie sah ein, dass er sich nicht mit weniger als der Wahrheit abspeisen lassen würde. Es blieb ihr keine andere Wahl, sie musste antworten.

„Ich bin Arabella Roffey.“

„Fahren Sie fort.“

Seine blaugrünen Augen funkelten amüsiert, und er sah nicht unfreundlich aus. Spontan sagte sie: „Ich musste hierherkommen. Es ist sehr wichtig. Bitte stellen Sie mich nicht vor allen bloß!“

Sie rutschte zur Seite des Sofas, denn sie wusste nicht, ob ihre Beine sie tragen würden, wenn sie aufzustehen versuchte. Ran veränderte seine Haltung, damit er ihr ins Gesicht blicken konnte. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und lächelte, als fühlte er sich sehr wohl. Auf den zweiten Blick erkannte sie jedoch, dass ihr erster Eindruck richtig gewesen war – er war so entspannt wie eine Katze, die ihre Beute belauert.

„Wie faszinierend“, sagte er mit heiterer Stimme. „Das sollten Sie mir genauer erklären.“

„Ich …“ Sie presste die Hände fest zusammen, um sich zu beruhigen, und schaute hinab auf ihre weißen Fingerknöchel. „Ich will herausfinden, wer meinen Gatten ermordet hat.“

3. KAPITEL

Diese Antwort hatte Ran nicht erwartet. Sie sah nicht alt genug aus, um verheiratet zu sein, geschweige denn verwitwet. Er schaute sie genauer an und änderte seine Meinung. Vermutlich war sie doch schon ein- oder zweiundzwanzig Jahre alt. Ihr Gesicht war sehr blass, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Obwohl sie sehr jung war, sah er, dass sie wahrscheinlich großen Kummer erlebt hatte.

„Sie machen Lady Meon verantwortlich dafür?“

„Nein. Möglicherweise. George war mit Freunden hier, müssen Sie wissen. Bevor er starb. Nach allem, was er mir erzählte, als er krank war, habe ich den Verdacht … nein, bin ich überzeugt, dass ihm hier etwas zugestoßen sein muss.“

„Warum haben Sie der Lady nicht einfach einen Brief geschrieben und danach gefragt?“

Sie zuckte kurz mit den Schultern. „Wenn ich mit meinem Verdacht richtigliege, würde Lady Meon mir als Mrs. Roffey sicher nichts erzählen.“

„Sie dachten also, dass Sie als Countess mehr herausfinden könnten.“ Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: „Seit wann treten Sie denn schon als meine Gemahlin auf?“

„Etwas über zwei Wochen.“ Als wollte sie ihn beschwichtigen, fügte sie hinzu: „Aber nur hier in Devonshire. Und bis heute Abend hatte ich nur Lady Meon kennengelernt. Doch dann lud sie mich zu ihrer Party ein, und ich hoffte, etwas herausfinden zu können.“

Vom Korridor draußen vor der Tür waren plötzlich Stimmen zu hören. Eine Lachsalve und laute Schritte.

Sie blickte ihn an, und er konnte sehen, wie angespannt und ängstlich sie war. „Werden Sie ihnen verraten, dass ich eine Betrügerin bin?“

„Nicht hier“, sagte er und stand auf. „Und nicht heute Abend.“

Ran spürte, dass ihre Anspannung ein klein wenig nachließ.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar, vielen Dank.“

„Ich lasse Ihnen Ihren Mantel bringen. Und meine Kutsche soll vorfahren.“

Sie sah plötzlich sehr beunruhigt aus.