Die Farbe des Vergessens - Ina Resch - E-Book

Die Farbe des Vergessens E-Book

Ina Resch

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Beschreibung

Ein Thriller, der lange nachhallt. Achtzehn Jahre nachdem ihr Kind bei einer traumatischen Geburt verschwand, liegt vor Präparatorin Juli Senninger plötzlich ein Spiegelbild ihrer selbst auf dem Seziertisch. Doch ist die Tote wirklich ihre Tochter? Und wieso musste sie sterben? Auf der Suche nach Antworten muss Juli die Sicherheit ihres durchgetakteten Lebens aufgeben und hinter die dunklen Schatten ihrer Vergangenheit blicken. Dabei stößt sie auf verstörende Wahrheiten, die nicht nur sie in den Abgrund reißen.

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Ausnahme: Nick Trachte, Vizepräsident Boxverband Bayern, vom Boxwerk München.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung von Nikki Smith/Arcangel.com, shutterstock.com/Jet Cat Studio

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-739-2

Spannungsroman

Originalausgabe

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tag 1

weil juli-träume lila sind

zwanzig jahre, einen monat und achtundzwanzig tage DANACH

Juli zupfte den Mundschutz zurecht und schob die Haube aus der Stirn. Es war heiß unter dem festen Stoff ihrer bordeauxroten Sektionsmontur. Ein feuchter Film überzog ihre Haut wie bei einem beschlagenen Fenster. Hinter der Tür zum Hörsaal spulte der Professor gerade sein übliches Programm ab.

»Stehen Sie nicht auf, wenn Ihnen schlecht wird, bleiben Sie schön in Ihrer Bank sitzen. Wir wollen nicht, dass Sie uns hier auf die Stufen knallen, zumal ich ein Mediziner ohne jegliche therapeutische Ambition bin.«

Gelächter war zu hören. Aufatmen. Erleichterung.

»In diesem Hörsaal haben wir es zwar mit Stufen aus Kuschellinoleum zu tun, aber im alten Hörsaal der Pathologie aus Kaisers Zeiten … Marmorstufen! Sehr stilvoll, aber Sie haben ja keine Vorstellung!«

Er machte eine dramaturgische Pause.

»Im Übrigen fallen Männer tatsächlich öfter aus der Bank als Frauen. Wollen Sie meine Theorie dazu hören?«

Wieder gab er seinem Publikum Zeit für Spekulationen.

»Komplizierte Systeme sind von Natur aus störanfälliger.«

Hahaha. Juli kannte jedes Wort, und es mochte für Neulinge durchaus Sinn machen, dem Grauen vorab etwas von seiner Härte zu nehmen, doch sie fand es überflüssig. Pure Augenwischerei. Da saßen vierhundert meist junge Leute, mehr Frauen als Männer, und gutes Zureden half überhaupt nicht. Man musste die ersten Minuten überstehen, wenn die Plane angehoben wurde und eine echte Leiche vor einem lag. Wenn ihr Geruch die Nase erreichte, wenn der Professor mit der Pinzette auf der Suche nach Einblutungen wenig behutsam durch die Bindehäute in den toten Augen stocherte und man über Kameras jedes Detail auf zwei Großleinwänden sehen konnte. Das Zerlegen und Ausweiden – wenn man es mal drastisch formulieren wollte – kam ohnehin viel später. Bis dahin sollte man den ersten Schock überwunden und sein professionelles Interesse an der Sache wiedergefunden haben, sonst half das wohlige Einschunkeln mit dem Herrn Professor zu Anfang gar nichts.

Vorsichtig legte Juli ihre Stirn gegen das kühle Holz der Tür zum Sektionssaal, gönnte sich ein paar weitere Minuten.

Ömer Tok.

Konnte es wirklich sein, dass er hier war? Als Vertreter der Staatsanwaltschaft? Ausgerechnet. Nach so vielen Jahren. Tok war jedenfalls kein besonders häufiger Name. Nicht einmal in einer Multikultimetropole wie München, wo die Türken vor den Kroaten die stärkste Fraktion im Nationalitätenwettstreit mit den Deutschen stellten. Am liebsten hätte Juli mit einer Kollegin getauscht, obwohl sie sonst gern im Hörsaal assistierte.

Vorsichtshalber zog sie ihre Haube wieder tiefer in die Stirn. Etwas Tarnen und Täuschen konnte nicht schaden, auch wenn er sie ziemlich sicher nicht bemerken würde. Die Präparatoren machten ihren Job, aber der leitende Obduzent stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – niemand sonst. Und die Beamten saßen meist ohnehin auf ihrem Stuhl und verfolgten das Geschehen aus sicherer Entfernung. Mundschutz und Haube würden den Rest erledigen. Mit etwas Glück …

Sie drückte die Klinke hinunter und betrat den Hörsaal. Sofort durchlief das übliche Raunen die schräg nach oben angeordneten Sitzreihen. Alles nur wegen der Säge in ihrer Hand? Oder weil Studenten, Schüler, Feuerwehrmänner und Polizisten sich einen Präparator anders vorstellten? Größer, gröber, älter, männlicher? Keine junge, schlanke Frau, die den Schädel der Leiche öffnete?

Tja. Und genau deshalb war Juli mit vierunddreißig immer noch aufgeregt wie ein Schulmädchen, wenn vierhundert Augenpaare sie taxierten, und sie hoffte jedes Mal, dass der Schädel nicht schwer, sondern leicht zu sägen sei. Aber bis dahin war noch etwas Zeit.

Die Akte hatte Juli am Vormittag kurz überflogen. Allem Anschein nach Suizid durch Erhängen. Optimal für eine Hörsaalsektion. Keine Fäulnis, körperlich weitgehend intakt, der Fall relativ einfach gestrickt, nur etwas arg jung war die Frau auf dem Edelstahltisch für eine Obduktion vor Studenten und Schülern. Ähnliches Alter brachte stets unnötig viel Emotion mit sich, aber was anderes hatte der Kühlzellenraum nun mal nicht hergegeben, und die Termine für Hörsaalsektionen wurden drei Monate im Voraus angesetzt, da musste man nehmen, was gerade da war.

Als der Professor die Leiche in Seitenlage brachte, um den Rücken der Toten zu inspizieren, trat Juli an den Tisch und übernahm. Ihr Blick entwischte für einen kurzen Moment hinüber zum Ermittlungsbeamten der Staatsanwaltschaft. War das Ömer Tok, der da neben der zweiten Rechtsmedizinerin stand? Etwas abgewandt, sein Gesicht kaum zu sehen, aber …

Die Wucht des Wiedersehens überraschte Juli. Den ganzen Vormittag über hatte sie zwar überlegt, wie sie ihm aus dem Weg gehen könnte, sollte es sich tatsächlich um den Tok aus ihrer Kindheit handeln, aber dass sein Auftauchen hier in der Rechtsmedizin sie derart durcheinanderbrachte? Sie bekam unter dem Mundschutz kaum Luft, die Konturen im Hörsaal verschwammen, doch sie stand. Stand da wie sonst auch. Unsichtbar. Aufrecht. Stabil. Die Leiche in ihren Händen wackelte kein bisschen.

Er sieht mich nicht.

Es war fast zwanzig Jahre her! Eine Ewigkeit. Und Juli hatte sich verändert. Er würde sie gewiss nicht erkennen. Obwohl Ömer Tok wirklich nahe am Sektionstisch stand, war sein Blick stur auf die Leinwand gerichtet.

Ist es seine erste Sektion?

Neu war Tok auf jeden Fall beim K12. Die anderen Kollegen kannte Juli alle. Es konnte also durchaus sein, und es machte schon einen Unterschied, ob man das Geschehen auf einer Leinwand verfolgte oder hautnah – ganz ohne Zwischenschaltung. Ömer war nie einer von den harten Jungs gewesen. Und jetzt? Todesermittler? Passte nicht zu ihm. Und vor allem passte er nicht in Julis Welt.

Sie schob die Leiche zurück in Position, legte sie auf den Rücken. Der Obduzent tastete den Kopf nach Verletzungen ab und fuhr nun tatsächlich mit der Pinzette in die Bindehäute, wo er natürlich die typischen Einblutungen fand. Die Studenten verfolgten alles auf der Großleinwand, sahen jedes Pünktchen.

Ömer auch.

»Knöchernes Nasenskelett intakt. Rötlich tingierter Schleim austretend, Gehörgangsöffnungen frei.«

Juli trat einen Schritt zurück, als der Professor die weiteren äußeren Merkmale für seine Zuhörer aufzählte, und ließ Ömer dabei nicht aus den Augen. Inzwischen versank er fast auf dem Stuhl in der Ecke neben dem Computer und spielte an seiner Uhr herum.

Das Weichei!

»Brustkorb seitengleich gewölbt, nicht abnorm beweglich. Weibliche Brustdrüsen mittelfettreich, breitbasig aufgesetzt.«

Bevor Juli in den Hörsaal gekommen war, hatte sie an der Tür gelauscht, wie Tok dem Professor und den versammelten Zuhörern die Vorgeschichte des Falls geschildert hatte. Nicht weil sie wissen wollte, was passiert war. Nein. Weil sie seine Stimme hören, weil sie sich auf das unwillkommene Wiedersehen vorbereiten wollte, wenn es sich schon nicht vermeiden ließ.

Aber natürlich hatte ein erwachsener Mann von einem nicht einmal volljährigen Mädchen berichtet, das sich in der elterlichen Villa in Bogenhausen aufgehängt hatte – nicht der schüchterne Junge von früher.

»Bauchdecke etwa in Höhe des Brustkorbniveaus vereinzelte Dehnungsstreifen der Haut. Keine Narbenbildungen. Äußeres Genitale weiblich …«

Juli holte ihr Werkzeug von der Ablage und legte es vor sich auf dem Sektionstisch ab.

»Die Fingernägel deutlich über die Fingerkuppen hinausragend, keine frischen Randabbrüche …«

Mit geübtem Griff hob sie den Oberkörper der Toten an, schob die Schulterrolle mit den Spikes unter ihren Rücken und fixierte den Kopf auf der dreibeinigen Stütze. Ein blassblauer Gummi hielt die dicken roten Haare der Toten im Nacken zusammen. Juli wollte ihn greifen, daran ziehen, doch …

Rot. Feuerrot.

Der Gummi verhedderte sich, Juli musste mit beiden Händen nachfassen, einzelne Haare befreien. Fast hätte sie aus einem Impuls heraus die Handschuhe abgezogen, dabei hatte sie jeden dieser Handgriffe doch schon tausendmal getan.

Und dennoch war alles verkehrt.

Sie spürte Schweiß an den feinen Härchen zwischen Nasensteg und Oberlippe. Es machte sie schier wahnsinnig! Der Professor hörte auf zu sprechen, sah seine tüchtigste Präparatorin irritiert an. Juli schluckte, zerrte fester an den roten, toten Haaren und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass nun auch Ömer Tok – der Todesermittler! – in ihre Richtung schielte. Doch all das spielte keine Rolle mehr. Der Gummi löste sich, und Julis Augen wanderten über den Haaransatz des toten Mädchens zur blassen Haut seiner Stirn, blieben an jeder einzelnen Sommersprosse hängen, bis Juli Senninger endlich verstand, wo der Fehler lag.

Vor ihr auf dem Tisch lag … sie selbst.

sieben jahre, vier monate und zwanzig tage DAVOR

»Sei leise!« Juli legt den Zeigefinger auf ihre aufgerissenen Lippen, der nagelneue Schulranzen hängt noch auf ihrem Rücken. »Wenn Papa uns erwischt, bringt er dich um.«

Ömer klappt den Mund zu. Eine Gänsehaut läuft ihm über die Arme, als die aufgefädelten Schweinehälften sacht zu schaukeln beginnen, weil Juli sie im Vorbeigehen mit ihrem Ranzen anschubst. Eine nach der anderen. Weil er außerdem das Blut riechen kann. Weil er die Wärme spürt, die sich vor der Kälte des Raumes im Fleisch versteckt.

Stellt sie ihre knallgelbe Schultasche allen Ernstes direkt über den Ablauf im Boden? In Ömers Kopf zerfließt sie mit dem Blut und Fett und Tod von der Schlachtung am Morgen und verschwindet durch das Gitter im Kanal. Er schlägt die Hand vor den Mund, ihm wird schlecht. Die Vorschriften aus Koran und Sunna, die ihm seine Mutter, kaum dass er laufen konnte, eingebläut hat, durchleuchten sein Hirn wie Blaulichter. Gerade hier in Deutschland müsse man ständig auf der Hut sein. Gerade hier!

»Jetzt komm endlich. Die Mittagspause ist gleich um.«

Sie winkt ihn herbei, reißt ihm den Ranzen vom Rücken, stellt ihn neben ihren, schreitet unbeirrt voran, nimmt das größte Messer vom Zerlegetisch, wischt es mit einem Lappen ab, den sie aus einem Eimer mit rosafarbenem Wasser fischt.

Ömer will davonlaufen. Er hat es sich anders überlegt. Sie hat vorher nicht gesagt, dass sie es ausgerechnet hier tun will. In der Metzgerei! Hätte er das gewusst, wäre er niemals freiwillig mitgekommen. Niemals!

Sie packt seine rechte Hand. Ihr Griff ist rabiat – so wie alles an ihr: ihr Wille, ihr Mundwerk, ihre dicken Waden, die oft in verschiedenfarbigen Strümpfen stecken. Ja sogar ihre roten, widerspenstigen Haare und die viel zu helle Haut. Das Mädchen ist auf Krawall gebürstet. Ömer hat das gleich an seinem ersten Tag in der neuen Nachbarschaft verstanden. Gleich am ersten Tag! Deshalb ist er ihr stets aus dem Weg gegangen, hat den Gehsteig gewechselt, sobald ihr Fuß auf seiner Straßenseite aufsetzte. Nur von Weitem haben sie einander beäugt. Zwischen ihnen die vielen Worte, die zu Hause achtlos aus den Mündern der Erwachsenen fielen. Pis gavur. Şerefsiz Nazi. Domuzkafa. Bei ihr war es genauso gewesen. Das weiß er inzwischen. Scheiß-Türken. Schmarotzer. Ungläubige.

»Hast du Schiss?«

Ömer schmeckt die Pause im Mund. Fladenbrot, Weichkäse, Gurken und Tomaten kommen ihm hoch. Tapfer schluckt er es weg. »Bist du blöd? Ich habe keinen Schiss.«

Sie hält ihm das Messer hin. »Dann fang du an!«

Er zögert. Genau wie am ersten Schultag, als nur noch ein Stuhl frei war. Nämlich der neben der Metzgerstochter. Neben Juli Senninger. Neben der Bleichen vom Done-Metzger, wo die Schweinefresser in Schwabing ihr Fleisch holen, wenn sie es sich leisten können. Neben der, die nicht einmal Geschwister hat, mit denen sie spielen kann. Die immer allein auf der Straße herumrennt, weil man es ihr eben ansieht, dass sie gefährlich ist. Doch die Lehrerin hat Ömers Not nicht erkannt, ihn bei der Hand genommen und zum letzten leeren Platz geführt. Basta.

Geschlagene zwei Stunden hat er nicht ein einziges Mal den Kopf gedreht, hat sich nur darauf konzentriert, größtmöglichen Abstand zur Bleichen zu halten, ohne gleich bei der Lehrerin anzuecken. Denn da muss man als Türkenjunge vorsichtig sein, das wusste er trotz seines jungen Alters schon sehr genau.

Aber weil die Metzgerstochter nicht aufhören konnte, ihn mit dem Ellbogen anzurempeln und ihm im Sekundentakt ins Ohr zu zischen, dass sie bereits lesen und schreiben könne, hat er sich ihr am Ende doch zugewandt. Allerdings sind seine schwarzen Augen dann in ihre hellgrünen gefallen, und anstatt ihr die Meinung zu geigen, hat er den Mund aufgerissen wie jemand, der nach Luft schnappt, und gestammelt: »Du hast ja sogar in den Augen Sommersprossen.« Und weil es sich wie eine Beleidigung anhörte, hat die Metzgerstochter die Faust geballt und dem Türkenjungen eine auf die Fresse gegeben, dass er sich auch eine halbe Stunde später noch das Blut abwischen musste, als sie beide in der Ecke standen und die Lehrerin sich bis Schulschluss echauffierte, dass sie so etwas in ihrer vierzigjährigen Laufbahn noch nicht erlebt habe.

Dass Ömer – genau wie Juli – zur Strafe mit dem Rücken zur Klasse vor dem Waschbecken stand, musste mit seinen türkischen Wurzeln zu tun haben. Zumindest hatten ihm das die Eltern zu Hause so erklärt.

»Nimmst du jetzt das Messer, oder kneifst du?«

Ömer nimmt es, denkt an das Schweinefleisch. Das Blut. Schon wieder kommt der Käse hoch. Ein Gurkenstück. Er drückt es mit der Zunge zurück.

Seltsamerweise musste er nach ungefähr fünfzehn Minuten in der Klassenzimmerecke kichern. Er konnte gar nicht mehr aufhören. Für die anderen sah es aus, als würde er flennen, nur Juli hat das Glitzern in seinen Augen gesehen und sich davon anstecken lassen.

Seitdem sind die Bleiche und der Türke unzertrennlich. Die Eltern sind nicht begeistert, dass ausgerechnet der Bub von der Dönerbudenkonkurrenz mit der Leberkässemmelprinzessin und umgekehrt, aber sie alle haben viel zu tun.

Ömer atmet tief durch, schließt kurz die Augen und zieht die Klinge über das feste Fleisch an seinem Daumen. Juli strahlt, als Blut aus der zu tief geratenen Wunde quillt, nimmt Ömer das Messer aus der Hand und macht das Gleiche.

»Blutsbrüder. Ewige Freundschaft. Nichts wird uns je trennen. Versprich es!«, sagt sie theatralisch.

Und Ömer Tok, der Türkenjunge, schwört.

Juli rieb Daumen und Zeigefinger fest gegeneinander, vermisste die hässliche Narbe, derentwegen sie Tok bis ins Teenageralter beneidet hatte. Er starrte sie an. Der Professor auch. Das Autopsiemesser entglitt ihr beinahe, das blanke Entsetzen drückte ihr die Kehle zu.

Die gleiche bleiche Haut.

Die gleichen Flecken in den hellgrünen Augen.

Nur die Haare waren einen Ton dunkler, vielleicht noch widerspenstiger. Auf jeden Fall sehr lang. Zu lang. Julis Finger strichen hindurch, konnten in den Handschuhen kaum etwas von der schweren Textur fühlen. Kalter Schweiß quoll ihr unter dem Kittel aus allen Poren. Da auf dem Tisch lag ein Ebenbild ihrer selbst. Jünger. Besser genährt. Ja. Aber dennoch ein Abbild ihrer selbst. Merkten das die anderen nicht? Fiel das niemandem auf?

»Der rote, zirkuläre Streifen lässt vermuten, dass sich die Tote das Seil zunächst eng um den Hals gelegt hat.«

Juli hörte nicht, wie der Professor die Bedeutung der beiden Strangmarken erläuterte, das Atmen fiel ihr unter dem Mundschutz entsetzlich schwer.

»Erst im Krampfstadium dürfte die Schlinge letztlich in die Endposition gerutscht sein. Die horizontale Marke führte – richtigerweise – zur Beiziehung eines Rechtsmediziners, um nach Bewertung der Umstände und Vorliegen aller Befunde ein Fremdeinwirken sicher auszuschließen. Wozu wir hiermit beitragen werden.«

Julis Finger umschlossen das Messer, ihre Hand zitterte. Sie musste sich zwingen, nicht den Mundschutz abzureißen. Professor Kammerlocher bemerkte ihr Unbehagen, stoppte mitten im Satz und streckte ihr die Hand entgegen, um zu übernehmen, erst da klappte Juli das Visier nach unten und machte endlich ihre Arbeit.

Etwas zaghafter als sonst zog sie das Messer von Ohr zu Ohr über den Kopf, scheitelte die Haare ober- und unterhalb des Schnittes und band sie mit einem Faden fest, damit sie später beim Zunähen nicht störten. Dann setzte sie die Klinge entlang der Schnittkante am Schädelknochen an und löste die Haut, bis sie diese ein Stück nach oben klappen und greifen konnte, um schließlich bis zur Stirn freizupräparieren.

Die Haut mit der Linken auf Spannung zu halten gelang nicht wie sonst, dennoch kehrte etwas Sicherheit und Kraft zurück, und wenig später konnte sie den vorderen Teil der Haut über das Gesicht klappen und mit dem hinteren fortfahren.

Wie zu erwarten gab es keine Einblutungen. Auch das knöcherne Schädeldach und die abpräparierten Schläfenmuskeln zeigten keine Auffälligkeiten. Jedes Wort, das der Professor von sich gab, zog an Juli vorbei wie dichter Nebel. Sie verstand nicht. Sie konnte nicht begreifen. Und dennoch setzten sich die Details in ihrem Hirn fest wie Zigarettenrauch in Vorhängen.

»Die Schwerathletik übernehmen hier bei uns in der Rechtsmedizin die Frauen.« Der Professor nickte Juli zu und drückte einen Schwamm auf die über die Stirn geklappte Haut, um den Kopf der Toten in Position zu halten. »Eine Oszillationssäge läuft heiß, und Sie wissen vermutlich, wie es riecht, wenn Fleisch und Knochen verbrennen? Um Ihnen den Geruch und uns eine höhere Ausfallquote zu ersparen, sägen wir deshalb per Hand. Bei einem osteoporotischen Schädel wäre das ein Leichtes, der Schädel dieser jungen, gesunden Frau hingegen wird uns etwas Arbeit machen.«

Juli setzte die Säge an, zögerte, atmete, schwitzte. Konnte es tatsächlich sein, dass die Tote auf dem Tisch …?

War das möglich?

Das Öffnen des Schädels wurde zur Schwerstarbeit – genau wie Kammerlocher vorausgesagt hatte. Juli fühlte sich schwach, ihre Hände konnten den Griff des Werkzeugs nicht fest genug packen. Sie rutschte ab. Immer wieder. So wie ihre Gedanken. Beinahe hätte sie die typische Tonänderung, wenn die Säge durch den Knochen war und die Dura Mater erreichte, überhört. Juli erschrak, stoppte, setzte an einer anderen Stelle an, achtete nun besser darauf, die äußere Hirnhaut nicht zu verletzen, wechselte dann die Seite und sägte weiter. Flecken tanzten vor ihren Augen, alles verschwamm. Irgendwann nahm sie den Schädelspalter, schob ihn einmal rechts und einmal links in den Sägespalt an der Stirn, schlug mit dem Handballen darauf und drehte ihn. Das gut hörbare Knacken schickte erneut Entsetzen durch die Sitzreihen, doch Juli bemerkte es nicht. Mit Zeigefingern und Daumen drückte sie das Schädeldach vom Kopf ab, packte mit der Linken das Hirn und hielt es fest, um das knöcherne Dach mit der anderen Hand endgültig abzuziehen und abzulegen, das Messer zu greifen, Nerven zu kappen, das Kleinhirnzelt zu eröffnen und das verlängerte Mark in der Tiefe zum Rückenmark zu durchtrennen. Alles Handgriffe, die sie schon viele Male als Präparatorin gemacht hatte, und doch war alles anders.

Heute. Hier. Jetzt.

Juli legte das Hirn für den Professor in die bereitgestellte Edelstahlschale auf der Waage. 1.478Gramm. Für eine Frau dieses Alters absolut normal. Juli schloss die Augen, während Kammerlocher zum Präpariertisch wechselte und über das menschliche Gehirn im Allgemeinen und im vorliegenden Fall referierte, während er das Kleinhirn wie eine Semmel in zwei Hälften schnitt. Dann griff Juli nach der Durazange und zog die Hirnhaut von der Schädelbasis ab. Alles geschah wie in Trance, trotzdem machte jede Bewegung, jeder Handgriff mehr Mühe als sonst. Sie brachte den Kopf der Toten zurück in Tieflage und räumte Schulter- und Kopfstütze beiseite. Erst das Rauschen des Wassers vertrieb ein wenig die Beklemmung. Juli wusch Werkzeug, nahm Proben, drückte Schwämme aus, machte sauber, ordnete, verpackte in Beutel.

Dann setzte der Professor den Schnitt von der Schlüsselbeingrube bis zum Schambein. Heute sah Juli hin, wie das Messer über den viel zu jungen Körper glitt, heute hatte dieses erste Anritzen und wiederholte Zerteilen der Haut etwas Zerstörerisches, etwas Bedrohliches. Sie wollte nicht, dass Kammerlochers Hand im Bauch nach Darm und Zwerchfell tastete. Sie wollte nicht, dass er den Brustkorb öffnete und die Lungen anhob, um zu sehen, ob sich darunter Flüssigkeit angesammelt hatte. Und erst recht wollte sie nicht, dass er den Herzbeutel öffnete und die untere Hohlader leerte. Am liebsten hätte sie ihm die Rippenschere aus der Hand geschlagen und die Kelle mit dem aufgefangenen Blut an den Kopf geworfen. Stattdessen füllte sie entnommene Körpersäfte in Röhrchen und hielt die Haut vom Hals ab, als der Professor den Schnitt bis zum Kinn verlängerte, um erst jeden Halsmuskel oberhalb des Schlüsselbeins zu durchtrennen und dann die Halsweichteile zusammen mit Lunge und Herz zu entnehmen.

Ist sie es?

Diese Ähnlichkeit konnte kein Zufall sein.

Oder doch?

Juli wollte das blasse Gesicht mit beiden Händen fassen, es wach rütteln. Ihre warme Wange an die kalte legen. Sie zum Leben erwecken.

Ist es wirklich passiert?

Das zu glauben, hatte Juli sich ein halbes Leben lang verboten, denn die Konsequenz daraus …

»Der innere Lokalbefund am Hals ist bei Erhängen oft diskret.« Kammerlocher setzte einen senkrechten Schnitt auf das Schlüsselbein, bis Knochenhaut und restliches Gewebe auseinanderklafften. »Erst hier, am Ursprung der Kopfwendermuskeln, sehen wir Einblutungen, welche von außen nicht …«

Die Worte des Professors störten Juli. Sie wollte nicht hier sein. Im Hörsaal. Bei einer Obduktion. Weil dieser Tod selbstredend kein natürlicher war, weil etwas nicht stimmte. Ach was! Weil alles daran nicht stimmte. Dennoch griff sie nach dem bereitgelegten Zellstoff, füllte damit die leere Kopfhöhle und passte das abgesägte Schädeldach ein. Automatismen griffen in den unmöglichsten Situationen. Sie funktionierten. Juli funktionierte!

Trotz allem.

Behutsam zog sie die Kopfschwarte zurück über den Schädel, nahm die gebogene Nadel zur Hand und versuchte – obwohl ihr der Faden auf einmal paketschnurdick vorkam – die schönste Naht ihrer Präparatorenkarriere zu ziehen.

Für dich.

Wenigstens das wollte sie tun. Wenigstens das!

»Frau Senninger?«

Juli schreckte hoch, nahm die Schere, schnitt den Faden ab. Die Naht war gut geworden. Der Professor untersuchte inzwischen das Herz, die zweite Obduzentin wartete, mit Gedärm in beiden Händen, auf das Blech, das Juli normalerweise rechtzeitig anreichte. Wie aufs Stichwort kamen Julis Kolleginnen in den Hörsaal, übernahmen es, den Darminhalt zu untersuchen, einzutüten. Juli wunderte sich, dass sie die Ähnlichkeit nicht bemerkten, dass der Aufschrei ausblieb. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde lauwarmes Wasser hindurchschwappen und alles mitnehmen. Jeden klaren Gedanken. Jede Gewissheit.

Bildete sie sich alles nur ein?

Sie ging zum Waschbecken und machte Werkzeug sauber, das nicht weiter gebraucht wurde. Minuten verstrichen, wurden zur Ewigkeit. Irgendwann legte Kammerlocher die Gebärmutter zur Präparation vor sich auf dem Tisch ab. »Muttermund quer gestellt …« Er zögerte, wandte sich an den Ermittlungsbeamten der Staatsanwaltschaft. »Wie alt war die Tote genau?«

Tok sprang auf, salutierte fast. »Siebzehn Jahre. Am 19. August wäre sie achtzehn Jahre alt geworden.«

Juli erstarrte.

19.August?

Sie nahm die Finger zu Hilfe. Rechnete.

Kammerlocher runzelte die Stirn. »Gibt es ein Kind?«

»Ein Kind?« Ömer kratzte sich am Kopf. »Was meinen Sie?«

»Ist die Tote Mutter?«

Kommissar Tok schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Ein Kind haben die Eltern nicht erwähnt.«

»Na schön.« Kammerlocher wandte sich wieder seinen Studenten zu. »Normalerweise ist der Muttermund einer Frau, die noch nicht geboren hat, grübchenförmig. Im vorliegenden Fall ist er quer gestellt, was ein Hinweis auf eine Geburt sein kann, aber nicht sein muss. Ein fraglicher Befund also, wie es in unserem Geschäft viele gibt.«

Durch Julis Ohren schwappte eine neue Welle. Heißer diesmal. Ihre Hände begannen zu zittern, sie schaffte es nicht, den Faden durch die Öse zu fädeln, mit dem sie später Bauch und Brust schließen würde.

Ein Kind?

Sie sah auf die Uhr an den Holzpaneelen über dem Medientisch. Beinahe vier. Ömer stand mit der Fallakte in der Hand direkt darunter, suchte etwas. Eine Weile blätterten Julis Augen mit, klebten fest, kehrten nur widerwillig zurück an den Sektionstisch und wanderten dort über die Organe zwischen den Beinen der Toten. Herz. Lunge. Nieren. Milz. Leber. Kammerlocher redete und redete, erwähnte Hämorrhoiden und Vernarbungen in der Gebärmutterschleimhaut. Julis Hände hoben das Herz der Toten wie eine Kostbarkeit zurück in die leere Brusthöhle. Die anderen Organe folgten, auch der Teil des Gehirns, der nicht asserviert wurde. Eine Notwendigkeit, da er sich nicht mehr in den Schädel einpassen ließ, nur heute kam es Juli falsch vor. Deplatziert. Wie alles hier im Hörsaal. Doch ihr blieb keine Zeit zu überlegen, eine Kollegin brachte das Blech mit dem Gedärm an den Tisch und füllte den Bauchraum, während Juli noch den Rippenausschnitt einpasste, um anschließend die klaffende Öffnung zu schließen.

Galant machte der Professor seinen Präparatorinnen Platz, verließ den Tisch, schäkerte mit den Studenten über dies und das, wollte nicht wahrhaben, dass sie allen Ernstes ihre Karrieren in eine solch morbide Richtung zu lenken gedachten, kam zum Ende. Beifall brandete auf, der Saal leerte sich, und Juli schüttete rosafarbenes Waschgel aus einem Kanister über der Toten und dem Edelstahltisch aus. Zu viel davon. Weil ihre Gedanken durcheinandergaloppierten. Panisch. Der Schwamm entglitt ihr, die Brause verfehlte ihr Ziel. Blut, Schmerz und Zerstörung klebten hartnäckig an der jungen Frau, ebenso wie der selbst gewählte Tod.

19.August.

Juli gab auf, auch Automatismen versagten irgendwann. Ihre Arme fielen, hingen wie Fremdkörper an den Seiten, bis sie mit letzter Kraft die langen Handschuhe abzog, um das Haar ihrer Tochter zu waschen.

Ein erstes Mal.

Die Bilder kamen ungebeten. Wie immer. Von den Eltern, von ihrer Kindheit und jetzt auch die von Ömer. Sie stürzten auf sie ein wie Flugzeugteile von einem blauen Himmel. Die von der Zeit danach kotzte Juli aus, bis nichts mehr übrig war.

Mein Kind.

Als ihre Kolleginnen den Körper der jungen Frau vom Sektionstisch auf die Bahre hoben, hatte Juli es nicht länger ausgehalten und war kopflos aus dem Hörsaal geflüchtet. Nur den Haargummi hatte sie vom Boden aufgelesen.

Bemerkte niemand außer ihr die Ähnlichkeit?

Sah niemand die Wahrheit?

Ihr eigener Verstand hatte es ihr wie mit schweren Faustschlägen ins Hirn gedroschen: Das ist dein verloren gegangenes Kind! Diese Augen, die Haut. Das Haar. Gerade rotes Haar vererbte sich selten. Und das Geburtsdatum. Natürlich dieser eine Tag.

19.August.

Juli war sich sicher gewesen. So sicher wie selten in ihrem Leben. Und jetzt?

Ihre Oberarme hingen schlaff über der Schranke zum Hofbereich des Rechtsmedizinischen Institutes, sie starrte auf die roten Haare in ihrer Hand, die sich im Gummi verfangen hatten. Unter ihr lagen die Handschuhe. Die hatte sie doch schon im Hörsaal ausgezogen? Sie bückte sich, spürte plötzlich eine raue Zunge im Gesicht und schreckte hoch.

Ein Hund?

Juli sah sich um, hoffte, ein Herrchen würde das Vieh zu sich rufen, stattdessen leckte es die halb verdaute Milch weg, die auf ihren schwarzen Galoschen gelandet war. Juli verjagte den Köter, schluckte, schmeckte das Saure, schluckte und schluckte und machte alles nur schlimmer. Tränen platzten in ihre Augen, sie konnte sie nicht aufhalten. Wann hatte sie zuletzt geweint? Vor einer halben Ewigkeit. In einer anderen Zeit. In einem anderen Leben. Oh ja, es war verdammt lange her.

Mit dem Unterarm wischte sie Nässe und Erbrochenes fort. Sie musste schleunigst zurück. Die anderen wunderten sich bestimmt schon. Sowieso hatte sie sich vorhin im Hörsaal ziemlich danebenbenommen. Ganz sicher würde Kammerlocher morgen früh ein paar markige Sprüche diesbezüglich in die Runde spucken, obwohl sie sich im Gegensatz zu den Kollegen in den letzten zehn Jahren keinen einzigen Ausrutscher geleistet hatte. Juli war im Institut als Pedantin bekannt und gefürchtet, aber gerade deshalb fiel ihr heutiges Versagen vermutlich besonders auf.

Sie straffte die Schultern, schob die Unterlippe vor und blies warme Atemluft übers Gesicht, um die tränenfeuchte Haut zu trocknen. Am Eingang zum Kühlraum standen die Chauffeure der Bestatter, die darauf warteten, ihre Kundschaft wieder mit retour zu nehmen. Sie tranken Kaffee, unterhielten sich. Über Fußball. Juli drehte ihnen den Rücken zu und tat, als mache sie sich an der frisch angelieferten Bahnleiche zu schaffen. Sie hob die Plane hoch, sah die verrenkten Gliedmaßen, die zersplitterten Knochen, das halbe Gesicht. So jung! So verdammt jung und dennoch nichts Außergewöhnliches. Überhaupt keine Seltenheit. Leider.

Doch Juli hatte wenig Platz für Mitleid, für Empathie. Das dafür zuständige Areal in ihrem Gehirn kümmerte seit Jahren vor sich hin, aber in diesem Moment erreichte nicht ein einziger schwacher Impuls das limbische System. Juli sah nur das rote Haar. Ihr eigenes rotes Haar. Und die Flecken auf der Nase, die gleichen Kleckse in den Augen, die gleiche blasse Haut. Als die FC-Bayern-Debatte sich euphorisierte, huschte sie an den Fahrern vorbei auf den Gang, eilte über die Waage am Boden und lief direkt in seine Arme.

»Oh, Verzeihung. Ich dachte …«

Julis Herz detonierte. Schon wieder. Einschläge im Minutentakt. Krisengebiet. Definitiv. Tränen kippten über die Lidränder. Sie hasste es.

»Also, das tut mir wirklich leid, aber Sie haben überhaupt nicht aufgepasst, wo Sie hingehen, ich hatte keine Chance, Ihnen –«

»Kein Ding! Alles gut.« Juli bückte sich, griff nach ihren Handschuhen, die schon wieder zu Boden gefallen waren, und wischte das verräterische Nass der Wangen an ihren Schultern ab.

»Alles in Ordnung?«

Wieso war er hier? Ausgerechnet heute. Ausgerechnet jetzt. »Alles bestens.«

»Wirklich?«

Julis Knie gaben nach, sie musste sich mit den Händen auf dem Boden abstützen.

Stinkender Türke.

Eine alte Erinnerung verdrängte kurz das rote Haar und die zu üppigen Sommersprossen.

Hau ab, du stinkender Türke!

»Juli?« Ömer Tok, der Neue vom Dezernat für Ablebensfälle, das andauernd Beamte zu den Sektionen schickte, ging ebenfalls in die Hocke, packte Julis Oberarm und versuchte sie anzusehen. »Juli Senninger? Das bist doch du?«

Stinkender Türke.

Sie kamen gleichzeitig hoch. Julis vermied es, ihn anzusehen, stattdessen blieben ihre Augen an den dicken Adern seiner Hände kleben, und sie war überrascht, dass er noch dieselbe Karamellhaut hatte, auf die sie schon als Sechsjährige so neidisch gewesen war.

»Geht es dir gut?«

»Natürlich. Alles in Ordnung. Nur die Hitze.« Sie winkte ab. Es war kein bisschen heiß, nicht hier draußen auf dem Gang.

»Du bist dünn geworden. Ich hätte –«

»Und du ganz schön pfundig!«

Die Worte ließen sich nicht aufhalten, doch Ömer lachte nur, griff sich an den Bauch, schien sich überhaupt nicht zu ärgern. Kurz sah Juli den pickligen Teenager mit den allzeit fettigen Haaren vor sich. Damals war er zu dünn, geradezu spindeldürr gewesen, obwohl sein Nachname doch »satt« bedeutete. Jetzt war er nicht mehr zu dünn, jetzt sah er satt aus. Allzeit satt sogar. Nur seine Augen schickten noch dasselbe gütige Strahlen in die Welt, das sie gleich am ersten Tag bemerkt hatte, als er mit seinen Eltern in die Nachbarschaft gezogen war. Vielleicht machte er aber nur gute Miene zum bösen Spiel? Juli hatte keine Ahnung. Das Gespür dafür, was in ihren Mitmenschen vor sich ging, war ihr vor vielen Jahren abhandengekommen.

»Du findest, ich bin zu dick?«

»Du hast angefangen.« Fast fühlte es sich an wie früher. Vertraut. Unschuldig. Als wäre kaum Zeit vergangen, als wäre nie etwas passiert. Sie hatten einander ständig geärgert. Es war eines ihrer Spiele gewesen.

»Na ja, du bist aber auch wirklich viel schlanker als früher, sofern man das unter diesem Kittel beurteilen …« Er biss sich auf die Lippe, merkte selbst, dass er auf dünnes Eis geriet. »Es steht dir bestimmt, nur …«

»Nur was?«

»Nur hätte ich dich fast nicht erkannt.« Toks Augen baten Juli um Verzeihung. »Du warst das also bei der Sektion? Etwas kam mir im Hörsaal die ganze Zeit seltsam bekannt vor, aber ich …« Er begann zu grinsen, als hätte er gerade ein echt schwieriges Rätsel gelöst. »Passt irgendwie. Wie geht es dir?«

»Bestens.«

Er sah auf die Akte, die unter seinem Arm klemmte. »Ich muss leider dringend einen Anruf erledigen, aber –«

»Ich sollte auch besser zurück in den Hörsaal, die anderen werden sich schon wundern, wo ich bleibe.«

»Schade. Aber vielleicht können wir demnächst mal einen Kaffee trinken und über alte Zeiten reden?«

Juli versteifte sich, sah ihm zum ersten Mal in die Augen und ging ohne ein weiteres Wort davon.

Auf dem Friedhof ließ sich Juli ins Gras fallen, schob die Linke unter ihren Kopf und legte die Rechte an den rauen Sandstein, wo sie ganz automatisch nach der flachen Kuhle tastete, die sie über die Jahre mit dem Daumen eingeschliffen hatte. Ihr Herz raste, Bauch und Brust hoben und senkten sich flach und hektisch. Wie ein Reh vor dem Scheinwerferlicht war sie nach der Begegnung mit Ömer aus der Rechtsmedizin geflüchtet. Hatte alles stehen und liegen lassen und niemandem Bescheid gesagt. Sie musste sich beruhigen, sie musste tiefer atmen. Nachdenken. Vernünftig sein. Gedanken kontrollieren. Falsche Bilder identifizieren und aussortieren. Sie brauchte Präzision, nicht Emotion. Gewissheit, nicht Bauchgefühl. Sie wollte die Kontrolle zurück.

Das vor allem anderen.

Denn damals hatte sie die Kontrolle verloren.

DANACH.

Wut und Schmerz hatten sie aufgefressen. Wut auf alles und jeden. Dabei war es allein ihre Schuld gewesen.

Nur allmählich nahm ihre olfaktorische Wahrnehmung die Arbeit wieder auf, verjagte das sinnlose Hätte, Wenn und Aber, erfüllte endlich ihren Zweck. Juli roch die Feuchtigkeit, das sprießende Grün. Den Frühling. Nur auf dem Friedhof erlaubte sie sich, aus der Reihe der Unsichtbaren zu treten, aufzufallen. Weil sich unter den Blätterkronen der Ahornbäume ihr Kiefer entspannte, weil sie wenigstens für kurze Zeit loslassen konnte, wenn sie zwischen den Gräbern lag, ihr die Sonne über das Gesicht spazierte und die Vögel zwitscherten. Weil sich neben Blumen, schwarzer Erde und dem verzweifelten Festhalten und Erinnern niemand an Leuten wie Juli störte, weil man hier am ehesten verstand. Deshalb war sie als Teenager beinahe jeden Tag zum Nordfriedhof gekommen, genau wie die Frau, die kurz vor Torschluss am Grab ihres Kindes Schlaflieder sang.

Heute allerdings war Juli schon im Hörsaal aus der Reihe gefallen. Alles war durcheinandergeraten. Erst das Wiedersehen mit Ömer und dann die Begegnung mit ihrem Ebenbild am Sektionstisch. Juli sah die roten Haare vor sich. Sie tanzten vor ihren Augen wie Wäsche auf einer Leine im Wind.

Hatte sie sich am Ende alles nur eingebildet? Seit diesem … ja, Kollaps vor so vielen Jahren konnte sie sich nicht mehr zu hundert Prozent auf ihre Sinne verlassen. Manchmal vermischte sich die Wirklichkeit mit Bildern, von denen sie nicht wusste, ob es Erinnerungen oder Einbildungen waren. Ganz besonders, wenn sie es nicht wie sonst schaffte, Emotionen kategorisch aus ihrem Leben herauszuhalten.

Sie setzte sich auf und zog die Beine in den Schneidersitz. Konnte es wirklich sein, dass die Tote ihre Tochter war? In schwachen Momenten und dunklen Nächten hatte etwas in ihrem Inneren sich dieses Wiedersehen ungefragt in allen Farben ausgemalt. Es gab zig Versionen davon, aber keine im Hörsaal der Rechtsmedizin. Keine mit einem Autopsiemesser in Julis zitternder Hand. Keine mit einem viel zu frühen, noch dazu selbst gewählten Tod.

Bislang hatte Juli ohnehin angenommen, dass die Bilder von dem schmierigen Neugeborenen zur Sorte Einbildung gehörten, nicht Erinnerung. Hartnäckig hatte sie sie in diese Kategorie verschoben, sobald sie drohten sich im realen Leben zu manifestieren. Besonders in den Nächten, nach den schlimmen Träumen.

Stinkender Türke.

Und ausgerechnet am selben Tag tauchte er auf? War das Zufall?

Trotzig wie ein Kind wischte sie die aufsteigenden Tränen fort, klopfte Gras von ihrer Hose und bemerkte den Hund, der auf frisch angehäufter Erde am Grab gegenüber lag. Wie versteinert, der Kopf zwischen den langen Beinen, scheinbar völlig desinteressiert. Und doch folgten die Bernsteinaugen jeder von Julis Bewegungen.

War das derselbe Hund, der ihr im Hof der Rechtsmedizin das Erbrochene von den Galoschen geleckt hatte? Hatte sie ihn nicht gestern Abend am Grablichterautomaten das Bein heben sehen? Egal. Juli stand auf. Es gab eine recht pragmatische Lösung für ihr Problem. Sie konnte einfach so tun, als wäre nichts passiert.

Zwanzig Minuten später schnürte sie die Laufschuhe. Sie hatte nichts gegessen, nur Wasser getrunken. Viel davon. Um den Kopf von Unrat freizuschwemmen. Die große Laufrunde würde den Rest erledigen. Totale Erschöpfung löschte Gedankenstrudel, gebar klare Gedanken und noch wichtiger: Sie killte Schmerz. Das hatte Juli schon einmal das Leben gerettet.

Danach.

Von den alten Betonstufen vor dem Haus in der Osterwaldstraße, das Juli bereits als Dreijährige von ihrer zu früh verstorbenen Oma geerbt hatte, konnte sie das auffällige Protestbanner deutlich sehen: Rettet das Allianz Sportgelände! Anstelle des größten Breitensportvereins direkt am Englischen Garten sollte ein Premium-Fitnessclub entstehen. Weil sich die anfallenden Betriebskosten von siebenhundertfünfzigtausend Euro mit einem Jahresgewinn von elf Komma eins Milliarden nicht länger stemmen ließen! Sogar Juli regte sich darüber auf, obwohl sie sonst nie an öffentlichen Diskussionen teilnahm.

Wie meistens lief sie zwischen Schwabinger Bach und Oberstjägermeisterbach auf der Westseite am Kleinhesseloher See vorbei bis zur Eisbachwelle unterhalb der Prinzregentenstraße. Auf den glitschigen Planken am Flussufer standen die Neoprenanzüge Schlange, um endlich die berühmte stehende Welle zu surfen. Vor ein paar Jahren hatte Juli es auch ausprobiert, erst an der Floßlände wie alle Anfänger, doch das Drumherum war ihr zu redselig, die Leute zu kontaktfreudig gewesen. Beim Joggen fragte niemand nach deinem Namen, woher du kommst und was du so machst – vor allem, wenn man schnell genug unterwegs war.

An Tagen, da Juli die große Runde nötig hatte, lief sie von hier weiter bis zu den Stromschnellen kurz vor der A99. Doch heute konnte sie die Menschen, die entlang des Eisbaches in der Abendsonne ihre Decken ausbreiteten, nicht ertragen. Eindeutig zu viel nackte Haut für Anfang April. Deshalb verließ sie ihre übliche Route und überquerte auf der Max-Joseph-Brücke die Isar, um auf den schmalen Wegen des anderen Ufers etwas mehr Abgeschiedenheit zu suchen.

Herzogpark!

Wie aus dem Nichts tauchte die Adresszeile in Julis Hirn auf. Sie hatte die Fallakte vor der Hörsaalsektion nur kurz durchgeblättert, aber am prominenten Wohnort der Toten war sie dennoch hängen geblieben. Sie stoppte, verlor auf dem leicht abschüssigen sandigen Untergrund beinahe den Halt.

Poschingerstraße, Bogenhausen.

Ganz in der Nähe der teuersten Immobilie Münchens – zumindest war sie es 2015 gewesen. Damals hatte ein Investor aus dem Harz die aufwendig rekonstruierte Villa des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Thomas Mann gekauft. Juli erinnerte sich nur deshalb daran, weil der neue Eigentümer ausgerechnet Thomas Manns hieß und diese Kuriosität natürlich in allen Medien aufgetaucht war: Manns Villa wird Manns’ Villa. Juli sah die Schlagzeile vor sich. Sicherlich musste auch dessen Nachbar, ein gewisser Hanno Hallbach, wie Juli seit heute wusste, für die Immobilie direkt an der Isarpromenade ein Vermögen hingeblättert haben, und doch hatte sich dessen Tochter Eva gestern in ihrem Zimmer erhängt.

Herzogpark!

Die Ironie darin hatte Juli bislang übersehen. Das Haus lag Luftlinie keine drei Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Bestimmt einmal im Monat joggte sie dort die Straße entlang. Vielleicht waren sie einander über den Weg gelaufen? Vielleicht hatten sie einander in die Augen geblickt? Vor ihrer Haustür. Im Englischen Garten. An einem Zebrastreifen. Auf der Max-Joseph-Brücke? Vielleicht hatte Juli deshalb all die Jahre nach einem bekannten Gesicht Ausschau gehalten. Und jetzt? Diese räumliche Nähe brannte ihr wie Säure in den Augen. Auf der Haut. Überall.

So nah und doch Welten entfernt.

Juli verließ den Uferpfad, rannte die steile Böschung hoch, rutschte aus, schlug sich die Knie auf und wunderte sich über die Wohnanhänger entlang der Straße. Ein Stück weiter in nördliche Richtung musste es sein. Beim Queren des Weges übersah sie einen Radfahrer, kurze Zeit später kamen der markante, bauchige Erker und das Walmdach der Thomas-Mann-Villa zum Vorschein. Vom Nachbaranwesen waren hingegen nur die oberen hohen Fenster zu sehen, ein fast lückenloser Sichtschutz hielt allzu neugierige Blicke fern. Juli musste sich mit den Armen erst durch Äste und Zweige der dichten Hecke kämpfen, ehe sie einen Blick auf den Rest des Hauses erhaschen konnte. Wie hypnotisiert starrte sie zu den Balkonen hinauf, suchte nach Hinweisen, wollte wissen, hinter welcher Glastür oder welchem Fenster sich die Tochter des Hauses umgebracht, wo das Drama seinen Lauf genommen hatte.

Plötzlich spiegelte sich die Abendsonne in der Verglasung, und eine Frau trat auf den oberen Balkon. Juli konnte sie einigermaßen gut erkennen. Klein, rundlich, gut gekleidet, sehr gepflegt. Man sah ihr sogar aus der Entfernung an, dass sie ihr Leben in Wohlstand verbracht hatte. Jede Bewegung, jede Geste zeugte davon, auch wenn ihre Augen vom Weinen gerötet und die Haare durcheinander sein mochten. Natürlich! Da oben stand eine Mutter, die um ihr Kind trauerte.

Als der Blick der Frau in Richtung Juli schwenkte, ließ diese die Zweige los, duckte sich weg wie jemand, der Böses im Schilde führte, und kam sich auf einmal schäbig vor. Was machte sie hier? Belästigte sie gerade Menschen, die ihr Kind verloren hatten?

Stopp!

Mein Kind!

Meine Tochter?

Vielleicht.

Aber wie war sie hierhergekommen? Was war geschehen, sollten sich Julis Ahnungen bestätigen? Vorhin auf dem Friedhof war ihr die Gewissheit, die sie am Sektionstisch gespürt hatte, sehr schnell abhandengekommen. Zu schnell? Und jetzt? War es Zufall, dass sie hier entlanggelaufen war, oder …

Juli klatschte sich die flache Hand gegen die Stirn, ging zurück auf den Gehweg und überquerte die Straße. Sie musste die Kontrolle behalten. Unbedingt. Auf keinen Fall durfte –

»Hallo?«

Sie blieb stehen.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Die Wut zwischen den freundlichen Worten war nicht zu überhören. Aus den Augenwinkeln sah Juli einen Mann, der aus der Einfahrt des Grundstückes auf sie zukam. Langsam drehte sie den Kopf und erschrak, weil er … auch erschrak? Lange Sekunden starrten sie einander an, bis Hanno Hallbach sich räusperte und die Augen niederschlug.

»Wenn Sie von der Presse sind, dann –«

Juli winkte ab. »Presse? Nein. Ich wollte nur sehen, ob die Poschi wirklich tot ist.«

Ob die Poschi tot ist? Hatte sie das wirklich gesagt? Wie dämlich konnte man sein! Juli lag auf dem Sofa. Der Fernseher lief. Das tat er immer, der Stille wegen, auch wenn sie nie hinsah. Juli las. Sehr viel sogar. Dauernd nur laufen, im Boxclub schwitzen oder das baufällige Haus instand setzen ging nicht, und sie musste ihr Hirn und ihren Körper beschäftigen, sonst drifteten ihre Gedanken ab. In verbotene Zonen. Deshalb wusste Juli, dass die Mann-Villa von der Mann-Sippe liebevoll Poschi genannt worden war, weil die Adresse einst Poschingerstraße 1 lautete, nicht Thomas-Mann-Allee 10. Sie wusste auch, dass die Thomas-Mann-Verehrer dieser Welt gut beraten waren, nicht zur – dem alten Grundriss nachempfundenen – Rekonstruktion der einstigen Mann-Villa zu pilgern, weil der Zauber vergangener Zeiten verloren gegangen war und praktisch nichts daran erinnerte, dass Thomas Mann – glühender Gegner der Nazis – nach seinem Appell an die Vernunft im Berliner Beethoven-Saal nicht nur ins Exil fliehen musste, sondern ihm auch sein Haus enteignet wurde und es in den Jahren 1937 bis 1939 für Hitlers Rasseorganisation Lebensborn als Stätte zur Zeugung arischen Nachwuchses herhalten musste.

Juli war das egal. Es juckte sie nicht im Geringsten. Schlimme Dinge passierten. Überall auf der Welt. Dass die neue Poschi nun eine seelenlose Villa in Privatbesitz war – who cares? Jedenfalls strahlte das schmucke Eigenheim Wohlstand und Reichtum aus, ebenso wie das Nachbarhaus, das sogar noch einen Hauch exklusiver daherkam und sich den Namen Hallbach-Villa wie einen für Mut und Tapferkeit verliehenen Orden ans Revers heftete, obwohl allein der schnöde Mammon zur elitären Anrainerschaft verhalf.

Sollte die Tote wirklich Julis Tochter gewesen sein, hatte sie ein privilegiertes Leben geführt und war mit der Wärme einer Mutter aufgewachsen. Bestimmt hatte Eva Hallbach es gut gehabt, war geliebt und verwöhnt worden. Etwas, das ihr eine minderjährige Vollwaise mit Drogenproblem garantiert nie hätte geben können.

Eva Hallbach.

So hieß sie also?

Juli stand auf und machte den Fernseher aus. Im Kühlschrank fand sie nur eine abgelaufene Packung Milch. Auch in Schubläden und hinter Schranktüren entdeckte sie nichts als einen alten Müsliriegel. Sie zog die Verpackung ab und biss hinein. Irgendetwas musste sie essen, und ihre Gedanken waren ohnehin zu sehr mit Hanno Hallbach beschäftigt, als dass sie sich am faden Geschmack gestört hätte.

War er bei ihrem Anblick erschrocken? Weil er die Ähnlichkeit sah? Um sicherzugehen, hatte Juli ihn gegoogelt. Es gab keinen Zweifel, der Mann, der Juli vor der Hallbach-Villa angesprochen hatte, war der Vater der Toten.

Draußen auf dem Gang erinnerten Juli Bohrmaschine, Eimer und die Säcke mit Verputzmörtel daran, dass sie heute eigentlich mit den Wänden im Treppenhaus hatte anfangen wollen; alles lag bereit, der Untergrund war vorbereitet. Der Auftakt zur Schlussetappe sozusagen, denn vor über zehn Jahren war Juli in eine Ruine eingezogen, hatte seither Zimmer für Zimmer selbst renoviert. Nur Elektro- und Sanitärinstallationen und das Dach hatte sie machen lassen. Doch anstatt Wasser zu holen, stieg sie die Stufen hoch und blieb vor der Tür zum Dachboden stehen.

Seit Juli München den Rücken gekehrt hatte, um an der Präparatorenschule in Bochum anzuheuern, war sie nicht hier oben gewesen. Seitdem hatte sie diese Tür nicht geöffnet. Ihr altes Leben steckte dahinter, in einer Kiste und einem abgefuckten Rucksack.

Juli legte die Hand auf die Klinke und atmete tief. Der Mief des Vergangenen, der unter dem Türspalt hindurch bis in ihre Nase kroch, fühlte sich an wie ein Tritt gegen das Schienbein: Willst du das wirklich tun?

Durfte Juli erlauben, dass ihr mühsam auf Normalität getrimmtes Leben wegen einer irren Ahnung durcheinandergeriet? Dass das fragile Gleichgewicht ihres Daseins verloren ging und sie dort endete, wo sie vor sechzehn Jahren schon gewesen war und nie mehr landen wollte? Es wäre so leicht, alles von sich zu schieben – weit, weit weg. Darin war Juli gut. Doch eine Kleinigkeit sauste seit ihrer Begegnung mit Hallbach wie eine im Glas gefangene Fliege durch ihr Hirn: Privilegiert aufgewachsen und doch am Strick gelandet? Sosehr Juli es sich wünschte, das Bild von der heilen Welt funktionierte nicht.

Meine Tochter hat sich umgebracht.

Die Tür quietschte. An normalen Tagen hätte Juli kehrtgemacht, doch heute packte sie den Handlauf und stieg die steile Treppe bis zum Dach hoch. Direkt unter dem Giebel konnte sie gerade so aufrecht stehen. Von draußen fiel milchiges Mondlicht durch das Gaubenfenster. Juli entdeckte den Rucksack sofort zwischen der alten Kommode und den bemalten Milchkannen. An ihn heranzukommen war schwerer. Die Dachschräge zwang sie auf die Knie, und die Box mit den Fotoalben versperrte den Weg. Manche von den Bildern hingen wie Gemälde an den Wänden im Inneren ihres Kopfes. Um sie zu sehen, musste Juli kein Album aufschlagen, aber es gab andere, Erinnerungen, die sie verloren hatte. Auf ihrem Weg. Von dem sie annahm, dass es sich nicht lohnte, ihn zu gehen. Dennoch tat sie es. Jeden Tag. Weil die Eltern es so gewollt hätten. Aber das hatte Juli erst spät verstanden. Fast zu spät.

Mit dem Unterarm wischte sie den Staub fort, legte beide Hände an die dicke Pappe und schob die Kiste beiseite. Irgendwann würde sie die Bilder von der Zeit davor ansehen können, doch noch fehlte ihr die Kraft dazu. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was hätte sein können, griff stattdessen nach dem Rucksack und zerrte ihn unter das Gaubenfenster. Fast hätte sie ihn vergessen.

Bis heute Nachmittag im Hörsaal.

Sie öffnete den Clipverschluss und zog die Kordel auseinander. Ganz oben lagen die alte Lederjacke mit den Aufnähern und die gebleichte Jeans. Darunter eine leere Bierdose, ein T-Shirt, eine Rolle Alufolie …

Juli wurde der Mund trocken, das Schlucken fiel ihr auf einmal schwer. Zu Hause benutzte sie längst keine Alufolie mehr. Schnell kramte sie weiter, krallte sich an abgerissenen Zigarettenfiltern, Kaugummipapier und all dem anderen Zeug fest, das sie an jenem Tag mit sich herumgetragen hatte. Völlig weggetreten. Absolut orientierungslos. Ohne Kontrolle.

Am Boden des Rucksacks spürte Juli Sand, mehr Müll, einen fetten Textmarker, Kulis, Münzen. Auch Bonbons. Ein kleiner Beutel wanderte durch ihre Finger, darin hatte sie immer das Kleingeld und den Tabak aufbewahrt. Für die Scheine und den Stoff dagegen war das von einem Abnäher verdeckte Reißverschlussfach an der Rückseite reserviert gewesen. Auf der Straße musste man aufpassen, das hatte Juli damals schnell kapiert.

Als sie die Stelle fand, begann ihr Herz wie eine Faust hart von innen gegen ihren Brustkorb zu donnern. Ein Zwanziger hatte sich im Schlitten eingeklemmt, Juli rutschte etliche Male ab, ehe der Schein zerriss und sie den Reißverschluss öffnen konnte. Ein Zehner und eine Plombe kamen zum Vorschein. Sie ließ sie in dem Moment fallen, da sie erkannte, was es war, doch noch bevor das in Plastikfolie eingedrehte Pulver den Boden berührte, erwachte der Nucleus accumbens in ihrem Gehirn. Juli kannte die Begrifflichkeit, hatte sich damit auseinandergesetzt – beruflich wie privat. Sie wusste, dass nicht nur bei aktuell Drogenabhängigen, sondern auch bei Leuten, die ewig nichts genommen hatten, dieses Areal im Hirnscanner zu leuchten begann wie eine Flutlichtanlage, wenn die Droge nur angeboten wurde. Die Abhängigen selbst nannten dieses Phänomen schlicht Suchtdruck. Deshalb machte Juli bis zur völligen Erschöpfung Sport, um ihr körpereigenes Belohnungssystem umzupolen.

Sie schloss die Augen, atmete tief, dachte an die Runden im Englischen Garten, an die Stunden im Boxclub. An die Kämpfe. An Schweiß und Anstrengung. Sie war nicht wegen des Stoffs den Dachboden hochgestiegen, sie suchte etwas anderes. Dabei wusste sie nicht mit Sicherheit, ob sie das Ding wirklich monatelang mit sich herumgetragen und wie ihren Augapfel gehütet hatte.

Juli steckte das Heroin und die Scheine in ihren Sport-BH und schob die Finger zurück in das Reißverschlussfach. Beinahe sofort spürte sie das Papier. Kein Geld, nicht von einem Kaugummi, ganz sicher nicht das Plastik einer Tüte. Sie zog daran, brachte das vielleicht einzige Indiz, dass es den schmierigen kleinen Säugling zwischen ihren Beinen wirklich gegeben hatte, endlich ans Licht und legte es auf ihre flache Hand.

Die Buchstaben und Ziffern verschwammen vor ihren Augen, viel zu langsam kamen Farben und Kontraste zurück. Hauptbahnhof, stand da. HIERENTWERTEN, las sie. Juli war immer schwarzgefahren. Schon aus Prinzip. Nur an diesem einen Tag hatte sie ein Ticket gezogen, sie erinnerte sich genau. Weil ihr Bauch so wehtat, weil sie kaum noch gehen konnte, weil ihr Zuhause längst keines mehr war. Weil sie einfach in der U-Bahn sitzen wollte, ohne Angst haben zu müssen, erwischt zu werden. Weil sie keine Kraft gehabt hätte, die Abteile im Auge zu behalten und sich davonzumachen, sollte ein Fahrkartenkontrolleur auftauchen. Juli hatte sich ein MVV-Tagesticket gekauft. Am 19. August um fünfzehn Uhr eins.

zwei jahre, sechs monate und sechs tage DANACH

Die Folie verschließt alle Poren, hindert Juli am Atmen. Sie zerrt daran, pult, fingert wie wild und wird panisch. Menschen fliegen an ihr vorbei wie in diesen Mysteryserien. Gerade Vergangenes mischt sich mit Neuem, fließt ineinander, zerfällt, nur um von anderen Farben und Formen abgelöst zu werden. Schnell. Immer schneller. Juli zupft und zerrt, kratzt seit einer Ewigkeit und richtet rein gar nichts aus. Das Rauschen in ihren Ohren frisst alles auf. Doch sie weiß natürlich, dass die Räder der einfahrenden Züge die Worte der Manager in ihren Anzügen zerquetschen, dass die Lüftungen arbeiten, dass die Kinder an den Händen ihrer Mütter quengeln. Juli sieht die Absätze so vieler Schuhe auf den Boden klacken, nur hören kann sie sie nicht. Die Scheiß-Folie klebt zu fest an Hals und Kopf und Körper. Die warme glitschige Haut in ihren Händen spürt sie trotzdem.

Ein Baby.

Die Luftblase platzt. Der Lärm kommt zurück. Feuchtigkeit kriecht durch die Unterhose ihre Beine hinab. Sie atmet und beugt sich nach vorn, tastet. Die Jeans ist fleckig, immer schon. Juli kann nichts Verdächtiges entdecken. Jemand rempelt sie an, hebt ihretwegen genervt die Hände und reißt die Augen auf. Eigentlich meiden die Blicke der Vorübereilenden den abgefuckten Teenager, und wenn sie sich doch verirren, hasten sie über ihn hinweg, als wären sie in Hundescheiße geraten. Juli kennt das. Es ist ihr egal.

Meistens.

Ist es wirklich passiert?

Sie hätte es doch bemerkt. Wenn sie an die Fotos von ihrer Mama denkt und den riesigen Bauch … Sie legt die Hände auf ihren eigenen.

»Was ist?«

Juli erschrickt, dreht sich um. Ein finsterer Kerl steht vor ihr, die Fäuste in den Jackentaschen.

»Hast du Problem?«

Sie schüttelt den Kopf. Kennt sie ihn? Als hätte er jedes Recht dazu, quetscht er sich in ihre Augen, forscht, tastet sogar mit beiden Händen über ihre schäbige Lederjacke und das zerschlissene T-Shirt bis zu ihrem Hosenbund. Juli steht stocksteif da, meint sich zu erinnern. Ihr läuft eine Gänsehaut den Rücken hinunter.

Ist er ein Bulle? In Zivil?

Sie denkt an den Rucksack, der auf ihrem Rücken hängt, an das Gras, das sie gestern gekauft hat. An das entsorgte Baby.

»Hast du Problem, ey?«, fragen die grauen Augen drängender, Lippen bewegen sich. »Brauchst du was?«

Juli reagiert nicht, lässt zu, dass er ihre Linke greift, etwas hineindrückt. Dann verschwindet er. Sie ist froh, er macht ihr Angst. Es dauert eine Ewigkeit, bis sich ihre Finger entspannen, sie die Hand öffnet und die Plombe ansieht.

Heroin? Kokain?

Wieso? Sie raucht nur Gras. Zu viel davon. Egal. Sie hat andere Sorgen.

Ein Baby? Ein Baby!

Von einer Sekunde auf die nächste löst sich die Starre auf, Juli dreht sich im Kreis, stopft die kleine Plastikkugel in ihre Jeans und läuft los. Das Stechen hinter ihrem Schambein lässt sie aufschreien, sie bremst, holt Luft, geht weiter. Langsamer diesmal. Sie muss zurück. Sie kann das winzige Mädchen nicht auf der Toilette zurücklassen wie Müll. Sie muss es holen. Es wärmen. Es füttern. Vielleicht ist sie dann weniger allein.

Ihre kleinen Brüste kribbeln, Juli denkt an die Drogen. An den Schnaps. Die möglichen Folgen. Ihr wird schlecht, sie stolpert, stützt sich einen Moment mit den Händen auf ihren Knien ab.

Verdammt! Ein Baby.

In welche Richtung muss sie überhaupt? Hier entlang? Oder doch da drüben? In ihrer Panik hat sie nicht darauf geachtet, wo sie hingelaufen ist. Juli lugt um Ecken, fährt mit der Rolltreppe nach unten, nur um gleich wieder hochzufahren. Dann endlich! Da muss es sein. Sie beißt die Zähne zusammen, rennt wieder, packt den runden Edelstahlknopf, drückt erst, zieht dann. Der Geruch nach Pisse steigt ihr in die Nase. Alles ist still. Kein Wimmern. Kein mühsames Atmen wie vorhin. Juli sucht den Lichtschalter. Die Neonröhren flackern träge und leuchten dennoch jede Ecke aus.

Nichts.

Kein Neugeborenes. Kein Blut. Kein verschmiertes Toilettenpapier. Damit hat Juli sich abgewischt. Darauf hat sie das Kind gelegt. Sie dreht sich im Kreis. Wieder und wieder. Gut, der Boden ist schmutzig, alles ist versifft, die Fliesen an der Wand sind klebrig, sie glänzen kaum. Bestimmt ist jemand hier gewesen. Bestimmt kümmern sich gerade Leute. Leute, die etwas davon verstehen.

Wenigstens das.

Juli ist erleichtert. Und entsetzt. Sie fällt in die Hocke, presst die Hände auf den Bauch, spürt etwas herausgleiten. Schnell schleppt sie sich zur Kloschüssel, zieht die Hose hinunter. Ein Klumpen platscht ins Wasser, sie sieht Blut an den Fingern. Keins, das aus Adern fließt. Nichts, was sie kennt. Sie hat noch nie geblutet. Nicht zwischen den Beinen.

Ist es das?

Ihre Gedanken hetzen zurück zu jenem Tag, da sie zum ersten Mal Bong geraucht hat. Sie denkt an das Herzrasen, an die Todesangst, das Verfolgtwerden, an die Zeitlupe, bevor die Autos auf sie zurasten und sie plattmachten. Es war genauso real gewesen wie …

Ist alles nur Einbildung? Halluzination?

Juli tastet nach der Rolle, sie muss sich abwischen, doch das Papier ist alle. Nichts mehr da. Sie geht zum Waschbecken, ihre Jeans hängt zwischen den Knien, ihr Magen krampft, sie übergibt sich. Draußen klopft jemand. »Beeil dich gefälligst!«, dringt es durch die schwere Tür. Der Wasserhahn quietscht, Juli hält das Gesicht unter den Strahl, spült den Mund aus, sucht gleichzeitig ihre Taschen nach einem Tempo ab, das sie als Einlage in ihre Unterhose legen kann, und findet stattdessen …

… das Ticket!

Hitze flutet ihren Kopf, sie schnellt hoch, blickt in ihr Spiegelbild, das sich im gebürsteten Stahl verzerrt. Das Innenraum-Tagesticket lag direkt neben dem Baby auf dem Boden. In Blut und Wasser. Juli weiß es genau, sie hat es nur deshalb aufgehoben, weil sie einfach die Tür hinter sich zumachen und zurück in die U- und S-Bahnen der Stadt fliehen wollte. Um alles ungeschehen zu machen.

Um zu schlafen.

Um zu vergessen.

Wie Feuer brennt das kleine Stück Papier nun zwischen ihren Fingern, sie lässt los, sieht zu, wie es den Waschbeckenrand streift und auf den Boden fällt. Und während Juli die Hose hochzieht, Reißverschluss und Knopf schließt, starrt sie auf die fast unsichtbare rote Spur, die auf dem Stahl zurückgeblieben ist.

Sonst nichts.

Julis Hände zitterten, als sie den Lichtschalter drückte und darauf wartete, dass sich die kaltweiße Helligkeit im Raum verteilte. Niemand aus der Nachbarschaft würde sich wundern, dass so spät nachts in der Rechtsmedizin Licht brannte. Ein Bereitschaftsarzt war außerhalb der Dienstzeiten ohnehin immer da, die Kameras an den Eingängen zeichneten rund um die Uhr auf, fast alle Lichter reagierten auf Bewegung, und an jeder Tür konnte man auslesen, wer sie wann geöffnet hatte. Deshalb war Juli drei Mal vor dem Eingang zum Hof umgekehrt, ehe das Licht anging. Deshalb hatte sie die Schlüssel wieder im Rucksack verstaut und war entschlossen auf ihr Rad gesprungen. Weil sie nicht wollte, dass ihr jemand Fragen stellte.

Und doch stand sie nun hier.

Das Licht knisterte in der Stille, rührte nicht an der Kälte und kümmerte den Tod nicht, die zusammen einträchtig den Raum beherrschten. Rotes Haar flatterte durch Julis Gedanken, blasse Haut blendete sie. Vielleicht kam sie zu spät. Normalerweise wurden die Leichen nach Freigabe sofort abgeholt oder wieder mitgenommen. Erst recht die aus München. Oder würden ab morgen Kühlfachgebühren fällig werden?

Mit dem Handrücken holte sie eisige Nässe von ihrer Stirn, überflog die Namen neben den großen schwarzen Ziffern an den Kühlzellen zu ihrer Rechten. Hier lagen die Leichen, die bereits obduziert oder ohne Obduktion freigegangen waren.

Hallbach. F 11.04.

Neben der Eins.

Sie war also noch da.

Meine Tochter.

Wenigstens hatte sie die Kühlzelle für sich allein, die drei anderen Ebenen waren leer. Ein kleiner Trost. Auf Zehenspitzen tastete Juli sich voran, holte ihren Schlüssel aus dem Rucksack, steckte ihn ins Schloss, tippte mit der Rechten den hellgrauen Plastikgriff an, der sofort nach unten fiel, als sie den Schlüssel drehte. Es brauchte kaum Kraft, um die schwere Tür zu öffnen. Ein etwas größerer Kühlschrank. Ein leises Ploppen der Dichtung. Mehr nicht.

Juli starrte auf den Bergesack. So viele Nächte hatte sie geträumt. Lila Träume. Aber es war kein duftiges, leichtes Lila, kein Pastell, überhaupt nichts Poetisches. Ihr Lila war wie Atemnot. Und das ausgerechnet jetzt.

Weil Juli-Träume lila sind. Deshalb.