Die Familie Buchholz - Julius Stinde - E-Book

Die Familie Buchholz E-Book

Julius Stinde

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Beschreibung

Wilhelmine Buchholz hat ein klares Ziel vor Augen: Ihre Töchter Emmi und Betti müssen endlich unter die Haube! Aber potenzielle Ehemänner sind rar, und so nimmt sie die Sache selbst in die Hand – wodurch sie ihre Umgebung ein übers andere Mal in schiere Verzweiflung stürzt. Die Geschichten aus dem Leben der zu Geld gekommenen Kleinbürgerfamilie Buchholz waren im späten 19. Jahrhundert enorm erfolgreich und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Bis heute haben sie nichts von ihrem Witz verloren – und liefern überdies satirisch-genaue Milieustudien aus dem aufstrebenden Berlin des Kaiserreichs.

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Die Familie Buchholz

Aus dem Leben der Hauptstadt

von

Julius Stinde

Mit einem Nachwort von Arnt Cobbers

Jaron Verlag

JULIUS STINDE (1841–1905) war promovierter Chemiker und begann nebenbei Sachbücher und satirische Zeitungsartikel zu schreiben, bis er vor allem mit seinen insgesamt sieben Büchern über die Familie Buchholz zu einem der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit wurde.

Zu dieser Ausgabe: Grundlage des Textes ist die 1939 in der Grote’schen Verlagsbuchhandlung, Berlin erschienene Ausgabe. Die Rechtschreibung wurde größtenteils der heute üblichen angepasst, offensichtliche Fehler wurden verbessert, manche Eigenarten und Altertümlichkeiten aber auch beibehalten.

1. Auflage 2023

Jaron Verlag GmbH, Berlin

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Satz und Layout: Prill Partners|producing, Barcelona

Lithografie: Bild1Druck GmbH, Berlin

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ISBN 978-3-95552-069-4

Inhalt

Von außen

Ein Geburtstag

Musikalischer Bräutigamsfang

Auf der Ausstellung

Herr Buchholz hat Zahnschmerzen

Spukgeschichten

Bei der Silvesterbowle

Ein magnetischer Tee

Im Kremser

Ein Polterabend in der dritten Etage

Warum wir ins Bad Müssen

Badeleben

Wieder ein Jahresanfang

Herrn Bergfeldts Unglück

Der Erstgeborene

Auf einen Löffel Suppe

Taufe

Eine Pfingsttour

Sommerfrische

Erntefest

Geheimnisse

Emmis Trousseau

Der letzte Kaffee

Auf dem Bock

Hochzeit

Nach der Hochzeit

Die erste Gesellschaft

Onkel Fritzens Weihnachten

Nachwort

Die Berlin-Bibliothek

Von außen

In der Landsberger Straße, welche vom Alexanderplatz nach dem Friedrichshain führt, und zum Postbezirk Nordost der Reichshauptstadt gehört, steht ein Haus, das sich von seinen Nachbarn rechts und links, gerade und schräg gegenüber dadurch unterscheidet, dass es keine Ladenfenster hat und an seiner Fassade ein Paar Pilaster aufweist, die ein Architekt ersonnen hat, der einmal griechisch bauen wollte und aus Versehen falsche Vorlageblätter in die Hand bekam, als er den Aufriss zu Papier brachte.

Aber diese beiden Wandpfeiler, welche von der ersten Etage bis fast an das Dach reichen und den zweiten Stock durchschneiden, geben dem Haus trotzdem ein gewisses feierliches Aussehen, sodass es sich vorteilhaft von den modernen Mietskasernen abhebt, denen die kleinen Gebäude Alt-Berlins allmählich zum Opfer fielen, die dort im Nordost noch hin und wieder anzutreffen sind und nur auf das Weggerissenwerden zu warten scheinen.

Das Haus mit den missverstandenen griechischen Pilastern wird sich aber noch eine Weile halten; denn als es entstand, schüttelten die Leute die Köpfe über den gewaltigen und prunkvollen Bau, der viel zu sehr gegen seine Umgebung abstach. Sollte vielleicht ein Prinz darin wohnen oder ein Graf? Die Vornehmen zögen nicht nach der Landsberger Straße, die blieben Unter den Linden oder in der Wilhelmstraße, wo die anderen Paläste stehen und die Kinder nicht in Pantinen herumlaufen. So sagten die Leute damals, und jetzt, nach kaum einem Menschenalter, passt jenes Haus nur noch eben in das moderne Berlin hinein, weil es seinerzeit auf den Nachwuchs gebaut wurde wie der Sonntagsrock für den Dreizehnjährigen, dem die Arme und Beine quartalsweise länger werden. Aus dem vermeintlichen Palast ist mittlerweile ein gut bürgerliches Haus geworden, und wer jetzt vom Alexanderplatz kommt, den Bahnhof der Stadtbahn, das schlossartige Hotel, die Markthalle und die anderen himmelanstrebenden Neubauten bewundert, der wird, wenn er die Landsberger Straße durchschreitet, nichts merkwürdig finden als das für die Nachwelt in Stuck erhalten gebliebene Gelüste des Architekten, einmal das Antlitz eines modernen Wohnhauses mit griechischen Motiven zu tätowieren.

Der eine Flügel des Haustores, dem der übliche Rundbogen nicht fehlt, ist am Tage meistens geöffnet, sodass man auf den Flur sehen kann und auf die Glastür, die zum Hofe führt. Durch die mattgemusterten Glasscheiben schimmert es im Sommer grün, denn hinter dem Haus liegt ein kleiner Garten, in dem ein Apfelbaum und einige Fliederbüsche nach Luft und Licht ringen. Wenn der Steinkohlenrauch von der benachbarten Fabrik von feuchten Winden in den Hof hinabgedrückt wird, färbt er die spärlichen Apfelblüten schwarz und dringt in die zarten Kelchröhren des Flieders, dem deshalb stets ein Beigeruch nach dem Schornstein anhaftet. Es wird auch jedes Jahr versucht, ein wenig Rasen anzusäen, aber die langen Keime, die im Schatten unter dem Baum aufsprießen, bringen es nicht weit, denn was die Spatzen übrig lassen, scharren die Hühner aus der Erde. Wenn aber ein linder Mairegen gefallen ist und die Jungens in den überfluteten Rinnsteinen der Straße Papierkähne schwimmen lassen oder in Ermangelung dieser ihre Mützen, dann sieht der Garten hinter dem Haus aus, als wäre der Frühling darin zu Gast. Und das ist schon sehr viel in dem großen, weiten Berlin.

Groß und weit ist die Stadt geworden, so groß, dass der einzelne Mensch darin verschwindet. Wie ganz anders ist es dagegen in einer kleinen Stadt. Da kennt einer den anderen, wenn auch nicht näher, so doch vom Ansehen, und wenn einmal ein Fremder durch die Straßen geht, so weiß jeder, der ihn sieht, dass es wirklich ein Fremder ist. Es kann jemand durch ganz Berlin wandern, Straße für Straße, ohne dass man ihn beachtet; er muss es für einen glücklichen Zufall halten, wenn ihm ein Bekannter oder Freund begegnet. Tausende hasten an ihm vorbei, sie sind ihm fremd, er ist ihnen fremd; fremd sind ihm die Mitfahrenden im Omnibus, im Pferdebahnwagen, im Waggon der Stadtbahn. Es überkommt ihn das Gefühl der Einsamkeit mitten im lauten Treiben des Tages und im Gedränge der Menschen. Die Einsamkeit ist nicht allein draußen im Walde daheim, auf dem Meere und in der Öde, sie hat ihre Stätte auch in der Millionenstadt.

Und doch ist jedes Haus dieser großen Stadt eine Heimat für die, welche darin wohnen, und die Straße, in der das Haus liegt, ist ein Bezirk, in dem es Nachbarn gibt wie in einer kleinen Stadt, in der man sich persönlich nahe steht oder doch wenigstens vom Ansehen kennt. Die Familien in den Häusern haben Verwandte und Bekannte, ganz so wie in einer kleinen Stadt, man hat seine Kreise ganz so wie dort und redet von den Angehörigen dieser Kreise ebenso viel Gutes und ebenso viel Böses, wie anderwärts. Der Unterschied besteht nur darin, dass es in der großen Stadt mehr Kreise gibt als in der kleinen und dass sie schärfer voneinander getrennt sind, weil sich die Einsamkeit der Großstadt dazwischen drängt. Sie gleichen jenem Garten, den die hohen Mauern der Nachbarhäuser einschließen, dessen grünen Schimmer der Vorübergehende nur gewahrt, wenn das Haustor offen steht. Der Fliederbaum blüht nicht für jedermann, wie in den Anlagen des Lustgartens, wo die weißschäumenden Strahlen der Springbrunnen sich hoch in die Luft erheben und das blühende Gebüsch netzen, das sie umhegt, wenn der Wind mit den glitzernden Tropfen spielt.

Über das öffentliche Leben der Großstadt wird täglich von den Zeitungen Protokoll geführt. Wir erfahren gewissenhaft, wann die ersten Knospen im Tiergarten sich entfalten, aber über die ersten Blüten jenes Apfelbaumes wird keine Zeile gedruckt, denn er ist ein privater Apfelbaum und hat als solcher kein Anrecht an der Druckerschwärze, es sei denn, dass er irgendetwas Außerordentliches leiste, im Herbst noch einmal wieder anfängt jung zu werden oder vor Altersschwäche stürzt und dabei Unheil anrichtet. Und so ist es auch mit dem Privatleben in den Häusern und mit dem Tun und Treiben in den vielen Kreisen. Nur außergewöhnliche Vorkommnisse gelangen an die Öffentlichkeit: ein Einbruch, eine Feuersbrunst, ein besonderes Unglück oder ein fröhliches Ereignis seltener Art. Von Tausenden und aber Tausenden erfährt die Welt nichts, die wandeln ihren Weg von der Geburt bis zum Tode mitten in der großen Stadt wie in stiller Verborgenheit, und doch schlägt ihnen ein Herz in der Brust, das liebt und hasst, Freude empfindet und Leid, weil es ein Menschenherz ist.

Auch die Familie Buchholz in der Landsberger Straße würde zu jenen Tausenden gehören, wenn nicht ein Erlebnis ärgerlicher Natur der Frau Wilhelmine Buchholz die Veranlassung gegeben hätte, ihre Entrüstung der Öffentlichkeit zu unterbreiten und aus der Verborgenheit hervorzutreten. Mit dem ersten Briefe, den sie an die Redaktion einer Berliner Wochenschrift sandte, war sie der Presse verfallen, denn ein Brief folgte dem anderen und jeder gewährte einen Einblick in das Privatleben der Familie und in den Kreis ihres Verkehrs. Frau Wilhelmine öffnete nicht allein das Gartentor, sondern sie schnitt auch, wenn es an der Zeit war, eine Handvoll von dem Flieder für solche Leute ab, die der Schornsteingeruch nicht störte. Sie meinte, Orchideen wüchsen nicht in der Landsberger Straße; einfache Bürgersleute hätten kein Treibhaus.

Sie hat recht. Wem die Schilderung des kleinbürgerlichen Lebens der Reichshauptstadt nicht gefällt, dem bleibt es unbenommen, sich einen Roman zu kaufen, in dem Grafen und Komtessen gebildete Konversation führen. Wen es aber interessiert zu erfahren, wie sich intimes Familienleben in der Einsamkeit der großen Stadt gestaltet, der wird an den Sorgen und den Freuden der Frau Wilhelmine Anteil nehmen und ihre Briefe als Skizzen aus dem Leben der Hauptstadt betrachten, die nicht bloß aus Asphaltstraßen und langen Häuserreihen besteht, sondern aus vielen, vielen Heimstätten, deren Türen dem Fremden verschlossen bleiben. Eine von diesen Heimstätten ist das Haus Buchholz in der Landsberger Straße, und was Frau Buchholz dazu trieb, die Tür zu öffnen, war der Ärger. Wie das kam, lassen wir sie selbst erzählen.

Ein Geburtstag

Ich bin nur eine einfache Frau, Herr Redakteur, und das Schreiben ist meine Sache durchaus nicht, aber da in Ihrem Blatte, welches ich so gerne lese, doch auch manchmal Gegenstände zur Sprache kommen, die nur von Frauen richtig erfasst und behandelt werden können, so wage ich es, als vorsorgliche Mutter, Ihnen mein Herz auszuschütten und bitte Sie, den Stil, wo er reparaturbedürftig ist, gütigst ausbessern zu wollen. Es wäre mir nämlich peinlich, wenn meine Töchter Fehler in meinem Schreiben entdecken sollten, so etwas würde meine bisherige Autorität schädigen. Sie glauben gar nicht, wie die Kinder heutzutage es weit in der Schule bringen.

Nun aber zur Sache.

Vor zwei Weihnachten schenkte Onkel Fritz den Kindern ein Puppentheater, womit wir auch ganz einverstanden waren, weil sie ruhig sind, wenn sie sich damit beschäftigen. Selbst wenn der kleine Krause zu Besuch kommt und Heimreichs dreie aus der Müllerstraße, geht es ohne Lärm her, sobald sie das Puppentheater vorhaben. Sonst spielten sie immer: »Wie gefällt dir dein Nachbar« oder »Räuber und Soldat«, wobei es nie ohne Spektakel abging und einmal sogar die Scheibe von der Servante eingestoßen wurde, worin das gute Porzellan steht, das Gott sei Dank unversehrt blieb. Mein Mann schenkt den Mädchen daher auch hin und wieder einige Groschen, damit sie sich Bilderbogen kaufen und neue Figuren für das Theater zurechtpappen können, es ist das immer noch vorteilhafter, als wenn etwas entzweigebrochen wird. Die Scheibe vom Spinde kostete bare acht Mark! Neulich war nun Emmis Geburtstag, und weil es doch ein Aufwaschen war, so lud ich die Alten auch ein, während Emmi, wie wir das so gewohnt sind, ihre Kindergesellschaft hatte.

Den Kindern war das Esszimmer überlassen, und nachdem sie ihre Schokolade bekommen hatten (notabene mit der nötigen Portion Kuchen), bauten sie das Puppentheater auf und stellten Stühle davor, ordentlich wie im Theater. Dann kam der kleine Krause und lud uns Großen ein, die Vorstellung zu besuchen, und wir gingen denn auch alle hin, um den Kindern den Gefallen zu tun. Wir Damen saßen gleich vorne an, die Herren mussten aber an der Wand stehen, denn das Geschleppe mit den Plüschstühlen aus der guten Stube dulde ich nicht.

Als wir nun so sitzen und der Dinge harren, die da kommen sollen, sagt Frau Heimreich zu mir, dass sie im ganzen nicht sehr dafür wäre, dass die Kinder sich mit Komödie beschäftigen, es mache sie so phantasiereich. Ich erwiderte ihr darauf: »Im Gegenteil, es bildet Herz und Gemüt und ist eine bessere Beschäftigung, als das Skandalmachen, wobei leicht Spiegelscheiben von Schränken eingerannt werden.« – Den Stich hatte sie weg, denn ihre Agnes war damals schuld an dem Malheur gewesen, und so schwieg sie denn auch still.

Endlich ging der Vorhang auf. Onkel Fritz fing an zu applaudieren, obgleich noch kein Wort gesprochen war; er musste wohl meinen, im Viktoriatheater zu sein, wo die Dekorationen immer den meisten Beifall bekommen. Hier war jedoch gar nichts zu beklatschen, denn die Szenerie stellte ein einfaches Zimmer dar, an dem unsereins nichts Bemerkenswertes finden konnte. Aber Onkel Fritz will einmal als Kenner gelten.

Nun fingen die Kinder an zu sprechen. Meine Emmi schob eine der auf dem Theater befindlichen weiblichen Figuren nach vorne und sagte ganz laut und vernehmlich: »Guten Morgen, meine Damen. Nee, ich kann nicht anders, als Ihnen mein Herz ausschütten. Denken Sie sich, die Rosalie, das leichtsinnige Geschöpf, kokettiert nun auch schon mit meinem Wachtmeister.«

»Das fängt ja nett an!«, flüsterte Frau Heimreich mir zu. – »Wer wird denn gleich alles auf die Goldwaage legen!«, sagte ich. Ein bisschen sonderbar war mir aber doch zumute geworden, allein der Heimreichen gegenüber wollte ich mir keine Schwäche anmerken lassen.

Die Kinder spielten weiter, und Emmi fuhr fort: »Na es ist auch kein gutes Haar an dem Frauenzimmer. Hat sie Ihnen nicht auch Ihre Liebhaber abspenstig zu machen gesucht, das fatale Ding?«

»Ja freilich! Ja freilich!«, antworteten die anderen Kinder im Chor und bewegten die Puppen an ihren Drähten, als wenn die gesprochen hätten. Sogar der kleine Krause stimmte mit ein, weshalb er vom Theater weggewiesen wurde und weinerlich hinter dem Bettschirm hervorkam, mit dem die Kinder das Puppentheater auf der Seite verstellt hatten, damit man sie nicht sehen konnte.

»Mir scheint, die Sache wird immer heiterer!«, sagte Frau Heimreich ziemlich laut. Ich tat, als wenn ich nicht merkte, was sie meinte, und sagte deshalb zum kleinen Krause: »Komm nur zu mir, Eduard, von hier siehst du’s am allerbesten!« – »Ich denke, das Kind täte gut, wenn es von solcher Art Komödie gar nichts sähe«, bemerkte Frau Heimreich spitz. Ich schwieg. Nun erschienen auf der Bühne zwei Puppen, die davon redeten, dass sie heimlich verheiratet seien, einen Sohn hätten, von dem die Eltern nichts wüssten, und dergleichen Anzüglichkeiten mehr. Hierauf kam ein alter Sünder, welcher der Rosalie die Cour machen wollte und zwei Flaschen Champagner mitbrachte, auf die er zwei Zehntalerscheine geklebt hatte. Frau Heimreich machte in einem fort spöttische Bemerkungen. »Das bildet wohl Herz und Gemüt?«, gab sie mir zurück. »Besser ist denn doch, die Glasscheiben nehmen Schaden als die jungen Kinderseelen!«

Konnte ich ihr recht geben? Ich hätte es wohl eigentlich müssen, allein sie war zu impertinent, sodass ich nur sagte: »So etwas wie auf der Bühne kommt im Leben oft genug vor!« – »Derlei Erfahrungen habe ich nicht gemacht!«, höhnte sie.

Ich hätte ihr dies und das antun können, aber recht sollte sie doch nicht haben. »Wenn man sich blind und taub stellt, sieht und hört man natürlich nichts von der Welt!«, erwiderte ich. Zum Glück fiel der Vorhang, und der erste Akt war vorbei. Onkel Fritz und der kleine Krause waren die einzigen, die applaudierten, ich klatschte natürlich auch mit, bloß um Frau Heimreich zu zeigen, dass ich mich an ihr Geschwätz durchaus nicht kehrte.

Nun kam der zweite Akt. Es wurde ein Kind ausgesetzt, die Rosalie findet es, ein Mann sagt ihr auf den Kopf, es wäre das ihre. »Ich bin Stickmamsell, wie käme ich denn zu so was!«, ruft meine Emmi, welche die Rolle der Rosalie zu sprechen hatte.

Mir war es schon zu verschiedenen Malen heiß und kalt übergelaufen, und jetzt konnte ich nicht länger an mir halten. »Nun ist’s aus mit der Komödie!«, rief ich, »das geht mir denn doch über allen Spaß!«, und sprang auf. – »In Ihrem Hause lernen die Kinder allerliebste Dinge!«, rief Frau Heimreich. »Ha, ha! Herz und Gemüt! Ja, die finden ihre Rechnung. Das muss man sagen!« Hierauf rief sie: »Agnes, Paula, Martha, ihr kommt zu mir, von solchem Unfug will ich nichts wissen. Wir sind eine respektable Familie, euer Großpapa, mein seliger Vater, hatte den roten Adlerorden.« – »Aber man bloß vierter Klasse«, warf ich ein, denn wenn sie nur irgend kann, bringt sie den alten Mann mit seinem Orden aufs Tapet.

Die Kinder kamen hinter dem Bettschirm hervor. Meine weinten laut, und der kleine Krause fing mit an zu heulen. Es war das reine unterbrochene Opferfest.

»Was haben wir denn getan, dass du so böse bist, Mama?«, flennte Emmi. – »Ach was!«, sagte ich, »wie könnt ihr so dummes Zeug aufführen!« – »Bloß dumm?«, fragte die Heimreich. – »Wo habt ihr das Stück her?«, inquirierte ich. – »Vom Buchbinder!«, antwortete Emmi und brachte mir ein Büchlein, dessen Titel lautete: Eine leichte Person. Posse in drei Akten von Büttner und Pohl. Für Kindertheater bearbeitet von Dr. Sperzius. Neu-Ruppin, Verlag von Öhmigke und Riemschneider. – »Das mag ein schöner Doktor sein, der Spuzius oder Sperenzius«, sagte Frau Heimreich. »Schämen sollte er sich.« – Nun mischte Onkel Fritz sich dazwischen. »Eine sehr gute Posse«, sagte er, »sie ist unzählige Male auf großen Bühnen gegeben.« – »Jawohl!«, rief ich, »eine Posse für einzelne Herren. Aber was dir als ledigem Junggesellen gefällt, braucht deshalb noch immer nicht gut zu sein. Ich hoffe nicht, dass du sie gesehen hast, Karl?«, fragte ich meinen Mann. Er erinnerte sich nicht genau.

Nun bohrte Frau Heimreich wieder nach. Ich als Mutter hätte nicht dulden dürfen, dass solche Bücher in mein Haus kämen, worauf ich sagte, dass ich mehr zu tun hätte, als darauf zu achten; in meinem Hause könnten die Leute, die zu Besuch kämen, ihren Namen nicht anstatt der Visitenkarte in den Staub schreiben, der fingerdick auf den Möbeln läge. Ein Wort gab das andere, und sie verließ uns, indem sie sagte, sie würde nie wiederkommen, ebensowenig wie sie ihren Kindern ferner gestattete, ein solches Gomorrha wieder zu betreten, wie unser Haus sei. Das war mir ganz recht, denn meine beiden sind eigentlich schon zu groß für Heimreichs drei Jüngsten, und wenn die Heimreichen sich auch mit ihrer Moral brüstet, so bin ich doch der festen Meinung, dass sie nur so lange fromm ist, als sie sonntags in der Kirche sitzt.

Die Kinder weinten schrecklich, als die Heimreichs davongingen. Ich gab ihnen Schokolade und Kuchen, obgleich sie erst vor kurzem genug gehabt hatten, aber Kinder haben immer noch Platz, und das war in diesem Fall sehr gut, denn so wurden die wenigstens ruhig. Wir hatten zwar ziemlich lange Umgang mit Heimreichs gehabt, aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Sie wollte es einmal nicht anders. Außerdem wohnen sie ganz hinten in der Müllerstraße, und das ist von uns ein entsetzliches Ende. Krauses blieben noch, und als wir wieder in der guten Stube saßen, kam die Rede natürlich auf das infame Buch, das so viel Unheil angerichtet hatte. Herr Krause meinte, es sei unverantwortlich, solches Zeug den Kindern in die Hände zu geben. Onkel Fritz entgegnete, die seien viel zu dumm, als dass sie wüssten, worum es sich eigentlich handelte. – »Aus kleinen Kindern werden große!«, sagte mein Mann. – »Jugendeindrücke haften fürs ganze Leben!«, sagte Frau Krause. – »Die Kinder hätten ja Schneewittchen oder Rübezahl oder derartiges aufführen können«, rief ich. »Dass ihnen auch gerade solche Dummheit in die Hände geraten musste wie die leichte Person.«

Onkel Fritz meinte, wir hätten die Komödie ruhig zu Ende spielen lassen sollen, das wäre besser gewesen, als unnützes Aufsehen zu machen. Ich wusch ihm aber nicht schlecht den Kopf, denn Onkel Fritz ist mein jüngster Bruder. Sein albernes Theater sei an allem schuld, behauptete ich. Er wälzte sie jedoch von sich ab auf den Buchbinder und den Dr. Sperenzius oder wie er heißt. Es gab eine allgemeine Verstimmung.

Nun frage ich Sie, Herr Redakteur, ist es zu verantworten, dass Fabrikanten und Händler unter der harmlosen Bezeichnung für Kindertheater bearbeitet Schriften zum Verkauf bringen, die für die Kinderwelt passen, wie die Faust aufs Auge? Wo ist ein Gesundheitsamt für die Verfälschung der geistigen Nahrungsmittel?

Das Geburtstagsfest war allerdings gründlich gestört – schuld hatte die Heimreich auch … Aber das habe ich als Lehre daraus genommen: die Lektüre meiner beiden wird von heute ab von mir und meinem Manne überwacht; in das Paradies ihrer Kindheit kommt mir ein solches Giftgetier nicht wieder. Krausens sind ganz meiner Meinung, und vielleicht sind es andere Familien auch, wenn sie erfahren, wie es mir ergangen ist. Sie sind nicht Mutter wie ich, aber ich hoffe, Sie werden mir in dieser Angelegenheit beistehen, Herr Redakteur.

Ihre ergebene

Wilhelmine Buchholz, geb. Fabian

P. S. Das Buch füge ich bei. Sie sehen, dass ich die schlimmsten Stellen noch gar nicht angeführt habe.

Musikalischer Bräutigamsfang

Sie waren damals so nett und druckten die fatale Geschichte ab, welche auf meiner Emmi Geburtstag passiert war, als die Kinder das alte grässliche Komödienstück auf dem Puppentheater spielten und ich mich mit der Heimreich erzürnte. Sie ist noch nicht wieder bei uns gewesen, und die Krausen von nebenan, die eine sehr verständige Frau ist, meint auch, ich würde mir etwas vergeben, wenn ich den ersten Schritt täte.

Nun muss ich Ihnen aber erzählen, wie ich neulich überrascht wurde. Ich sitze also und denke an rein gar nichts, als es klingelt und der Postbote kommt und das dazu mit einer Geldanweisung für mich. Erst wollte ich es gar nicht glauben, aber ich musste ja quittieren, und er legte die Goldstücke auf den Tisch. Es war das Honorar für das, was ich für Sie geschrieben hatte; nein, ich hatte es wirklich nicht erwartet und dann so viel, ich war ganz außer mir und fing an zu weinen und die Kinder auch. Das Geld lag auf dem Tisch, ich dachte, es würde vor meinen sichtlichen Augen verschwinden, wenn ich es anrührte, und hätte geglaubt, der Postbote wäre ein Gespenst aus einem Zaubermärchen gewesen, wenn er die Stube nicht so voll getreten hätte.

Mein Mann sagte: »Ich kann ordentlich stolz auf dich sein, Wilhelmine, das hast du nun so mit dem Schriftstellern verdient.« – »Karl«, sagte ich zu ihm, »ich bin mitunter wohl etwas heftig gegen dich gewesen, es soll nicht wieder vorkommen, nein, ganz gewiss nicht.« Er umarmte mich und gab mir einen Kuss, und ich musste wieder anfangen zu weinen. Emmi und Betti klammerten sich an mich, als sie sahen, dass ich mich immer noch nicht beruhigen konnte, und wischten auch die Augen. »Lasst gut sein, Kinder«, beschwichtigte ich sie, »es ist ja nur die Freude. Wenn bloß die Heimreich das sehen könnte, wie würde die sich ärgern!«

»Was willst du nun mit dem Gelde anfangen?«, fragte mein Mann. – »Das bewahre ich zum ewigen Andenken auf«, antwortete ich, »oder wenn es nicht anders ist, kaufe ich mir einen neuen Hut dafür, der alte ist durchaus nicht mehr modern. Die Krausen hat sich kürzlich auch erst einen neuen angeschafft.«

Die Kinder meinten auch, es wäre das beste, wenn ich den Hut kaufte. So gab ich denn ihrem Drängen nach, und wir gingen alle drei ins Modemagazin. Weil aber noch ein kleiner netter Rest von dem Gelde übrig blieb, das der Postbote gebracht hatte, sagte ich: »Dafür wollen wir uns einen vergnügten Tag machen. Wir gehen heute abend ins Konzerthaus bei Bilse; ich setze den neuen Hut auf, und Papa holt uns nachher ab.«

Der Jubel der Kinder war unermesslich, und weil wir doch einmal unterwegs waren, gingen wir in eine Konditorei und ließen uns Schokolade geben mit Schlagsahne darauf und etwas Angenehmes zum Knabbern dazu. Es war allerliebst. –

Am Abend machten wir uns rechtzeitig auf den Weg, um einen guten Platz bei Bilse zu bekommen. Als wir nun in den Saal treten, sehe ich da bereits eine Freundin von mir an einem Tisch sitzen. Wir gingen heran und begrüßten uns. »Guten Abend, Frau Bergfeldt«, sagte ich, »sieht man Sie auch mal wieder? Nein, und wie Ihre Auguste herangewachsen ist, seit ich sie nicht gesehen habe!« Die Bergfeldten meinte auch, dass ihre Tochter sich sehr herausgemacht hätte. Na, ich sah gleich, dass es nur das Kleid war, welches das Mädchen so groß machte, ganz modern mit Schleppe und Kürasstaille und die Haare vorne ins Gesicht heruntergekämmt wie eine Ponymähne. Bei meinen würde ich so etwas nicht leiden, obgleich der Betti bereits ebensogut solches Kleid passen würde wie Bergfeldtens Auguste, die freilich schon vor zwei Jahren konfirmiert wurde, aber noch sperrig und ungelenk ist, dass es eine Sünde und Schande ist, sie wie eine Erwachsene zu kleiden. Nun, wer so spitze Ellbogen hat, tut freilich am besten, lange Ärmel zu tragen.

Wir nahmen Platz, aber als Emmi sich neben Auguste setzen wollte, sagte die Bergfeldten, der Stuhl wäre vergeben, ihr Emil käme noch nach. Ich sagte: »Es sind ja zwei Stühle frei, an einem wird Ihr Emil wohl genug haben.« Da gab sie mir zur Antwort, ihr Emil würde noch einen Freund mitbringen, und wurde ganz verlegen. »Aha«, dachte ich, »hier spinnt sich etwas an. Aufgepasst, Wilhelmine!«

Es dauerte denn auch nicht lange, und Emil kam richtig mit seinem Freunde an, der, wie sich nachher herausstellte, ebenso wie Emil auf den Assessor studiert, wozu er jedoch noch ein paar Jährchen Zeit hat. Wie ich nicht anders erwartet hatte, setzte sich der Freund neben die Auguste, die rot bis hinter die Ohren wurde und sich von nun an noch linkischer benahm als zuvor. Emil kam bei meiner Betti zu sitzen, und so war unser Tisch denn komplett.

Das Konzert begann, und kaum fingen die Musiker an zu spielen, als die Bergfeldt einen Strickstrumpf aus der Tasche holte und darauf losstrickte, als wollte sie das Entree wieder verdienen. Solange die Musik langsam und feierlich war, strickte sie ganz ruhig; aber als nachher ein Walzer gespielt wurde, fuhr ihr der Takt in die Finger, und sie ließ so viele Maschen fallen, dass ihre Auguste alles wieder auftrennen musste, was sie fertig gebracht hatte. Nun konnte ich mir auch erklären, warum der Strumpf auch so grau aussah.

Ich bin ja sehr für den häuslichen Fleiß und hasse das Müßiggehen, aber wenn man seinen Geist im Konzert bilden will, kann man doch die Aufmerksamkeit nicht zwischen einer Sinfonie und dem Strumpf teilen. Auch glaube ich nicht, dass Beethoven seine himmlischen Eingebungen komponierte, damit dazu gestrickt werden sollte. Und wie großartig ist solche Sinfonie, wenn sie alle vier Kellertreppen tief in Gedanken dasitzen und man meinen muss, sie könnten höchstens durch einen Eimer kaltes Wasser wieder zu sich gebracht werden. Das ist die Macht der Musik!

In den Zwischenpausen unterhielten wir uns recht gut. Emil ließ sich mit meiner Betti in ein umfassendes Gespräch über die deutsche Literatur ein, und da Betti erst kürzlich etwas von der Marlitt gelesen hatte, so wusste sie recht gut Bescheid; sie fand auch, dass die Marlitt ihre Charaktere außerordentlich schildert, und hielt es für durchaus richtig, dass der Baron erschossen wurde und der brave charaktervolle Ingenieur die Gräfin kriegte. Wenn die Kinder etwas lernen, können sie nachher auch ein Wort mitsprechen.

Bergfeldtens Auguste und der Student redeten fast keine Silbe miteinander, aber von Zeit zu Zeit warfen sie sich schief von der Seite verliebte Blicke zu, die gerade genug sagten. Die Bergfeldten tat aber, als wenn sie gar nichts bemerkte, im Gegenteil nannte sie den Studenten immer »lieber Herr Weigelt« und fragte, wie es ihm ginge, was seine Eltern machten und warum er die Pulswärmer nicht trüge, die Auguste ihm gehäkelt habe.

»Sie wollen den jungen Mann wohl warm halten, weil Sie ihm Pulswärmer schenken?«, flüsterte ich ihr leise zu, ohne etwas Übles bei dem Scherz zu denken. Sie aber warf einen höhnischen Blick auf meinen neuen Hut und sagte: »Wir sind für das Nützliche und nicht für den Flitterstaat und Tand!« Ich war sprachlos. Meinen neuen Hut Tand zu nennen! Ja, wenn ich ihn geborgt oder meinem Karl das Geld dafür abgezwackt hätte, das wäre etwas anderes gewesen. Als ich mich gefasst hatte, erwiderte ich: »Natürlich, wenn der Mann alles allein verdienen muss, ist es unrecht von der Frau, die Mode mitzumachen.« Das hatte sie weg.

Während der zweiten Abteilung aßen wir den Kuchen, den ich mitgebracht hatte; die beiden jungen Herren steckten sich eine Zigarre an, und je schöner die Musik wurde, umso näher rückten sich der Student und Bergfeldtens Auguste. Ich sagte gar nichts weiter und bemerkte nur, als die Kapelle in einem sehr zu Gemüte sprechenden Potpourri die Melodie Ach, wenn du wärst mein eigen spielte, dass die zwei Hand in Hand dasaßen und sich anschmachteten.

Endlich war das Konzert aus. Mein Karl und Herr Bergfeldt erwarteten uns auf dem Flur, und wir gingen in ein Restaurant, wo wir ein Separatzimmer nahmen, um gemütlich beisammen zu sein. Mein Karl hatte Herrn Bergfeldt erzählt, woher ich meinen neuen Hut hätte, und er gratulierte mir und sagte, nun gehörte ich auch zu den deutschen Schriftstellerinnen, worauf seine Frau sagte – es war ja nur der Neid über den Hut, der sie reden hieß – Damen, welche am Schreibtische säßen, kümmerten sich nicht viel um den Hausstand und die Familie. »So?«, erwiderte ich. »Jedenfalls kümmere ich mich mehr um meine Töchter als Sie sich um die Ihrige, ich würde nie leiden, dass meine Älteste eine Liebschaft mit einem Studenten anfinge wie Ihre Auguste.« Na, das Wort fuhr dazwischen wie eine Bombe. »Was ist das?«, rief Herr Bergfeldt, »Herr Weigelt, ich will nicht hoffen …« »O Gott, Papa!«, rief Auguste. – »Franz meint es aufrichtig«, sagte die Bergfeldt. – »Welcher Franz?«, fragte Herr Bergfeldt heftig. – »Nun, Herr Weigelt«, erwiderte sie, »er liebt Auguste treu und innig …«

»Ich bitte Sie um ein Wort«, wandte sich Herr Bergfeldt an den jungen Studenten, der aufstand und dessen Aussehen wie konfiszierte Milch wurde. Du mein Gott, wie er zitterte! Wie so eine neumodische elektrische Klingel. Er konnte einen wirklich dauern.

»Was sind Sie?«, fragte Herr Bergfeldt. – »Student der Rechte.« – »Wo haben Sie meine Tochter kennengelernt?« – »Bei Bilse.« – »Und sie lieben sich so sehr!«, rief die Mutter. – »Ach ja, Papa!«, weinte Auguste. – »Aber sie sind noch zu jung zum Heiraten, und auf weite Aussichten hin gibt ein Vater seine Tochter nicht.« – »O Papa, du brichst mir das Herz!«, schluchzte Auguste, »Franz ist so gut.« – »Willst du unser Kind unglücklich machen?«, fragte die Mutter. Der Student stand vor Herrn Bergfeldt wie ein armer Sünder im Verhör und konnte kein Wort hervorbringen. »Werden Sie für das Glück meines Kindes sorgen?«, wandte sich Herr Bergfeldt an ihn. »Wollen Sie mir versprechen, fleißig zu sein, Ihre Examina zu machen, solide zu leben und mein Kind – meine Älteste – meine Erstgeborene …« Hier konnte er nicht weiter. Auguste war ganz aufgelöst in Tränen. Und als die Mutter nun rasch die Hände der beiden jungen Leute ineinanderlegte und sagte: »Ich segne euch, meine Kinder«, da fingen meine beiden ebenfalls an. Es war auch zu rührend, denn ich selbst hatte Tränen in den Augen, aber im Stillen musste ich mir doch sagen, dass die Partie mindestens übereilt war. Er hat sein Brot nicht … und sie mit den spitzen Ellbogen! Er wird sich wundern, wenn er die zu sehen bekommt.

Obgleich die Bergfeldten nicht artig gegen mich gewesen war, so gratulierte ich ihr doch und sagte, ich hoffte, dass sie nie bereuen möge, ihr Kind so früh mit einem so sehr jungen Mann verlobt zu haben. Dass er jung war, sah man ja auf den ersten Blick an den Finnen im Gesicht und den paar Bartstoppeln; ich hätte ihn nicht zum Schwiegersohne haben mögen, denn etwas geb ich stets auf das Äußere.

So feierten wir denn die Verlobung in aller Stille und versprachen auch, keinen Ton darüber zu reden, bis der Bräutigam sein Assessorexamen gemacht haben würde. Als wenn eine Verlobung verschwiegen bleiben könnte! Am nächsten Tage weiß es die Waschfrau, und in einer Woche wissen es alle Bekannte, das kenne ich aus Erfahrung, weil es mir selbst so ging, als ich mit meinem Karl verlobt war und Vater die Sache noch geheim halten wollte. Mutter konnte nicht reinen Mund halten. Herr Bergfeldt war schweigsamer als gewöhnlich und drehte in einem fort Brotkügelchen zwischen den Fingern, während sie, die Bergfeldten, sich ein möglichst wonnestrahlendes Aussehen zu geben versuchte. Nun, ich will ja auch nicht leugnen, dass eine frisch verlobte Tochter das Mutterherz mit Stolz und Genugtuung erfüllen darf, aber doch nur dann, wenn man mit dem Bräutigam einigen Staat machen kann und er statt an den Haaren mit den sanften Banden der Liebe herbeigezogen ist.

Herrn Bergfeldt Einsilbigkeit war schuld daran, dass wir die Sitzung nicht zu lange ausdehnten. Er berappte alles, auch was wir gehabt hatten, er war also gewissermaßen nobel, und das machte einen guten Eindruck. Auf dem Heimwege fragte ich meinen Karl, ob er nicht auch bemerkt hätte, dass der Bräutigam, so wie man bei uns in der Landsberger Straße zu sagen pflegt, ein dämliches Gesicht gemacht hätte, als wenn ihm die ganze Verlobung ein bisschen überrascht gekommen wäre? Karl meinte, der junge Mann wäre eine Padde (er drückt sich mitunter etwas familiär aus, mein guter Karl), sonst hätte er sich nicht so überrumpeln lassen, denn genau besehen wäre die Mutter doch nur die Anstifterin von der Verlobung gewesen, die ginge nicht wegen der Musik zu Bilse, sondern nur, um ihre Tochter sehen zu lassen. Er fügte noch hinzu, dass es ihm unangenehm sein würde, wenn ich ohne ihn mit den Kindern ausginge.

Hierauf erwiderte ich, dass er sich auf mich verlassen könne, und ich schon dafür sorgen würde, dass unsere Kinder solche Partien nicht machten, und ich schon verstände, junge Leute ohne Aussichten zu verscheuchen. So gab denn ein Wort das andere, und es wurde auch nicht eher Friede, als bis Karl schwieg. Das tut er immer, wenn wir nicht egaler Meinung sind, und ich ärgere mich umso mehr, weil ich dann nie weiß, was er im stillen denkt. Es ist eben schwer, mit den Männern umzugehen.

Als wir zu Hause waren, fragte Betti, wann wir wieder nach dem Konzerthaus gehen wollten, worauf Papa sagte, das hätte noch lange Zeit. Betti machte einen schiefen Mund und stotterte, sie hätte Bergfeldtens Emil aber versprochen, am nächsten Donnerstag wieder bei Bilse zu sein.

Der Schreck, den ich bekam, ich danke! Nun aber ging ich ins Geschirr und sowohl mein Mann, als die Kinder kriegten ihr Teil. Mein Karl, weil er nicht gleich mitgekommen war, Betti, weil sie mit dem Emil sich verabredet hatte, und Emmi, weil sie doch hätte sehen müssen, dass Emil und Betti miteinander redeten. Es war ungemütlich, und der Tag, der so schön anfing, endete mit Kummer und Verdruss.

Als ich mit meinem Karl allein war, sagte ich: »Wir wollen auf die Mädchen acht geben, solche Verlobungen wie die heute bei Bergfeldtens können doch uns nicht passen!« Karl meinte, wenn die Mütter nur vernünftig wären, könnten keine Dummheiten passieren, selbst wenn die jungen Leute noch so liebenswürdig und die Musik noch so sentimental sei. Ich möchte nur wissen, was Männer von solchen Sachen verstehen?

In zwei Jahren kann Bergfeldtens Emil vielleicht bereits Assessor sein, und Betti ist denn doch zehnmal hübscher als die spitzknochige Auguste, die nun schon Braut ist. Und was die Musik anbelangt, so spielen sie bei Bilse wirklich ausgezeichnet, nur der Paukenschläger haut auf sein Instrument, als sollte es entzwei werden und wollte nicht. Warum soll man nicht öfter ins Konzerthaus gehen? Auch lässt sich nicht leugnen, dass Emil ein schmucker Mensch ist und namentlich einen blendenden Vizefeldwebel abgeben würde. Vielleicht gar Leutnant.

Es trat eine lange Pause ein. Mittlerweile war der Sommer des Jahres 1879 herbeigekommen, an den der Berliner mit Freude zurückdenken wird, denn die Berliner Industrie hatte ein Festtagsgewand angezogen und hielt täglich großen Empfang auf der Gewerbeausstellung ab, für die in der Nähe des Lehrter Bahnhofes ein großes Gebäude errichtet worden war, das ein hübscher Park mit Anlagen, Wasserkünsten und freundlichen Pavillons aller Art umgab.

Vor der Ausstellung war dieser Platz eine kleine Privatsandwüste, ein unangenehmes Terrain, auf dem sich selbst das Gras zu wachsen weigerte. Und nun hatte man einen Garten daraus gemacht, aber ohne Zauberei, nur durch Arbeit und das erforderliche Kleingeld. Schade, dass wir nicht auch in fremden Weltteilen den nötigen Grund und Boden haben, um deutscher Kultur und Industrie Heimstätten zu bereiten … es sollten schon prächtige Plätze werden.

In dem Ausstellungspark standen damals bereits die Bogen der Stadtbahn, über welche die Züge noch nicht hinwegsausten in die weite Welt hinein, aber die großen Gewölbe wurden als Ausstellungsräume benutzt, und eins derselben war sogar in eine altdeutsche Weinstube verwandelt worden, denn das Antike fing gerade an Mode zu werden. Mit einigen Fenstern von grünem Glase und einem Topf voll brauner Farbe kann man jedes Lokal ins Altdeutsche übersetzen.

Industrie und Gewerbe gaben ein Fest, das ganz Berlin mitfeierte, und gar bald konnte der millionste Besucher der Ausstellung begrüßt und vor den Apparat des Photographen gesetzt werden, damit sein Bild der dankbaren Nachwelt erhalten bleibe. Die Berühmtheit ist eben ein sonderbares Ding. Einige machen ihr ganzes Leben lang vergebens Jagd darauf, anderen wird sie zuteil, ohne dass sie eine Ahnung davon haben. Unvermutetes Glück soll, wie man sagt, das reinste sein.

Unter den neunhundertneunundneunzigtausend Besuchern der Ausstellung, die vor dem millionsten den Drehzähler passierten, befand sich auch die Familie Buchholz, wie wir aus einem Schreiben der Frau Wilhelmine erfahren, das gleichzeitig über den Grund ihres langen Schweigens Aufschluss gibt. Sie ist vielleicht die einzige, deren Erinnerung an die Ausstellung keine ungetrübte genannt werden kann. Es gibt Leute, die dem Verdruss auf halbem Wege entgegengehen, anstatt ihm auszuweichen; dafür, dass unsere Freundin ihn auch auf der Ausstellung finden sollte, ist bei genauer Prüfung der Verhältnisse das Ausstellungskomitee nicht verantwortlich zu machen.

Auf der Ausstellung

Sie haben gewiss schon oft gedacht, wie mag es wohl zugehen, dass die Buchholzen nichts von sich hören lässt, sie greift doch sonst hin und wieder zur Feder. Aber können Sie schreiben, wenn Sie ein solches Gallenfieber bekommen, dass Sie einen Doktor gebrauchen müssen und sich dann später beim Gardinenaufstecken eine Nadel in den Finger rennen, als hätte man kein Gefühl und keine Nerven? Nein, dann schreiben Sie auch nicht.

Nun fragen Sie sicher, wie ein Wesen von meiner Sanftmut und Geduld mit einem Gallenfieber behaftet werden kann? Ich möchte jedoch jemand sehen, der ruhig bliebe, wenn ihm passiert, was mir geschehen ist.

Und was hatte ich getan? Nichts, reinweg gar nichts. Ich hatte nur geäußert, dass die Bergfeldten dem jungen Studenten ihre Auguste aufgehängt hätte, und diese harmlose Äußerung war ihr hinterbracht worden. Ich dachte mir weiter gar nichts Böses dabei, denn es war die unverfälschte Wahrheit. Dies hat die Bergfeldten jedoch schrecklich übelgenommen, und so schrieb sie mir denn einen empörenden Brief, in dem sie sagte, dass, wenn sie wollte, sie von meinem Karl Geschichten erzählen könnte, worüber die Leute sich sehr amüsieren würden. Ich zeigte meinem Manne den Brief und sagte: »Karl, lies, was diese Person geschrieben hat, und dann geh gleich zum Staatsanwalt und verklage sie.«

Mein Karl las den Brief und antwortete zögernd, dass er keinen Grund zum Einschreiten darin finden könnte. Mir war, als rührte mich der Schlag. Ich sank wie vernichtet auf das gute Sofa und rief: »Also du fühlst dich schuldig, deine Vergangenheit ist eine verschleierte, dies elende Weib hat recht. O Karl!«

Er suchte sich zu verteidigen, indem er behauptete, die Bergfeldten habe nur aus Rache eine sinnlose Bemerkung hinausgeschleudert, allein dies beruhigte mich nur halb; denn wenn sie doch etwas wüsste? Und wäre Karl ganz rein in seinem Gewissen, so hätte er ihr das Gericht auf den Hals geschickt. Ich merkte ihm deutlich an, dass er verlegen war. In demselben Augenblick kamen die Kinder herein und brachten den großen Schmortopf und die Waschleine, die ich der Bergfeldten geliehen hatte und die sie nun mit spöttischen Bemerkungen retour schickte. Außerdem ließ sie sagen, der Henkel an dem Topf wäre schon entzwei gewesen, als sie ihn von mir bekommen hätte. Das war aber eine grobe Unwahrheit, und diese Malice warf mich nun ganz danieder.

So kam ich zu meinem Gallenfieber. Kann die Bergfeldten es vor ihrem Schöpfer verantworten, dass sie so an mir handelte, so ist es gut, ich hoffe jedoch nicht, dass ich einmal unter vier Augen mit ihr zusammentreffe. Dann sage ich ihr, wie ich es meine, denn in meinem Hausstande ist alles ganz und propper!

Als ich mich allmählich wieder erholte und mein Teint nicht mehr so abscheulich gelb war, wie ich ihn mir herangeärgert hatte, sagte Karl: »Wilhelmine, wie wäre es, wenn du dich etwas zerstreutest? Ich denke, wir gehen alle zusammen auf die Ausstellung, du und ich und die Kinder; es soll mir auf ein paar Groschen nicht ankommen, deine Genesung zu feiern.«

Im ersten Augenblick empfand ich große Freude über diesen Vorschlag, dann aber musste ich denken, ob Karls liebevolles Benehmen gegen mich nicht etwa aus einem geheimen Schuldbewusstsein hervorgegangen sein könnte, das durch den Brief der Bergfeldten neu aufgefrischt worden war? Ich sagte jedoch keine Sterbenssilbe von dem, was ich fühlte, sondern ging bereitwillig auf seine Wünsche ein. Die Kinder hatten gerade ihre neuen Sommerkostüme bekommen, und da Karl mir sowieso einen modernen japanesischen Schal versprochen hatte, war der Ausführung seines Planes ja nichts im Wege. Hätte ich aber gewusst, was mir bevorstand, so wäre ich sicher zu Hause geblieben.

Ich will Sie nicht mit der Beschreibung der Ausstellung aufhalten, denn dazu gehört am Ende doch wohl eine Fachfeder, nur das muss ich bemerken, dass der Eindruck des Ganzen sowohl auf mich als auf die Kinder ein überwältigender war. Karl, der schon öfter draußen gewesen, kam mir bereits etwas abgehärtet gegen die Schönheiten im allgemeinen und im einzelnen vor.

Weil es an diesem Tage sehr heiß war, schlug Karl erst eine kleine Herzstärkung im Moabiter Bierausschank vor, und wir sagten denn auch nicht nein. Karl ging gleich nach dem dicken Bayern hin, der aus dem großen Riesenfass zapfte, um das Bier selbst zu holen. Ich dachte, er ist doch galant und nett, mein Karl, ein wirklich ausgezeichneter Gatte, als mein Blick auf die Münchner Kellnerin in ihrem bunten Maskeradeanzug fiel, die ihm Kleingeld herausgab und ihn dabei sehr freundlich anlächelte. Dies Lächeln gab mir einen Stich durch das Herz, aber ich blieb ruhig. Im stillen nahm ich mir jedoch vor, Karl nie wieder allein auf die Ausstellung gehen zu lassen. Dies gelobte ich fest und heilig.

Dass das Bier mir unter solchen Umständen wie Wermut schmeckte, ist natürlich kein Wunder. Ich konnte es nicht austrinken und gab es daher den Kindern, damit es nicht umkommen sollte.

Karl fragte: »Schmeckt dir das Bier nicht, Wilhelmine? Wollen wir lieber einen leichteren Stoff versuchen?« – »Es ist mir hier zu viel Sonne«, entgegnete ich mit einem Blick auf die Münchnerin, aber Karl verstand mich nicht oder wollte mich nicht verstehen. »Gut«, sagte er, »dann gehen wir zum Böhmischen Brauhaus.«

Ich war froh fortzukommen, und wir siedelten ins nasse Dreieck nach dem Böhmischen Ausschank über. Hier trafen wir zu unserer großen Freude nicht nur Onkel Fritz, sondern auch den Doktor Wrenzchen, der mich behandelte, als der Brief von der Bergfeldten mich auf das Siechbett geworfen hatte. Das Wiedersehen war ein sehr vergnügtes, denn ein Doktor ist für einen Patienten immer so eine Art von übernatürlichem Wesen und ein wahrer Engel des Trostes, namentlich wenn er milde und gut mit einem umgeht und den leidenden Mitmenschen ab und zu durch einen niedlichen kleinen Scherz aufzuheitern versteht. Nun, wir kamen denn auch bald in ein sehr angenehmes Gespräch. Nur mein Karl und Onkel Fritz fingen einen Streit darüber an, welches das beste Bier sei, weil mein Mann darauf hinwies, dass mir das Böhmische besser zu munden schien, als das Moabiter. Aber kannte er die innerlichen Gründe?