Die Familie Wilder - Erbe, Liebeskampf und Doktortitel (6-teilige Serie) - Karen Rose Smith - E-Book

Die Familie Wilder - Erbe, Liebeskampf und Doktortitel (6-teilige Serie) E-Book

Karen Rose Smith

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Beschreibung

UND DOCH GEHÖREN WIR ZUSAMMEN
Alltag, Business, rote Zahlen? Alles vergessen! In dieser Nacht werden Peter und Bethany von ihren leidenschaftlichen Gefühlen überwältigt. Doch nach Sonnenaufgang hat er einen quälenden Verdacht: Spielt Bethany falsch? Die schöne Betriebswirtin kämpft für die Übernahme seiner Klinik durch einen mächtigen Konzern. Peter liegt das Wohl der Patienten am Herzen - aber alles in ihm sehnt sich nach Bethany. Hin und her gerissen, weicht er ihr aus. Aber kann er auch seinen Gefühlen für sie ausweichen? Denn er spürt: eines wollen sie beide - die Liebe …

ENTSCHEIDUNG AM VALENTINSTAG
Als der erfolgreiche Geschäftsmann J.D. in ihrem Krankenhaus auftaucht, fühlt sich die schüchterne Ärztin Ella sofort zu ihm hingezogen. Doch er arbeitet für einen Konzern, der aus ihrem kleinen Hospital eine hochmoderne Klinik machen will, in der Profit an erster Stelle steht und nicht das Mitgefühl und Verständnis für die Patienten. Verzweifelt kämpft Ella gegen J.D.s Pläne, aber sie kann nicht verhindern, dass ihre Gefühle für ihn intensiver werden. Am Valentinstag muss er sich entscheiden: Wird J.D. erkennen, dass wahre Gefühle viel mehr wert sind als alles Geld der Welt?

HERZ VERLOREN, GLÜCK GEFUNDEN
In seiner Arzt-Familie gilt Dr. David Wilder als schwarzes Schaf. Dabei setzt der Schönheitschirurg sein Können nicht nur für alternde Hollywoodstars ein. Unentgeltlich operiert er Courtneys Tochter, deren Gesicht bei einem Autounfall verletzt wurde. Um diese kleine Patientin kümmert er sich ganz besonders liebevoll. Denn er hat längst sein Herz verloren - nicht nur an die süße Janie, sondern auch an ihre bezaubernde Mutter. Trotzdem zögert David, ihr seine Gefühle zu gestehen. Ihn quält die Frage: Empfindet Courtney nur Dankbarkeit für ihn - oder ist es wirklich Liebe?

NUR DEIN HERZ WEIß DIE ANTWORT
Nur eine einzige zärtliche Liebesnacht hat Simone nach einer Feier in den Armen ihres gut aussehenden Kollegen Mike O’Rourke verbracht. Und jetzt ist sie schwanger - sehr zu ihrem Schrecken! Nach einer unglücklichen Kindheit glaubt sie, keine gute Mutter sein zu können, und möchte das Kind zur Adoption freigeben. Doch da hat Mike auch noch ein Wörtchen mitzureden: Auf keinen Fall gibt er sein Kind weg. Und er will Simone heiraten - denn er hat unrettbar sein Herz an sie verloren. Ist seine Liebe stark genug, die Schatten der Vergangenheit für immer zu besiegen?

VERTRAU MIR, GELIEBTER
Wer versucht das Walnut River General Hospital in Misskredit zu bringen? Isobel ist erst wenig begeistert, dass der Ermittler Neil Kane sie befragen will. Aber ein Blick in seine zärtlichen braunen Augen, und schon ist es um sie geschehen. Neil stellt sich als so charmant und attraktiv heraus, dass sie nicht anders kann und sich jeden Tag mehr in ihn verliebt. Doch ihr junges Glück scheint schneller vorbei, als es begann. Plötzlich verdächtigt Neil ausgerechnet Isobel. Sie ist tief verletzt. Wie kann der Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hat, sie nur für schuldig halten?

RÜCKKEHR INS LAND DER LIEBE
Anna Wilder muss in ihren Heimatort zurückkehren, um für ihre Firma das Walnut River General Hospital aufzukaufen. Prompt holen sie dort die Schatten der Vergangenheit ein. Ausgerechnet Richard Green vertritt das Krankenhaus als Anwalt: der Mann, den sie vor acht Jahren nach einer unvergesslichen Liebesnacht ohne ein Wort des Abschieds verlassen musste. Immer noch ist die Anziehungskraft zwischen ihnen wie magisch. Doch als Anna schon glaubt, dass Richard ihr verziehen hat und ihrem Glück eine zweite Chance gibt, verdächtigt er sie jäh, ein doppeltes Spiel zu treiben …

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Seitenzahl: 1209

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Marie Ferrarella, Mary J. Forbes, Teresa Southwick, Judy Duarte, Karen Rose Smith, Raeanne Thayne

Die Familie Wilder - Erbe, Liebeskampf und Doktortitel (6-teilige Serie)

Marie Ferrarella

Und doch gehören wir zusammen

IMPRESSUM

BIANCA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG, 20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Redaktion und Verlag: Brieffach 8500, 20350 Hamburg Telefon: 040/347-25852 Fax: 040/347-25991
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Cheflektorat:Ilse BröhlProduktion:Christel Borges, Bettina SchultGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)Vertrieb:asv vertriebs gmbh, Süderstraße 77, 20097 Hamburg Telefon 040/347-27013

© 2008 by Harlequin Books S. A. Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCABand 1657 (27/2) - 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Patrick Hansen

Fotos: Matton Images

Veröffentlicht im ePub Format im 03/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86349-889-4

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

1. KAPITEL

Er hatte schon lange gewusst, dass dieser Tag kommen würde.

Der Tod war ihm nicht fremd. Als Arzt begegnete er ihm allzu oft. Aber auch wenn er stets positiv dachte, wusste Dr. Peter Wilder doch, dass der Tod zum Leben gehörte.

Seine Mutter Alice war vor fünf Jahren an Krebs gestorben, und jetzt hatte er zum zweiten Mal einen geliebten Menschen verloren. Trotz der vielen Trauergäste auf dem Friedhof fühlte er sich allein. Neben seinen drei Geschwistern waren all die Freunde und Bewunderer da, die sein Vater Dr. James Wilder während seiner langjährigen Tätigkeit im Walnut River General Hospital für sich gewonnen hatte. Es war ein kalter, trüber Januarmorgen. Obwohl es noch dazu heftig schneite, waren viele Menschen gekommen, um dem Verstorbenen ihren Respekt zu erweisen.

Als Chefarzt und Vorsitzender des Verwaltungsrats war James beruflich stark eingespannt gewesen. Dennoch hatte er sich immer Zeit für seine Familie genommen und war stets für seine Söhne und Töchter da gewesen. Nun musste Peter in seine Fußstapfen treten – auch wenn die ihm unglaublich groß erschienen.

Als Ältester war er jetzt derjenige, bei denen David, Ella und Anna Rat und Hilfe suchen würden. Nun ja, Anna wohl nicht, dachte er betrübt und schaute zu ihr hinüber.

Die Geschwister hatten sich um das Grab versammelt. Aber während David, Ella und er beieinanderstanden, hatte Anna sich auf die andere Seite gestellt. Sie war zehn Jahre jünger als er – und das schwarze Schaf der Familie.

Beruflich waren David, Ella und er dem Vorbild ihres Vaters gefolgt, aber Anna hatte es nicht geschafft. Schon im ersten Jahr hatte sie das Medizinstudium abgebrochen, stattdessen Betriebswirtschaft studiert und in der Finanzwelt Karriere gemacht.

Aber es gab einen noch gewichtigeren Grund dafür, dass sie als schwarzes Schaf galt. Als Baby war Anna vor dem Eingang des Krankenhauses abgelegt worden. Von da an hatte sich James, der sich im Walnut River General für alles zuständig gefühlt hatte, um das Findelkind gekümmert. Das Baby war dem Krankenhaus anvertraut worden. Für James war es selbstverständlich gewesen, dass er die Kleine adoptierte.

Jedenfalls hatte Peter gehört, wie sein Vater genau das zu seiner Mutter gesagt hatte. Vergeblich hatte Alice versucht, das Kind, das die eigenen Eltern nicht gewollt hatten, in ihr Herz zu schließen. Vielleicht hatte James das ausgleichen wollen und deshalb seine Adoptivtochter oft den leiblichen Kindern vorgezogen. Trotz seiner guten Absichten war sein Handeln jedoch nicht ohne Folgen geblieben: Peter und seine Geschwister hatten eifersüchtig auf Anna reagiert. Vor allem David, der gegen seine Familie rebelliert hatte, um so mehr Aufmerksamkeit zu erhalten.

Nach und nach hatten sich die Kinder in zwei Lager aufgespalten – David, Ella und Peter auf der einen, Anna auf der anderen Seite. Obwohl James versucht hatte, es zu verhindern, war die Kluft zwischen ihnen immer größer geworden, und Anna hatte sich zunehmend ausgeschlossen gefühlt.

Vielleicht ist dies der richtige Zeitpunkt, aufeinander zuzugehen und von vorn anzufangen, dachte Peter. Ihr Vater hätte es so gewollt, und im Grunde waren sie vier gar nicht so verschieden. Anna hatte James Wilder mindestens so sehr geliebt wie jeder andere von ihnen.

Als Peter sich die Schneeflocken aus der Stirn wischte, sah Ella ihn an. Ella, mit ihren Rehaugen und dem kleinen Mund, den so oft ein scheues Lächeln umspielte. Ella, deren Blick jetzt voller Trauer war.

„Ich kann nicht glauben, dass er wirklich fort ist. Ich habe immer geglaubt, er würde für immer bei uns bleiben, wie eine Naturgewalt“, flüsterte sie.

„Er ist wirklich fort“, murmelte David, doch der Schmerz in seiner Stimme war deutlich zu hören.

Peter wusste, dass David nicht nur um den verstorbenen Vater trauerte, sondern auch um die verpasste Gelegenheit, sich mit ihm zu versöhnen. Zwischen James und David hatte zuletzt ein äußerst gespanntes Verhältnis geherrscht. Peter war sicher, dass sein Bruder zutiefst bereute, nicht auf seinen Vater zugegangen zu sein. Morgen ist auch noch ein Tag, hatte er immer gesagt.

Jetzt würde dieser Tag nie mehr kommen.

Peter wandte sich wieder nach vorn und starrte auf den polierten Sarg, der langsam in die gefrorene Erde hinabgelassen wurde. Mit jedem Zentimeter wurde der Verlust größer.

Leb wohl, Dad. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit zusammen gehabt. Es gibt noch so viel, das ich von dir wissen will, das ich dich noch immer fragen will.

Er wartete, bis der Sarg ganz unten angekommen war, trat vor und warf die rote Rose in die Grube. Sie fiel auf den Sarg und glitt wie eine Träne an der Seite hinab.

„Schlaf gut, Dad.“ Seine Stimme drohte zu versagen, und er schluckte. „Du hast es dir verdient.“ Er trat zur Seite und überließ Ella den Platz am Grab, damit auch sie ihre Rose hineinwerfen konnte. Anna dagegen wartete, bis alle Trauergäste ihnen ihr Beileid ausgesprochen hatten. Offenbar wollte sie ein letztes Mal mit ihrem Vater allein sein.

Sie sagte etwas, sprach jedoch so leise, dass er es nicht verstand. Als er Tränen in ihren Augen glitzern sah, regte sich in Peter das schlechte Gewissen. Adoptiert oder nicht, sie war und blieb seine Schwester. Wenige Tage nach ihrer Geburt hatte sein Vater sie mit nach Hause gebracht.

„Ich hab hier ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk für dich, Alice“, hatte er verkündet.

Nie würde Peter vergessen, wie überrascht und ungläubig seine Mutter reagiert hatte. Er war damals zehn gewesen, David sechs. Gerade erst hatte ihre Mutter die Depression überwunden, die sie zeitweilig ans Bett gefesselt hatte. Ihre Reaktion hatte ihn damals verwirrt. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie sich auf der Stelle und Hals über Kopf in das Baby verlieben würde – das taten Frauen doch, oder? Sie liebten Babys.

Aber sie lächelte nicht, als sie es seinem Vater abnahm. Im Gegenteil, ihr Mund wirkte noch schmaler als sonst.

„Sie ist sehr hübsch, nicht wahr, Jungs?“, sagte sein Vater aufmunternd, um seine Söhne einzubeziehen.

„Sie ist laut“, antwortete David mit finsterer Miene. „Und sie riecht.“

Sein Vater lachte. „Sie braucht nur eine frische Windel.“

„Können wir sie gegen ein Pony eintauschen?“, fragte David.

„Nein, David.“ James lachte und wandte sich seinem anderen Sohn zu. „Wie findest du sie, Peter?“

„Sie ist sehr klein“, hatte er knapp erwidert. Peter erinnerte sich, dass er nicht das neue Mitglied der Familie, sondern seine Mutter betrachtet hatte – voller Sorge. Sein Vater hatte über ihn mal gesagt, dass er schon alt zur Welt gekommen sei. Das war nicht ganz unwahr. Er war noch nie in seinem Leben völlig unbeschwert gewesen.

„Stimmt. Deshalb müssen wir gut auf sie aufpassen.“ Sein Vater hatte seine kräftige Hand auf Peters Schulter gelegt und ihm damit signalisiert, wie sehr er dabei auf ihn zählte. „Vor allem du. Du bist ihr großer Bruder.“

Peter erinnerte sich genau an die Szene. An sein ernstes Nicken, an die Hoffnung, seinen Vater nicht zu enttäuschen. Und an das Stirnrunzeln seiner Mutter, als sie ihrem Mann das Findelkind abgenommen hatte und nach nebenan gegangen war. Und so war Anna in ihre Familie gekommen – für David als Konkurrenz, für Peter als Last, die er zu tragen hatte. Bis heute hatte sich daran nicht viel geändert.

Harmonisch war ihr Verhältnis nie geworden. Nur mit Ella hatte Anna sich verstanden. Wann immer Peter versucht hatte, sich ihr anzunähern, war Anna auf Abstand geblieben. Und wenn sie nach Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gesucht hatte, war er zu beschäftigt gewesen, um ihr auf halbem Weg entgegenzukommen. Zwischen ihr und David hatte praktisch Funkstille geherrscht.

Und so waren die Jahre vergangen, voller Missverständnisse und verletzter Gefühle, und die Kluft hatte sich immer weiter vergrößert.

Es war höchste Zeit, damit aufzuhören.

„Anna!“, rief Peter.

Abrupt drehten sich David und Ella zu ihrem älteren Bruder um. Anna war gerade dabei, zwischen den Trauergästen zu verschwinden, und schaute überrascht in seine Richtung. Der Wind wehte ihr das hellblonde Haar in die Augen. Blinzelnd strich sie es hinter die Ohren, und ihre hellblauen Augen blickten fragend.

Peter ging zu ihr. Er wurde das Gefühl nicht los, dass dies die einzige Chance zur Aussöhnung war, die sich ihm bieten würde. Wenn er es hier und jetzt, am offenen Grab ihres Vaters, nicht schaffte, aus ihnen eine harmonische Familie zu machen, würde es ihm nie gelingen. Er hatte keine Ahnung, woher das Gefühl kam.

Doch als er Anna erreichte, fehlten ihm plötzlich die richtigen Worte. Als Arzt verstand er es normalerweise, Menschen sein Beileid auszusprechen und sie zu trösten. Der einfühlsame Umgang mit Patienten und ihren Angehörigen war eine seiner Stärken. Es fiel ihm nicht schwer, sich in ihre Lage zu versetzen. Er konnte sich gut vorstellen, was sie durchmachten, wenn sie auf einem zugigen Korridor und im Nachthemd auf seine Diagnose warteten. Wie sein Vater war auch Peter ein warmherziger, rücksichtsvoller Arzt, und seine Patienten liebten ihn dafür.

Aber das hier war anders. Es war fast zu persönlich. Es gab eine lange Vorgeschichte, die schmerzliche Erinnerungen mit sich brachte.

Peter ließ seine Stimme sanft und warm klingen, denn er wusste, dass sie ebenso nervös war wie er.

„Bei mir zu Hause findet noch ein Empfang statt“, begann er. David und Ella waren ihm gefolgt und standen stumm hinter ihm. Er wünschte, einer der beiden würde etwas sagen. „Ich war nicht sicher, ob du das wusstest.“ Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, bereute er sie. Sie klangen nicht gerade wie eine von Herzen kommende Einladung.

„Ich wusste es nicht“, erwiderte Anna leise. Sie schaute von ihm zu David und Ella und wieder zurück. Die beiden schwiegen noch immer.

Sie sieht aus, als würde sie lieber gehen, dachte Peter. Er konnte es ihr nicht verdenken. Ohne sie würde es weniger Spannungen geben. Aber es wäre falsch, sie auszuschließen.

Erneut setzte er zu einem Versuch an. „Vielleicht hilft es uns allen, einfach ein paar Geschichten über Dad auszutauschen. Jeder scheint Hunderte davon zu kennen“, fuhr er fort und rang sich ein Lächeln ab.

Er wartete, doch statt Anna gab David ihm eine Antwort. „Klingt gut, Peter, aber mein Flug geht in zwei Stunden“, sagte er und schaute auf die Uhr. „Mir bleibt gerade noch genug Zeit, zum Flughafen zu fahren und die Sicherheitskontrolle zu passieren.“

„Nimm einen späteren Flug“, entgegnete Peter.

Sein Bruder konnte es sich leisten, das Ticket verfallen zu lassen und ein neues zu kaufen. Schließlich war David ein heiß begehrter Schönheitschirurg mit vielen prominenten Patienten. Erst kürzlich hatte das Magazin People ihn als „Chirurg der Stars“ bezeichnet. Kein Zweifel, er war das erfolgreichste Mitglied der Familie – jedenfalls finanziell. Ella dagegen war bis vor Kurzem noch Assistenzärztin gewesen, und auch Peter selbst verdiente nicht gerade ein Vermögen. Etwa vierzig Prozent seiner Patienten besaßen keine Krankenversicherung und zahlten nicht mehr für ihre Behandlung, als sie entbehren konnten. Trotzdem war er zu jeder Zeit für sie da, wenn sie Hilfe brauchten.

Annas Outfit sah teuer aus, genau wie der Wagen, den sie fuhr. Sie sprach nie über ihren Job, aber er schien eine Menge einzubringen.

David schüttelte den Kopf. „Wirklich, ich würde bleiben, wenn ich könnte. Aber ich habe gleich morgen früh eine Operation. Ein ganz kurzfristiger Termin“, erklärte er. „Das Fliegen macht mich so müde. Danach brauche ich immer mindestens acht Stunden Schlaf, sonst bin ich nicht in Bestform.“ Er machte eine Pause und schaute seinen älteren Bruder an. Sein schlechtes Gewissen war nicht zu übersehen. „Ist das okay für dich?“

Nein, dachte Peter, es ist nicht okay für mich. Aber so war das Leben. Es erschien ihm sinnlos, darüber zu diskutieren. Also nickte er. „Ich verstehe. Die Pflicht ruft.“ Heute war nicht der Tag, um sich mit David zu streiten.

„Ich muss auch gehen“, sagte Anna rasch und ohne ihn anzusehen. „Ich muss mich auf eine Sitzung vorbereiten“, fügte sie hinzu.

Sie lügt, dachte Peter. Wenn sie die Unwahrheit sagte, sah Anna stets äußerst verlegen aus.

Trotzdem ließ er es auf sich beruhen. „Man wird dich vermissen“, erwiderte er nur und fragte sich im Stillen, wer von ihnen beiden wirklich schwindelte.

Anna zögerte. „Das bezweifle ich.“ Erstaunt sahen Ella und ihre Brüder sie an. War die Wahrheit so überraschend? Oder hatten sie nicht damit gerechnet, dass sie überhaupt etwas sagte? „Kein Mensch wird mich vermissen.“

„Ich schon“, sagte Ella leise.

Anna warf ihrer Schwester einen dankbaren Blick zu. Wenn es in ihrer Familie außer ihrem Vater jemanden gab, dem sie nahestand, dann war es Ella. Sie hatte sich sogar die Zeit genommen, an Ellas Abschlussfeier teilzunehmen. Bis dahin war sie nur an Feiertagen und zum Geburtstag ihres Vaters nach Hause gekommen.

Nach seinem Tod würde sie wohl für immer fortbleiben. Im Grunde waren diese Menschen ihr fremd, und sie glaubte, dass ihre Geschwister darüber erleichtert wären. Sie bräuchten nicht mehr so zu tun, als freuten sie sich über ihren Besuch.

Lächelnd drückte Anna die Hand ihrer Schwester. „Danke, El. Aber ich muss trotzdem los.“

„Eine Stunde?“, hörte Peter sich sagen. Vielleicht war es Ellas Gesichtsausdruck, der ihn dazu brachte, noch immer nicht aufzugeben. „Nur eine Stunde. Für Dad, nicht für mich.“

„Du kannst für uns beide bleiben“, schlug David Anna gleichgültig vor, bevor er Ella umarmte und sie auf die Wange küsste. Dann gab er seinem Bruder die Hand. „Ich melde mich“, versprach er und nickte anschließend Anna höflich, aber deutlich kühler zu. „Anna, es war gut, dich zu sehen.“

Peter entging nicht, wie Annas Mund noch schmaler wurde.

So viel zum Waffenstillstand, dachte er betrübt. Vielleicht ein anderes Mal.

Mit Ella ging er in Richtung des Parkplatzes, auf dem die Limousine wartete. Er bemerkte Bethany Holloway erst, als sie neben ihm auftauchte. Hin und wieder fielen ihm hübsche Frauen auf, und diese war eine klassische Schönheit mit makellosem Teint, leuchtend blauen Augen und atemberaubend rotem Haar.

Erstaunt wandte er sich ihr zu, als sie ihm eine Hand auf den Arm legte.

„Peter, ich wollte Ihnen nur noch einmal sagen, wie leid mir das mit Ihrem Vater tut. Alle haben ihn geliebt.“

Das war nicht zu bestreiten. Wer James Wilder gekannt hatte, hatte ihn auch bewundert. Sein Vater hatte seinen Mitmenschen stets das Gefühl vermittelt, dass sie ihm wichtig waren und dass ihm ihr Wohlergehen persönlich am Herzen lag. Damit hatte er sich viel Zuneigung erworben. Es war ein seltenes Geschenk.

„Danke.“

Vielleicht war es egoistisch, aber im Moment wäre er mit seiner Trauer lieber allein gewesen. Doch das war unmöglich. Er musste stark sein, damit andere ihren Gefühlen freien Lauf lassen konnten. Ganz sicher würde es Ella nicht helfen, wenn er jetzt zusammenbrach.

Bethany schloss sich ihnen an. „Aber vielleicht war es so einfacher für ihn.“

„Wie?“

„Dass er gestorben ist.“

Abrupt blieb Peter stehen. Er konnte ihrer Logik nicht folgen. „Wie meinen Sie das?“

Überrascht sah Bethany ihn an. Mit dieser Reaktion hatte sie offensichtlich nicht gerechnet. „Stellen Sie sich doch nur mal vor, wie Dr. Wilder sich bei der Übernahme durch Northeastern Healthcare gefühlt hätte.“

Peter begriff gar nichts mehr. „Was will dieser Klinikkonzern denn übernehmen?“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Das Walnut River General Hospital natürlich.“

2. KAPITEL

Einen Moment lang war es so still, dass Peter fast glaubte, den Schnee fallen zu hören. Nur am Rande nahm er wahr, dass sowohl Anna als auch David noch in der Nähe standen.

„Was haben Sie gesagt?“, fragte er und sah Ella an, bevor Bethany antworten konnte. Sie war blass, ihr Blick traurig und erschöpft, und er wollte ihr in diesem Zustand nicht noch mehr zumuten. „Dir ist kalt, Ella. Warum gehst du nicht vor und wartest in der Limousine auf uns?“, schlug er vor.

Wie benommen nickte sie und setzte sich in Bewegung.

Er hat nichts davon gewusst, dachte Bethany. Noch schlimmer, die Nachricht von der bevorstehenden Übernahme des Krankenhauses schien ihn zu erschüttern. Das erstaunte sie, denn für sie klang es nach einer guten Neuigkeit. Nur Leute, die den Fortschritt aufhalten wollten, würden darin etwas anderes sehen.

Dennoch spürte sie einen Anflug von schlechtem Gewissen.

„Es ist jetzt offiziell. NHC hat Interesse daran bekundet, das Walnut River General zu kaufen“, erklärte sie lächelnd. „Es passt hervorragend in die Kette von Kliniken, die NHC verwaltet. Ihr Vater hat ein hoch angesehenes Haus daraus gemacht.“

Vielleicht zu hoch, dachte Peter, sonst könnten wir in Ruhe hier weiterarbeiten.

„Aber er hat es nicht getan, damit das Krankenhaus von einem unpersönlichen Konzern geschluckt wird“, erwiderte er empört. Dies war ein schlagender Beweis für die Gefühllosigkeit von NHC. Sein Vater war noch nicht mal ganz unter der Erde, da wollte man sich schon sein Lebenswerk einverleiben. „Für die Haie zählt doch nur der Profit, nicht der Patient.“

„Na los, Peter“, drängte David trocken. „Sprich dich ruhig aus.“

Bethany warf dem jüngeren Dr. Wilder einen Blick zu. Sie wusste, dass er nicht zum Personal der Klinik gehörte, hatte von ihm allerdings mehr als eine scherzhafte Bemerkung erwartet. Als renommierter Schönheitschirurg sollte er der modernen, effizienten Medizin eigentlich aufgeschlossener gegenüberstehen.

Ein wenig verlegen räusperte sie sich. „Jedenfalls trifft sich der Verwaltungsrat morgen, um darüber zu beschließen“, sagte sie zu Peter. „Ich dachte mir, ich informiere Sie rechtzeitig. Schließlich ist es das erste Mal, dass Sie daran teilnehmen.“

Nach dem Tod seines Vaters hatte Wallace Ford den Vorsitz im Führungsgremium übernommen, und Peter war für Wallace nachgerückt. Man hatte ihm die Position aus Respekt vor James Wilder angeboten. Er hatte sie nur aus Pflichtgefühl angenommen, denn er war kein Manager, sondern Arzt, und wollte es auch bleiben.

Jetzt nickte er nur und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr die Neuigkeit ihn beunruhigte. Heute war sein Vater beigesetzt worden. Mit der drohenden Übernahme würde er sich erst morgen beschäftigen.

„Danke.“ Als ihm bewusst wurde, wie förmlich er klang, bemühte er sich, ein wenig freundlicher zu sein. „Sehen wir uns auf dem Empfang?“

Bethany blickte ihn warmherzig an. „Natürlich. Nochmals …“ Sie nahm Peters Hand und sah ihm in die Augen. „Es tut mir wirklich sehr leid, dass Sie Ihren Vater verloren haben.“ Sie schaute zur Limousine hinüber, in der Ella inzwischen Platz genommen hatte. „Sie und Ihre Schwester“, fügte sie hinzu.

Wenigstens war es der Tod, der Peter und seinen Geschwistern den Vater genommen hat, schoss es ihr durch den Kopf. Ihre eigenen Eltern hatten sie schon vor Jahren verlassen, einfach so, als wären sie nie da gewesen.

„Bis nachher“, sagte sie und ging davon.

David schaute ihr nach. Deutlich war ihm anzusehen, dass er sich vorstellte, wie sie unter dem weißen Wintermantel aussah. „Interessantes Gesicht.“ Er wandte sich wieder seinem Bruder zu. „Ebenmäßige Züge. Anmutige Wangenknochen.“

„Musst du jeden Menschen in Gedanken auf deinen OP-Tisch zerren?“, fragte Anna leise, aber ihre Verärgerung war unüberhörbar.

David zuckte mit den Schultern. „Entschuldigung. Berufskrankheit. Das ist der Künstler in mir. Obwohl …“ Er lächelte Peter zu. „An der Frau gibt es nichts zu verschönern. Wer ist sie?“

„Bethany Holloway“, antwortete er. Bethany und er waren sich höchstens ein halbes Dutzend Mal begegnet, seit sie in Walnut River lebte. „Wir kennen uns nur flüchtig aus dem Verwaltungsrat.“

„Sie muss neu sein. Wenn ich mich recht erinnere, war der Rat immer ein Seniorenklub.“

Peter lachte. „Das ist er längst nicht mehr. Dad ist … war schon eine ganze Weile der Älteste.“ Es war schwer, sich damit abzufinden, dass sein Vater tot war. „Bethany ist Betriebswirtin und soll bei uns für effizientere Arbeitsabläufe sorgen. Sie sitzt seit sechs Monaten im Verwaltungsrat.“ Mit Unbehagen dachte er daran, was ihn morgen erwarten würde. „Jetzt gehöre ich auch dazu. Dann werde ich mich wohl mehr mit der geschäftlichen Seite unseres Krankenhauses beschäftigen müssen.“

„Du übernimmst Dads alte Position?“, fragte sein Bruder beeindruckt.

Peter schüttelte den Kopf. „Nicht ganz. Dad war Vorsitzender. Ich bin noch lange nicht erfahren genug für die Position – nicht, dass ich sie will“, betonte er, denn für ihn war der Sitz im Führungsgremium nur ein notwendiges Übel. „Er hat immer bedauert, dass es ihm so wenig Zeit gelassen hat, als Arzt zu arbeiten. Das hat er schließlich über alles geliebt.“

„Ärzte wie ihn gibt es nicht mehr, was?“ Nach einer kurzen Pause lächelte David entschuldigend. „Oh, ich wollte dich damit nicht kränken.“

„Bin ich nicht. James Wellington Wilder war einzigartig. Einen wie ihn werden wir nie wiedersehen.“

Eindringlich betrachtete David ihn. „Trotzdem – es ist für mich höchste Zeit, zu verschwinden.“

Peter ließ seinen Bruder nur ungern gehen. David kam so selten nach Walnut River. „Soll ich dich am Flughafen absetzen?“

David schüttelte den Kopf und lief zum Parkplatz. „Mein Taxi wartet. Du weißt ja, wie sehr ich lange Abschiede hasse.“

„Ja, das weiß ich. Und Ella auch.“

„Mach dir keine Sorgen wegen NHC“, riet David.

Bitter lachte Peter auf. „Das sagst du so einfach. Wie lautet deren Motto noch? Was NHC will, bekommt NHC auch?“

David grinste. Wenn es darauf ankam, würde er sein Geld auf Peter setzen. Sein Bruder machte zwar nicht viele Worte, aber in Peters Fall waren stille Wasser tief. Sehr tief sogar.

„Nein, ich glaube, es heißt: Uns ist noch nie eine Dollarnote begegnet, die uns nicht gefällt“, entgegnete David. „Und genau deshalb wird das Walnut River General eigenständig bleiben. In Dads Krankenhaus – entschuldige – in deinem Krankenhaus fühlen die Leute sich umsorgt …“

„Es ist nicht mein Krankenhaus“, verbesserte Peter. „Es ist und bleibt Dads.“

David ging nicht darauf ein, denn sie wussten beide, dass es nicht stimmte. Das Walnut River General war wie eine Geliebte in Peters Leben: Nur das Krankenhaus war wichtig, und ihm war er treu. Er hatte viele Beziehungen, aber alle nur mit seinen Patienten und Freunden. Nicht eine davon war romantischer Natur.

Seit er den hippokratischen Eid abgelegt hatte, war er mit Leib und Seele Arzt, und weder Beruf noch Berufung ließen Raum für feste Beziehungen. Auf dem College hatte er eine gehabt, aber das war lange her.

„Ruf mich an, wenn du mich brauchst“, sagte David und umarmte seinen Bruder. „Ich bin nur fünf Flugstunden entfernt – schlechtes Wetter und die Schlangen an der Sicherheitskontrolle nicht mit eingerechnet.“ Er bückte sich, um in die Limousine zu schauen. Ella öffnete das Fenster. „Mach mich stolz, kleine Schwester.“

Lächelnd schüttelte Peter den Kopf. „Druck ist genau das, was sie jetzt nicht braucht.“

„Den brauchen wir alle mal“, widersprach er unbeschwert und warf Anna einen Blick zu. „Er hält wach und macht das Leben spannend“, fügte er hinzu und eilte zu seinem Taxi.

„Ich muss auch los.“ Anna sah Peter an. „Wenn der Chauffeur mich auf dem Rückweg an meinem Hotel absetzen könnte, wäre ich sehr dankbar.“

Sie hört sich an, als würde sie mit einem Fremden reden, dachte Peter. „Kein Problem.“

Der Fahrer hielt ihm die Wagentür auf. Peter ließ Anna den Vortritt und stieg dann selbst ein.

„Bist du sicher, dass du nicht mit zum Empfang willst? Nur für ein paar Minuten“, drängte er.

„Tut mir leid, ich muss wirklich weg. Ich will mein Flugzeug nicht verpassen. Mir ist klar, dass ich morgen früh keinem Hollywood-Starlet einen perfekten Busen verschaffen werde. Aber was ich tue, ist auch wichtig.“

„Niemand hat behauptet, dass es das nicht ist, Anna“, entgegnete Peter sanft.

Warum musste sie ständig über alles diskutieren? Im Moment war er nicht in der Stimmung, sich aus lauter Rücksicht wie auf Eierschalen zu bewegen.

Auch Ella schien genug zu haben. „Bitte“, griff sie ein. „Wir habe gerade Dad begraben. Müsst ihr euch unbedingt heute streiten?“

Der Tod ihres Vaters hatte sie alle aufgewühlt, und die Nerven lagen blank.

„Ella hat recht“, sagte Peter besänftigend. Bevor er hinzufügen konnte, dass sie sich wirklich nicht so benehmen sollten, beherrschte er sich jedoch. Anna würde es als Vorwurf auffassen, und das würde nur zu weiteren Spannungen führen. Deshalb wechselte er das Thema und sprach an, was ihm seit der Begegnung mit Bethany Holloway auf der Seele brannte. „Anna, ich brauche deine Hilfe.“

Damit schien sie nicht gerechnet zu haben. „Du brauchst meine Hilfe?“, fragte sie verblüfft.

Auch Ella sah ihn überrascht an.

Aber es stimmte, er brauchte Annas Hilfe. „Ja.“

Das ist eine Premiere, dachte Anna. Nervös wich sie seinem Blick aus, denn sie ahnte, worum er sie bitten wollte. Aber wenn sie mit ihrem Verdacht recht hatte, würde sie ablehnen müssen – denn sonst würde sie in einen gewaltigen Interessenkonflikt geraten. Also kam sie ihm zuvor und wich dem Problem aus, noch bevor es auf dem Tisch lag. „Es tut mir leid, Peter, aber in den nächsten Monaten habe ich überhaupt keine Zeit“, sagte sie mit fester Stimme.

„Ich verstehe.“ Peter ließ es auf sich beruhen und ärgerte sich über sich selbst. Angesichts der Distanz zwischen ihnen hätte er sie gar nicht erst fragen dürfen.

Wenig später war Peters kleines zweistöckiges Haus voller Menschen. Fast alle Trauergäste waren der gemieteten Stretchlimousine gefolgt. Da er selbst sich mit solchen Dingen nicht auskannte, hatte er alles Ella überlassen. Sie hatte sich um die Vorbereitungen gekümmert, die Einladungen verschickt und ein Buffet bestellt.

Als er gesehen hatte, welche Mengen der Partyservice anlieferte, hatte er befürchtet, das nächste halbe Jahr allein von den Resten leben zu müssen. Aber trotz des betrüblichen Anlasses ließen die Gäste es sich schmecken. Wenn ich Glück habe, bleibt für morgen Mittag gerade noch ein Sandwich übrig, dachte Peter.

Vermutlich machte die Trauer manche Menschen hungrig. Ihm dagegen nahm sie fast völlig den Appetit. Seit sein Vater einem Herzinfarkt erlegen war, hatte er am Tag kaum mehr als eine Mahlzeit zu sich genommen.

Verdammt, du wirst mir fehlen, Dad. Du bist viel zu früh von uns gegangen.

„Sie essen ja gar nichts.“

Die leisen Worte überraschten ihn. Genauer gesagt war es die Stimme. Sie gehörte Bethany Holloway, dem neuesten Mitglied des Verwaltungsrats.

Langsam wandte er sich zu ihr um und musste unwillkürlich an Davids Bemerkung denken. Ja, sein Bruder hatte einen Blick dafür – sie war wirklich bildhübsch. Aber sofort beschlich ihn das unbestimmte Gefühl, dass sie beide Gegner waren.

Schade.

„Weil ich keinen Hunger habe“, erwiderte er und lächelte halbherzig.

„Sie sollten aber etwas zu sich nehmen.“ Im nächsten Moment drückte sie ihm den Teller mit Roastbeef und Schinken in die Hand, den sie offenbar für sich selbst zusammengestellt hatte. „Sie sehen nämlich ein wenig blass aus.“

Vergeblich versuchte er, ihn ihr zurückzugeben. „Haben Sie einen Abschluss?“, fragte er freundlich.

Bethany wusste, dass er einen Abschluss in Medizin meinte.

„In der Beobachtung von Menschen“, erwiderte sie. „Ich sehe Ihnen an, dass Sie Ihren Kühlschrank in letzter Zeit eher selten aufgesucht haben.“ Das weckte in ihr ein paar vage Erinnerungen an ihre Kindheit. „Mein Vater hat früher vor lauter Arbeit die Mahlzeiten vergessen“, erzählte sie. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Peter sich fühlte. Einen Angehörigen zu verlieren war nie leicht, und sie wusste, dass Vater und Sohn sich sehr nahegestanden hatten.

„Früher?“, wiederholte Peter. „Ist er …“ Er brachte es nicht fertig, das Wort „tot“ auszusprechen.

„Weg?“ Das war ein sicheres, harmloses Wort angesichts dessen, was ihr passiert war. „Nein, ich bin die, die weg ist. Aus dem Bundesstaat. Soweit ich weiß, arbeiten meine Eltern beide noch wie verrückt.“ Bethany zuckte mit einer Schulter und nippte an ihrem Glas. „Es macht sie glücklich, also ist es wohl in Ordnung so.“

Dass es für sie keineswegs in Ordnung war, konnte Peter deutlich heraushören. Diese Frau machte ihn neugierig.

Sie sah sich um. Es waren so viele Menschen im Wohnzimmer und den benachbarten Räumen, dass Körperkontakt kaum zu vermeiden war.

„Es sind wirklich viele Leute gekommen“, sagte sie lächelnd. „Ihr Vater hatte eine Menge Freunde.“

Wer ihn kannte, mochte ihn, dachte Peter. „Das stimmt.“

„Ich kannte ihn nicht sehr gut“, begann Bethany und wählte ihre Worte sorgfältig. „Aber was ich über ihn gehört habe, hat mir sehr gefallen.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Er hat mich immer ein bisschen an James Stewart in dem Film Ist das Leben nicht schön? erinnert. Ihr Vater hat auch immer an andere gedacht und daran, was sie brauchten.“

Er spürte, wie etwas tief in seinem Innern auf ihre blauen Augen reagierte, als sie ihn anschaute.

„Sie sehen ihm ähnlich“, fuhr sie fort. „Jedenfalls dem Porträt von ihm, das auf dem Korridor in der Klinikverwaltung hängt. Das gleiche kräftige Kinn, die gleichen freundlichen Augen.“

Ihm entging nicht, dass ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg.

Und dann lachte sie. „Es tut mir leid. Ich spreche immer aus, was ich denke. Meine Mutter hat mich gewarnt, dass mir das eines Tages noch Ärger einbringen würde.“ Sie hatte sie nicht nur gewarnt, sondern ihr deswegen ständig Vorwürfe gemacht. Aber das brauchte Peter nicht zu wissen.

„Und hat es das?“, fragte Peter. „Ihnen Ärger eingebracht, meine ich.“

„Bisher nicht, aber ich habe noch Zeit.“ Sie blickte an seiner Schulter vorbei. „Ich glaube, da will Sie jemand sprechen.“

Er drehte sich um. Fred Trinity, der Anwalt seines Vaters, winkte ihn zu sich heran. Was konnte Fred von ihm wollen? Die Testamentseröffnung fand erst morgen statt.

Na ja, ich werde es gleich erfahren, dachte er. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen“, murmelte Peter und gab Bethany ihren Teller zurück. Er hatte keinen Bissen angerührt.

„Natürlich.“ Stirnrunzelnd starrte sie auf den Teller. „Vergessen Sie nicht, etwas zu essen“, rief sie ihm nach, bevor sie resigniert seufzte und sich wieder unter die anderen Trauergäste mischte.

Erst nach einer Minute wurde Peter bewusst, dass er stehen geblieben war und ihr nachschaute. Egal, ob sie kam oder ging, die Frau sah einfach verdammt gut aus.

3. KAPITEL

Mit seinem zottigen Schnurrbart und der blank polierten Glatze sah Fred Trinity aus wie ein Walross in einem altmodischen, viel zu engen Anzug. Doch der äußere Eindruck täuschte: Dieser Mann besaß einen messerscharfen Verstand.

Der Anwalt legte Peter eine Hand auf den Arm und senkte die Stimme. Was er zu sagen hatte, war anscheinend nicht für andere Ohren bestimmt.

„Kann ich Sie kurz sprechen, Peter?“

Das ernste Gesicht des sonst immer lächelnden Mannes war beunruhigend. Peter lief es kalt den Rücken herunter, und er fragte sich, ob dieser Auftritt mit dem drohenden Verkauf des Krankenhauses an NHC zu tun hatte. Fred war zwar der Anwalt seines Vaters gewesen, die Klinik hatte sich jedoch nie von ihm beraten oder vertreten lassen. Aber vielleicht besaß er ja einige Insiderinformationen. Schließlich redeten Anwälte untereinander, oder nicht?

Peter machte sich auf einiges gefasst und nickte. „Natürlich.“ Er zeigte zum Durchgang, der in den hinteren Teil des Hauses führte. „Wir können in mein Arbeitszimmer gehen. Einfach den Flur entlang.“

Fred folgte ihm. „Ich war noch nie in Ihrem Haus“, sagte er und schaute sich interessiert um.

„Sehen Sie nicht zu genau hin“, bat Peter. „Ich bin kein sehr begabter Hausmann. Sie wissen ja, wie das ist.“

„Ehrlich gesagt, nein“, gab der Anwalt zu. „Bei uns zu Hause hat Selma alles im Griff. Sie brauchen eine Ehefrau.“

„Ich setze es auf die Liste der Dinge, die ich dringend erledigen muss“, versprach Peter lächelnd. Ganz unten, fügte er in Gedanken hinzu.

Das Haus war älter als er und musste dringend renoviert und modernisiert werden. Hin und wieder engagierte er ein Reinigungsteam, um den Staub und die Spinnweben in Schach zu halten. Doch abgesehen davon hatte er nichts daran gemacht, seit er nach Abschluss des Medizinstudiums hier eingezogen war. Er konnte sich nicht erinnern, wann das letzte Mal gestrichen worden war.

Allerdings verbrachte er auch die meiste Zeit im Krankenhaus: entweder im OP, in der Notaufnahme oder in seinem Büro. Das Haus war für ihn nur der Ort, an den seine private Post geliefert wurde. Dort schlief er und erledigte seine Wäsche. Doch darüber hinaus brauchte er es eigentlich gar nicht.

Wie alle anderen Räume stand auch sein Arbeitszimmer offen. Peter mochte keine geschlossenen Türen. Schon als Kind hatte er gelernt, dass sie immer Geheimnisse bedeuteten. Wenn seine Eltern sich – was selten vorkam – gestritten hatten, war die Tür stets zu gewesen. Und wenn sie wieder aufgegangen war, hatten beide traurig ausgesehen.

Er ging hinein, schaltete die Lampe auf dem Schreibtisch ein und drehte sich zu dem Anwalt um. „Was gibt es denn, Fred?“

Der Mann sah irgendwie nervös aus. Normalerweise strahlte er immer Gelassenheit und unerschütterliche Zuversicht aus. Er griff in die Innentasche seines Jacketts, nahm einen dicken weißen Brief heraus und reichte ihn Peter. Dabei ließ er sein Gesicht nicht aus den Augen.

Auf dem Umschlag stand – in der unverkennbaren Handschrift James Wilders –Peters Name.

„Ihr Vater hat mich gebeten, Ihnen den hier zu geben. Nach seinem Tod“, erklärte Fred und seufzte betrübt. James Wilder und er waren zusammen zur Schule gegangen und sechzig Jahre lang gute Freunde gewesen. „Also jetzt. Ich werde ihn wirklich vermissen. Habe ich Ihnen erzählt, dass er mir mal das Leben gerettet hat?“

Peter starrte auf das Kuvert, bevor er es nahm. Warum hatte sein Vater ihm etwas geschrieben, anstatt es ihm persönlich zu sagen?

„Zweimal sogar“, erwiderte er und war nicht sicher, ob er wissen wollte, was in dem Brief stand. „Wann hat er Ihnen den hier gegeben?“

„Vor fünf Jahren. Kurz nachdem Ihre Mutter gestorben war. Ich glaube, damals hat er eingesehen, dass auch er irgendwann sterben wird. Deshalb wollte er wohl ein paar Dinge loswerden, bevor es zu spät ist.“ Unter dem zottigen Schnurrbart wurde Freds Mund schmal. „Verdammt, ich dachte immer, wenn jemand dem Tod ein Schnippchen schlagen kann, dann er.“

„Ja, das dachte ich auch.“ Sein Vater war der anständigste, ehrenwerteste Mensch gewesen, den er kannte. Er konnte keine Leichen im Keller, keine dunklen Geheimnisse gehabt haben. James Wilders Leben war wie ein offenes Buch gewesen. „Wie kommen Sie darauf, dass mein Vater etwas loswerden wollte?“

„Zum einen, weil er keine Briefe für David, Ella oder Anna hinterlassen hat. Jedenfalls nicht bei mir. Nur für Sie. Ich nehme an, weil Sie das neue Oberhaupt der Familie sind.“ Fred zog seine buschigen Brauen hoch, als Peter den Umschlag einsteckte. „Wollen Sie ihn denn nicht lesen?“

Peter schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt. Ich muss erst diesen Tag hinter mich bringen, bevor ich mich einem neuen Problem stellen kann.“

Der Anwalt nickte, aber seine Neugier war offensichtlich.

„Das verstehe ich.“ Er hatte seinen Auftrag erfüllt und machte einen Schritt in Richtung Tür. „Übrigens, passt es Ihnen noch immer morgen Abend? Der Termin der Testamentseröffnung?“

Ob er ihm passte? Was für ein eigenartiges Wort unter diesen Umständen. Peter atmete tief durch und wehrte sich gegen die Trauer, die ihn erneut zu überwältigen drohte.

„Natürlich, Fred, morgen Abend passt mir“, antwortete er leise.

Der Anwalt wollte schon hinausgehen, da fiel ihm noch etwas ein. „Was ist mit Anna und David? Ich habe die beiden noch gar nicht gesehen. Hier auf dem Empfang, meine ich.“

„Weil sie nicht hier sind.“ Peter sah dem Anwalt an, dass die Antwort ihm nicht genügte. Er schaltete die Lampe aus. „Falls das Testament etwas Außergewöhnliches enthält, kann ich sie immer noch anrufen und es Ihnen erzählen.“ Aber er war sicher, dass das nicht nötig sein würde.

Gemeinsam verließen sie das Zimmer. „Es kursiert das Gerücht, dass NHC am Walnut River General interessiert ist und schon an der Kliniktür kratzt.“ Vor dem Durchgang zum Wohnzimmer blieb Fred stehen. „Was wollen Sie tun?“

„Nicht aufmachen“, antwortete Peter fest entschlossen.

Grinsend streckte Fred sich und klopfte Peter auf die Schulter. „Guter Mann. Ihr Vater wäre stolz auf Sie.“ Er sprach leiser. „Er passt jetzt auf Sie auf. Das wissen Sie doch, oder?“

Flüchtig lächelte Peter. Er war nicht sicher, was er davon halten sollte. Er wusste nur, dass er seinen Dad jetzt gern an seiner Seite hätte. James Wilder wäre besser dazu geeignet, den Angriff des habgierigen Klinikkonzerns abzuwehren.

Doch er selbst würde es lernen müssen. Und zwar schnell.

Am nächsten Morgen betrat Peter den Konferenzraum. Die erste Person, die er bemerkte, war Bethany Holloway. Aus Respekt vor dem verstorbenen Vorsitzenden trug sie ein schwarzes Etuikleid. Es ließ ihr rotes Haar noch flammender, ihren Teint noch makelloser erscheinen.

Schwarz steht ihr, dachte Peter. An ihr wirkte es nicht so düster und deprimierend.

Auch die anderen acht Mitglieder des Verwaltungsrats waren in dunkle Farben gekleidet. Sein Vater wäre darüber verwundert gewesen, wie viele Menschen um ihn trauerten. Aber James Wilder war ein bescheidener Mann gewesen und hatte nie an sich selbst, sondern nur an andere gedacht.

Peter musste wieder an den Umschlag denken, den Fred ihm übergeben hatte. Der Brief lag noch immer ungeöffnet auf dem Kaminsims im Wohnzimmer. Er hatte das ungute Gefühl, dass der Inhalt sein Leben für immer verändern würde. Und im Moment hatte er genug Probleme. Vor allem, wenn NHC es tatsächlich auf sein Krankenhaus abgesehen hatte.

Die Januarsonne schien durch das große Fenster, durch das man den Eingang der Notaufnahme sehen konnte. Trotz der hellen Strahlen lief es Peter kalt den Rücken herunter. Alle anderen saßen schon versammelt, obwohl er pünktlich war. Hatte das etwas zu bedeuten?

Der neue Vorsitzende Wallace Ford kam ihm entgegen und gab ihm die Hand.

„Gut, dass Sie teilnehmen, Peter“, sagte er ernst und seufzte schwer. „Lassen Sie mich Ihnen nochmals mein tief empfundenes Beileid aussprechen.“ Er sah sich im Raum um, bevor er ihn wieder anschaute. „Wir alle haben mit Ihrem Vater einen Menschen verloren, der uns sehr viel bedeutet hat.“

„Danke, Wallace.“ Peter blickte den langen Tisch entlang. Nur neun der zwölf Plätze waren besetzt. „Wo soll ich sitzen?“

Wallace zeigte auf den Stuhl neben Bethanys. „Nehmen Sie doch neben Miss Holloway Platz.“ Er lächelte ihr zu, als würden sie beide ein Geheimnis teilen. „Ich nehme an, Sie müssen Ihren Titel als neuestes Mitglied des Verwaltungsrats an Peter abtreten, Miss Holloway.“

„Sehr gern“, erwiderte sie.

Wallace wartete, bis Peter saß, und strich über den Hammer. Doch er setzte ihn nicht ein, sondern bat mit Worten um Ruhe und begrüßte die Anwesenden.

„Weil dies eine außerordentliche Sitzung ist und wir alle anderweitig zu tun haben, werde ich heute auf die Verlesung des Protokolls verzichten und gleich zum Punkt kommen“, fuhr er fort und warf Peter einen langen Blick zu. „Oder zu den Punkten, um genau zu sein. Erstens, der Verwaltungsrat und ich …“ Mit einer bedeutenden Geste schloss er die anderen Mitglieder ein. Der Mann liebt Kunstpausen, dachte Peter. „Wir möchten Ihnen, Dr. Wilder, die Position des Chefarztes anbieten.“

Einen Moment lang wusste Peter nicht, was er erwidern sollte. Sein Vater war der Chefarzt im Walnut River General gewesen, und in den letzten Jahren hatte er außerdem den Vorsitz in diesem Gremium übernommen. Beides waren Vollzeitjobs, und er staunte noch immer darüber, dass sein Vater beide bewältigt hatte. Die Doppelbelastung hatte ihn sicher viel Kraft gekostet, und bestimmt hatte auch seine Gesundheit darunter gelitten.

Dennoch fühlte Peter sich geschmeichelt. Aber er kannte seine Grenzen. Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Ich danke Ihnen allen. Aber ich glaube nicht, dass ich erfahren genug bin.“

„So bescheiden“, sagte Wallace lachend. „Ganz der Vater. Allerdings bitten wir Sie nur, den Posten vorläufig zu übernehmen, bis wir einen geeigneten Bewerber gefunden haben. Das wird eine Weile dauern, denn es gibt nicht viele, die es mit Ihrem Vater und seinen Leistungen aufnehmen können. Bis dahin wäre es uns eine Ehre, einen Wilder in dieser Position zu haben.“ Wieder machte er eine Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Sie würden uns wirklich einen Gefallen tun.“

Der neue Vorsitzende hatte ihn geschickt in eine Falle manövriert. Peter war klar, dass ihm keine andere Wahl blieb. Dass er den Job nicht allzu lange machen musste, tröstete ihn ein wenig. „In dem Fall kann ich wohl nicht ablehnen.“

„Wunderbar. Damit wäre das geklärt. Peter Wilder ist unser neuer Chefarzt“, verkündete Wallace freudig, bevor er eine geradezu feierliche Miene aufsetzte. „Der zweite Grund für unser heutiges Treffen ist das große Interesse, das Northeastern Healtcare an unserem kleinen Krankenhaus bekundet hat. Ich denke, das Angebot ist es wert, gründlich diskutiert zu werden.“

Peter spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. „Solange unsere Antwort Nein lautet“, warf er ein.

Tadelnd blickte Wallace ihn an, als hätte er gerade gegen irgendein unantastbares Gesetz verstoßen.

Vermutlich hatte er eine geheiligte Regel der Geschäftsordnung übertreten, doch das war Peter egal. Wichtiger als Förmlichkeiten und der ordnungsgemäße Ablauf der Sitzung waren ihm die Patienten – sie brauchten schließlich seine Hilfe, seine Fähigkeiten als Arzt. Unwillkürlich fragte er sich, wie sein Vater das hier so lange ertragen hatte.

Der Vorsitzende kniff die Augen zusammen. „Wie bitte?“

Doch Peter nahm kein Blatt vor den Mund: „Nun ja, Sie können doch nicht ernsthaft daran denken, das Angebot von NHC anzunehmen, Wallace.“

„Sie kennen den Betrag doch noch gar nicht“, erwiderte Wallace mit gerunzelter Stirn.

Abfällig lachte Peter auf. „Den brauche ich nicht zu kennen. Was wir hier tun, kann man nicht einfach mit einem Preisschild versehen.“

„Das dürfte die Versicherungsgesellschaften überraschen, Dr. Wilder“, schaltete Bethany sich ein. Sie registrierte seinen ungläubigen Blick und sprach rasch weiter. Der Mann musste einsehen, warum seine Einstellung falsch war. „Der Punkt ist, dass Patienten für ihre Behandlung bezahlen. Und wenn sie effizienter, schneller und kürzer behandelt werden, gewinnen beide – wir und sie.“ Ihre Stimme wurde leidenschaftlicher. „Außerdem sind wir nur ein kleines Allgemeinkrankenhaus, keine Spezialklinik. Eine einzige Schadenersatzklage könnte uns ruinieren, und das Walnut River General müsste seine Türen für immer schließen.“

„Das Krankenhaus ist noch nie verklagt worden“, erwiderte Peter.

„Das bedeutet nicht, dass es nicht irgendwann passieren kann“, entgegnete Bethany. „Die Leute sind inzwischen wesentlich klagefreudiger als früher. Unter dem Schutz eines großen Konzerns wie NHC müsste das Walnut River General keine Angst vor dem finanziellen Ruin haben.“

Die anderen Mitglieder nahm Peter nur noch am Rande wahr. Als einer von ihnen das Wort ergreifen wollte, hörte er gar nicht zu. Weil das Krankenhaus seinem Vater so viel bedeutet hatte, ging das hier auch für ihn über das rein Geschäftliche hinaus.

„Und wie passt der Patient in diesen Plan?“, fragte Peter. Wie konnte jemand, der wie ein Engel aussah, so gefühlskalt sein?

„Der Patient ist derjenige, der am meisten davon profitiert“, beharrte sie. „NHC macht uns bekannt, verschafft uns Fördergelder und modernisiert unsere Ausstattung. Das alles können Sie doch nicht einfach ignorieren.“

„Das tue ich nicht. Eine zeitgemäße Ausstattung ist extrem wichtig. Aber dafür haben wir die Spenden, die wir bekommen. Bisher sind wir damit ganz gut gefahren.“

Der Mann sieht nur die Details und nicht das Gesamtbild, dachte Bethany und wandt ein: „Privatspenden sind nicht mit dem zu vergleichen, was ein Großkonzern mit unbegrenzten Mitteln für uns leisten könnte.“

Peter fragte sich, ob wie wirklich so naiv war – oder einfach herzlos. „Finden Sie nicht, dass wir damit unsere Seele verkaufen? Für dreißig Silberlinge?“

Als Wallace sich laut räusperte, schauten sie beide in seine Richtung, und ihre Anspannung legte sich etwas.

„Sind Sie nicht ein wenig melodramatisch, Peter?“, fragte Wallace.

„Nein, ich bin pragmatisch“, widersprach er. „Ich bin nicht Arzt geworden, um wie am Fließband zu praktizieren. Wir behandeln den ganzen Patienten, nicht nur ein Stück von ihm.“ Seine Worte galten nicht dem Vorsitzenden, sondern Bethany. Er wollte, dass sie ihn verstand, dass sie den Fehler in ihrer Argumentation sah. „Ich will nicht, dass mir dabei ein Buchhalter mit Stoppuhr über die Schulter schaut und mich anweist, schneller zu sein, damit wir mehr Umsatz machen.“

„Was ist daran so schlimm, mehr Patienten zu behandeln?“, wollte Bethany wissen.

„Es ist schlimm, sie so schnell wie möglich abzufertigen, um eine Quote zu erfüllen oder einen vorgegebenen Zeitplan einzuhalten. Verstehen Sie das denn nicht?“

Ihre Augen blitzten vor Wut. Hielt der Mann sie etwa für beschränkt? Bethany konnte nicht sehr gut mit Kritik umgehen – davon hatte sie in ihrer Jugend genug einstecken müssen. Als Erwachsene brauchte sie sich das nicht bieten zu lassen.

„Sie ignorieren sämtliche Vorteile, die NHC dem Krankenhaus bieten kann. Ein so großer Klinikverbund hat weitaus größere Möglichkeiten als wir allein.“

„Sieht aus, als hätte jemand seine Hausaufgaben gemacht“, meldete sich Wallace wieder zu Wort, und die Bewunderung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Als wäre das nicht genug, warf er Bethany auch noch einen anerkennenden Blick zu.

War der Vorsitzende für die Übernahme, oder versuchte er nur, sich bei Bethany beliebt zu machen? Peter war nicht sicher, aber sein Ärger wuchs allmählich. Es kam nicht oft vor, dass er die Geduld verlor, aber der Tod seines Vaters hatte ihn zutiefst erschüttert.

„Dann verleihen Sie ihr einen Orden, Wallace, aber liefern Sie unser Krankenhaus nicht NHC aus! Jeder von würde es zutiefst bereuen, vor allem die Patienten.“ Mit einem Ruck schob Peter den Stuhl zurück und stand abrupt auf. „Wenn Sie mich jetzt bitte alle entschuldigen. Ich muss gehen. Meine Patienten warten auf mich.“

Er musste sich beherrschen, um die Tür nicht hinter sich zuzuknallen.

4. KAPITEL

Noch lange nach Peters demonstrativem Abgang konnte Bethany die Anspannung in der Luft spüren. Sogar nachdem die Sitzung des Verwaltungsrats fünfzehn Minuten später überraschend zu Ende gegangen war. Bis zu Wilders heftiger Reaktion hatte sie die Übernahme durch NHC für ein Kinderspiel gehalten.

So viel zu ihrer Intuition.

Man sah es ihm nicht an, aber Wilder hatte eine eindeutig vorsintflutliche Einstellung. Der Mann stand dem Fortschritt im Weg. Anscheinend war er so sehr in der Vergangenheit gefangen, dass er unfähig war, die Augen aufzumachen und in die Zukunft zu schauen.

Offenbar lag es an ihr, den neuen Chefarzt zur Vernunft zu bringen. Die übrigen Mitglieder des Verwaltungsrats wollten sich nicht mit Peter anlegen – einige, weil sie mit ihm befreundet waren, und andere aus Respekt vor dem verstorbenen James Wilder. Auf solche Gründe konnte sie keine Rücksicht nehmen. Sie musste an das Wohl des kleinen Krankenhauses denken.

Keinesfalls durfte sie zulassen, dass ein Einzelner jeden Fortschritt verhinderte, nur weil er Veränderungen scheute. Oft genug hatte sie mit Leuten wie Peter Wilder zu tun gehabt. Sie kannte diese Art von Menschen, die ihren eingetretenen Pfad niemals freiwillig verlassen würden.

Bethany wusste, dass sie Peter nicht vor seinen Patienten zur Rede stellen konnte. Kurz vor Mittag postierte sie sich deshalb vor seinem Zimmer. Wie jeder andere Arzt würde bestimmt auch er um diese Zeit eine Pause einlegen, um etwas zu essen.

Um ein Uhr wartete sie noch immer vor der Tür.

Verwirrt legte sie die Hand auf den Knauf – vielleicht war Wilder noch immer in seinem Zimmer. Doch bevor sie die Tür öffnen konnte, wurde diese aufgerissen. Bethany taumelte nach vorn und prallte mit voller Wucht gegen den störrischen Arzt.

Blitzschnell packte er sie an den Schultern, damit sie nicht fiel. Bethany musste einen Aufschrei unterdrücken. Dabei war sie es nicht gewohnt, aus der Fassung zu geraten. Normalerweise hatte sie jede Situation unter Kontrolle und sich selbst stets im Griff.

„Oh, Dr. Wilder …“

„Ja, das steht an der Tür“, knurrte er. Als Vollblutmediziner musterte er sie mit geschultem Blick, fand jedoch kein Anzeichen für eine Verletzung. „Geht es Ihnen gut?“, fragte er trotzdem.

„Ja.“ Bethany strich ihr Kleid glatt. „Ich bin zäher, als ich aussehe.“

„Gut.“ Peter nickte zufrieden, bevor er zum Fahrstuhl ging.

Eigentlich hatte sie erwartet, dass er stehen bleiben und mit ihr reden würde. Stattdessen musste sie versuchen, mit ihm Schritt zu halten – er eilte geradezu den Korridor entlang. Wollte der Mann ihr etwa ausweichen? „Ich hatte gehofft, Ihnen über den Weg zu laufen …“

Belustigt sah er sie an. „Das sind Sie. Im wahrsten Sinne des Wortes.“

Sie runzelte die Stirn. Machte er sich etwa über sie lustig? Diese Wunden aus ihrer Kindheit waren nie richtig verheilt. „Das war nicht meine Absicht.“

Am Fahrstuhl blieb Peter stehen und drückte auf den Knopf. „Was war denn Ihre Absicht?“ Er schob die Hände in die Taschen des weißen Kittels und wartete auf eine Antwort.

Bethany brauchte eine Sekunde, um ihren Mut zusammenzunehmen. „Ich wollte mit Ihnen über das Angebot von NHC sprechen.“

Für einen Moment betrachtete er sie. Die Frau erschien ihm nicht wie jemand, der unter einer Aufmerksamkeitsstörung litt. Allerdings war er kein Hellseher. Doch soweit er wusste, war sie sehr ehrgeizig. Vielleicht lag darin der Grund.

„Das haben Sie doch schon“, erinnerte er sie.

„Sie haben die Sitzung einfach verlassen.“ Bevor ich richtig warm werden konnte, fügte sie stumm hinzu.

„Das war nicht sehr höflich von mir“, gab Peter lächelnd zu. „Aber ehrlich gesagt wollte ich weder Ihre noch meine Zeit vergeuden. Ich hatte genug gehört.“

„Sie haben kaum etwas gehört.“

„Ich habe die Worte ‚Northeastern Healthcare‘ und ‚Übernahme‘ gehört. Das war genug.“

Der Mann kapierte es einfach nicht. Doch sie würde diese harte Nuss schon knacken. Schließlich mochte sie Walnut River und arbeitete gern in der kleinen Klinik. Sie würde nicht zulassen, dass Peter Wilder die Übernahme verhinderte.

„Sie sollten sich wenigstens anhören, was NHC zu bieten hat“, sagte sie ruhig.

„Ich bin kein Einsiedler, der in einer Höhle lebt, Miss Holloway. Ich weiß genau, was NHC zu bieten hat: jede Menge nagelneuer, glänzender Apparate, die wir letztendlich nicht einsetzen dürfen, weil die Betriebskosten zu hoch wären.“ Sein Blick wurde durchdringend. „Ich bin kein Kind, das sich mit teurem Spielzeug bestechen lässt.“

Die Fahrstuhltür glitt auf. Bethany folgte Peter in die leere Kabine und atmete tief durch. Jetzt die Beherrschung zu verlieren wäre kein guter Zug.

„Ich halte Sie nicht für ein Kind, Dr. Wilder.“

Als er sie anlächelte, spürte sie, wie etwas tief in ihrem Innern darauf reagierte. Der Mann hatte Ausstrahlung, das war nicht zu leugnen.

„Das beruhigt mich“, sagte er. „Die Ärztekammer wird froh sein, das zu hören.“

Sie fand die ganze Sache überhaupt nicht komisch, und es gefiel ihr nicht, dass er sich auf ihre Kosten amüsierte. „Aber ich halte Sie für altmodisch“, fügte sie hinzu.

Sein Lächeln verblasste nicht, als er eine Augenbraue hochzog. „Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, was?“

Kämpferisch hob Bethany das Kinn und straffte die Schultern. „Stimmt.“

Er starrte auf die Fahrstuhltür und schüttelte den Kopf. „Das ist nicht charmant.“

„Ich versuche nicht, charmant zu sein.“

„Sehr gut.“ Noch immer schaute er nach vorn. „Es würde Ihnen auch nicht gelingen.“

Manchmal konnte ein Rückzug strategisch wichtig sein. Also gab sie nach. Nur ein wenig. „Vielleicht war ‚altmodisch‘ nicht das richtige Wort.“

Er nickte, den Blick auf die Anzeige gerichtet. „Vielleicht.“

Bethany ging wieder zum Angriff über. „Aber Sie müssen zugeben, dass Sie in der Vergangenheit gefangen sind.“

Erst jetzt sah Peter sie an. „Nein, ich lebe in der Gegenwart“, entgegnete er schärfer als beabsichtigt. Warum schaffte diese Frau es immer wieder, ihn zu provozieren? „Und ich werde dieses Krankenhaus nicht widerstandslos einem anonymen Konzern ausliefern.“

Nun war es an ihr, sich belustigt zu geben. „Sie sind ein wenig melodramatisch, finden Sie nicht?“

„Wenn es sein muss, Miss Holloway.“ Er wandte sich ab und zählte stumm bis zehn. „Wenn es sein muss.“

Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss. Peter stieg aus, um etwas zu essen, bevor er sich wieder um seine Patienten kümmerte. Und Bethany war dabei, seine kurze Mittagspause zu ruinieren. Vermutlich hätte er sich etwas von zu Hause mitbringen und in seinem Büro bleiben sollen. Aber sein Kühlschrank war leer. Er musste dringend einkaufen.

Auf dem Weg in die Cafeteria warf er ihr einen abweisenden Blick zu. „Haben Sie vor, mich den ganzen Tag zu verfolgen, Miss Holloway?“

Strahlend lächelte sie ihn an. „Wenn es sein muss, Dr. Wilder.“

Er senkte den Kopf. „Volltreffer.“

„Hören Sie mir doch wenigstens zu“, bat sie, während er ein Tablett nahm und es ihr reichte.

„Ich nehme an, Sie wollen so tun, als wären Sie nicht nur meinetwegen hier“, sagte er und ging weiter. „Dann sollten Sie sich etwas zu essen holen.“

„Richtig“, murmelte sie und sah sich neugierig um. Sie war zum ersten Mal in der Cafeteria, denn normalerweise aß sie in einem der Restaurants in der Nähe. „Sie hören mir also zu?“

„Das tue ich, seit Sie mich vor meinem Büro überfallen haben.“

Seine Antwort brachte ihm einen interessierten Blick von einer Krankenschwester ein, die mit einem vollen Tablett vorbeischlenderte. Die junge Frau betrachtete erst ihn, dann Bethany und lächelte.

Großartig. „Ich glaube, Sie und ich heizen gerade die Gerüchteküche an“, bemerkte Bethany.

Peter nickte, als würde es ihm überhaupt nichts ausmachen. „Kaffee?“

„Ich nehme einen Caffè Latte.“

„Natürlich.“ Jede andere Antwort hätte ihn enttäuscht, denn dann hätte er sie falsch eingeschätzt. „Das hätte ich mir denken können.“

Bethany füllte ihren Becher. „Caffè Latte ist auch etwas, von dem Sie nichts halten?“

Ihr herablassender Ton entging ihm nicht, aber er ließ sich nichts anmerken. „Ich halte nichts davon, etwas Bewährtes nur deshalb abzuschaffen, weil man modern sein will.“

Sie folgte ihm zu einer Vitrine mit fertigen Sandwiches. Ohne hinzusehen, nahm er sich eins.

„Falls Sie damit die Übernahme meinen, täuschen Sie sich“, beharrte sie.

„Ich weiß aus eigener Erfahrung, was für eine Medizin in Klinikkonzernen praktiziert wird, Miss Holloway. Ich weigere mich strikt, so etwas hier im Walnut River General einzuführen. Wir behandeln den ganzen Patienten, nicht nur seinen Arm, sein Bein oder seine Leber. Egal, mit welchen Beschwerden er zu uns kommt.“

In der Theorie klang das schön, aber in der Praxis sah es anders aus. „Meinen Sie nicht, dass das ziemlich zeitaufwendig ist?“ Und kostspielig, fügte sie in Gedanken hinzu.

Mit dieser Antwort hatte er gerechnet. Denn genau mit diesem Argument würden die Manager von NHC ihn zwingen, die Kranken wie am Fließband zu versorgen. „Das mag sein, aber wenn man nicht den ganzen Patienten behandelt, kann man leicht etwas Wichtiges übersehen.“

„Und wie oft passiert das? Dass man etwas findet, das nach den Symptomen des Patienten nicht zu erwarten war?“

Aha, da spricht die Effizienzexpertin, dachte Peter. „Öfter, als man denkt.“ Er sah sie an und senkte die Stimme. „Und wenn Sie die Patientin sind, ist ein einziges Mal schon ein Mal zu viel, nicht wahr?“

Na gut, da hat er recht, dachte Bethany auf dem Weg zur Kasse. Trotzdem war sie sicher, dass solche Fälle äußerst selten vorkamen.

„Aber auf lange Sicht …“

Peter nickte dem Kassierer zu, nahm die Brieftasche heraus, zeigte auf beide Tabletts und gab dem Mann einen Zwanzigdollarschein.

„Auf lange Sicht werden wir so viel Gutes tun wie bisher“, sagte er mit fester Stimme.

Bethany griff nach ihrer Geldbörse. „Ich kann mein Essen selbst bezahlen.“

Mit seinem Tablett ging er einfach weiter. „Daran habe ich keinen Moment gezweifelt, Miss Holloway.“

„Danke“, erwiderte sie spitz und folgte ihm in den Speisesaal. „Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie meinen Namen aussprechen, als wäre er ein böser Fluch?“

Er drehte sich nicht mal zu ihr um. „Vielleicht kommt Ihnen das nur so vor, weil Sie ein schlechtes Gewissen haben.“

„Ich habe kein schlechtes Gewissen“, widersprach sie entrüstet.

„Ich hätte es, wenn ich für die Übernahme stimmen würde.“ Peter steuerte einen kleinen Tisch im hinteren Teil an, stellte das Tablett ab und setzte sich. „Zum Glück wird das nicht passieren.“

Bethany blieb stehen. „Sie bleiben hart, was?“

„Ja.“

Enttäuscht schüttelte sie den Kopf. „Wissen Sie, ich hätte nie gedacht, dass Sie so verbohrt sind.“

„Das Leben steckt voller Überraschungen.“ Still beobachtete er, wie sie ihm gegenüber Platz nahm. „Warum wollen Sie ausgerechnet mich überzeugen? Ich bin lediglich das neueste Mitglied des Verwaltungsrats. Deshalb habe ich von allen sicher den geringsten Einfluss auf die Entscheidung.“

Aber so sah sie es nicht. „Sie sind Peter Wilder, der Hausheilige vom Walnut River General. Der Sohn von James Wilder, der zu seiner Zeit sogar noch mehr verehrt wurde. Die Leute schauen zu Ihnen auf und respektieren Sie. Sie und Ihre Meinung. Wenn Sie eine bestimmte Position vertreten, geht man davon aus, dass Sie einen guten Grund dafür haben.“ Ein wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus, als Peter sie anlächelte. Mit Mühe versuchte Bethany, es zu ignorieren.

„Ja, den habe ich.“

Sie überging seine Antwort. „Und die Leute richten sich danach, wie Sie stimmen.“

Dieses Mal fiel sein Lächeln nachdenklich aus. „Aber Sie nicht.“

„Ich stimme nicht mit dem Herzen ab, sondern mit dem Kopf.“

„Schade.“ Als er ihren empörten Blick bemerkte, fuhr er fort: „Meistens trifft das Herz bessere Entscheidungen als der Kopf.“ Er nippte an seinem Kaffee, stellte den Becher ab und beugte sich vor. „Ich bin wirklich neugierig. Warum ist Ihnen diese Übernahme so wichtig, Miss Holloway? Was haben Sie persönlich davon?“

„Fortschritt“, antwortete sie, ohne zu überlegen.

„So sehe ich das nicht.“ Peter schaute auf die Uhr. Das hier war reine Zeitverschwendung, und er hatte wirklich Besseres zu tun. Also wickelte er sein Sandwich in eine Serviette, nahm den Becher in die andere Hand und stand auf. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen … Ich habe zu tun.“

Bethany kniff die Augen zusammen und war sicher, dass er nicht die Wahrheit gesagt hatte. Warum hatte er sich hingesetzt, wenn er gleich wieder aufbrechen wollte? „Was haben Sie denn zu tun?“, fragte sie herausfordernd.

„Termine“, erwiderte er mit einem gelassenen Lächeln. Dann wandte er sich ab und ging davon.

Entgeistert sah sie sich um. Hatte jemand an den Nachbartischen ihr Gespräch gehört? Wie immer straffte sie die Schultern und hob das Kinn, bevor sie unauffällig nach mitleidigen Blicken Ausschau hielt.

Fast ihr ganzes Leben lang, schon als Jugendliche, hatte sie sich bemüht, zu den Besten zu gehören. Aber sie hatte den Erfolg nie genossen, sondern stets den nächsten angepeilt. Der Weg erschien ihr befriedigender als das Ziel. Über einen Sieg freute man sich nur ein paar Minuten lang.

So war es immer gewesen. Natürlich hoffte sie darauf, dass sich diese Ansicht eines Tages als falsch herausstellen würde – aber bisher war das nicht passiert.

Gedankenverloren hob sie den Caffè Latte an die Lippen und starrte auf Peters breite Schultern, als er zum Ausgang ging. Wieder ignorierte sie das seltsame Kribbeln in ihrem Bauch.

Er weiß es noch nicht, dachte sie, aber ich werde nicht aufgeben und ihn überzeugen. Der Mann war ihre bisher größte Herausforderung, und sie war fest entschlossen, auch diese zu meistern. Nur eine Übernahme könnte das Krankenhaus fit für die Zukunft machen.

Diese altmodische, gemütliche kleine Klinik verdankte ihren guten Ruf allein James Wilder. Jetzt hatte dessen Sohn die Leitung. Aber was sollte aus dem Walnut River General werden, wenn es keine Wilders mehr gab?

Nach und nach würde das Ansehen schwinden, bis kein hoch qualifizierter Arzt mehr dort arbeiten wollte. Binnen kürzester Zeit würde das Walnut River General zu einem mittelmäßigen Krankenhaus mit mittelmäßigem Personal verkommen.

Nur NHC konnte diesen Abstieg verhindern.

Bethany trank den Caffè Latte aus, stand auf und brachte das Tablett weg.

Zeit für die zweite Runde.

Schnellstens musste Dr. Peter Wilder zur Vernunft gebracht werden, bevor er und sein geliebtes Krankenhaus endgültig ins Abseits gerieten. Je früher sie ihn überzeugen konnte, desto besser war es für alle.

5. KAPITEL

Die Testamentseröffnung in Peters Haus brachte keine Überraschungen. Ella erschien um kurz vor sieben, Fred begann pünktlich, und alles verlief so, wie Peter erwartet hatte. Einige kleine Erinnerungsstücke hatte James Wilder guten Freunden vermacht. Da er selbst keine Geschwister hatte, gingen das Haus und die wenigen Ersparnisse zu gleichen Teilen an seine Kinder. Die Aufteilung sollte Peter in die Hand nehmen.

„Das war kurz und eindeutig“, sagte Fred, bevor er das Dokument auf den Mahagonischreibtisch legte, aufstand und seinen Aktenkoffer schloss. „Trotzdem ist es schade, dass David und Anna nicht bis heute bleiben konnten, um bei der Verlesung dabei zu sein.“