Frau Buchholz im Orient - Julius Stinde - E-Book

Frau Buchholz im Orient E-Book

Julius Stinde

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Beschreibung

Frau Buchholz im Orient ist ein Reisebericht, den Julius Stinde 1888 veröffentlicht hat. Er knüpft hier an die Erfolge der vorher veröffentlichten Buchholz-Werke an und erzählt viele Erlebnisse in seiner eigenen humorvollen Art.

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Frau Buchholz im Orient

Julius Stinde

Inhalt:

Julius Stinde – Biografie und Bibliografie

Frau Buchholz im Orient

An Bord des »Gwalior«.

Auf dem Mittelmeer.

Alexandrien.

Durch das Delta.

Kairo, die Wüstenstadt.

Eine Landparthie nach den Pyramiden.

Wanderungen durch Kairo.

Nach dem oberen Nil.

Zweiter Aufenthalt in Kairo.

Das gelobte Land.

Von Jerusalem nach Athen.

Konstantinopel.

Heimwärts.

Frau Buchholz im Orient, J. Stinde

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849636869

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Julius Stinde– Biografie und Bibliografie

Schriftsteller, geb. 28. Aug. 1841 zu Kirch-Nüchel in Holstein, gest. 5. Aug. 1905 in Olsberg bei Kassel, studierte Chemie und Naturwissenschaften, war, nachdem er 1863 promoviert, in Hamburg mehrere Jahre als Fabrikchemiker tätig, übernahm aber schließlich die Redaktion des »Hamburger Gewerbeblatts« und widmete sich ganz der Schriftstellerei, insbes. dem naturwissenschaftlichen Feuilleton. Außer zahlreichen Aufsätzen in Fachzeitschriften veröffentlichte er: »Blicke durch das Mikroskop« (Hamb. 1869); »Alltagsmärchen«, Novelletten (2. Aufl., das. 1873, 2 Bde.); »Naturwissenschaftliche Plaudereien« (das. 1873); »Die Opfer der Wissenschaft« (unter dem Pseudonym Alfred de Valmy, 3 Aufl., Leipz. 1898); »Aus der Werkstatt der Natur« (das. 1880, 3 Bde.) u. a. Für die Bühne schrieb S. eine Anzahl mit großem Erfolg ausgeführter plattdeutscher Komödien, wie: »Hamburger Leiden«, »Tante Lotte«, »Die Familie Karstens«, »Eine Hamburger Köchin«, »Die Blumenhändlerin« u. a.; ferner das Lustspiel »Das letzte Kapitel«, die beiden Weihnachtsmärchen: »Prinzeß Tausendschön« und »Prinz Unart« sowie gemeinschaftlich mit G. Engels das Volksstück »Ihre Familie«. Seit 1876 in Berlin lebend, schrieb er noch: »Waldnovellen« (Berl. 1881, 2. Aufl. 1885); »Die Wandertruppe oder das Dekamerone der Verkannten« (das. 1881, 3. Aufl. 1887); »Berliner Kunstkritik, mit Randglossen von Quidam« (das. 1883) und seine ergötzlichen Bücher über die Familie Buchholz: »Buchholzens in Italien« (das. 1883), »Die Familie Buchholz« (1884, 87. Aufl. 1905), »Der Familie Buchholz zweiter Teil« (1885), »Der Familie Buchholz dritter Teil: Frau Wilhelmine« (1886), »Frau Buchholz im Orient« (1888), »Wilhelmine Buchholz' Memoiren« (1895), die seinen Namen am bekanntesten machten und seitdem ebenfalls in zahlreichen Auflagen erschienen sind. Es folgten: »Hotel Buchholz. Ausstellungserlebnisse« (1896), »Die Perlenschnur und Anderes« (1887), »Pienchens Brautfahrt« (1891), »Humoresken« (1892), »Ut'n Knick. Plattdeutsches« (1893), »Der Liedermacher«, Roman (1893), »Martinhagen« (1900), »Emma, das geheimnisvolle Hausmädchen« (1904) und aus seinem Nachlaß »Heinz Treulieb und allerlei Anderes«, mit Einleitung von Marx Möller (1906).

Frau Buchholz im Orient

An Bord des »Gwalior«.

19. Februar 1888.                        

Theuerste Erika!

An Sie, liebste Erika, wende ich mich, Sie haben ein fühlendes Herz; Sie werden meine Partei nehmen, wenn ich selbst ein Spiel der Haifische oder sonstiger Naturereignisse geworden bin und meinen Mund nicht mehr öffnen kann. Die guten Freundinnen sagen hinterher natürlich: »Der Buchholzen ist recht geschehen, warum begab sie sich in umkommende Gefahren und riß ihren Mann mit hinein?« Daß sie aber die Hauptschuld tragen, davon wollen sie nichts hören; und doch ist dem so!

Zum Stillesitzen bin ich noch lange nicht verbraucht genug, das wissen Sie, Erika; mache ich mir aber zu schaffen, dann heißt es: »Wenn Schwiegermütter sich doch nur nicht in Alles hineinmischen wollten!« – Betti, anstatt mir dankbar zu sein, daß ich von Zeit zu Zeit ein halbes Auge in ihre Häuslichkeit werfe, giebt mir zu verstehen, sie wirthschafte von alleine viel besser, und Emmi beschuldigt mich, ich verzöge ihre Kinder, wo ich doch nur milde entschädigend die Enkel gegen väterliche Strenge in Schutz nehme. So wird man allmälig unter dem Vorwande, ein ruhiges, sorgenloses Dasein führen zu sollen und es bequemer zu haben, herausgegrault. Wer aber rüstig ist und munter, der sträubt sich, in Watte gewickelt, in den Schubkasten gelegt zu werden.

Mein Karl riet mir zu Zerstreuung. Theater und dergleichen zieht ihn jedoch ebensowenig dauernd an, wie mich. Glücklicherweise hat die Polizeileutnanten durch ihr Mila einen ungemeinen Wissensdrang bekommen und wo bildende Vorträge gehalten werden, steigen die Beiden hin. Die machte mich auf diese Zeitverkürzung aufmerksam. Ich ließ mich verleiten und kann nur sagen, wenn es manchmal auch recht langweilig war, im Allgemeinen hatte man doch seinen Spaß daran. Namentlich interessirte mich das Kolonial-Politische, ganz besonders Afrika, welches sehr in Mode ist. Eines Abends sagte ich, ohne viel dabei zu denken: »Dieses Land möchte ich mir einmal ansehen und dann die Reise beschreiben.« – »Haben Sie denn Jemand, der Ihnen dabei hilft?« fragte die Polizeileutnanten. – »Woso?« – »Na, das italienische Reisebuch hätten Sie ohneDr. Stinde doch nicht fertig gebracht.« – »Da sind Sie total falsch berichtet,« entgegnete ich. »Wenn Einer das Buch verdorben hat, war er es. Ihm fehlt das Ideale, das stand oft genug in den Kritiken und ist mir hinterher aufgemutzt. Diesmal schreibe ich allein.«

»Sie wollten wirklich?« – »Versteht sich.«

»Noch glaube ich nicht daran.« – »Sie werden schon sehen.«

Ich wäre wohl kaum auf die Idee verfallen, wenn mein Karl und Herr Felix Schmidt nicht bereits des Oefteren davon gesprochen hätten, der Fabrik größeren auswärtigen Absatz zu ermitteln und die neuen Schiffsverbindungen, die jetzt den Orient erschließen, in Betracht gezogen hätten. Engländer und Franzosen handeln dorthin, warum sollen die Deutschen zurückstehen? Dein Mann sagte sogar einmal: »Schwager, die Wilden laufen Alle barfuß umher, gewöhnst Du sie an Strümpfe, machst Du ein Bombengeschäft.« So kam es, daß mein Karl mich am Weihnachten mit meinem Wunsche überraschte, den ich ihm wiederholt zu verstehen gegeben, indem er sagte: »Wir reisen.« – Nun hatte ich meinen Willen.

Dann kam die Zeit der Aufregung, der Vorbereitungen und was dazu gehört, daß ich zu ruhiger Ueberlegung keine Muße fand. Lernte ich doch auf Onkel Fritzens Rath sogar heimlich die Anfangsgründe von Volapük. Jetzt aber, hier auf dem Schiffe, lege ich mir die Frage vor, ob das Wagestück nicht besser unterblieben wäre? Kann ich mir jedoch die Redensarten der Polizeileutnanten und das Gestichel der Krausen gefallen lassen, die ganz spinös meinte, der Orient wäre nur für Gelehrte? Ich sagte: »Wie man so durch ein Land reist, möchte ich schreiben, wenn das Ihnen zu ungelehrt ist, brauchen Sie es nicht zu lesen; die Hauptsache sind jedoch die Wollwaaren.« – »Es liegt an Ihnen,« erwiderte sie, »für die Fabrik würde Herr Schmidt viel passender in die Welt gehen.« Ich hütete mich, ihr Recht zu geben, dazu that sie viel zu herausfordernd. Jetzt wissen Sie, wer mich getrieben hat, gute Erika, und sollte ich nicht wiederkehren, sagen Sie es der Polizeileutnanten und der Krausen geradezu auf den Kopf.

Ich hatte mir nun ausgedacht, Italien wieder zu sehen, aber wir reisten nur eilend durch. Ueberall war nämlich ein grausamer Winter eingebrochen. Die Schweiz gleich einem prachtvollen Schneehaufen. Berge und Thäler waren weiß, auf den Bäumen lag es wie lichte Wolle im Sonnenschein und die Waldungen waren in dichte Flockendecken gehüllt. Einzig und groß war dieser Anblick, zumal auf der Gotthard-Bahn. Liebste Erika, die müssen Sie einmal befahren. Am Vierwaldstädter See fährt sie vorbei, wo Schillers Tell ansässig war, und geht dann in das Gebirge hinauf, immer höher und immer schwindelnder, über Brücken und gemauerte Wege, an steilen Abhängen, in Schlangenwindungen durch lange und kurze Tunnels, für den Reisenden unbegreiflich, nur für Eisenbahner verständlich. Von den hohen Bergriesen waren Lawinen zu Thal gestürzt. Man sah zerstörte Häuser, denen sie im Vorbeisausen die bretternen Dächer abgerissen hatten, und bewunderte die Leute, die ganz unverzagt daran gingen, ihre Wohnungen wieder in Stand zu setzen. Selbst die Bahn war nicht verschont geblieben, obgleich an gefahrdrohenden Stellen Kunsttunnels aufgeführt worden sind, damit die Schneemassen darüber hinwegschmettern und in den Abgrund poltern können. Aber so eine Lawine kehrt sich nicht an den Fahrplan. Diesmal hatte eine bei der Station Wassen den Anschluß verfehlt und, vom Winde seitwärts über die Schutzwand gedrückt, sich auf die Schienen geworfen, wo sie sechs Arbeiter tödtete. Hunderte von Schneeschauflern gruben Tag und Nacht, die Schienen frei zu legen, und mit endloser Verspätung waren wir die Ersten, welche den schmalen Einschnitt durch die Lawine passirten. In Göschenen begrüßten die dort seit drei Tagen aufgestauten Reisenden unseren Zug mit wahrem Freudenjubel.

Der eigentliche Gotthard-Tunnel ist ein langes dunkles Loch voll Qualm, Rauch und Getöse, in dem man Nichts wahrnimmt als nächtliche Schwärze; er gilt auch weniger als Sehenswürdigkeit denn als Beförderungsmittel. Wir dachten, als wir hindurchrasselten: am anderen Ende liegen die Frühjahrs-Fluren von Italien, aber die Landschaft verharrte jenseits in demselben eingeschneiten Zustande wie diesseits, nur mit dem Unterschied, daß die italienischen Bahnverwaltungen die Wagen nicht mehr heizen ließen. So kamen wir dann nach Mailand, wo wir bei dichtem Schneegewirbel mitten in der Nacht eintrafen.

Der kurze Kriegsrath, den wir anbetracht der Verhältnisse hielten, zeitigte den Entschluß, am nächsten Tage nach Bologna zu fahren und von dort nach Brindisi, wo die Schiffe nach Alexandrien abgehen. Ich hatte so kalte Füße, daß ich in jeden Vorschlag einwilligte.

Leider hatten wir in Bologna nur kurzen Aufenthalt. Ich sage leider, denn die Stadt mit ihren alterthümlichen Bauten ist eigenartig schön. An beiden Seiten der Straßen halten Bogengänge den Bürgersteig bei nassem Wetter trocken, und schattig während der Sommersonne. Als es Abend wurde, zogen Maskengesellschaften mit Musik daher, den Karneval zu begehen, was noch einmal so lustig ausgesehen hätte, wenn es weniger frostig gewesen wäre. Und dann waren wir auf das beste im Hotel Brun untergebracht. Das Haus, ein früherer Palast, ist auf das bequemste und vornehmste eingerichtet und die Behandlung der Gäste eine so zuvorkommende, daß man sich wie zu Hause fühlt. Und nun erst die Verpflegung. Wir haben auf unserer früheren Reise in keinem Hotel Italiens auch nur annähernde Vorzüglichkeit getroffen. Herr Frank, der Inhaber des Hotels ist ein Württemberger, der uns mit gutem Rath wegen der Dampfschiffe in Brindisi an die Hand ging und Sorge trug, daß wir einen trefflich gefüllten Eßkorb mitbekamen, denn die Ernährung sieht auf der Bahnstrecke nach Brindisi mager aus und ist unverschämt kostspielig.

Wir merkten kaum, daß wir uns in italischem Lande befanden, denn auch die Bedienung im Hotel Brun sprach deutsch; ebenso war es bei Hoffmeister in Bologna, der eine stilvoll eingerichtete Bierstube hält. Da wir Beide der Meinung waren, in Afrika keinen Tropfen zu erwischen, gingen wir hin, und bereuten es nicht, denn Herr Hoffmeister gab uns eine Karte an einen deutschen Kommissär in Brindisi, mit Namen Montag, daß wir gleich eine zuverlässige Persönlichkeit an der Hand hätten. Es ist hübsch, wie bereitwillig Landsleute Auskunft gebe und Beistand gewähren, wenn man sie in Ordentlichkeit darum angeht und nicht, wie es meistens Gewohnheit ist, den Klügeren spielt, der keinerlei Belehrung bedarf.

Nachts um drei Uhr saßen wir im Waggon, am nächsten Abend waren wir in Brindisi. Glücklicherweise ergatterten wir mit Hülfe der von ehemals nicht völlig vergessenen italienischen Brocken Herrn Montag, der uns selbst und die Koffer in Schutz nahm und auf die Agentur der englischen Peninsular- und Orientdampferlinie brachte. Hier erfuhren wir, daß wir für den zu zahlenden Fahrpreis schon von Venedig ab mit dem Schiffe hätten fahren können und die beschwerliche Nachttour mit der Eisenbahn einfach ein Opfer gewesen war. Wer hingegen das Wasser scheut, spart zwei Tage Wellenschlag, zumal das Mittelmeer so seine Haken hat.

Morgen in der Frühe geht das Schiff nach Alexandrien weiter. Noch liegt es ruhig im Hafen von Brindisi wie ein großer, schwarzer Sarg. Was wird, wenn es an zu schwanken fängt? Mein Karl schlummert bereits; ich sitze einsam in dem leeren Salon bei einem einsamen Lichte und schreibe, damit Sie erfahren, wie es in meinem Innern aussieht. Die übrigen Passagiere sind in ihren Kabinen, denn es ist bald Mitternacht. Herr Montag wartet auf den Brief. Wer weiß, ob dies nicht mein letzter ist? Viele, viele Grüße

von Ihrer Wilhelmine.                       

P. S.Sagen Sie vorläufig nichts von diesem Schreiben. Noch lebe ich ja.

Auf dem Mittelmeer.

Trennung von Europa. – Entdeckungsreisen auf dem Schiffe. – Waterbury-Uhr und Volapük. – Eintheilung der Menschheit. – Von englischen Gebräuchen. – Die Goetheforschung und Meyerbeer. – Es wird Sommer.

Wir waren rechtzeitig aus den Matratzen gekrochen, um den Abgang des Schiffes mit sehenden Augen zu erleben, weil eine Trennung von dem Mutterlande Europa zu solchen Seltenheiten gehört, derenwegen man in die Weite kilometert, aber lohnend war dieses Unternehmen nicht besonders. Trüben Himmel und feuchtkalten Wind haben wir in der Umgebung von Berlin auch, ohne ihnen zu Gefallen vor die Thür zu gehen, und das frischgewaschene nasse Deck bot ebenfalls keine Erheiterung. Ich wartete zur Entschädigung auf die innere Stimmung, die den Menschen bei solchen Gelegenheiten überwältigt, wobei dem Reisenden zu Papier bringbare Gedanken einfallen, allein als der Anker hochgenommen wurde, die Dampfpfeife heulte und die Schraube im Wasser paddelte, stellte sich nur die Auffassung ein: jetzt gondeln wir los.

Langsam verließ der »Gwalior« um acht Uhr Morgens den Hafen. Die Stadt nebelte mehr und mehr ein, je weiter wir in See gelangten. Hinter dem trüben Luftvorhang lag der weiße Winter, der uns bis Ankona hinunter begleitet hatte, bei Brindisi jedoch nur noch auf den Höhen der Ferne sichtbar blieb. So strenge und rauh war der Winter im Lande Italien seit langem Gedenken nicht gewesen; in Bologna wurde uns erzählt, es gäbe nicht genug alte Leute, sich des massenhaften Schnees zu erinnern.

Allmälig erschienen behutsam in dicke Überzieher und Plaids gehüllte Passagiere und begannen einen sowohl erwärmenden wie Appetit befördernden Spaziergang. Wir schlossen uns an und rannten ebenfalls auf und ab, vom Steuer bis zur Spitze des Schiffes und wieder retour, wobei wir verschiedene Entdeckungen machten. Zunächst fiel mir die große Küche auf, in der ein Koch und zwei Gehülfen behende an der Arbeit waren, Braten zu spicken, Gemüse zu putzen, Teig anzurühren und so weiter. Der Eindruck war ein reinlicher. Rechts davon hatten eine Menge Hammel, Hühner, Puten und Tauben ihre Gitterkäfige, jede Gattung für sich, reichlich mit Futter und Trinkwasser versorgt. Am äußersten Ende war der Stall für die Milchkuh; ein braves, dunkelbraunes Thier, das großen Gefallen am Köpfchenkraulen fand. Die Kuh dauerte mich, weil sie von Natur aus doch nicht zum Seefahren geschaffen ist und ohne ihren Willen mit muß. Die Matrosen, deren Logis vorne im Schiffe liegt, mochten ähnliches denken; sobald einer von ihnen vorbeikam, streichelte er das treue Geschöpf. Ferner war ein Zelt auf dem Vorderdeck mit geheimnißvoll verhängtem Eingange, das meine Wißbegierde reizte, denn je mehr der Mensch sieht, um so bedeutender werden seine Kenntnisse. Aus Büchern lernt man immer nur die Hälfte.

Wie ich nun die Leinwand nachsehenshalber lüpfen will, sticht plötzlich ein ausländisches Menschenkind sein kaffeefarbenes Angesicht durch und funkelt mich mit pechschwarzen Augen und Zähnegefletsch an, worauf es wieder zurückzuppt. Ich nicht schlecht erschrocken – »Karl,« warnte ich, »geh nicht zu dicht heran, in diesem Wigwam sind Wilde. Und kein Schutzmann dabei!«

Angenehmes Klingeln zum ersten Frühstück beschleunigte unsere Entfernung von dem gefährlichen Zelt. Man kann ja nie wissen, was Wilde im Sinne haben, die am liebsten kaufen, wenn Niemand im Laden ist. – »Hast Du Deine Uhr noch?« fragte ich. Mein Karl zog sie heraus und zeigte sie mir. Richtig, er hatte sie noch. –»Geht sie auch?« – Er hielt sie ans Ohr und nickte. – Gottlob, sie ging wie andere befähigte Stundengläser.

Um Taschendiebereien vorzubeugen, hatte mein Mann nämlich seine gute Goldene zu Hause sicher verschlossen und auf meinen Rath eine von den kürzlichen Waterbury-Uhren für zehn Mark erworben, weil doch, wenn so eine stibitzt wird, man im Vergleich zu einem werthvollen Chronometer mit Kette eine Vortheil von mindestens zweihundertzwanzig bis dreißig Mark hat. Außerdem sind die Langfinger insofern bestraft, als die Waterbury-Uhren von einem gewöhnlichen Uhrmacher nicht reparirt werden können, sondern, sobald sie gestört gehen, mit der Post an die Hauptniederlage zu senden sind. Der Aerger, wenn der Spitzbube nach und nach einsieht, wie er hineingefallen ist! Und wie viel Spaß macht solche Uhr gerade auf Schiffen, wo es so viel unausfüllbare Zeit giebt. Zwei Minuten dauert es, wehe sie aufgewunden ist, und will man sie stellen, muß man das Glas abnehmen und jeden Zeiger einzeln ruckeln. Und wie großartig die Verhältnisse sind. In dem Büchelchen, das jeder Uhr wegen der Neuheit der Behandlung beigegeben wird, steht zu lesen, daß die Fabrik in der Minute zwei und eine halbe Uhr fertig bringt; also ehe mein Karl seine völlig aufgezogen hat, fallen drüben in Amerika zwei Stück aus dem Nest. Man weiß wirklich nicht, ob man den erfinderischen menschlichen Geist mehr bewundern soll, oder die enorme Schnelligkeit. Was ist Waffelbacken dagegen?

Wir gingen ebenso wie die Andern – auf Reisen eignet man sich die Landesgebräuche durch Abschulen von seinen Nebenmenschen an – gemächlich in den Salon hinab, nahmen ebenso an der gedeckten Tafel Platz, ließen uns dito Thee einschenken, dito Eierspeise reihen, dito gebratenen Speck und noch mehr solche Ditos, wie die Engländer beim ersten Frühstück gewohnt sind, weil sie sagen, ohne reelle Grundlage ist der Europäer zum Arbeiten nicht kraftvoll genug. Eine gewisse Wahrheit liegt am Ende darin. Wer gleich mit Fleischernem anfängt, kann mehr Schneidigkeit im Morgengeschäft entfalten, als Jemand, der bis Zehne bloß an die belegten Stullen in der Rocktasche denken darf.

Lange nöthigen ließen wir uns nicht. Wozu denn auch Umstände machen, da Alles pränumerando im Voraus bezahlt war, bis auf Tischweine und sinnverwandte Getränke, die, außerhalb des Fahrbillets stehend, in Sonderzahlung, wie es jetzt heißt, berichtigt werden, oder sie die alten Deutschen sagten: extra.

Es waren über sechzig Frühstücktisch-Genossen beisammen, Damen und Herren. Obenan saß der Kapitän, die übrigen Schiffsoffiziere, der Arzt und die Marine-Stifte waren dem Range nach vertheilt und machten in ihrer dunklen Uniform und der blitzsauberen Wäsche mit den polirten und vergoldeten Holzwänden der großen Kajüte ein sog. harmonisches Gesammtbild. Hätte die Schraube nicht All und Jedes in eine Art von Tatterich versetzt, würde man nicht anders geglaubt haben als in eine gräflichen Hause zu speisen, in welchem der Baumeister auf dieselbe Höhe statt vier Etagen sieben herausgekriegt hätte, weil die Decke nur niedrig war.

Als wir gefrühstückt, oder wie die Engländer es nennen, »gebreckfestet« hatten, gingen wir wieder hinauf auf Deck. Das Wetter war schön geworden; möglicherweise waren wir auch in das schöne Wetter hineingesegelt, denn die Erfahrung habe ich gemacht: die Witterung ist unegal und überzieht den Erdball fleckenweise. Rechts war in der Ferne italienisches Gebirgsland zu sehen, links tauchte ebenfalls etwas Inselartiges am Horizont auf, aber Namen standen nicht wie auf der Landkarte beigeschrieben. Wen nun fragen?

Nach meiner Ansicht bot sich hier die beste Gelegenheit zur Anwendung von Volapük. In der Welt waren wir, Leute von allerlei Weltgegenden hatten sich zusammengefunden: also Umstände wie für die Weltsprache geschaffen. Ich daher an einen von den Seeoffizieren heran und, auf ein sichtbar werdendes Eiland deutend, gefragt: »Kis binom et?« – Der Mann sieht mich eine ganze Weile an, schüttelt den Kopf und geht weiter.

»Was für Zungen redest Du da, Wilhelmine?« fragte mein Karl. – »Volapük.« – »Unsinn!« – »Karl, wie kannst Du eine Weltsprache Unsinn nennen? Aus allen Mundarten der Völker hat ihr Erfinder die Wurzeln genommen.« – »Und einen Salat darauf gemacht?« – »Karl!« – »Beruhige Dich. Volapük ist meiner Ansicht nach dasselbe für Erwachsene, was die Räubersprache für Kinder, ein Kauderwelsch auf gegenseitiges Uebereinkommen. Wie kamst Du zu der unglückseligen Idee, Dich damit zu befassen?«

»Onkel Fritz – –«

»Ja, wenn Du den zum Justizrath nimmst! Hat er Dir vielleicht noch mehr solche praktische Winke aufgehängt?«

»Er sagte, dies wäre das Neueste.« – »Das Neue ist nicht immer das Beste.« – »Karl, sei gut, viel habe ich auch nicht davon behalten.«

Bei dem Auf- und Abwandern hatte mein Karl gezählt, daß das Schiff hundertzweiundneunzig Schritte lang war. Ein ziemliches Ende. Auch die Wilden waren aus ihrem Zelt in den warmen Sonnenschein gekrochen und saßen rauchend und mit innerem Gedankengange beschäftigt auf Tauwerk herum, oder wo sie sonst Platz fanden. Wir besahen sie uns näher. Der Kopf von Frühmorgens schien der Intelligenteste, nur mit dem großen, ehemals weiß gewesenen Turban konnte ich mich nicht befreunden, der schrie förmlich nach Seife.

»Halt,« dachte ich, »der wird angevolapükt. Giebt er Hals, steh ich im Triumphesglanze da.« Es war aber nichts mit dem Glanze. Der Braune lächelte mich mitleidig an und gnurrte:»parla indra?«– »Ob so wie ich Indisch kann? Nee, Mann, das ist bei uns doch nicht Mode, fragen Sie mal einige Menschenalter später an, möglich, daß es dann auf dem Stundenplan steht.« – Die Arroganz, mir Indisch zuzumuthen, und die Unkenntniß des Volapük hatten mich verdrossen. Es ist auch zu ärgerlich, etwas Umsonst gelernt zu haben, blos damit Onkel Fritz seinen Ulk hat.

Der braune Mann lächelte wiederum freundlich, ging in das Zelt und holte einen Mousselinshawl, aus welchem er verschiedene Papiere hervorwickelte, die er uns zutraulich zum Durchlesen darbot. Es waren, so viel mein Karl erkannte, englische Zeugnisse und Urkunden, aus denen hervorging, daß der Braune von Geburt ein Inder sei, der auf englischen Universitäten studirt und sein medizinisches Examen abgelegt hatte. Er hießDr. Buxe und war richtiger, geprüfter Augenarzt, der in seine Heimath zurückkehrte, also ganz ähnlich wie mein Schwiegersohn, nur daß der weiß in den Gesichtszügen ist und keine schmutzige Turbane trägt.

»Das fängt hübsch an,« sagte ich zu meinem Karl. »Was man für kannibalische Wilde hält, sind hinterher studirte Augenärzte. Ich fürchte, es kommt Manches entgegengesetzt, wie man sich im Voraus ausmalte. Trotzdem wollen wir es wie die Engländer machen, uns in die Sonne setzen und in den Reisehandbüchern fleißig sein.« – Mein Karl gab mir den Bädeker zur Vorbereitung auf Alexandrien und meinte: »Minchen, wenn Du Dir das Arabische darin ein bischen zu Gemüthe ziehen wolltest, das würde später von Nutzen sein. Lerne die Zahlen auswendig, ich höre sie Dir nachher über.« Ich nickte ihm lächelnd zu. Es war zu komisch, auf meine alten Tage Schulmädchen zu spielen. Und doch wie sonderbar. Mir ward beklommen, als wäre ich wieder ein Kind und fürchtete mich, meinen Lex nicht ordentlich zu können, und mit der Schulangst kamen vergangene Zeiten. Wo war ich in diesem Augenblick? In Berlin Morgens in grauer Dämmerung mit dem Lehrbuche am Fenster, die leichtsinnig verspielten Abendstunden in den letzten Minuten einzuholen, oder fern ab von Heimath und Jugend auf dem Meere, das zwei Erdtheile trennt? Ich war an beiden Stellen zugleich, denn auch die Wirklichkeit war zum Traum geworden. Das blaue Meer, der klare Himmel, die fremdartige Umgebung erschienen mir Einbildung. Dies seltsame Gefühl kam und ging wie der Schlag des Pulses. Nochmals nickte ich meinem Karl zu und setzte mich hin, meine Fähigkeit an das arabische Einmaleins zu gewöhnen. Das Schiff strebte vorwärts und die Matrosen kletterten in den Mast, das große Segel auszuspannen, denn der Wind ward flügge.

Um ein Uhr läutete es zum zweiten Frühstück oder, wie es in der Schiffssprache heißt, zum Lönsch, was sie Luncheon schreiben. Die Orthographie hat bei Eßsachen jedoch nur Nebenbedeutung, auf die Zubereitung kommt es an, und die mußte man loben. Beinahe so gut wie im Hotel Brun in Bologna. Wie spendirten uns eine Flasche Ale zu den kalten und warmen Speisen und kamen in sehr angenehmer Stimmung wieder auf Deck. Ein Frühstück ist in der That etwas Belebendes. Wir gingen unsern Spaziergang, sprachen bei der Kuh vor, betrachteten die Hammel und das Geflügel, sahen auf die Wellen, die vorn am Bug hoch-schäumend emporspritzten, und wußten kaum, was wir mit dem angebrochenen Nachmittag anfangen sollten. Lesen, Lernen, Kuhvisiten machen ist ja alles recht schön, nur nicht auf die Dauer. Das Dumme war, daß man mit den anderen Menschen kein Wort austauschen konnte. Der indische Augenarzt sprach englisch, wie viel Erstaunliches hätte er sonst von den bengalischen Zuständen erzählen können, und wie ihm Europa gefallen. Dann waren noch zwei alte grauhäuptige Inder da, zwei richtige Muffis, aber ein Stündeken zu verklönen durch und durch ungeeignet. – An Skat war natürlich nicht zu denken.

Da sagte mein Karl: »Wie wäre es, wenn Du Dir die Augen ein Bischen wärmtest? Du bist gestern spät in die Baba gekommen. Hattest Du so viel zu schreiben?« – »Meine Tagebuchnotizen,« stammerte ich, – – »wie hieß nur noch die Haltestelle, wo der Bahnwirth für ein knappes halbes Viertelpfund Schweizerkäse drei Franken forderte? Ich habe mich besonnen und besonnen . . . War es nicht Foggia?« – »Dort irgendwo in der Nähe. Laß ihn laufen. Wer die Landtour nach Brindisi zum zweiten Male nicht wieder macht, das ist Karl Buchholz.« – »Ich schließe mich an!« rief ich.

In unserer eigentlich für Vier bestimmten Kabine war es räumlich genug zur Bethätigung des Ordnungssinnes, indem wir die unbesetzten Betten als Hinlegestätten für Gepäck und Kleinigkeiten benutzten. Die Betten selbst sind nur schmal und dürften, namentlich was die Kopfkissen anbelangt, etwas weicher sein, lassen jedoch an hochgradiger Sauberkeit nichts zu wünschen übrig. Ich nahm mir nun vor, der Behältlichkeit wegen, die Menschen zoologisch einzutheilen, und zwar in Weiße, wozu wir gehören, und in Wilde, worin Alle begriffen werden, die von der üblichen gesellschaftlichen Couleur abweichen. Je schwärzer, je wilder. Solche, die man verbrauchen muß, wie sie einmal nicht anders sind, das sind Muffis, und solche, die Aergerniß verbreiten, das sind Gnuffs, sowohl Weiße wie Wilde. Auf diese Weise kann Großmama später den Enkeln ihre Reiseerlebnisse verständlich machen, ohne die zarte Fassungskraft der Kleinen mit neunundneunzigerlei Völkernamen zu überbürden. Auch darf man der Universität nicht vorgreifen.

Wie sanft das Schiff schaukelte. »Wiegenkind, Wiegenkind,« mußte ich in einemfort denken und darüber schlief ich ein.

Das Erwachen war jedoch nicht von gleicher Milde, sondern schon mehr ein Hin- und Hergewerfe. »Scheitern wir?« rief ich meinem Karl entgegen, der gerade eintrat, um nachzusehen, ob ich noch auf dem Bett läge oder schon darunter. – »Die See ist unruhig geworden und eine frische Brise weht,« antwortete er. – »Das nennst Du Brise, wie sieht dann Sturm aus?« – »O,« sagte er, »dann würdest Du als Gummiball von einer Ecke in die andere fliegen.« – »Karl, wie kommst Du mitten in den Gefahren zu einer so scherzigen Stimmung?« – Er half mir liebevoll beim Aufstehen und bekannte, die Langeweile auf Deck durch einigen Cognac unterbrochen zu haben. »Die Seeluft verlangt Stärkung,« entschuldigte er sich, »und außerdem giebt es vorzüglichen Meukow an Bord.« – »Gewöhne Dir die Schiffgebräuche nur nicht für immer an,« mahnte ich; »im Uebrigen: was der Mensch braucht, muß er haben!«

Es war mühselig, das Deck zu gewinnen. Obgleich seitwärts in den schmalen Gängen Leitstangen zum Festhalten angebracht waren, hätte es Unbetheiligten scheinen können, als kämen wir von einem Zechgelage, so schwankten und wanken wir, und so nahe waren wir dem Umfallen. – Nur mit großer Schwierigkeit vermochten wir der Kuh und den Hammeln unsern Besuch abzustatten. Unter den weiblichen Passagieren hatte die Seekrankheit gewaltig aufgeräumt. Immer wieder kamen die Stewardessinnen und geleiteten Schwachgewordene in ihre Kabinen hinunter: bleich, mit auseinandergegangenen Haaren, ohne Ausdruck in den Augen, die Nase ganz spitz und dabei fürchterlich unwohl. »Karl,« sagte ich, »wenn ich dies lange mit ansehe, geht es mir ebenso. Nichts übernimmt leichter als Ekliges.«

Ich wehrte mich und ging gegen an. Die Seekrankheit würde mich grenzenlos gefuchst haben, weil wir doch gewohnt sind, zu verzehren, was wir bezahlt haben. Nein, geschenkt wird nichts. Daß diese Ansicht die durchaus richtige ist, stellte sich Abends beim Mittagessen heraus. Die Hälften Passagiere hatte sich zurückgezogen, um sich mit der Seekrankheit zu beschäftigen, obschon sie das schöne Mahl von acht Gängen bezahlt hatten. Allerdings aß es sich ziemlich umständlich, weil viereckige Rahmen über den Tisch gebunden waren, das Gleiten der Teller zu verhüten und das Reisen der Gläser, und die Flaschen waren angehalftert, aber die Gerichte waren so großartig gekocht, daß es eine Sünde gewesen wäre, ihnen nicht alle Ehre anzuthun. Als wir die süßen Speisen, Kuchen und Obst hinter uns hatten, sagte ich: »Karl, es ist hier, wie auf einer endlosen Kindtaufe. Das Essen und Trinken reißt nicht ab. Morgen Abend zum Diner machen wir uns auch fein. Die Engländer haben sich alle umgezogen und erscheinen festlich an der gemeinsamen Haupttafel. Das ist wohl Sitte bei ihnen und findet meine Beipflichtung. Das Tagesgeschäft wird mit den Arbeitskleidern abgelegt; frischgewaschen und in gutem Zeuge ergiebt man sich dem Abend, der Ruhe bringt und behagliches Zusammensein. Schade, daß man hier Niemand zum Gesprächführen hat; jedoch bezweifle ich, daß die Bergfeldten herpaßte, der doch die große A. mit Gewalt beigebracht worden ist.« – Die Nacht verlief ohne Störung. Sehr viel gegen die Seekrankheit thut, wenn man nicht will. Allerdings ist das gesammte weibliche Dasein Hingebung, jedoch stellenweise Widerstand; das muß fest im Auge behalten werden, wenn man nicht nervös ist. Wegen zu lautem Getickes wurde die Waterbury-Uhr in Strümpfe gewickelt und eingeschlossen; sie lärmte wie eine Dielen-Uhr im Fieber. – Am andern Morgen sah man beim Frühstück wieder Mehrere, die nicht da waren; die Krankheit mußte stark wüthen. Aber auch etliche Hammel fehlten, sowie zwei weiße Puten und der Taubenstall schien merklich dünner bevölkert. Dieses Räthsel löste sich bei den verschiedenen Mahlzeiten, wo die Hammel, die Puten, die Tauben in gebratenem Zustande, als Koteletts, Keule, Ragout, Pastete, in allen möglichen Verarbeitungen antraten. Jeden Abend ging der Schiffschlächter morden. Während die Matrosen in der Dämmerstunde Volkslieder sangen, hörte man das Geschrei von einem Hahn dazwischen, der nicht sterben wollte, oder das Geblöke von einem zur Schlachtbank gezerrten Hammel. Und doch war der Schlächter gegen die Kuh sogar zärtlich. Er molk sie, er fütterte sie, er bürstete sie und gab ihr reine Streu; es mußten zwei Seelen in seiner Brust wohnen. Ich hörte im Winter einen Vortrag über »Faust« von einem jungen Goetheforschler, der mit den zwei Seelen sehr ins Unklare gerieth, bis er schließlich meinte, Goethe hätte selbst nicht gewußt, was er damit sagen wollte. Goethe ist todt, er kann sich also nicht mehr verdeffendiren, aber in seinem Interesse weise ich auf den zweiseeligen Schiffschlächter hin, der gleichzeitig tödtet und pflegt. Solche, die kein Blut sehen können, haben natürlich nur eine Seele.

Mein Mann fand an diesem Ideengange kein Wohlgefallen, sondern sagte: »Ueberlasse den Blaak doch Leuten, die darauf vereidigt sind. Lerne Dein Arabisch.« Mit wem sollt ich mich unterhalten, da mein Karl den aus Vorlesung gewonnenen Resultaten prosaisch gegenüberstand? Es ist ein wahres Elend, wegen mangelnder Sprachübung wie stumm und taub zu sein, denn die andern Leute verstanden nicht, was ich sagte, und ich ward aus ihrem Gerede nicht klug. Und wie gerne hätte man öfter geäußert: »Prachtvolles Wetter, nicht wahr? Der reine Frühling, fast zu warm für Winterzeug.« – Aber was nützen die unwidersprechbarsten Wahrheiten, wenn sie keinen Absatz finden?

Es war wirklich sommerlich geworden und wundervoll faul saß es sich auf dem Schiff im Sonnenschein. Mein Karl bekundete jedoch seine Zufriedenheit mit meinem arabischen Fortschritt, indem er sagte: »Du begreifst ohne stundenlange Vorreden, rascher als ein Abgeordneter.« – »Karl,« erwiderte ich, »die Angst treibt die grausamen Wortbildungen ein. Ohne Arabisch sind wir so gut wie verloren. Hier im Bädeker ist die Landung in Alexandrien beschrieben: zahllose Barken umschwärmen den langsam einfahrenden Dampfer. Nach den gewöhnlichen kurzen Sanitätsmaßregeln stürzt sich die Bemannung jener kleinen Boote gleich einer wilden beutelustigen Korsarenschaar auf das Verdeck, um sich jeder des Gepäckes eines Reisenden zu versichern, für den Europäer eines der überraschendsten Schauspiele und lebhaft an den Ueberfall in Meyerbeers Afrikanerin erinnernd. Ich bin gegen jeder Ueberraschung mit hinweggerissenen Handtaschen. Afrika ist zu groß, was weg ist, ist weg. Wenn sie daher toben, mußt Du rufen:»musch lassim«,das heißt: es ist nicht nöthig. Du suchst alsdann einen vertrauenerweckenden Barkenführer und sagst nicht weiter alstayib yalla yalla,das heißt: es ist gut, schnell vorwärts. So steht es hier. Na, wir wollen die Wilden schon abprallen lassen. Karl, wenn wir den Bädeker nicht hätten und unsere angeborene Schläue, wo wir wohl blieben?«

Die drei Tage Seereise auf dem großen Indienfahrer waren bald herum. Der letzte Tag brachte stille See, die Kranken kamen wieder als Gesunde zum Vorschein und eine warme Sternennacht ließ uns empfinden, daß wir unter südlichem Himmel angelangt und nicht mehr weit von dem Erdtheil seien, in welchem so Viele zur Winterszeit den Sommer aufsuchen. Der Gedanke, morgen früh mit meinen eigenen Augen Afrika zu sehen, erregte mich ebenso sehr wie die Besorgnisse vor dem Angriff der Wilden. Aber das stand fest – sie fanden mich kampfbereit.

Alexandrien.

Afrika in Sicht. – Die Landung. – Was die Palmen sagten. – Mr. Pott. – Straßenleben. – Backschisch. – Ramleh. – Von den Ereignissen. – Der Neger im Baumwollenballen. – Arabische Frauen. – Warum Mohammed den Schleier verordnete. – Verbotene Ueberraschung.

Der Morgen kam.

Das also war Afrika, jener grauliche Streifen über dem Wasser gerade vor uns, der nur wenig anwuchs als wir uns näherten. Dann unterschieden wir einen Leuchtthurm und etliche größere Gebäude in dem Dunst der Frühe. Vorsichtig fuhr das Schiff in den Hafen. Ei, wie schön! Die Masse von Schiffen, die hübschen hellen Häuser, das Schloß dort auf der Anhöhe, die spitzen Thürme, wie aus einem Bilderbuch herausgeschnitten und doch leibhaft vor unseren Blicken ausgebreitet. »Karl,« sagte ich, »Afrika sieht ganz anders aus, als man sich denkt. Dies Alexandrien macht ja einen höchst vernünftigen Eindruck.« – »Man merkt, hier ist Handel und Wandel,« entgegnete er. »Aber wo bleiben die Wilden?«

»Da sind sie,« rief ich. An dem Quai, bei dem der Dampfer anlegte, standen sie hinter einem Absperrungsgitter und lauerten auf die Fremden, richtige Kamerungesichter. Die neuen Hafenanlagen haben den früheren Empfangsfeierlichkeiten mit den Booten ein Ende gemacht. Die Wilden schrieen und winkten mit den Händen, ihre Dienste anzubieten. Zur Bequemlichkeit der Ankommenden haben die Hotelwirthe ihren negerigen Hausknechten den Namen des Hotels mit leserlicher Schrift auf die Brust nähen lassen. »Karl,« rief ich, »hier ziehen sie die Firma als Weste an, dort der Mohrenkopf gehört zum Hotel »Khedivial«, wohin wir wollen, den nehmen wir.« Ich erhob mich etwas über den Schiffsrand und rief: »Du da, großes Muffi, Hotel Khedivial, kannst Du unsere Sachen tragen?« – »Sehr wohl, Madam,« rief er zurück.

Ein Glück, daß ich mich an einem Strickleitertau hielt, sonst wäre ich lang hingeschlagen. »Spricht das Deutsch und ist ganz schwarz dabei.«

Noch waren die Gesundheitsbeamten an Bord und die Wilden durften nicht heran. Wie sie sich anließen und was sie anhatten, das war unglaublich. Alle Farben waren vertreten und alle Stoffe. Einige hatten Löcher in einen alten Kaffeesack geschnitten, eins für den Hals und zwei für die Arme, und dann als neue Kluft angezogen, um den Kopf ein verblichenes buntes Tuch gebunden, oder solchen hohen rothen Mützenkopf ohne Krempe mit Puschel auf. Andere gingen in langen blauen Hemden, andere in weißen oder in gestreiften Kattun-Schlafröcken, wieder andere hatten karmosinvergnügte Baubaujacken an, Turbane um den Schädel gewickelt und farbige Binden um den Leib, aber jeder seine Mode für sich. Barbeinig waren sie und braun wie man Kaffee röstet, von ganz hell an, bis verbrannt, alle Schattirungen durch. Die total Schwarzen, die Neger, sahen aus wie die Besinge. Als jetzt das Gitter geöffnet wurde, rasten die Wilden auf das Schiff. Im Nu waren überall welche, in den Kajüten, in den Kabinen, oben und unten, wie die Ratten. Unser Schwarzer kam mit noch einigen Kumpanen an. »Hier Khedivial,« sagte er. »Wo Bagasch'?« – Er folgte uns in die Kabine, mein Karl gab ihm das Gepäck, das der Schwarze wieder den mitgebrachten Leuten aufpackte. Er zählte blos die Stücke und hielt so viel Finger hoch als Tragsachen da waren. »Saba,« sagte er. – »Was hat er gesagt,« fragte ich meinen Mann. – »Ich hab' ihn nicht verstanden.« – »Was meinen Sie?« fragte ich den Wilden. »Saba,« sagte er und streckte sieben Finger vor. – Ach so, er meint sieben Stück Gepäck, wofür er aufzukommen hat. »Karl,sabaheißt nämlich sieben, du brauchst blos dabei an Sabbath zu denken, den siebenten Wochentag. Wir müssen uns klar machen, daß jetzt das Mohammedanische anfängt und wir nur noch arabisch sprechen. Nein, wir glücklich ich bin, daß der Wilde deutsch verstehe. Zu prachtvoll. Nu mantayib yalla yalla!!«

Der Neger drehte die Augäpfel ein paar Mal in ihren Höhlen herum, grinste mich an und zog ab. Wir folgten ihm und den Gepäckträgern.

Nun hatte ich mir schon in Berlin die schwärmerischen Empfindungen vergegenwärtigt, mit denen ich den ersten Fuß auf den afrikanischen Boden zu setzen gedachte, so gewissermaßen von unten nach oben heraufgruselnd, da das Betreten eines Welttheils, wovon es auf Erden überhaupt nur fünf giebt, zu den denkwürdigsten Erlebnissen gehört, aber weil ich die Leute mityalla, yallaangetrieben hatte, mußten wir den Einzug rennend machen und kamen erst wieder zu uns, als wir im Hotelomnibus saßen. »Karl,« sagte ich, »dieser erhabene Moment ist in die Brüche gegangen. Man kann mit fremden Sprachen nie vorsichtig genug sein.«

Auf der Douane wurden die Pässe nachgesehen und die Koffer durchsucht. Es geht auf dem Zoll in Alexandrien ordentlich her, höflich und nicht schikanös, obgleich Alles genau nachgesehen wird. Wir führten auch nichts Steuerbares; Schmuggeln ist zu sehr mit Heidenangst verknüpft.

Als wir unsere Pässe wieder hatten, die Koffer verschlossen und die Träger abgelohnt, fuhren wir nach dem Hotel.

Zunächst führte der Weg durch Gassen mit niederen Häusern, denen man auf den ersten Blick ansah, daß sie auf afrikanischem Boden gewachsen waren, und die Menschen, die dort ein- und ausgingen, die Männer, welche mit Früchten, Gemüsen, Federvieh und anderen Handelswaaren straßauf straßab strichen, die kleinen Kinder, bei denen wegen Naturfarbe das Waschen überflüssig ist, die schwarz verschleierten, in eine Art von dunkel- und graublau gestreiften Bettlaken eingewickelten Weiber paßten genau zu den Wohnungen; es war Alles so ganz anders wie bei uns. »Karl,« sprach ich, »hefte Dir diese volksthümlichen Anblicke genau ins Gedächtniß, damit Du, wenn ich in Berlin davon erzähle, nicht sagst, ich flunkere.« – »Wilhelmine,« antwortete er, »so weit die Leute sich bekleiden, nehmen sie Alles, was sich anziehen läßt. Wenn sie zahlungsfähig sind, könnte man hier die ältesten Lagerhüter los werden.« – »Karl, Du hast natürlichen Scharfblick, übe ihn nur unentwegt, denn so viel spüre ich: in Aegypten ist was gefällig.«

Und darin hatte ich, wie schon oft, Recht. Mit jeder Umdieeckebiegung gab es neue Erstaunlichkeiten, bis wir an einen großen baumumpflanzten Platz kamen, auf dessen Mitte ein Reiterdenkmal stand, während breite Fahrstraßen und europäisch gebaute Häuser ihn einrahmten. Dies waren die »Linden« von Alexandrien oder, wie sie dort sagen, der Mehmed Ali-Platz. Man hätte nun wegen der Droschken und der glanzvollen Schaufenster der Läden glauben können, sich in einer deutschen Stadt zu befinden, die während der Friedensjahre Muße und Mittel fand, sich baulich zu erweitern und neue Façaden vorzubinden, aber die Akazienbäume glichen nicht unseren Linden, und neben den Droschken standen die Reitesel und neben den Eseln die braunen Treiberjungens bloßbeinig und bunthemdig. Auf den Bürgersteigen gingen Europäer nach der neuesten Pariser Mode und arabische Leute in ihren Fastnachtgewändern.

Was aber am fremdländischsten berührte, das waren die Palmen. Hier sah man sie über einem halb fertig gebauten Hause hervorragen, dort verriethen sie die Anwesenheit eines Gartens, überall entdeckte das verwunderte Auge die Kronen dieser Bäume, die im Verein mit dem tiefblauen Himmel sagten: Hier ist der Orient! Viel zu früh für unsere Sehenslust hielten wir vor dem Hotel.

Durch das Vorhandensein eines deutschen Portiers wurden unsere Spracherwerbnisse hinfällig. »Karl,« sagte ich, »an dieses Land gewöhnen wir uns leicht, es herrscht ein zivilisirter Ton. Hörtest Du, wie man mich mit »Gnädige Frau« anredete?« – »Dafür zahlen wir auch Jeder täglich zwanzig Franken Pension, ohne die Getränke.« – »Das holen wir mit Nilwasser wieder ein. Ich habe gelesen, daß Nilwasser zu den köstlichsten Genüssen zählt. Und dann bedenke dies hohe, große Zimmer, die Betten, mit Moskitonetzen umzogen, und die belehrende Aussicht vom Altan auf die Straße. Weiter hin stehen Mengen von Palmen. Ein wahres Millionärunterkommen!«

Er antwortete nicht, sondern machte sich in die Reihe, den Deutschen Besuche abzustatten, an die er empfohlen war. Von den Wilden konnte mein Mann keine geschäftlichen Aufschlüsse erhalten. Auch ich stellte mich sehenswürdig her. Hierauf verfügten wir uns in den Speisesaal, der im Garten lag, und zwar in einem Palmengarten, wo mir unbekannte Sträucher große rothe Blüthen trugen und allerlei Rankgewächse, ebenfalls blühend, an den Mauern in die Höhe kletterten. Der Speisesaal, mit orientalischen Vorhängen und Teppichen dekorirt, stand unter der Leitung eines französischen Oberkellners, was für uns eine harte Sache war, vornehmlich weil der Mann einen rasend geläufigen Akzang hatte. – »Daß hier auch kein Deubel deutsch versteht,« rief ich ärgerlich. – »O bitte,« sagte hierauf einer von den bereits am Tische sitzenden Herren, »womit kann ich Madame von Nützlichkeit sein?« Ich erröthete bis an den Scheitel über meine Aeußerung und entgegnete: »Mein Mann und ich möchten frühstücken, aber wir stoßen auf mangelndes Verständniß.«

Wir stellten uns nun durch Visitenkartenaustausch gegenseitig vor. Er war ein Mister Pott aus Amerika, der längere Zeit in Berlin gelebt hatte, und sich unserer in verbindlichster Weise annahm. Mit wahrer Begeisterung sprach er von der Kaiserstadt an der Spree, daß es ihm so gut dort gefallen habe und er froh sei, Jemand von dort seine Dienste anbieten zu können, wo er in kurzer Zeit vergessen hätte, ein Fremder zu sein.

Mit Nilwasser ließ sich dies Bündniß nicht begießen. Mein Karl stieg in die Weinkarte, Mister Pott sorgte, daß der gute Bordeaux auf das sorgfältigste gekühlt wurde, da seiner Behauptung nach die Zimmertemperatur in Aegypten für Schloßabzüge zu hoch sei. Wir mußten ihm beipflichten, Wärme nimmt dem Rothspohn das Erquickliche. Zu kalt darf er natürlich auch nicht sein; man muß ein passendes Mittelmum zu Wege bringen. Ich glaube, wir säßen noch bei einander, wenn mein Karl nicht hätte fort müssen, denn Mr. Pott spendirte Erinnerungs-Champagner an Berlin, und dachte noch lange nicht an Aufbruch, aber es mußte sein. Ich ging oben, an Betti zu schreiben. Bevor ich mich jedoch mit der Dinte einließ, nutzte ich den Balkon aus und betrachtete die Menschen auf der Straße.

Gerade gegenüber an der Ecke der Straße, an deren Ende sich die Wölbung des Kairo-Bahnhofs erhebt, hockten ein halbes Dutzend braune Araber, die rauchten und plauderten, ohne daß der Schutzmann sie wegwies. Der Schutzmann war ebenfalls ein Brauner, in dunkelgrüner Uniform mit rothem Kragen und rothen breiten Armlitzen, rother Kappe und Seitengewehr. In Berlin würde er Auflauf von Neugierigen verursachen, in Alexandrien aber, wo es mehr Trachten giebt als Farben im Tuschkasten, erscheint er sogar in amtlicher Gemessenheit den englischen Soldaten in ihren siegellackrothen Röcken überlegen. Vornehme Araber kleiden sich mit feinem Geschmack, die Stoffe sind kostbar und würdig wandeln sie einher. Junge Araber dagegen, die sich als Zierlappen aufspielen, ziehen über das faltige Kostüm einen Sommerpaletot von modernstem Schnitt, worin sie Wunder meinen, was sie sind, ohne zu ahnen wie unzusammenpassend sich das ausnimmt.

Das Straßengetriebe wird erhöht durch die eleganten Kutschen, in denen Damen der europäischen Gesellschaft ausfahren, prachtvoll in Toiletten, die braunen Diener in meist dunklen, goldgestickten Livreen. Dazwischen wieder Männer und Frauen auf Eseln, Verkäufer von Brot, Apfelsinen, Tomaten und allem möglichen Handelbarem, sowie Arme und Bettler. Und doch muß ich sagen, daß das Gebettel in Alexandrien lange nicht so massenhaft und belästigend ist wie ein Neapel. Ja die Blumenhändler in der Friedrichstraße sind aufdringlicher und unverschämter als die Dürftigen Alexandriens, die nach ihrer Religion doch das Recht haben, Almosen zu fordern. Die Eseljungen und die kleinen Stiefelputzer, echte Schwarze und Dunkelbraune, geniren allerdings, wenn sie Jemand als Kunden erachten, da sie schlecht los zu werden sind.

Ungerne gab ich die weitere Betrachtung auf, aber die zu Hause hatten Anspruch auf Nachrichten; von den bloßen Gedanken, die man hinüber fliegen läßt, verspüren sie in der Heimath nichts. In der Schreibmappe bewahrte ich die Photographien der Unsrigen. Ich baute sie vor mir auf dem Tische auf und war so mitten unter ihnen. Wie lieb die ganze Versammlung: Betti und ihr Mann, Onkel Fritz und Erika, der Doktor, Fritz und Franz. Wie ähnlich die Zwillinge dem Doktor werden, das ist merkwürdig, als wenn der Vater durchgezeichnet wäre. Und nun setzte Großmama sich hin, ihrer Aller in dem Briefe zu gedenken. Das ist doch das Schönste.

Freilich war es warm, und von draußen lockte der Straßenlärm zum Ausschauen, doch die guten Vorsätze behielten die Oberhand. Den sich meldenden Durst vertrieb ich mit dem laulichen Inhalte der Wasserflasche. Frisches Wasser zu bestellen, traute ich mich nicht. Denn wie hieß es?

Als mein Karl zurückkehrte, begleitete ihn Herr Maubach, an den er von Berlin adressirt worden war, und dieser hatte die große Freundlichkeit, uns den Nachmittag zu opfern. Das Gespann hielt bereits vor dem Hotel, und durch neue Straßen und alte fuhren wir zunächst nach der Pompejussäule, die jeder Fremde gesehen haben muß, obgleich sie einen sehr einsamen Eindruck macht. Sie ist aber das einzige wohlerhaltene Denkmal von verschwundener Pracht. Die Tempel, Paläste, Bäder und Bibliotheken, die Theater und Schulen, die einstmals den Ruhm der Alexanderstadt weithin verbreiteten, sind nur noch als entzweie Bruchstücke vorhanden, und da, wo die Bürger ihre Häuser hatten, liegen jetzt Scherben- und Erdhaufen, die der Weg für die Eisenbahn durchschneidet. Angepflöckte Beduinenzelte beleben die kahle, traurige Schuttwüstenei, und unfaßbar bleibt es, wie das Alles zu Müll werden konnte. Aber Parteihader und Streit, Aufstände und Kriege zerstören, was Friede und Wohlstand erbauten. Schliemann war gerade in Alexandrien gewesen, das Haus der Kleopatra auszugraben, und er hat auch einige Stufen freigelegt, denen blos der dazugehörige Palast fehlt. Wegen mohamedanischer Umtriebe mußten die Forschungen aufgegeben werden, so interessant es gewesen wäre, zu erfahren, wie diese Frau wohnte, gegen deren Schönheit Niemand ankonnte. Makart hat sie ja öfter gemalt.

Nicht weit von der Pompejussäule liegt ein arabischer Kirchhof. Jedes Grab stellt eine Art von oberirdischem Sarg aus weißem Marmor vor, an dessen Kopf- und Fußende sich die Denksteine erheben, so daß das Ganze den Eindruck einer Stadt mit seltsamen, weißen Häußerchen macht, die bis auf das Dach und die Schornsteine in die Erde gesunken sind. Schreckliche Kinder stürmten aus dem Armenviertel herbei und riefen mit ausgestreckten Händen unaufhörlich: »Backschisch, Backschisch.« Das heißt: »Geschenk, Geschenk.« Ueberall, wo Sehenswürdigkeiten Fremde hinziehen, sammeln sich Schnorrer an, es mag sein, wo es will, aber bei uns wird man nicht so umsprungen und umhüpft, wie von diesen kleinen Teufeln mit den schwarzen Gnisteraugen in ehemals bunten Kattunhemden, die trotz sichtlich größter Nothwendigkeit, nach dem ersten Zusammennähen, nie wieder mit Nadel und Faden in Berührung gekommen waren. Und doch klang das Backschisch Geschrei nicht kläglich, sondern wie geschäftsmäßig eingelernt. Einige lachten sogar vergnügt dabei, als sei Betteln eine Lustbarkeit.

Erst als wir wieder im Wagen saßen, wurden ihnen einige Kupfermünzen zu Theil. Die Folgen davon war ein Knäuel kindlicher Gliedmaßen mit allen denkbaren und undenkbaren Rück- und Vorderansichten, sie alsbald von aufgewühltem Staub verhüllt wurden. So gewaltig fuhren sie auf die in den Sand geworfenen Geldstücke los und grapsten. Es waren eben junge Wilde.