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Eine scheinbar ganz gewöhnliche Familie: Vater, Mutter, zwei Söhne, zwei Töchter. Der Vater Damián ist Anwalt, sozial engagiert, verehrt Gandhi und verachtet Redensarten. Als Mann klarer Vorstellungen erzieht er seine Frau Laura und die Kinder Damián, Rosa, Martina und Aqui zu Disziplin und Sparsamkeit, Rücksichtnahme und lückenloser Offenheit. Die Konsequenz: Alle anderen versuchen auf je ihre Weise, sich der ungelüfteten Atmosphäre von Kontrolle und angespannter Stille zu entziehen. Sie proben stumm den Aufstand, suchen Auswege, entwickeln Geheimcodes oder unterlaufen die starren Regeln durch Übererfüllung. In doppelbödigen Szenen und aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt Sara Mesa davon, wie familiäre Beziehungen ein Leben lang prägen. Ein hypnotischer Roman über ernste Versteckspiele, die Lügen der Eltern, den sanften Terror des Gutgemeinten und die Scham, die bleibt: »Die Familie« werden wir nicht los.
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Seitenzahl: 325
Veröffentlichungsjahr: 2025
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In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse. Alle spielen Theater, verstellen sich, erfinden kleine Lügen. Sara Mesas Erkundung des Weltinnenraums Familie ist unerbittlich, beklemmend genau und so unheimlich vertraut wie die Schatten im nächtlichen Kinderzimmer.
»Sara Mesa schreibt rätselhaft brillante Romane.« Süddeutsche Zeitung
Sara Mesa
DIE FAMILIE
Roman
Aus dem Spanischen
von Peter Kultzen
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
Cover
Titel
Die Wohnung
In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse!
Ein Herz und eine Seele
Widerstand
Alle Enten und Fische zusammen
Seelentröster
Onkel Óscar
Mindestens hundertachtzig Jahre
Aqui in sieben Fragmenten
In dieser Phase des Lebens
Wer fragt, macht sich schmutzig
Gute Menschen
Gegen die Domestizierung
Der Spalt
Impressum
Schau sie durch das Traumauge an. Der Flur als geografisches Zentrum, als Grenze. Zu beiden Seiten Zimmer. Gehe ihn entlang, von einem Ende zum anderen, ohne gesehen zu werden. Oder überquere ihn, von einem Zimmer zum gegenüberliegenden, ein sauberer Sprung genügt. Trau dich, einzutreten. Vielleicht ist schon jemand dort, du weißt es nicht. Falls ja, sei still, zieh dich zurück. Falls nein, schließ nicht ab. Es gibt keinen Schlüssel.
Schau sie dir gut an, bevor du aufwachst. Die blinden Flecken und die Schlupfwinkel. Wörter, die genau das Gegenteil dessen bedeuten, was sie vorgeben, kleine Schwindler. Der Kamm, der einen ordentlichen Mittelscheitel zieht, und das Haarknäuel unter der Matratze. Die Schranktür, die nicht richtig schließt. Der Spalt, der offenbleibt. Die Augen, die spähen.
Hör nicht auf, hinzuschauen, jetzt, wo du sie vor dir hast, wo sie dir hinter den Lidern brennt. Berechne, wie viele Schritte es von einer Ecke bis zur gegenüberliegenden sind. Sei genau, das ist wichtig. Achte auf den Unterschied zwischen dem Klicken, mit dem die Tür zu-, und dem Klicken, mit dem sie aufgeht. Erkenne das Brummen des Telefons unmittelbar vor dem ersten Klingeln. Passe die Lautstärke deiner Stimme bei deiner Antwort an, wandle sie beim Verstellen sorgfältig ab.
Schau, wie das Licht durch die Fensterscheibe fällt und das Kiefernholz der Möbel rötlich färbt. Schau, wie es abprallt und sich auf die Strukturfarbe an der Wand stürzt, im Spiegel des Ehetempels aufblitzt, wie es zerfällt und wieder auf den Balkon entwischt, verwegen, geschwind. Schau, wie es sich feucht und frisch über die Geranien ergießt, hin zur verbotenen Straße, zum Gehweg voller Dreck, den streunenden Hunden und dem kühlen Bier, das man draußen trinken muss, nie hier drin.
Schau aufmerksam hin, aber sag nichts.
Schau bloß hin und lerne.
»In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse!«, sagte Vater.
Er wedelte mit Martinas Notizbuch, einem Notizbuch mit Schloss, das sie vor ein paar Tagen heimlich gekauft hatte, es hatte einen rosa Umschlag und war mit einem Vogelmuster bedruckt, die Tiere hatten die Flügel abwechselnd ausgebreitet oder angelegt.
Den Schlüssel hatte Martina versteckt. Selbst wenn er mich foltert, er bekommt ihn nicht, sagte sie sich.
»Soweit ich weiß, hat dir niemand verboten, ein Tagebuch zu schreiben, weder dir noch deinen Geschwistern«, sagte Vater. »Im Gegenteil, wir finden es sehr gut, wenn ihr euch ungehemmt ausdrückt, das ist eine wertvolle Übung für die Charakterbildung. Darum verstehe ich es nicht recht. Woher kommt dieses Misstrauen? Glaubst du wirklich, Martina, deine Mutter oder ich würden ohne deine Erlaubnis dein Tagebuch lesen?«
Martina schüttelte den Kopf und sagte erst danach mit auffälliger Ungleichzeitigkeit:
»Nein.«
»Und was soll dann die Geheimnistuerei? Ein geheimes Tagebuch! Schon allein die Idee hinter diesem Schloss ist beleidigend!« Er verzog das Gesicht, um seinen Kummer zu zeigen.
»Aber Papa, das Schloss war doch mit dabei, ich habe es nicht extra dazu gekauft. Mir hat das Vogelmuster gefallen. Deshalb habe ich das Notizbuch genommen, nicht wegen dem Schloss.«
»Wegen des Musters?«
»Wegen den … Es sind doch Tauben, oder? Bunte Tauben. Oder Schwalben?«
Vater lächelte. Ein mild sinnendes Lächeln, das eine Veränderung anzeigte. Martina wusste, was nun folgen würde. Er würde anfangen, hin und her zu gehen, sein Tonfall würde sanfter werden – der Ärger würde dem Drang weichen, Verständnis zu zeigen, versöhnlich zu sein, und so weiter –, und irgendwann würde er auf sie zukommen, vielleicht sogar liebevoll ihren Kopf tätscheln, und so geschah es auch.
Sie widerspreche sich, sagte er. Sie widerspreche sich, wenn sie dem Schloss so wenig Bedeutung beimesse und es trotzdem benutze. Denn es müsse doch sicherlich ziemlich lästig sein, es jedes Mal auf- und wieder zuzuschließen, wenn sie etwas hineinschreiben wolle, noch dazu mit einem so winzigen Schlüssel … Er führte das Notizbuch an seine Augen, runzelte die Stirn. Was für ein kleines Loch, sagte er wie zu sich selbst. Um erst gar nicht davon zu reden, dass sie das Tagebuch unter der Matratze aufbewahre – wie erkläre sie das?
»Martina, Martina, wann wirst du uns endlich vertrauen? Irgendwann wirst du akzeptieren müssen, dass eine neue Phase deines Lebens begonnen hat. Eine bessere Zeit, ohne Dunkelheit, ohne Angst.«
Den Vorteilen dieses neuen Lebens, dem er so schöne Worte widmete, war es zu verdanken, dass Vater davon abkam, sie um den Schlüssel zu bitten. Aber er bat sie, ihn nicht mehr zu benutzen. Bitte nicht. Wenn sie das nächste Mal wieder etwas in ihr Tagebuch geschrieben habe, könne sie es unverschlossen liegen lassen, wo immer sie wolle, auf dem Esstisch, zum Beispiel, oder in der Küche, auf der Anrichte, für alle zugänglich.
»Niemand wird es lesen, das verspreche ich dir.«
Er machte eine Pause, strich sich nachdenklich übers Kinn.
»Eines aber solltest du bedenken. Der Wunsch, manche Dinge für sich zu behalten, ist das eine, das ist nur zu verständlich, aber Heimlichtuerei ist etwas ganz anderes. Geheimnisse sind nie gut. Im Gegenteil, sie schaden uns, sie sind bloß dazu da, hässliche Dinge zu verbergen. Warum wären sie sonst geheim? Lieber hat man nichts zu verbergen, geht erhobenen Hauptes durchs Leben und muss sich nicht verstecken.«
»Aber ich verstecke mich doch gar nicht …«
»Schön, denn, ehrlich gesagt, ich würde sehr gerne lesen, was du schreibst.« Er hob eine Hand, machte eine Pause. »Natürlich nur, wenn du willst, nicht wahr? Fühl dich da ganz frei. Alles, was du mir zeigen möchtest. Was auch immer, ich werde bestimmt nicht über dich urteilen. Ich weiß, du kommst aus einer schwierigen Umgebung, aber diese Vergangenheit liegt nun hinter dir. Die Dinge haben sich geändert, Martinita, mal sehen, wann du das endlich begreifst.«
Martinita. Niemand nannte sie so, nur Vater – in Situationen wie dieser – und manchmal der kleine Aquilino, der aber bloß ironisch, um sie zu ärgern.
Im unteren Stockbett liegend öffnete Martina, vielleicht zum letzten Mal mit dem Schlüssel, ihr Vogelbüchlein. Rosa, im Bett über ihr, las ein Buch, das Vater ihr empfohlen hatte. Mit gezwungener, geradezu wütender Sturheit folgte sie allen Ratschlägen Vaters. Es war kein Buch, das eine Geschichte erzählte – dass Vater Geschichten nützlich finden könnte, war schwer vorstellbar –, sondern ein Astronomiebuch für Kinder in ihrem Alter, Rosa war zehn. Sie blätterte die Seiten schnell um, als wäre sie ganz begeistert von der Lektüre.
»Du siehst dir ja bloß die Bilder an«, sagte Martina. »Gib zu, du findest das Buch langweilig.«
»Nein.«
»Findest du es nicht langweilig, oder willst du’s nicht zugeben?«
»Keins von beidem.«
Rosa streckte den Kopf über den Bettrand.
»Auch wenn du es nicht glaubst, ich finde Astronomie toll. Ich weiß eine ganze Menge über den Mond und die Sonne und die Planeten. Wetten, du weißt nicht, warum unsere Galaxie spiralförmig ist? Und die Milchstraße? Warum heißt die so? Weißt du das? Nein, gib’s zu.«
Ohne zu antworten, riss Martina Seiten aus ihrem Heft. Zerriss sie in vier und dann in acht Teile, die sie äußerst sorgfältig neben sich im Bett aufeinanderstapelte.
»Warum machst du das?«, fragte Rosa.
Martina antwortete mit verstellter Stimme.
»Wil ich nicht will, diss jimind dis liest, wirim sinst?«
Rosa drehte sich wieder auf den Rücken und schnaubte. Es war kalt, aber die Heizung durften sie jetzt noch nicht anstellen. Vater hatte gesagt, vor acht Uhr abends sei der Strom viel teurer und sie könnten sich gut mit Pullovern und warmen Unterhemden behelfen. Es war nicht so, dass sie knapp bei Kasse waren – erst am Tag zuvor hatte Vater beim Mittagessen erzählt, dass er zwei neue Klienten für die Kanzlei gewonnen habe, eine sehr wertvolle Akquisition, hatte er gesagt –; es ging, wie sie beide genau wussten, vielmehr um Sparsamkeit, ja es war sogar eine Stilfrage: Nichts stärkt die Seele so sehr wie die Abhärtung des Körpers.
Im Bett war es um diese Uhrzeit jedenfalls angenehm, draußen wurde es langsam dunkel, aber man brauchte noch kein Licht einzuschalten. Das Zwielicht verlieh dem Zimmer das Aussehen einer Höhle, etwas Intimes und Geheimes, was den Mädchen sehr behagte. Rosa klappte ihr Buch zu und fragte Martina, ob sie krank sei.
»Ob ich krank bin? Was soll das denn?«
»Hast du Fieber oder so?«
»Ich habe gar nichts.«
»Hast du keine Kopfschmerzen? Oder Bauchschmerzen? Musst du nicht mal spucken?«
»Gar nichts hab ich, nerv mich nicht! Warum fragst du das?«
Rosa erzählte, sie habe hinter der Tür etwas sehr Seltsames gehört. Sie, also ihre Eltern, hätten gesagt, Martina sei mit irgendeinem Virus infiziert, und deshalb hätten sie sie adoptiert, um sie zu heilen. Rosa fragte sich vor allem, ob der Virus ansteckend war. Außerdem wollte sie wissen, ob er innerhalb der Familie vererbt werden konnte, schließlich waren sie ja Cousinen. Ihre Eltern hatten gesagt, sie solle sie Schwester nennen, nicht Cousine, so wie Martina sie Mama und Papa nennen sollte, aber Rosa hatte sich noch nicht recht daran gewöhnt. Martina war seit vier Monaten bei ihnen. In gerade einmal vier Monaten macht man niemanden zu seiner Schwester.
»Ich habe keinen Virus«, protestierte Martina.
»Woher willst du das wissen? Viren sind unsichtbar, oft wissen die Kranken nicht mal selbst, dass sie welche haben. Die sind versteckt in dir drin und essen dich von innen auf, und bevor du irgendwas merkst, hast du keine Lunge mehr und keine Lebern und kein Herz.«
»Lebern? Na hör mal, wir haben bloß eine Leber. Außerdem essen Viren nichts.«
Rosa erwiderte beleidigt, die Freundin einer Freundin von ihr kenne ein Mädchen, das habe einen Virus gehabt, den niemand bemerkt habe. Das Mädchen sei eines Tages plötzlich gestorben, und als man sie beerdigen wollte, hätte man festgestellt, dass sie so gut wie nichts gewogen habe, weil der Virus sie von innen ganz aufgefressen habe. Nur noch die Haut sei übrig gewesen, ganz straff wie eine über die Knochen gespannte Folie.
»Wie eine Folie!«, sagte Rosa noch einmal und streckte erneut den Kopf nach unten zu Martina. Die Locken fielen ihr ins Gesicht und verdunkelten die Augen. Sie sah aus wie ein Wasserspeier.
Martina hatte erst kurz vorher gelernt, was ein Wasserspeier ist, und erschrak ein bisschen. Vielleicht übertrieb Rosa ja, aber was, wenn sie wirklich einen Virus hatte?
Eine Hand schob sich durch den Türspalt, betätigte den Lichtschalter und riss sie aus ihrer Unterhaltung. Vaters langsame, erdige Stimme verkündete:
»Von heute an verbringen wir die Abende gemeinsam im Wohnzimmer. Immer mindestens zwei Stunden, von sechs bis acht, wie findet ihr das? Die Betten sind zum Schlafen da, würde ich sagen, nicht, um sich im Dunkeln irgendwelche Geschichten zuzuraunen.«
Martina drehte sich auf der Matratze so, dass die Papierschnipsel des Tagebuchs durch ihren Körper verdeckt wurden. Möglicherweise hatte Vater – oder der Mann, der jetzt ihr Vater war – ihr Manöver durchschaut. Deshalb beschloss sie, die Schnipsel später, wenn sie allein war, lieber aufzuessen, sicherheitshalber.
Einer der Gründe sei Strom sparen, sagte Vater, dafür brauche man sich nicht zu schämen, die Mittel sind begrenzt, man muss sie maßvoll einsetzen. Hauptsächlich ging es aber darum, an einem gemeinsamen Ort Zeit miteinander zu verbringen. Kaum eine Familie tat dies heutzutage noch, und diese Kälte, diese Absonderung, hatte gefährliche Konsequenzen für die Gesellschaft.
»Es kann nicht sein, dass jeder sich nur um seine eigenen Dinge kümmert, ohne dass wir zusammenleben und uns austauschen. Wir sind eine Familie, vergesst das nicht!«
Anfangs nörgelte Damián ein bisschen, angeblich machte er sich Sorgen. Mit so vielen Leuten um ihn herum könne er sich beim Lernen nicht konzentrieren, wagte er wichtigtuerisch zu behaupten. Aber Mutter versprach, dass die Mädchen leise sein würden, und da hörte er auf, sich zu beschweren, ja, er schien sogar – hätte Martina gesagt – zufrieden zu sein. Was Aquilino anging, der damals ungefähr acht war, so war er imstande, stundenlang zu zeichnen, ohne auch nur einmal den Mund aufzumachen. Seine Mathematik-Hausaufgaben erledigte er in wundersamer Geschwindigkeit, die Schönschreibübungen in Windeseile, und danach zeichnete er Bild um Bild: Autos, Gerüste an Gebäuden, ganze Maschinenparks. Er war ein seltsames Kind, nie malte er Blumen oder Häuser auf dem Land mit runden Fenstern und Hunden vor der Tür wie die anderen Kinder.
»Stille und Rücksichtnahme«, sagte Mutter. »Beides gehört zusammen, und das können wir auf diese Weise gut vorführen. Wir können zusammen an einem Tisch sitzen, und jeder beschäftigt sich mit seinen Sachen, ohne die anderen im Geringsten zu stören. Und da wir so eng beieinander sind, können wir auch unsere Arbeitsmaterialien teilen.«
Diesen Gedanken wiederholte sie mehrfach, mit unterschiedlichen Worten. Zusammenarbeit, Teilnahme, Großzügigkeit, Ruhe. Martina fragte sich, ob man so viel reden musste, um die Stille zu rechtfertigen. Was die Arbeitsmaterialien betraf – was meinte sie damit? Damián lernte, Aquilino zeichnete, Rosa las, Martina übte Schach mit einem Buch, Vater sah Akten durch, und Mutter nähte. Welche Arbeitsmaterialien hätten sie teilen sollen? Den Radiergummi, die Schere, eine Nadel, um Damián unauffällig in seinen dicken Hintern zu pieksen, auf die Gefahr hin, sich damit gigantischen Ärger einzuhandeln?
Manche Eigenarten ihrer neuen Familie verstand Martina bis jetzt nicht. Warum waren ihre Zimmer von einem Tag auf den anderen zu verbotenen Orten geworden? War das die Strafe für etwas, das sie unwissentlich getan hatte? Wegen der Sache mit dem Notizbuch und dem Schloss? Aber sie hatte noch mehr Fragen. Wenn Vater so ein wichtiger Anwalt war, der so viel zu tun hatte, wie er immer sagte, wieso war er dann nachmittags nicht im Büro? Warum hatten sie keinen Fernseher wie alle anderen? Warum durften sie nicht draußen spielen, auf der Straße, mit den übrigen Kindern? Als Martina das Mutter eines Tages fragte, kniff die sie liebevoll in die Wange und erklärte, vier Kinder hätten sie genau deswegen bekommen, damit diese nicht in Versuchung gerieten, auf der Straße nach Ablenkung zu suchen. Was gab es Besseres, als mit seinen Geschwistern zu spielen?, fuhr sie fort, und für Martina ging die Rechnung zunächst nicht auf – Damián, Rosa und Aquilino –, bis sie begriff, dass Nummer vier sie selbst war.
Während sie sich mit der Königin einen Bauern einverleibte, befiel sie das Gefühl, alle würden bloß Theater spielen, keiner tue, was er eigentlich tun wolle. Damián hasste Hausaufgaben, am liebsten fläzte er auf dem Bett und las Comics – die für sein Alter viel zu kindlich waren, wie Vater sagte. Rosa verabscheute Bücher über Astronomie oder Botanik wie jedes andere Mädchen auch; was ihr wirklich Spaß machte – das wusste Martina genau –, war Fußball spielen wie die Jungs, wie die richtig wilden Jungs. Und was Mutter betraf, war Martina sich sicher, dass sie lieber betete, als zu nähen, und lieber aß, als zu kochen – es genügte, dass Vater ihr den Rücken zukehrte, damit man das sah. Die Einzigen, die sich wohlfühlten, waren womöglich Aquilino und Vater. Wenigstens wirkten sie zufrieden, jeder auf seine Weise. Und sie selbst, Martina, na ja, das Einzige, was sie sich wünschte, war das Unmögliche, auch wenn sie nicht einmal sagen konnte, was dieses Unmögliche war. Jedenfalls bestimmt nicht, die Nachmittage und Abende in diesem kleinen Wohnzimmer zuzubringen, an dem runden Tisch mit der bodenlangen Decke, mit den sechs steifen Stühlen und dem mit Häkeldeckchen überzogenen Sofa, den Kreuzstichbildern von Orangen und Äpfeln, dem Regal mit den penibel aufgereihten Bänden der Enciclopedia Salvat – wer einen herausnahm, musste ihn später unbedingt an die richtige Stelle zurückstellen –, und mit ihr, Martina, die vor dem Schachbrett und dem aufgeschlagenen Lehrbuch saß und Eröffnungen und alle möglichen Spielzüge übte – Rochade, Schachmatt, sizilianische Verteidigung. Alle schwiegen und schienen einverstanden, nur Martina entfuhr gelegentlich ein Seufzer, der so ungehörig wirkte wie ein Furz.
»Du hast ja dein Tagebuch gar nicht mitgebracht, wie kommt’s?«, fragte Vater und sah von seinen Unterlagen auf.
Martina fuhr erschrocken zusammen.
»Das ist kein Tagebuch. Das ist ein Notizbuch, in dem ich Sachen aufschreibe.«
»Eine wichtige Präzisierung, ein Tagebuch ist nicht das Gleiche wie ein Notizbuch. Freut mich, dass du dich so genau ausdrückst, Martina. Ich frage dich also noch einmal: Wie kommt’s, dass du dein Notizbuch nicht dabeihast?«
»Ich weiß nicht, was ich schreiben soll, mir fällt nichts ein.«
»Aber vorher ist dir doch jede Menge eingefallen, oder?«
In der Hoffnung auf eine gute Antwort kratzte Martina sich am Kopf, doch vergeblich. Stattdessen rutschte ihr die denkbar dümmste und unpassendste Frage heraus:
»Willst du, dass ich wieder was reinschreibe?«
»Das fände ich sehr schön, ja. Bis jetzt hast du es immer gemacht, wenn du allein warst, aber warum sollte es nicht gehen, wenn wir alle beisammen sind? Schau dir mal Damián an, er sitzt da und lernt und lässt sich von nichts und niemandem ablenken. Und Rosa, sie liest und liest. Und schau mal, was für beeindruckende Zeichnungen Aquilino anfertigt. Wenn sie alle sich so ihren Aufgaben widmen können, sollte dir das auch möglich sein, oder? Dass du die ganze Zeit allein Schach spielst, ist jedenfalls nicht normal.«
»Ja.«
Martina stand auf und holte das Notizbuch mit dem nutzlosen Schloss. Unter den aufmerksamen Blicken der anderen öffnete sie ihr Federmäppchen, nahm einen Bleistift heraus und fing an, ihn sorgfältig anzuspitzen. Vater hielt sie lächelnd zurück.
»Mit dem Bleistift schreibt man nicht, das ist ordinär.«
Das sagte er so freundlich, dass es unmöglich war, zu fragen, was er mit ordinär meinte. In der Schule hatte Martina gelernt, dass ordinär auch so viel wie gewöhnlich bedeuten konnte, aber nicht nur das, darüber hinaus besaß es andere, schlechtere Bedeutungen, auf die Vater sich wahrscheinlich bezog. Ordinär wie rülpsen bei Tisch, in der Nase bohren oder sich an der Muschi kratzen? Sie legte den Bleistift zur Seite und suchte nach einem Bic-Kugelschreiber, einem blauen.
»Geht der?«
»Mal sehen …« Vater nahm das Mäppchen, leerte es auf dem Tisch aus und durchsuchte den Inhalt. »Lieber der hier.«
Es war ein schwarzer Fineliner.
»Aber der ist doch für technisches Zeichnen.«
»Ach ja? Wer sagt das? Ich glaube, du kannst ihn nehmen, wofür du willst.«
Erschöpft von den Einwänden sagte Martina nichts mehr. Sie nahm den Fineliner und wollte anfangen zu schreiben, merkte aber, dass ihr tatsächlich nichts einfiel, nicht das Geringste. Auf der Suche nach einer Erleuchtung sah sie sich um. Die Vorhänge bewegten sich nicht. Die Luft rührte sich nicht. Nichts rührte sich um sie herum, kein Geräusch war zu hören außer dem Kratzen von Aquilinos Stiften und dem von den Doppelfenstern gedämpften Brummen der Autos auf der Straße.
Wir setzen uns jetzt immer im Wohnzimmer zusammen, am späten Nachmittag.
»Toll«, sagte Vater. »Das mit der nachgestellten Zeitangabe ist großartig: am späten Nachmittag. Sehr schön, Martina. Mach weiter.«
Das war gar nicht so einfach, wenn er ihr dabei über die Schulter sah.
Das Wohnzimmer ist klein, aber sehr gemütlich. Wir passen alle mühelos hinein. Wenn jetzt noch der Heizstrahler angeschaltet wird, wird die ganze Familie richtig heiß.
»Hmm … Nein. Schreib das anders.«
»Was denn?«
»Das Letzte. Dass die Familie richtig heiß wird.«
»Warum?«
»Weil das nicht gut klingt. Das ist ordinär.«
»Wie soll ich es denn dann schreiben?«
»Martina, Martina, das musst du schon selbst entscheiden.«
Aber sie hatte sich ja bereits entschieden, eben so, wie es da stand. Was war daran falsch? Sie strich es durch und versuchte es nochmal. Ein Heizstrahler reicht, damit allen schön warm wird.
»Viel besser. Aber Vorsicht. Jetzt hast du zweimal kurz hintereinander das Wort alle benutzt. Alle passen mühelos hinein und allen wird schön warm. Ändere das noch.«
Das Ganze lief Gefahr, sich in eine Unterrichtsstunde in Stilkunde zu verwandeln. Martina fühlte sich wie gelähmt und wusste nicht, wie sie weitermachen sollte. Das also war nun aus ihrem geliebten Tagebuch geworden, mit all seinen komplizierten, tiefgründigen und abenteuerlichen Seiten, die sie herausgerissen und in die Innentasche ihres Rucksacks gesteckt hatte, weil sie den Mut, sie aufzuessen, nicht aufgebracht hatte – ein tristes Heft für Schulaufsätze.
»Heute fällt mir einfach nichts Gutes sein. Besser, ich spiele weiter Schach, einverstanden?«
»Dir fällt nichts ein, sagst du? Ich glaube nicht an Einfälle, erst recht nicht, wenn sie angeblich genial sind.«
Er nahm die Brille ab, um sie umso durchdringender ansehen zu können.
»Ich glaube an Arbeit.«
Martina wurde seltsam warm im Hals, sie wusste nicht, was sie erwidern sollte, und hustete, um ihre Stummheit zu überspielen. Sie wandte sich wieder dem Notizbuch zu, kritzelte mit dem schwarzen Fineliner uninspirierte Sätze aufs Papier, banales Zeug, aber offensichtlich völlig korrekt, denn Vater korrigierte sie nicht mehr und küsste sie sogar auf den Kopf, um ihr zu gratulieren. Sehr gut, Martinita.
Das mit der Stille war relativ. Im Lauf der Tage lockerten sich die Regeln ein wenig. Für manche zumindest. Wenn sie sich an den Tisch setzten, erklärte Vater für gewöhnlich, was er gerade machte. Dabei richtete er sich nicht nur an Mutter, sondern an sie alle, auch an den kleinen Aquilino, der mitten im Zeichnen innehielt und so tat, als würde er aufmerksam zuhören. Vater sagte Sachen wie zum Beispiel:
»Ich untersuche gerade den Fall eines armen Mannes, der zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt wurde, weil er für seine Frau eine Nähmaschine gestohlen hat. Wir wollen Revision einlegen. Es ist nicht dasselbe, ob jemand eine goldene Uhr stiehlt oder ein Arbeitsgerät, das müsste eigentlich allen klar sein, so wie es auch nicht dasselbe ist, ob man einen Luchs jagt oder ein Kaninchen.«
Anschließend erläuterte er die Besonderheiten des Falles.
Manchmal äußerte er auch klammheimlich Kritik an einem seiner Kanzleikollegen.
»Er kopiert meine Beweisführungen. Ich habe zu ihm gesagt: Junge, mach dir meine Arbeit zunutze, wenn es dir was bringt, ich habe kein Problem damit, aber er hat sich wahnsinnig aufgeregt und behauptet, er habe sich meine Papiere nie angesehen, kein einziges. Was soll’s, eigentlich tut er mir leid, er ist nun mal totales Mittelmaß und hat Angst, dass sie ihn rausschmeißen. Also lasse ich die Akten offen daliegen, um ihm zu helfen, und sage kein Wort.«
»Das solltest du aber. Du musst dein Licht ja nicht unter den Scheffel stellen«, meldete Mutter sich zu Wort.
»Du immer mit deinen Redensarten. Das hat doch damit nichts zu tun.« Vater hasste Sprichwörter und Redensarten.
Bei anderen Gelegenheiten forderte er Rosa oder Damián auf, zusammenzufassen, was sie gerade gelesen beziehungsweise gelernt hatten. Damián würde nächstes Jahr in die Oberstufe kommen, bereitete sich aber jetzt schon darauf vor, denn vorbeugen ist besser als heilen, obwohl man das auch nicht sagen durfte, weil das wieder so eine Redensart war. Mutter wiederum zählte die Nährstoffe und Eigenschaften des Abendessens auf, das sie anschließend zubereiten würde, und Vater verbesserte sie liebevoll, wenn sie sich ungenau ausdrückte. Martina versuchte, sich von diesem kollektiven Geist anstecken zu lassen, aber es gelang ihr nicht. Sie betrachtete das Ganze, als stünde sie am Spielfeldrand, und dabei knurrte ihr der Magen, was jedoch nichts mit Hunger zu tun hatte, wenn auch gewissermaßen mit etwas Ähnlichem.
Martina war vor Kurzem elf geworden. Vielleicht hatte der Virus sich bereits derart in ihrem Organismus ausgebreitet, dass er sich nie wieder ganz würde entfernen lassen. Vielleicht hatte Rosa recht, und er hatte sie bereits ganz von innen aufgefressen.
Die Gewohnheit, nachmittags beisammenzusitzen, behielten sie nicht allzu lange bei. Warum sie damit aufhörten, daran erinnert Martina sich nicht, sie ist sich nicht einmal sicher, ob das Ganze überhaupt zu so etwas wie einer Gewohnheit geworden war. Wie lange ging das so? Mehrere Tage, Wochen, Monate? Jedenfalls nicht über den Winter hinaus: In ihrer Erinnerung erscheinen unweigerlich der Tisch mit der bodenlangen Decke – sie spielte immer mit dem Samtstoff, strich mit der Hand darüber –, der Heizstrahler, der sie alle schön warm hielt – falls man das so sagen durfte –, und der sich gegen sechs Uhr allmählich verdunkelnde Himmel jenseits der spiegelblank geputzten Fensterscheiben und der roten Geranien, die den Frühling vorwegnahmen.
Alles ist von Bedeutung, auch wenn es noch so unbedeutend scheint, hat sie einmal in ihrer Reise ins Königreich des Schach gelesen. Befinden sich bloß noch die beiden Könige und ein Bauer auf dem Spielfeld, hieß es in dem Buch, was wird dann wohl aus diesem Bauer? Schafft er es, vorzurücken und sich in eine jungfräuliche Dame zu verwandeln? Im Folgenden wurden zwei mögliche Antworten angeboten. Die falsche lautete: »Je nachdem, manchmal gelingt es, manchmal nicht, warum lässt sich nicht sagen.« Und die richtige: »Natürlich lässt sich das sagen. Vorausgesetzt, man hält sich an die Theorie, ist es sogar ganz einfach zu schaffen, man braucht bloß die erfolgversprechenden Positionen zu kennen und die entsprechenden Spielzüge auszuführen.« Martina betrachtete die Abbildungen, stellte die Figuren auf die angegebenen Felder, wappnete sich mit Geduld, begriff den unfehlbar erfolgreichen Mechanismus aber trotzdem nicht. »Manchmal gelingt es, manchmal nicht« schien ihr stimmiger, wahrhaftiger mit Blick auf ihre eigenen Erfahrungen.
Was den Virus anging … Martina schrieb etwas darüber in ihr Heft und gab es Vater zum Durchsehen.
Ein Virus kann von den Eltern vererbt werden und obwohl man die Eltern wechselt ist der Virus immer noch in einem drin und stirbt nicht. Den AIDS-Virus zum Beispiel hat die Mutter und sie gibt ihn in der Schwangerschaft an das Kind weiter. Das Kind hat überhaupt keine Schuld aber es kommt mit einem Virus zur Welt der es von innen auffrisst.
Vater strich den Ausdruck Schuld durch, weil er nicht passte, und ergänzte die fehlenden Kommas. Dann fragte er, wie sie auf die seltsame Idee komme, dass ein Virus die Menschen von innen auffressen würde, und vor allem, woher sie das mit dem AIDS habe.
»Aus der Schule«, sagte Martina.
Das stimmte. Erst vor Kurzem hatten sie im Unterricht über AIDS gesprochen; seitdem tauchte bei dem Gedanken an Viren sofort dieses Wort auf – AIDS. Martina kannte auch den Grippevirus, wusste aber, dass der nicht von Müttern auf Kinder übertragen wird, sondern über Niesen und Rotz, und das durch egal wen.
Vater beschränkte sich darauf, gleichmütig einige grundlegende Dinge über die Funktionsweise von Viren zu erklären. Damit es zur Ansteckung komme, sagte er, müsse es einen direkten Kontakt zwischen einer erkrankten und einer gesunden Person geben, weshalb Ansteckung nicht auf den Kreis der Familie begrenzt sei. Er sprach von Ausbreitung, Immunität und Impfungen, zeichnete einen Kreis mit mehreren Saugnäpfen und zwei Augen. Martina oder die Möglichkeit, dass jemand aus ihrer Familie – aus ihrer früheren Familie – sich in der Vergangenheit mit einem Virus infiziert haben könnte, erwähnte er jedoch mit keinem Wort.
Offensichtlich erinnerte Vater sich nicht an das Gespräch, von dem Rosa ihr erzählt hatte, oder er ließ es sich nicht anmerken. Vielleicht hatte es das Gespräch auch gar nicht gegeben, und Rosa hatte es sich bloß ausgedacht, um sich über Martina lustig zu machen. Oder möglicherweise doch, aber das, was Rosa wörtlich genommen hatte, wortwörtlich, war eine Metapher, eine Metapher, die Vater vergessen hatte, wobei: eine Metapher für was?
Nachdenklich das Heft in der Hand haltend, wagte Martina, eine Frage zu stellen:
»Papa, gibt es in unserer Familie Geheimnisse?«
»Natürlich nicht!«
»Wenn ich also einen Virus hätte und es nicht wüsste, würdet ihr mir es sagen?«
»Was ist das denn für ein Quatsch?«
»Ein Quatsch, der mir eingefallen ist.«
»Du hast keinen Virus.«
»Aber wenn ich einen hätte, würdet ihr es mir dann sagen?«
Vater rieb sich die Stelle zwischen den Augenbrauen.
»Martinita, ich weiß nicht, wovon du redest oder worauf du hinauswillst. Du kannst mich fragen, was du möchtest, du brauchst dir dafür keine Finte mit einem Virus auszudenken.«
Martina wusste nicht, was eine Finte war, ihr war aber klar, dass sie einen Schritt in die falsche Richtung gemacht hatte und trotzdem unweigerlich weitergehen musste, auch auf die Gefahr hin, zu stolpern und hinzufallen.
»Ich hab mir keine Flinte ausgedacht. Das mit dem Virus hat Rosa mir erzählt.«
»Rosa hat dir was erzählt?«
»Sie hat gehört, wie die Tante und du … also ich meine, Mama und du … wie ihr gesagt habt, ich hätte einen Virus.«
»Rosa hat viel Fantasie, du darfst nicht alles glauben, was sie erzählt. Aber du, was genau möchtest du wissen?«
»Ich möchte gar nichts wissen. Nur das mit dem Virus.
»Also, das ist ganz einfach: Du hast keinen Virus. Sonst nichts?«
»Nein.«
»Sicher? Sicher, dass du nicht doch noch etwas wissen willst?«
Sicher? Martina wollte alles wissen, aber obwohl sie noch so jung war, ahnte sie bereits, dass sich die Wahrheit aus manchen Mündern unmöglich erfahren lässt. Wollte sie die Dinge aus Vaters Mund erfahren? Geheime Dinge? Ordinäre Dinge? Vater wartete mit verschränkten Armen, betrachtete sie über den Brillenrand hinweg, beharrte darauf, dass sie ihn direkt fragen solle, wenn sie etwas wissen wolle, denn in dieser Familie gab es keine Geheimnisse, und man konnte offen reden.
Martina blinzelte hastig, lächelte eingeschüchtert.
»Entschuldigung«, sagte sie.
»Entschuldigung wofür?«
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, doch es stimmte: Sie spürte das Bedürfnis, dass er ihr vergab, auch wenn sie nicht wusste, welchen Fehler oder welche Sünde. Sie tat Vater offensichtlich leid, als er sie so bestürzt vor sich sah. Er senkte die Arme und machte zwei Schritte auf sie zu, in der Erwartung, dass die Kleine von selbst – das war doch ganz natürlich – die Arme um ihn schließen würde.
Rosa ging durch den Flur voller Kinder. Die aus der fünften Klasse scherten sich nicht darum, dass es verboten war, zwischen den Unterrichtsstunden die Klassenräume zu verlassen, aber sie würde ganz bestimmt nicht dienjenige sein, die auf die Einhaltung der Vorschriften pochte: Die Kinder waren zehn, elf Jahre alt! Sie so in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken war grausam, dachte sie, diese Gefängnisregeln trugen nicht dazu bei, die Kleinen friedfertiger zu machen, im Gegenteil, sie weckten ihren Widerspruchsgeist erst recht. Rosa hatte noch wenig Erfahrung, sie hatte gerade angefangen, als Lehrerin zu arbeiten, und betrachtete die Kinder nicht als Feinde, obwohl sie selbst nicht hätte sagen können, was sie stattdessen waren.
Auf dem Weg zum Lehrerzimmer kam ihr Camille entgegen, der Hausmeister.
»Vorhin hat einer für dich angerufen. Ich hab gesagt, dass du im Unterricht bist. Er hat gesagt, dass er in der Pause nochmal anruft.«
Camilles Gesichtsausdruck – die boshaften kleinen Augen und die sich auf und ab bewegenden Pausbacken, als würde er auf etwas herumkauen – machte Rosa stutzig. Sie blieb stehen.
»Wer war es denn?«
»Was weiß ich denn. Er hat nach dir gefragt. Er hat gesagt: Arbeitet an dieser Schule eine, die Rosa heißt? Ja, hab ich gesagt. Kann sie mal drangehen?, hat er gesagt. Nein, kann sie nicht, hab ich gesagt. Warum nicht?, hat er gesagt. Weil sie im Unterricht ist, hab ich gesagt. Wann ist sie denn zu erreichen?, hat er gesagt …«
»Schon gut, Camille. Ich wollte wissen, ob er sonst was erklärt hat. Warum er anruft oder so.«
»Nein, nichts. Dass er in der Pause nochmal anruft.«
Rosa bedankte sich, betrat das Lehrerzimmer, nahm sich den Ordner mit den Aufgaben für die nächste Stunde vor und vergaß das Gespräch.
Wenn sie keine Pausenaufsicht hatte, blieb sie normalerweise im Lehrerzimmer, trank einen Automatenkaffee und blätterte in der Zeitung. Wenn sie hätte lernen können, hätte sie gelernt – sie hatte keine Festanstellung an dieser Schule, ihr fehlte noch das Staatsexamen –, aber um sie herum war es zu laut, die Gespräche der anderen, an denen teilzunehmen sie sich nicht berechtigt fühlte. Sie überflog die Schlagzeilen und beobachtete aus dem Augenwinkel – aufmerksam und neugierig wie eine Elster –, was ihre Kollegen in ihre Fächer legten oder aus diesen herausholten, all die kleinen glänzenden und geheimnisvollen Gegenstände.
Camille steckte den Kopf zur Tür herein und rief nach ihr.
»Telefon!«
So was Nerviges, dachte Rosa. Warum rief wer auch immer es war, sie nicht einfach auf dem Handy an?
Im Zimmer des Hausmeisters ließ Camille sich ganz in ihrer Nähe nieder und tat, als sei er sehr beschäftigt. Mit energischen Bewegungen stapelte er Fotokopien aufeinander und heftete sie zusammen. Dabei murmelte er vor sich hin und schüttelte heftig den Kopf. Rosa nahm den Hörer und drehte sich zur Seite, in der Hoffnung auf ein wenig Privatsphäre.
»Ja, bitte?«
»Rosa?«
»Ja, am Apparat. Wer ist da?«
»Ähhh, du kennst mich nicht. Ich weiß, wer du bist, und ich kenne dich sehr gut, aber du, also, du weißt nicht, wer ich bin, nein, du kannst das auch gar nicht wissen.«
Die Stimme klang abweisend und nervös. Rosa versuchte vergeblich, sie zu identifizieren. Ihr Besitzer erging sich derweil weiter in wirren Erklärungen.
»Ich … Ich heiße Antonio und, na ja, mein Name spielt eigentlich keine Rolle, wenn du nicht weißt, wer ich bin. Aber ich kenn dich, ich hab im Internet nach deinem Namen gesucht, Vorname und Familienname, und so hab ich herausgefunden, dass du in dieser Schule arbeitest, deswegen rufe ich an, ich muss nämlich mit dir sprechen.«
Er wirkte ungeduldig, als hätte sie ihn angerufen und ihn bei irgendwas gestört, und nicht umgekehrt. Rosa wollte ihn unterbrechen, die Kontrolle über das Gespräch gewinnen, aber das war gar nicht so einfach. Der Mann sprach immer weiter, stellte sich auf geheimnisvolle Weise vor, Schritt für Schritt, ohne Atempause. Erst auf ihr hartnäckiges Nachhaken hin gab er sich schließlich als Ehemann von Paqui zu erkennen.
»Paqui? Welche Paqui?«
»Paqui Carmona. Kennst du Paqui Carmona nicht? Erinnerst du dich wirklich nicht an Paqui Carmona?«
Paqui Carmona. Paqui Carmona war im ersten Studienjahr eine Kommilitonin von ihr gewesen, eine Art Freundin, geradezu hündisch treu ergeben, die sich in den Kursen immer neben sie gesetzt hatte. Als Rosa das Fach gewechselt hatte, hatten sie noch ein paar Jahre lang den Kontakt aufrechterhalten, immer unregelmäßiger, bis die Beziehung irgendwann vollständig eingeschlafen war. Rosa hatte nur ziemlich undeutliche Erinnerungen an sie. Paqui war ein Mädchen mit der typischen Zweite-Reihe-Attitüde, sie vermied es bewusst, sich in den Vordergrund zu spielen. Ein wenig unbedarft und schüchtern, wie sie war, stellte sie für niemanden ein Problem dar. Für Rosa war sie zu Beginn eine wichtige Stütze gewesen. Als sie jedoch allmählich Tritt fasste, war sie nicht mehr auf sie angewiesen.
»Ja, natürlich erinnere ich mich«, sagte sie.
»Ah, ein Glück, es käme mir schrecklich vor, wenn du sie vergessen hättest, denn sie hat dich nicht vergessen, weißt du?«
Nein, Paqui hatte sie nicht vergessen, wiederholte dieser Antonio mit immer lauterer Stimme. Ehrlich gesagt, fuhr er fort, sie hatte sich jeden Tag an sie erinnert, und jeden Tag war nicht bloß so dahergesagt, es war tatsächlich so: an jedem einzelnen Tag in all diesen Jahren. Hatte sie, Rosa, sich so oft an ihre Freundin erinnert?
»Natürlich habe ich mich erinnert. Anfangs waren wir ein Herz und eine Seele.«
Ein Herz und eine Seele. Ja, so hätte er das auch verstanden, also dass sie eng befreundet gewesen seien. Als Rosa die Fakultät verlassen habe, habe sie jedoch nicht mehr angerufen. Paqui habe sie immer wieder angerufen, aber Rosa rief nicht zurück. Sie hielt sie hin, missachtete sie. Und ließ sie schließlich sitzen. Sie hatte ja keine Ahnung, welchen Schaden Paqui durch ihr Verhalten davongetragen hatte! Es war ihre Schuld, dass Paqui jeden Tag so litt, und wenn er sagte, jeden Tag, war das nicht bloß so dahergesagt – und so weiter.
»Aber … davon wusste ich ja gar nichts.«
»Wusstest du es nicht, oder wolltest du es nicht wissen? Paqui hat mehrere Jahre unter Depressionen gelitten, wusstest du das auch nicht? Sie lag den ganzen Tag im Bett, hat unglaublich viel Gewicht verloren und ist an anderen Sachen erkrankt, weil die Depression, die bringt immer andere Sachen mit sich. Was bist du bloß für eine Freundin? Du hast dich nicht mal dazu herabgelassen, sie zu besuchen.«
Paqui sei wirklich tief verletzt, fuhr Antonio fort, sobald sie sich an die Geschichte erinnere, fange sie an zu weinen. Er habe ihr geraten, Rosa zu vergessen, aber dazu war sie nicht imstande, sie durchlebte es wieder wie jemand, der ein Kindheitstrauma durchlebt, es war nicht zu überwinden. Er konnte nicht verstehen, warum Rosa sich in all den Jahren nicht ein einziges Mal, ein einziges mickriges Mal, aufgerafft hatte, sie zu besuchen oder anzurufen. Einen solchen Verrat, einen solchen Mangel an Loyalität konnte er nicht begreifen. Aber so war es nun mal gewesen, und es ließ sich nicht mehr ändern. Was Rosa jetzt noch tun konnte, war, die Dinge etwas ins Gleichgewicht zu bringen. Für sie wäre das bloß eine Kleinigkeit, aber für Paqui war das vielleicht einen Ausweg aus ihrer Depression.
»Hat sie immer noch Depressionen?«
»Natürlich! Was glaubst du denn?«
»Aber du hast doch vorhin gesagt … Du hast gesagt, es waren ein paar Jahre.«
»Nein. Nein, nein, nein und nochmals nein. Ganz ist sie da nie rausgekommen. Nie. Manchmal hat sie bessere Phasen, dann wieder schlechtere. Jetzt macht sie gerade eine schlechte Phase durch. Deshalb rufe ich ja an. Oder glaubst du, mir fällt das leicht? Kannst du dir nicht vorstellen, wie erniedrigend das für mich ist? Ich mach das nicht zum Spaß, nur damit du’s weißt. Aber du solltest wieder Kontakt zu ihr aufnehmen. Auch wenn es bloß ein Mal ist, wenn du dir nur ein bisschen Zeit nimmst. Für sie wäre das ein wunderschönes Geschenk.«
Verwirrt versprach Rosa, sie so bald wie möglich anzurufen, und bat ihn, ihr eine Nummer zu nennen, unter der sie sie erreichen könne.
»Nein! Du kapierst ja wirklich gar nichts! Wenn ich dir ihre Handynummer oder die Nummer von uns zu Hause gebe, merkt sie, dass du anrufst, weil ich dich darum gebeten habe. Und das würde es nur noch schlimmer machen.«
»Na gut, aber was soll ich dann tun?«
»Denk doch mal nach. Als ihr euch kennengelernt habt, da hatte sie kein Handy und du auch nicht, oder? Ihr habt euch immer zu Hause übers Telefon eurer Eltern angerufen, stimmt’s? Dann machtst du’s jetzt eben genauso.«
»Das kapiere ich nicht.«
»Was heißt, das kapierst du nicht? Ich dachte, du bist Lehrerin. Seid ihr Lehrer etwa nicht besonders schlaue Leute? Besonders schlau kommst du mir jedenfalls nicht vor … Also pass auf, du musst bei ihren Eltern anrufen, so wie damals, als ihr an der Uni wart, und du musst so tun, als hättest du dich ganz von allein an sie erinnert, nicht weil ich dir’s gesagt habe. Ruf ihre Eltern an und bitte sie, dir ihre aktuelle Nummer zu geben.«
»Einverstanden.«
»Ach so, und denk dir eine Ausrede aus, warum du dich so lange nicht gemeldet hast. Irgendwas, das es für sie erklärt oder sie tröstet, verstehst du?«
»Ja.«
»Also, ich wiederhole die Anweisungen nochmal für dich: Du rufst bei ihren Eltern an, fragst nach ihr, und mich erwähnst du mit keinem Wort! Auf keinen Fall, klar? Das hast du hoffentlich verstanden.«
Anweisungen – in Rosas Schläfen pochte es heftig, und ihre Hände zitterten, aber sie sagte, ja, sie habe alles ganz genau verstanden. Dann bat sie ihn, ihr nochmal die Nummer der Eltern zu geben, und er wurde abermals laut.
»Siehst du! Das hab ich mir gedacht. Du hast sie vergessen.«