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Wenn die Hamburger Grafikerin Nova Sarri nach Inspirationen für ihre Buchcover sucht, denkt sie an die Farben in Lappland. Früher hat sie dort jede Ferien bei ihrem Vater Juhan und seiner neuen Familie verbracht. Es sind ihre schönsten Kindheitserinnerungen: ihr Vater, dem sie bei der Pflege der Rentiere helfen durfte, ihre »Bonusmama« Kristin, die warme Mützen für sie strickte, und Kaspar, ihr körperlich beeinträchtigter Stiefbruder, der sich im Schlitten dicht an sie schmiegte. Dass mit dem Tod ihres Vaters auch der Kontakt zum Rest der Familie abbrach, ist für Nova bis heute schwer zu verkraften. Weder von Kristin noch von Kaspar hat sie je wieder gehört. Als ein Brief aus Nordschweden Nova zur Testamentseröffnung ihres Vaters einbestellt, glaubt sie an eine Verwechslung. Schließlich ist Juhan nicht vor zwei Wochen gestorben, wie der Notar behauptet, sondern vor mehr als zwanzig Jahren. Nova macht sich auf den Weg nach Nordschweden. Eine Reise, die ihr Leben von Grund auf verändert.
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2024
Hiltrud Baier
Roman
Oktopus
Blir inte borta för länge, mitt barn
dina renar försvinner.
Vem ser om din vaja fött kalv?
Du talar ej längre vårt mjuka språk.
Vara seder blir främmande för dig.
Men än brinner elden på aernie i kåtan
än samlas renar till gärdet vid snön
stigen dit finner du än, mitt barn.
Bleib nicht zu lange fort, mein Kind,
deine Rentiere ziehen weg.
Wer bemerkt, wenn dein Rentier ein Kälbchen bekommt?
Du sprichst nicht mehr unsere sanfte Sprache.
Unsere Kultur wird fremd für dich.
Aber noch brennt das Feuer in der Kote,
die Rentiere sammeln sich immer noch am Schneezaun,
den Weg dorthin wirst du finden, mein Kind.
Martha Jåma
Aus: Vårt Liv – samiska dikter
Same Ätnam, Kulturutskottet, Arvidsjaure 1991.
November. Nova liebte diesen Monat. Die Tage wurden kürzer, die Temperaturen fielen, und seit Anfang der Woche zog morgens von der Elbe Nebel auf. Die hektische Sommerwelt verschwand allmählich in einem Schleier aus Stille und Ruhe.
Nova schaute auf das Außenthermometer. Fünf Grad. Ein Windstoß blies die letzten bunten Blätter von den beiden Ahornbäumen, die vor ihrem Fenster wuchsen. Sie fielen auf den kurz geschnittenen Rasen. Gelbe, orange und rote Flecken auf verwaschenem Grün. Bald würden die Farben verblassen und die grellen Punkte sich in bräunlich-graue verwandeln.
»Unschön«, würde Novas Vermieterin sagen. Sie würde, wie im vergangenen Jahr, die Blätter mit Schwung zusammenrechen und in einen großen Müllsack stopfen. Schon oft hatte sie gedroht, die beiden Ahornbäume fällen zu lassen. Sie nähmen zu viel Licht weg. Andere Mieter hätten sich beschwert. Zudem würden die Blätter Arbeit machen. Aber Nova hatte die Frau überzeugen können, dass Bäume durchaus wichtig für die Umwelt waren. Ihre Vermieterin hatte vor sich hin gegrummelt und den Plastikmüllsack mit den Blättern in die Mülltonne gestopft. Gut, dass die Frau nicht im Haus wohnte und nur ab und zu vorbeikam.
Nova öffnete das Fenster zum Garten. Kalter Nordwind blies ihre dunkelbraunen schulterlangen Haare durcheinander. Sie atmete die frische Luft ein und bemerkte, wie ein paar Ausdrucke von ihrem Schreibtisch auf den Boden fielen. Ihre ersten Versuche für einen neuen Buchumschlag. Ein Sachbuch über Balkongärten in der Stadt. Bis Ende der Woche müsse der Entwurf fertig sein, hatte Lydia gesagt. Der Verlag, mit dem Lydias Agentur seit einiger Zeit zusammenarbeitete, wolle den Titel vorziehen und brauche den Umschlag so schnell wie möglich. Doch sosehr Nova sich auch den Kopf zerbrach, ihr kam keine passende Idee. All ihre bisherigen Versuche waren Mist. Sie hatte den Kunden getroffen, um seine Vorstellungen zu erfahren, hatte ein neues Grafik-Programm ausprobiert und sich mit einer früheren Studienkollegin beraten, die schon viele Gartenbücher illustriert hatte. Aber keiner ihrer Vorschläge hatte Novas Kreativität angeregt. Am Wochenende hatte sie Leo sogar in den Botanischen Garten in Hamburg geschleppt, obwohl ihr Freund sich nach der stressigen Arbeitswoche lieber auf dem Sofa ausgeruht hätte. Sie brauchte weitere Farben um sich herum, allein die Ahornblätter genügten nicht. Vielleicht würde ihr dann ein Geistesblitz kommen, hoffte sie. Aber sie wartete vergebens darauf. Nova hatte das Gefühl, die Farben in den Gewächshäusern und die draußen in der Natur erreichten weder ihr Herz noch ihren Verstand.
Sie schloss das Fenster, warf die Ausdrucke in den Papierkorb und setzte sich an den Computer. Sie musste von Neuem beginnen.
Drei Tage in der Woche arbeitete Nova von zu Hause aus. An den anderen beiden fuhr sie mit der S-Bahn von Wedel nach Hamburg Stadtmitte in die Werbeagentur. Lydia brauchte Gesellschaft bei der Arbeit und wünschte, dass immer eine ihrer Mitarbeiterinnen im Büro arbeitete. Aber Nova konnte sich am besten konzentrieren, wenn sie alleine war, niemand redete, das Handy ausgeschaltet blieb und leise Musik im Hintergrund lief. Sie hoffte, dass sie ihren Entwurf am Abend fertig hätte, dann könnte sie ihn morgen in der Agentur mit Lydia besprechen.
Nova startete ihren Computer, starrte auf die geöffneten Dateien, doch ihr Blick floh immer wieder zu den kahlen Ahornbäumen, deren Äste wie lange, dürre Arme in den Himmel ragten. Einer davon wuchs um ein Haar in ihr Fenster, als wolle er nach ihr greifen. Sollte sie …
Nova stand auf, schnappte sich Handy, Jacke und Wollmütze, schlüpfte in ihre Schuhe und schloss die Wohnungstür hinter sich. Leichtfüßig sprang sie die Treppe hinunter und ließ gleich darauf die Haustür zufallen.
Mit großen Schritten lief Nova die Häuserzeilen Wedels entlang Richtung Elbe und Strandbad. Der im Sommer ständig überfüllte Parkplatz war heute fast leer. Sie seufzte erleichtert. Bei diesem Wetter verzogen sich die meisten Menschen in ihre Häuser und Wohnungen. Wind und Kälte passten für sie nicht zu Wasser und Sandstrand. Novas beste Freundin Laura ging bei so einem Wetter nur raus, wenn sie keine Zigaretten mehr hatte oder der Kaffee ausgegangen war. Und Leo? Er würde mitgehen, aber nur Nova zuliebe. Leo bevorzugte wie Laura Sonne und Wärme und sehnte sich im Winter nach Korsika, wo sie schon mehrmals zusammen ihren Urlaub verbracht hatten.
Nova lief die kleine Böschung hinauf und rannte über die Wiese, vorbei an einer verlassenen Grillstelle, wo halb abgebranntes Holz lag, und weiter durch Gestrüpp. Gleich darauf stand sie am menschenleeren Strand. Ihre braunen Boots sanken langsam im feuchten Sand ein. Nova steckte die Hände in die Jackentasche, ließ sich den frischen Nordwind um die Nase wehen und beobachtete die Wellen, die gegen den Strand schlugen.
Wie lang dieser Sandstrand war! Nicht zu vergleichen mit dem kleinen Strand in Ålloluokta in Schwedisch-Lappland, dem Strand ihrer Kindheit.
Nur an wenigen Tagen im Sommer lud dort das Wetter zum Baden ein. Kaspar, Novas Halbbruder, und sie spielten mit Eimer und Schaufel. Nova schöpfte Wasser aus dem Fluss, schüttete es in das Loch, das Kaspar gebuddelt hatte, und freute sich, wenn er aufschrie, weil er kalte Wasserspritzer abbekommen hatte.
Im Herbst besuchte sie dort oft ihren Vater Juhan und Kristin, dessen Frau. Dann war der Sandstrand meist schon gefroren oder unter der ersten Schneeschicht verschwunden. Sand und Kälte gehörten zu Novas Kindheit wie knirschender Schnee und eiskalte klare Luft.
Wie herrlich es war, wenn dort im Oktober der erste Schnee fiel und sich auf die feinen Sandkörner legte! Der Sand bekam kleine Flecken, zuerst dunkle, weil die Schneeflocken schnell wieder schmolzen. Dann weiße, wenn es kälter wurde, und schließlich war der grau-beige Sandstrand von schneeweißer Watte überzogen. Ein Wunder für Nova, die genau wie ihr Vater Farben liebte. Stundenlang beobachtete sie die fallenden Schneeflocken und sah dabei zu, wie sich die Schattierungen des Sandbodens veränderten. Bis ihr Vater das Fenster der Blockhütte öffnete und ihr zurief, sie solle hereinkommen und sich aufwärmen. Aber ihr war nicht kalt. Sie bewegte sich ständig, breitete die Arme aus und fing mit der Zunge die zarten Flocken. Meist gelang es ihr, und wenn nicht, versuchte sie es von Neuem und vergaß völlig, dass Juhan sie gerufen hatte.
Nova meinte die schmelzenden Flocken in ihrem Mund zu schmecken. Weit entfernt stapfte eine dunkel gekleidete Gestalt am Strand entlang. Vielleicht jemand wie sie, der die Einsamkeit liebte und den weichen warmen Sand des Sommers gerne gegen den feucht-grauen des Novembers eintauschte. Sie lief nahe am Wasser und beobachtete die dunklen Wellen, die sich vom Wind getrieben auf dem Sandstrand verloren. Das Rauschen der Elbe erinnerte sie jedes Mal an das Stora Lulevatten, den großen Lule-Fluss, an dem der Sandstrand ihrer Kindheit lag. Hatte sie sich deshalb bisher nicht entschließen können, zu Leo nach Altona zu ziehen? Nova liebte den Strand, das Wasser, und noch mehr liebte sie die Erinnerung an die Farben ihrer Kindheit.
Nova rannte los, durch den feuchten Sand, sie spurtete, wollte dieselbe eiskalte Luft spüren, die ihr damals, als sie zum ersten Mal vorne mit ihrem Vater auf dem Schneemobil sitzen durfte, fast den Atem geraubt hätte. Sie rannte, hundert, zweihundert Meter, sank ein, kämpfte sich weiter und blieb schwer atmend am Ufer der Elbe stehen.
Fast dreißig Jahre zuvor
Nova konnte es kaum erwarten. Bisher hatte sie immer zusammen mit Kristin und Kaspar hinten im Schlitten gesessen, wenn sie zum Eisfischen auf den zugefrorenen See fuhren oder in den Wald, um die Rentiere zu füttern. Dann saß sie mit Kristin, Papas Frau, und Kaspar auf den getrockneten Rentierfellen, mit denen Papa den Schlitten ausgelegt hatte, damit es ihnen beim Fahren nicht kalt wurde. Gemütlich war das auf den Fellen. Kuschelig warm am Körper, nur auf den Wangen spürte Nova die Kälte des Fahrtwinds. Sie mochte es, wenn der Wind um ihre Ledermütze mit dem molligen Innenfell blies. Zu Weihnachten hatte Kristin ihr die neue Mütze geschenkt. Ihre Bonusmama, wie Nova Kristin nannte, hatte sie selbst gefertigt, aus gegerbtem Rentierleder und dem weichen Fell eines Rentierkalbs. Manchmal hatte Nova das Gefühl, sie bekäme keine Luft, so kalt war es während der Fahrt im Schlitten. Dann rückte sie etwas näher an Kristin und Kaspar heran und legte die Arme um Sippo, den schwarzen Hütehund, der sie immer begleitete. Sie schloss Augen und Mund, schmiegte den Kopf an Sippos weiches Fell und bemerkte die kleinen Eiskristalle, die in der Luft schwirrten und sich auf ihre Wimpern legten. Kaspar bekam immer ein extra Rentierfell um die Beine, damit er nicht fror. Aber Nova war nie kalt.
Und Nova war auch schon groß. Im April würde sie sechs Jahre alt werden. Heute durfte sie zum ersten Mal vorne auf dem Schneemobil sitzen.
Kristin hatte es sich mit Kaspar hinten im Schlitten bequem gemacht.
Sippo sprang zu den beiden und setzte sich aufs Fell.
»Nova! Es geht los!« Mit seinen dicken Schneehandschuhen klopfte Papa auf die Sitzfläche vor sich. Nova stieg auf und stellte die Füße auf die beiden Stege, die er extra angefertigt hatte, damit ihre Beine bei der Fahrt nicht in der Luft baumelten.
»Halte dich hier fest«, sagte Papa und deutete auf den Lenker.
Mit den Fäustlingen umschloss sie das Metall.
»Und mit dem Rücken lehnst du dich an mich.«
Nova nickte und ließ sich zurück auf Papas breiten Brustkorb fallen. Papa war groß und stark wie ein Bär. Sie drückte sich fest an ihn. Er drehte sich um. »Alles klar bei euch?« Nova hörte Kristins und Kaspars helle Stimmen »Ja!« rufen. Papa startete den Motor, fuhr langsam an, und dann glitten sie durch den verwunschenen Winterwald.
Dick mit Schnee behangene Birkenzweige beugten sich zu Nova herunter. Sie sahen aus wie die langen Arme von Riesen, die nach ihr zu greifen versuchten. Aber Papa schaffte es immer, den schneeweißen Ästen auszuweichen. Er fuhr vorsichtig, damit Kristin und Kaspar hinten im Schlitten nicht durchgeschüttelt wurden und die Riesen nicht nach ihr griffen.
Sie fuhren durch den tief verschneiten Kiefern- und Fichtenwald. Nur ab und zu zeigten sich dazwischen Birken. Papa düste auf der breiten Schneemobilspur. Doch jetzt wurde der Weg schmaler, und Nova duckte sich. Aber nur einmal streifte ein Birkenast Arm und Kopf, und weicher Pulverschnee stob ihr ins Gesicht. Sie kicherte und schmeckte die kleinen Eiskristalle auf der Zunge.
»Alles in Ordnung?«, rief Papa ihr über die Schulter durch den Lärm des Motors hindurch zu.
Sie nickte und wischte sich mit dem dicken Handschuh über das Gesicht.
»Wir sind gleich da!«, rief Papa.
Schade, dachte Nova. Sie wäre gern länger durch den Schnee gefahren. Aber das Rentiergehege, in dem Papa kranke und schwache Tiere fütterte, war nicht weit von ihrer Hütte in Ålloluokta entfernt.
Papa parkte das Schneemobil vor dem Eingang des Geheges. Nova stieg vom Motorschlitten, klopfte den Schnee von ihrem dick wattierten Overall und öffnete das Gatter. Wenn Nova sich auf die Zehenspitzen stellte, reichten ihre Finger genau an den Holzpflock, mit dem sie das Gatter öffnen und schließen konnte. Die Rentiere standen weit hinten im Gehege, aber als sie Nova und die anderen bemerkten, trotteten sie näher. Sie wussten, wenn sie mit dem Schneemobil kamen, gab es etwas zu fressen.
»Nova, mach hinter dir zu! Nicht, dass die Rentiere ausbüchsen!«, rief Papa.
Nova rannte zurück, legte den Holzklotz um und beobachtete, wie Papa Kaspar aus dem Schlitten half. Ihr zwei Jahre jüngerer Halbbruder konnte sich nicht gut bewegen. Sein linker Arm und das linke Bein funktionierten nicht wie bei ihr. Das war schon immer so gewesen. Kaspar war so auf die Welt gekommen. Nova war jedes Mal schneller, wenn sie rannten, nicht nur weil sie älter und größer war als Kaspar. Dafür konnte Kaspar, als er vier Jahre alt war, schon seinen Namen schreiben.
In einem Unterstand lagen Säcke mit Bartflechten, die Papa und sie im Herbst zusammen im Wald gesammelt hatten. Wenn die Herbstwinde kamen, fielen die Flechten von den Nadelbäumen, und Nova sammelte sie vom Waldboden auf. Oder Papa holte sie mit einer langen Stange von den Bäumen herunter. Er rüttelte an ihnen, und, schwups, flogen die Flechten von den Kiefern und Fichten, und Nova stopfte sie in den Jutesack. Nova schnappte sich einen der Säcke. Er war leicht. Flechten wogen fast nichts. Sie öffnete ihn und holte eine Handvoll heraus. Langsam kamen die Rentiere, die bisher weit hinten am Zaun geblieben waren, angetrabt. Zwei von ihnen waren sehr klein.
»Die sind letztes Jahr im Mai geboren«, hatte Papa vor ein paar Tagen gesagt, als Nova angekommen war. Sie hatte Ferien von der Vorschule in Stockholm und durfte zwei lange Wochen bei Papa, Kristin und Kaspar bleiben. »Wir müssen die Rentierkälbchen aufpäppeln. Sie haben den Sommer und Herbst über zu wenig gefressen. Schau, wie mager sie sind.«
Die beiden bekamen von ihr immer zuerst zu fressen. Langsam ging Nova auf eines der kleinen Rentierkälbchen zu. Es hatte dunkelbraunes Fell mit einem weißen Streifen an Bauch und Nase und warme braune Augen. Nova streckte ihm die Flechten entgegen. Das Kälbchen zögerte, aber dann fraß es Nova aus der Hand, und gleich darauf auch das zweite.
»Gut machst du das«, sagte Papa, der inzwischen mit Kristin und Kaspar ins Gehege gekommen war.
»Ich will auch füttern.« Erwartungsvoll stand Kaspar neben ihr.
Nova holte ein paar Flechten aus dem Sack und drückte sie ihm in die Hand. Er zögerte, aber sie hielt seinen Ärmel fest. Er streckte seine kleinen Finger zum Rentier, es fraß, und Kaspar strahlte.
Kristin und Papa machten sich an einem großen Sack zu schaffen. Das war getrocknetes Futter. Sie leerten die Pellets in einen lang gezogenen Trog. Die älteren Rentiere kamen sofort angetrabt und stupsten sich immer wieder gegenseitig weg, bis sie friedlich nebeneinanderstanden und fraßen.
Nova und Kaspar durften den ganzen Sack Flechten verfüttern.
»Das schmeckt ihnen wie euch Süßigkeiten«, sagte Kristin und strich dem dunkelbraunen Rentier über das Fell. Sie holte den Rucksack, den sie zu Hause gepackt hatte, legte ein großes getrocknetes Rentierfell auf den Schnee und setzte sich darauf. »Kommt.« Sie deutete auf das Fell. »Es ist kalt, ihr müsst etwas Warmes trinken. Und Hunger habt ihr sicher auch.«
Kaspar ließ sich neben seiner Mutter nieder. Unschlüssig setzte Nova sich dazu. Sie hätte lieber mit Papa zusammen den Zaun kontrolliert. Er ging ihn jedes Mal ab, wenn sie im Gehege waren. Der Zaun durfte kein Loch haben, sonst würden die Rentiere wegrennen, zu den anderen, die frei im Wald herumliefen.
»Ich komme gleich!«, rief Papa ihnen zu und ging am Zaun entlang, immer einen Blick auf das hellrote Tuch gerichtet, das an dicken Holzpflöcken fixiert war.
Kristin griff nach der Thermoskanne, füllte Kaspars und Novas Becher mit heißer Schokolade, öffnete eine Plastikbox mit selbst gebackenen Zimtschnecken und hielt sie den beiden vor die Nasen. »Na?« Sie lächelte aufmunternd.
Kaspar war eine Naschkatze und griff sofort zu. Auch Nova liebte Kristins Gebäck und nahm sich, nachdem sie die erste Zimtschnecke verschlungen hatte, eine zweite. Mama konnte keine so leckeren Zimtschnecken backen. Einmal hatte sie ihre Mutter darum gebeten, aber sie hatte nur geantwortet: »Ich bin keine Schwedin. Wo ich herkomme, gibt’s Brezeln.«
»Kannst du Brezeln backen, Mama?«, hatte Nova sie gefragt.
Ihre Mutter hatte den Kopf geschüttelt. »Deine Oma kann das. Bitte sie darum, wenn wir sie das nächste Mal besuchen.«
Aber Nova wollte in den Ferien immer zu Papa Juhan, Kristin und Kaspar. Hier gefiel es ihr am besten. Hier gab es Rentiere, Elche und Schnee. Und vor allem gab es Papa, der ihr alles über die Rentiere beibrachte und sie immer mitnahm, wenn er mit den Tieren arbeitete. Zur Kälbermarkierung im Sommer, zur Schlachtung im Herbst, und im Winter, wenn sie die schwächeren Rentiere zufütterten. Nova durfte Ski fahren, Fische fangen und mit Papa Feuer machen. Nichts war so schön, wie hier im Norden von Schweden zu sein.
»Nova, kommst du mal?«
Papa hatte gerufen. Sie legte ihre angebissene Zimtschnecke in die Dose zurück und stellte die ausgetrunkene Trinkschale auf das Fell. Sie stand auf und rannte zu Papa, den sie weit hinten am Zaun ausmachte.
Er bückte sich. »Schau«, sagte er und deutete auf einen Riss im Zaun. »Den müssen wir flicken.«
»Weiß ich doch. Die Rentiere könnten ausbüchsen.«
»Ja, aber auch damit kein Tier ins Gehege kommt. Hier gibt es Bären und Vielfraße.«
Nova nickte. Klar. Die Bären wurden im Frühjahr wach und hatten Hunger, weil sie den ganzen Winter über geschlafen hatten. Da käme ihnen ein kleines Kälbchen gerade recht. Doch jetzt war Winter. »Die Bären schlafen doch noch.«
»Manchmal wacht einer auf. Wenn er gestört wird. Oder es ungewöhnlich warm ist.«
Papa erzählte oft von den Tieren, die den Rentieren gefährlich werden konnten.
»Es ist kalt, und die Jagd ist vorbei. Unwahrscheinlich, dass ein Bär aufwacht und eines der Tiere reißt. Aber es gibt hier Vielfraße.«
»Papa?« Sie schaute in die dunklen Augen ihres Vaters.
»Ja?«
»Bekomme ich auch mal ein eigenes Rentierkälbchen?«
»Natürlich. Wenn du groß bist.«
»Ich bin groß.«
»Wenn du mit dem Lasso umgehen und dir ein Kälbchen einfangen kannst, darfst du es behalten.«
»Und es gehört mir allein?«
»Ja. Du darfst es markieren und ihm einen Namen geben.«
Nova lächelte. In ihrem Bauch kribbelte es. »Ich weiß schon, wie es heißen wird.«
»Wie denn?«
»Verrat ich nicht.« Sie kicherte. Den Namen würde sie erst preisgeben, wenn sie ihn ihrem Kälbchen ins Ohr geflüstert hatte.
Papa zog seinen dicken Handschuh aus und nahm Nova bei der Hand. »Jetzt stärken wir uns erst mal, damit du schnell groß wirst und dein eigenes Kälbchen bekommst. Aber ein paar Jahre wird das noch dauern.«
Novas Atem hatte sich beruhigt. Sie drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Eine Träne lief an ihrer Wange hinunter. Mit einer unwirschen Handbewegung wischte sie sie weg. Acht Jahre, nachdem ihr Vater ihr das Versprechen gegeben hatte, durfte Nova ihr erstes Rentierkälbchen markieren. Im Sommer, in den Bergen. Sie hatte das Lassowerfen immer wieder geübt, bis sie so gut darin war wie die anderen Sami-Kinder. Sie hatte sich das schönste Kälbchen ausgesucht, und sie hatte ihm einen Namen gegeben. Aber sie hatte das Rentierkälbchen nie mehr wiedergesehen.
Das Handy klingelte. Lydia? Novas Chefin vertraute ihr. Sie erwartete nicht, dass Nova immer am Schreibtisch saß, verstand, dass sie ihre kreativen Auszeiten brauchte und sich ab und an den Wind um die Nase wehen lassen musste, damit sie gute Arbeit ablieferte. Nova zog das Handy aus der Jackentasche. Ein Blick auf das Display. Ihre Mutter. Nova runzelte die Stirn. Würde ihre Mutter denn nie aufhören zu fragen? Nein, Nova würde auch dieses Weihnachten nicht mit ihr feiern. Sie war schon viele Jahre nicht mehr in Stockholm gewesen, genau genommen seit damals, als ihre Mutter ihr die unheilvolle Nachricht überbracht hatte. Ein paar Monate hatte Nova es danach noch bei ihr ausgehalten, dann war sie zu ihrer Großmutter an den Tegernsee gezogen. Kurz überlegte sie, das Handy wegzustecken. Aber ihre Mutter war hartnäckig. Sie würde es immer wieder versuchen.
»Mama?«
»Hallo, Nova. Du musst sicher arbeiten, aber …«
»Was gibt es denn?«
»Ich habe einen Brief erhalten. Er ist an dich adressiert.«
Diesmal ging es also nicht um das leidige Weihnachtsthema. »Was denn für einen Brief?«
»Ich denke, sie hatten keine aktuelle Adresse von dir, deshalb haben sie den Brief an meine Anschrift geschickt.«
Warum sagte sie denn nicht, wer der Absender war? Nova bemerkte einen Stich im Magen. Jedes Mal, wenn sie mit ihrer Mutter sprach, und das kam alle Vierteljahr vor, verspürte sie das gleiche Unbehagen.
»Er ist von einem Notar aus Luleå.«
Was hatte denn das zu bedeuten? »Warum von einem Notar?«
»Keine Ahnung. Soll ich ihn aufmachen?«
»Natürlich.«
»Ich leg das Handy kurz weg.« Nova hörte, wie eine Schublade aufgemacht wurde, dann ein Ratsch. Nova schluckte. Sie hatte noch nie mit einem Notar zu tun gehabt. Nicht mal, als zehn Jahre zuvor ihre Großmutter Sophie gestorben war. Ihre Großmutter hatte ihr Testament mit der Hand geschrieben und Nova kurz vor ihrem Tod genau erklärt, wo sie suchen musste, wenn sie selbst einmal nicht mehr da wäre. Warum bekam Nova jetzt Post von einem Notar?
»Nova!« Die Stimme ihrer Mutter klang aufgeregt.
»Ja?« Ihr Herz klopfte.
»Du sollst zu einer Testamentseröffnung. Nächste Woche. Nach Luleå.«
»Aber …«
»Es geht um deinen Vater. Er hat dir wohl etwas vererbt.«
Nova schluckte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie schüttelte den Kopf. Das war unmöglich. »Mama, das kann nicht sein. Bitte lies noch mal genau.«
Ihr Vater war vor über zwanzig Jahren gestorben. Wenn er ihr etwas vererbt hätte, dann wäre das damals geschehen. Aber Nova hatte nie wieder von der Familie ihres Vaters gehört. Weder von ihrer Stiefmutter noch von Pelle, dem Bruder ihres Vaters. Es hatte nur einen einzigen Anruf gegeben, und den hatte ihre Mutter entgegengenommen. Ihr Onkel hatte ihre Mutter gebeten, mit Nova zu sprechen, er sei dazu nicht in der Lage. Das hatte ihre Mutter später erzählt. Keiner von Vaters Familie hatte persönlich mit Nova gesprochen, nicht mal die Frau ihres Vaters, die Nova so gemocht hatte, die sich immer gefreut hatte, wenn Nova in den Ferien kam. Novas Leben in Lappland war damals von einem Tag auf den anderen zu Ende gegangen, wie weggewischt, so als hätte es ihren Vater, Kristin und Kaspar nie gegeben.
Das musste eine Verwechslung sein. Der Brief war nicht für sie …
»Da steht eindeutig, dass Frau Nova Sarri nächsten Montag um zehn Uhr zur Testamentseröffnung erscheinen soll. Und es geht um das Testament von Juhan Sarri, der am …«
Die Stimme ihrer Mutter wurde immer leiser, bis sie stockte. Warum sprach sie nicht weiter?
»Mama, was steht denn da?« Nova merkte, dass etwas nicht stimmte. Ihre Mutter klang sonst nie so zaghaft, das passte überhaupt nicht zu ihr.
»… der am 1. November dieses Jahres verstorben ist«, fuhr sie fort und verstummte.
»Was für ein Blödsinn!«
Das war völlig unmöglich. Ihr Vater war nicht vor zwei Wochen gestorben, er war seit über zwei Jahrzehnten tot.
»Mama, lies noch mal. Da stimmt etwas nicht. Das muss eine Verwechslung sein.«
Mit tonloser Stimme las ihre Mutter noch einmal das Todesdatum ihres Vaters vor.
Novas Hand zitterte, die Beine schienen ihr wegzurutschen. Sie fühlten sich an wie Watte. Nova setzte sich auf den feuchten Sand, starrte auf das Handy, hörte von Weitem die Stimme ihrer Mutter, die ihren Namen rief, aber Nova war wie erstarrt.
Nova schaute aus dem Zugfenster. Ab und zu tauchten Lichter auf. Kleine Dörfer oder Städte, durch die der Nachtzug von Stockholm Richtung Narvik fuhr.
Seit dem Morgen um halb neun war sie unterwegs. Von Wedel nach Hamburg-Altona über Kopenhagen bis Stockholm. Zwölf Stunden später war sie in der Hauptstadt Schwedens angekommen und nach einer Stunde Aufenthalt in den Nachtzug Richtung Lappland gestiegen.
»Fahr doch einen Tag früher«, hatte Novas Mutter gesagt, als sie sich erkundigt hatte, ob Nova zur Testamentseröffnung gehen würde. »Dann kannst du mich besuchen. Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen.«
Nova hatte abgelehnt. Nein. Sie hatten sich nichts zu sagen. »Vielleicht auf dem Rückweg«, hatte sie gemurmelt. Aber Nova wusste schon, dass sie so schnell wie möglich wieder nach Hamburg zurückfahren würde. Das alles war sowieso ein großes Missverständnis.
In der letzten Woche, als ihre Mutter sie über das Schreiben informiert hatte, hatte Nova versucht, den Notar anzurufen. Sie hatte nur seine Sekretärin erreicht, und die konnte ihr keine weiteren Auskünfte geben. Weder über das merkwürdige Todesdatum noch über das Testament.
»Frau Sarri, kommen Sie am Montagvormittag. Dann klärt sich sicher alles auf«, hatte sie gesagt.
Nova hatte nicht geantwortet. Sie hatte Schwedisch mit der Frau geredet. Und dann Sarri, ihr Nachname. Niemand brachte diesen Namen mit Deutschland in Verbindung. Wahrscheinlich hatte die Sekretärin angenommen, Nova wohnte gleich um die Ecke und nicht zweitausend Kilometer weiter im Süden.
Von ihrem Onkel Pelle hatte Nova keine Telefonnummer, und in der Telefonbuchapp hatte sie ihn nicht gefunden. Vielleicht hatte er seine Handynummer nicht registrieren lassen. Pelle wäre der Einzige gewesen, mit dem Nova gesprochen hätte. Kristin hätte sie niemals angerufen. Nova konnte ihr nicht verzeihen, dass sie sich nach dem Tod ihres Vaters nie bei ihr gemeldet hatte. Novas Vater, Kristins Mann, war gestorben, da rief man doch an und erzählte, was passiert war. Wenigstens ein paar Worte hätte Kristin sagen können, auch wenn sie sicher am Boden zerstört gewesen war.
Kristin und Juhan, das war für Nova immer das Liebespaar schlechthin gewesen. Als sie klein war, hatte sie sich darüber keine Gedanken gemacht. Aber später, als sie in die Pubertät kam, war ihr aufgefallen, wie oft sich die beiden an den Händen gehalten oder geküsst hatten. Kristin hätte mit ihr reden müssen.
In Novas Kopf war völliges Chaos. Sie saß auf dem untersten Bett im Schlafwagenabteil, in der Hand eine Tasse Tee, die sie sich vorhin aus dem Speisewagen geholt hatte. Ab und an trank sie einen Schluck, aber der Tee schmeckte wässrig und war lauwarm. Die beiden anderen Frauen im Abteil hatten sich früh schlafen gelegt. Doch Nova war zu aufgewühlt. Zudem war es stickig hier drin. Eine der Frauen seufzte im Schlaf. Nova trank ihren Tee aus, warf den leeren Pappbecher in den Mülleimer und trat auf den Gang. Die Tür hinter ihr schloss sich mit einem Klick. Sie hoffte, dass sie ihre Mitreisenden nicht gestört hatte, öffnete ein Fenster und atmete tief ein. Kalter Wind blies ihr um die Nase. Sie war so unendlich müde, hatte in den letzten Tagen kaum geschlafen und sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren können. Ständig waren ihr Szenen von früher in den Sinn gekommen. Vor allem die Erinnerung an ihren letzten Besuch bei Kristin und ihrem Vater, bei dem sie ihr erstes Kälbchen markieren durfte, ließ sie nicht mehr los. Sie war so stolz und glücklich gewesen.
Lappland, zwanzig Jahre zuvor
»Nova, aufwachen. Es ist so weit!« Nova hörte ein Flüstern und spürte die Hand ihres Vaters auf der Schulter. Sie öffnete die Augen. Eine Sekunde lang musste sie sich orientieren. Wo war sie? Doch dann erinnerte sie sich. Natürlich. Im Zelt, in den Bergen Lapplands. Heute Nacht würde die Markierung der Rentierkälber stattfinden, wie jedes Jahr im Juli.
Sie hatte heute Abend wach bleiben wollen, doch trotz der Aufregung musste sie eingeschlafen sein. Im Tipi war es so kuschelig warm. Sie hatte das Knacken der Birkenholzscheite im Ofen wahrgenommen, hatte die murmelnden Stimmen von ihrem Vater und Kristin gehört, die sich auf der anderen Seite des Zeltes auf ihren Rentierfellen leise unterhielten, und war weggedöst. Kaspar hatte sich schon vor Stunden auf sein Behelfsbett zurückgezogen und sich in seinen Comic vergraben. Novas Blick fiel auf Kaspars dunkle verstrubbelte Haare, die sich um das Kopfteil des Schlafsacks kräuselten. Sie hörte seinen langsamen Atem. Er schien fest zu schlafen. Vorsichtig schälte sich Nova aus dem warmen Sack.
Auf der anderen Seite des Zeltes zog sich ihr Vater mit geübten Bewegungen die feste Arbeitshose über, befestigte sein Messer an der Gürteltasche und schlüpfte in seine Jacke. Die Öffnung oben im Zelt ließ Licht herein. Tageslicht, obwohl es mitten in der Nacht sein musste.
»Wie spät ist es?«, fragte Nova leise und griff nach ihrer Trekkinghose und den festen Stiefeln, die sie neben ihren Schlafplatz gestellt hatte, damit sie, wenn es so weit war, schnell hineinschlüpfen konnte.
Ihr Vater legte den Finger an die Lippen, und Nova begriff. Er wollte nicht, dass Kristin und Kaspar aufwachten. Die beiden würden bei der Kälbermarkierung nicht dabei sein. Kristin nicht, weil sie erst eine Grippe auskuriert hatte, und Kaspar … Seine halbseitige Lähmung ließ es nicht zu, dass er im Gehege umherlief, mit dem Lasso Rentiere einfing und sie in den Gang zog, wo sie markiert wurden. Für eine solch harte Arbeit musste man kräftig und gesund sein. So wie Nova.
Lautlos zog sie sich an, vergewisserte sich, dass sie ihr kleines Messer zum Markieren dabeihatte, und folgte ihrem Vater, der draußen vor dem Zelt auf sie wartete. Sie schaute in den Himmel. Es war Mitte Juli und taghell. Ein kühler Wind blies. Nova zog die Jacke bis zum Hals zu.
»Hast du alles?«, fragte er.
Nova deutete auf ihr Messer.
»Und das Lasso?«
Wie konnte sie so etwas Wichtiges vergessen? Ihr Vater hatte ihr in den vergangenen Tagen ein paar weitere Tricks gezeigt, und sie hatte stundenlang geübt, damit sie genauso gut darin wurde, die kleinen Rentiere mit dem Lasso einzufangen, wie die anderen Sami-Kinder. Sogar in Täby hatte sie geübt. Nicht bei ihrer Mutter in der Wohnung. Den Kommentar von ihr zu hören, hatte sie sich ersparen wollen. Nein, Nova hatte sich von ihrem Taschengeld ein Lasso gekauft, im nahe gelegenen Park einen Holzpflock in den Boden gerammt und heimlich geübt, damit ihre Mutter nichts davon mitbekam. Nova wandte sich um und trat noch einmal ins Zelt.
»Und zieh deine Mütze auf«, flüsterte Juhan.
Novas Blick fiel auf ihren Schlafplatz. Sie griff nach ihrem orangen Lasso, das sie am Kopfende ihres Schlafsacks abgelegt hatte, und suchte die Wollmütze. Sie hatte sie am Vorabend aufgesetzt, weil ihr in der Nacht am Kopf oft kalt wurde. Ein Griff in den Schlafsack. Da war sie, die selbst gestrickte rote Mütze, die Kristin ihr vor ein paar Monaten zu ihrem vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Es raschelte, und Nova bemerkte, wie Kristin sich im Schlaf umdrehte. Nur ihre glatten dunklen Haare waren zu sehen.
Kaspar seufzte leise. Er hatte den Schlafsack bis zu den Ohren hochgezogen. Er fror immer.
Nova trat wieder zu ihrem Vater nach draußen. »Alles klar!«, sagte sie leise.
Er drehte sich um und zog vorsichtig den Reißverschluss des Zeltes zu.
In der Ferne hörte Nova das Trampeln der Rentierhufe. Ihr Vater hatte ihr am Vortag erklärt, dass die Tiere von Osten kamen. Von dort würden die jungen kräftigen Sami und ein paar wenige Frauen, die die anstrengende Arbeit nicht scheuten, die Rentiere mit Geländemotorrädern und Hunden treiben. Eigentlich hatten sie die Herde einen Tag früher erwartet. Aber der Wind hatte gedreht, und sie war wieder umgekehrt und in die falsche Richtung gelaufen. Doch heute Nacht schien es zu klappen. Das Trampeln wurde immer lauter. Nova spürte das Vibrieren jetzt sogar unter ihren Füßen.
Ihr Vater schaute auf das Handy. »Es ist zwei Uhr«, sagte er. »Vier, fünf Stunden sind wir sicher beschäftigt.« Er setzte den Rucksack mit dem Proviant auf, den Kristin am Abend gepackt hatte. Heißer Tee in der Thermoskanne, Fladenbrot und Streichkäse in der Tube. Das Markieren der Kälber war anstrengend. Sie mussten sich zwischendurch stärken. Nova war schon viele Male dabei gewesen, aber immer nur als Zuschauerin. Heute würde sie richtig dabei sein. Endlich durfte sie ihrem Vater helfen, die Kälber zu markieren. Ihre Halsschlagader pulsierte, wie immer, wenn sie aufgeregt war. »Schau«, sagte Juhan und deutete nach links. Seine Augen leuchteten auf, und Nova bemerkte ein Lächeln um seinen Mund. »Sie kommen!«
Jetzt sah sie die Tiere. Grau-weiße Rentiere, die im Rudel auf sie zuströmten. Sie liefen über die kleinen Hügel, die Nova gestern mit Kaspar zusammen abgelaufen war. Langsam, weil er keine großen Strecken schaffte. Weit hinten sah es aus, als würde ein Schwarm Ameisen auf sie zulaufen. Jetzt bemerkte Nova nicht nur das Beben des Bodens, sie hörte auch das aufgeregte Schnauben der Tiere. Ein Geräusch, das ihr immer wieder Gänsehaut verursachte.
Sie liefen los, Richtung Rentiergehege. Von überallher strömten weitere Sami aus ihren Tipis herbei. Männer und Frauen mit bunten Lassos, die sie über die Schultern geschlungen hatten. Manche trugen Stangen mit einer Schlinge am vorderen Ende. Auch damit konnte man die Rentiere einfangen. Zahlreiche Kinder sprangen aufgeregt um die Beine der Erwachsenen. Nova kannte einige von ihnen. Nicht näher. Sie war immer nur auf Besuch da. In den Sommerferien bei der Kälbermarkierung, im September bei der Schlachtung. Zur Schlachtung bekam sie Extraferien von der Schule. Eigentlich war sie in allen Schulferien bei ihrem Vater und dessen Familie, manchmal auch außer der Reihe, insgesamt über vier Monate im Jahr. Am liebsten wäre Nova ganz in den Norden gezogen, doch ihre Mutter war dagegen.
»Du wirst nie dazugehören«, hatte sie gesagt, bevor Nova ein paar Wochen zuvor in den Zug nach Luleå gestiegen war, und Novas wiederholte Bitte, in Lappland leben zu dürfen, mit einem verständnislosen Kopfschütteln beantwortet. »Alles, was halb ist, taugt nichts. Und dann du, halb Deutsche, halb Samin.« Nova hatte sich ein Tschüss abgerungen und sich, ohne noch einmal zurückzuschauen, ihren Platz im Liegewagen gesucht.
Doch ganz unrecht hatte ihre Mutter nicht. »Da ist die aus Stockholm!«, war bereits einige Male hinter Novas Rücken getuschelt worden. Nova hatte versucht, es zu ignorieren. Aber es war schwer. Sie würde nur dazugehören, wenn sie genauso gut im Lassowerfen und Kälbermarkieren wäre wie die anderen. Am besten, sie wäre besser. Papa würde ihr helfen, das hatte er versprochen. Und gestern hatte das Lassowerfen super geklappt. Nova hatte das Rentiergeweih, das auf einem Pflock angebracht war, fast immer getroffen. Egal wie weit entfernt davon sie gestanden hatte.
»Nova.« Ihr Vater war stehen geblieben.
Nova schreckte aus ihren Gedanken auf und schaute ihm in die Augen.
»Du hast viel geübt, du hast Kraft, und in den letzten Wochen bist du im Lassowerfen immer besser geworden.« Er lächelte sie an. »Heute darfst du dir dein eigenes Rentierkalb aussuchen.«
»Und ich kann ihm einen Namen geben.«
Juhan nickte.
Hitze stieg in ihr auf. Das war der Anfang. Sie würde ihr eigenes Kalb bekommen, würde es füttern, streicheln. Vielleicht würde es sogar zahm werden, ihr aus der Hand fressen, ihr überallhin folgen. Wenn sie es schaffte, ein Rentier aufzuziehen, würde sie eine richtige Samin sein. Nova umarmte ihren Vater.
»Du hast dir ja bereits einen Namen überlegt, oder?«
Natürlich hatte sie das. Schon lange. Aber sie würde ihn für sich behalten, bis sie ihr Kälbchen markiert hatte. Mit großen Schritten lief Nova neben ihrem Vater zum Eingang des Geheges. Sie war aufgeregt. Ihre Gedanken überschlugen sich. Im Winter könnte sie das Rentier in dem kleinen Gehege, das ihr Vater nahe der Hütte in Ålloluokta aufgestellt hatte, füttern. Sie würde ihm ein Lederhalsband anfertigen, verziert mit Silberfäden. Kristin hatte ihr gezeigt, wie man das Leder gerbte, mit Filz versah und Muster einstickte. Sie würde eine Sonne auf das Halsband sticken, das allein ihrem Kälbchen Davvi gehören würde, Davvi, Norden, so sollte ihr Rentier heißen. Der Norden, nach dem sie sich immer sehnte, wenn sie nicht in Lappland war.
»Könnten Sie bitte das Fenster schließen!«
Der forsche Ton der Zugbegleiterin ließ Nova zusammenzucken. »Natürlich.« Nova schob das Fenster nach oben. Sie hatte nicht bemerkt, dass es im Gang kalt war.
»Mir persönlich macht das nichts aus«, sagte die Frau beim Weitergehen, »aber die meisten Reisenden beschweren sich, wenn es zieht.«
Nova drückte sich ans Fenster, damit die mollige Frau an ihr vorbeikam. Die Zugbegleiterin lächelte und ging weiter. Novas Handy klingelte. Laura? Ihre Freundin hatte sie gestern Abend kurz besucht.
»Wenn es Sommer wäre«, hatte sie gesagt, »würde ich dich vielleicht begleiten. Ich war noch nie in Lappland. Aber im November? Da liegt sicher schon Schnee. Ich bin doch so verfroren.« Nova lächelte, als sie an Lauras Angst vor der Kälte dachte. Völlig überzogen. Aber sie hatte ihr nie vermitteln können, dass hoch oben im Norden Schwedens meist eine trockene Kälte herrschte, bei der man nicht so fror wie an einem nassen Wintertag in Hamburg.
Es war nicht Laura, die anrief, es war Leo. Hatte er schon Dienstschluss?
»Hat alles geklappt?«, fragte er. Seine Stimme klang müde. Sicher war er gerade von der Arbeit gekommen.
»Ja, ich bin im Nachtzug. Bisher ist er pünktlich. Morgen früh um acht soll er in Luleå ankommen.«
»Wann ist noch mal der Termin?«
»Um zehn Uhr.«
»Das passt doch super.«
Nova schwieg.