Tangosommer - Hiltrud Baier - E-Book

Tangosommer E-Book

Hiltrud Baier

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Beschreibung

»Ist es mal wieder so weit?«, fragt der Postbote, als er Riitta ein großes Paket überreicht. »Nähst du wieder?« Das ganze Jahr über freut Riitta sich auf diese eine Woche im Sommer, wenn Phil nach Finnland kommt, um mit ihr auf dem Tangofestival in Seinäjoki zu tanzen. In der Zwischenzeit führt sie ein ruhiges Leben in ihrem Holzhaus mit Sauna, fährt mit dem Boot zum Angeln raus auf den Inarisee oder gärtnert. Über die Vergangenheit und ihre frühere Liebe sprechen Phil und sie nie, so lautet die Abmachung. Doch in diesem Jahr zögert Riitta, ein neues Kleid zu nähen – sie hat das Gefühl, dass Phil nicht kommen wird. Kurzerhand beschließt Riitta, zum ersten Mal seit siebenundzwanzig Jahren in ihre einstige Heimat zurückzukehren, um Phil in Süddeutschland zu besuchen. Der allerdings lädt zur selben Zeit seine Tochter Johanna und seine Enkelin Leni ein, ihn nach Finnland zu begleiten – er wolle ihnen das Land zeigen, das er so liebe. Werden Riitta und Phil einander verpassen und damit ihre möglicherweise letzte Chance, die Vergangenheit aufzuarbeiten?

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Seitenzahl: 287

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Hiltrud Baier

Tangosommer

Roman

Oktopus

1

Etwas war anders. Schon seit Wochen hatte Riitta so ein merkwürdiges Gefühl. Sie freute sich nicht, obwohl sie sonst diese eine Woche im Sommer kaum erwarten konnte. Es war eine Vorfreude auf sieben wundervolle Tage, die sie normalerweise das restliche Jahr fröhlich und unbekümmert leben ließ. Aber schon seit Anfang des Jahres, als es so merkwürdig warm geworden war im Norden, als die Temperaturen zwischen nur wenigen Minus- und Plusgraden schwankten und die Menschen reihenweise mit Bein- und Armbrüchen in der Notaufnahme landeten, bekam sie Magenschmerzen und spürte eine Unruhe wie noch nie. Was, wenn er dieses Mal nicht kommen würde?

Riitta versuchte, diese Gedanken zu verscheuchen, lenkte sich ab und schaute heute bereits zum dritten Mal nach ihren Lauch- und Karottenpflänzchen, die sogar in ihrem Gewächshaus Mühe hatten zu wachsen. Aber sie hatte sie bisher jedes Mal durch den kühlen Frühling gebracht. Bald würde es sogar hier im finnischen Norden keinen Nachtfrost mehr geben, und sie könnte die Pflanzen ins Hochbeet setzen.

Kirsi, ihre Nachbarin, belächelte ihre Bemühungen jedes Jahr wieder. »Warum kaufst du das Gemüse nicht im Supermarkt? Das ist doch viel billiger und macht keine Mühe?«

Riitta schüttelte immer entschieden den Kopf. Nein, sie hatte es jedes Jahr geschafft, ihr eigenes Gemüse und auch Blumen anzupflanzen. Schon seit vielen Jahren tat sie das, und es funktionierte. Mal gut, mal weniger gut.

Riitta zog ihre Sneakers aus und schlüpfte in ihre blau-rot gepunkteten Gummistiefel, deren Anblick ihr an normalen Tagen immer ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Dann griff sie nach der kleinen Hacke und bearbeitete das Hochbeet, das sie hinter dem Haus angelegt hatte. Sie lockerte die Erde, zupfte Unkraut und schüttete neue Erde, die sie durch ihren Kompost gewonnen hatte, obenauf. Kurz hielt sie inne.

Schon damals, sie wohnte noch in der WG, hatten ihre Mitbewohner den Kopf geschüttelt, als sie auf dem Balkon aus winzigen Samen Tulpen und Kornblumen gezogen hatte. »Die verrückte Deutsche« hatten sie sie genannt. Aber es hatte geklappt, und es würde auch diesmal klappen, hoffte sie zumindest.

Riitta liebte ihr selbst angepflanztes Gemüse, und in ihrer Kindheit hatte es immer Gemüse aus dem eigenen Garten gegeben, eines der wenigen guten Dinge, an die sie sich erinnerte. Der Garten war das Ein und Alles ihrer Mutter gewesen. Sie hatte ihn gehegt und gepflegt wie ein Kind, das man behütete. Ganz im Gegensatz zu ihren eigenen Kindern.

Riitta legte die Hacke beiseite, füllte die Plastikgießkanne mit Leitungswasser und goss im Gewächshaus die Salat- und Gemüsepflanzen. Sie schloss die Tür des Gartenhäuschens, und wie jedes Mal quietschte das Scharnier der Glastür, kurz bevor sie ins Schloss fiel. Sie sollte an der Tankstelle vorbeifahren und Schmierfett kaufen. Dann könnte sie auch gleich in den Supermarkt gehen und das Päckchen abholen, das dort für sie bereitlag. Vorhin hatte der Postbote den Abholzettel gebracht.

»Ist es mal wieder so weit?«, hatte Risto gefragt. »Nähst du wieder?«

Sie hatte genickt.

»Dann musst du dich aber beeilen. Sind nur noch fünf Wochen bis zum Tangofestival. Und diesmal Stoff aus Italien!« Er drückte ihr mit einem schelmischen Zwinkern den Abholschein in die Hand.

Ihr Blick fiel auf den Absender. Antonietta Pavani, Milano, Italia. Ja, diesmal hatte sie blauen Seidenstoff ausgewählt. Er würde sicher gut zu ihren dunkelblonden krausen Haaren passen. Seit einiger Zeit schimmerten darin graue Strähnchen, aber das kümmerte sie nicht.

»Das klappt schon«, sagte sie.

»Klar, bist ja perfekt im Nähen.« Risto lächelte.

»Da fällt mir ein …« Sie ging kurz ins Haus und kam mit einem kleinen, in braunes Packpapier gewickeltes Päckchen zurück. »Hier, die reparierten Hosen für eure Jungs. Einmal Knie, einmal Reißverschluss. Sag Marja schöne Grüße von mir.«

»Was bekommst du dafür?« Risto zückte seinen Geldbeutel, aber Riitta schüttelte den Kopf. »Schon gut, ist nicht der Rede wert. Demnächst komme ich mal wieder vorbei und probiere Marjas leckeren Blaubeerkuchen.«

Risto hatte kurz gezögert, aber sie hatte seine Hand mit dem Geldschein weggedrückt, und er hatte den Schein wieder eingesteckt, genickt und seine Tour mit dem blauen Postauto fortgesetzt.

Jetzt lag der Abholschein für das Paket auf der kleinen Kommode im Flur. Riitta seufzte und betrachtete den Rollerschlüssel, der an einem Haken neben der Haustür hing. Sie hatte heute überhaupt keine Lust, die zehn Kilometer zum Supermarkt zu fahren und das Päckchen abzuholen, geschweige denn das neue Kleid zu nähen. Dabei hatte sie das Schnittmuster schon letzten Herbst gekauft, bei einem Kurztrip nach Rovaniemi. Warum bekam sie das Gefühl nicht los, es würde sich nicht lohnen, die vielen Stunden an der Nähmaschine zu verbringen? Sie hatte sich doch immer für das Festival hübsch gemacht. Jedes Jahr ein neues Kleid zu Ehren des Tangos. Sie hatte darauf geachtet, dass es genügend Beinfreiheit hatte, damit sie sich bei den Tanzschritten nicht beengt fühlte, und trotzdem sollte das Kleid schlicht wirken. Später, als er sie zum Festival begleitete, hatte sie sich noch mehr Mühe mit dem Nähen gegeben. Da war es ihr nicht mehr wichtig gewesen, dass das Kleid zum Tangotanzen passend war, nein, sie wollte ihm darin gefallen. Die Säume waren kürzer geworden, der Ausschnitt etwas gewagter. Dreißig Kleider hatte Riitta bisher genäht. In den letzten fünfzehn Kleidern hatte sie darin mit ihm getanzt. Und jetzt wusste sie nicht, ob sie ein weiteres Kleid nähen sollte.

Riitta ging in ihr kleines Nähzimmer und machte sich an einem ausgefransten Mantelkragen zu schaffen. Sie musste sich ablenken.

»Kannst du meinen Lieblingsmantel retten?«, hatte Kirsi sie vor ein paar Tagen gefragt und ihr einen dunklen, an vielen Stellen abgeschabten Wollmantel in die Hand gedrückt.

Sie hatte sich die Stelle angeschaut und gelächelt. »Nächste Woche ist er fertig«, hatte sie gesagt und gewusst, auch von Kirsi würde sie kein Geld nehmen. Seitdem Kirsis Mann gestorben war, konnte sie von ihrem Lohn die Hypotheken für das Haus kaum mehr bezahlen.

Riitta stoppte die Nähmaschine und schaute aus dem Fenster. Die dunklen Regenwolken verzogen sich allmählich Richtung Norden, und ab und an blitzten hellblaue Streifen durch das gemusterte Grau des Himmels. Hoffentlich würde das Wetter beim Tangofestival gut werden. Dann könnte sie mit Phil nicht nur in den Festhallen, sondern auch auf der Straße Tango tanzen. Sie überlegte. Phil hatte im letzten Sommer bleich gewirkt, aber er hatte nichts gesagt, und sie hatte nicht gefragt. Sie fragten nie, sie lebten einfach, sieben Tage, die nur ihnen gehörten, in denen sie Spaß miteinander hatten, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, ohne Sorgen. So hatten sie es immer gemacht, und bis zum letzten Jahr waren Riitta nie Zweifel daran gekommen, dass es immer so weitergehen könnte. Ihre Gedanken an Phil waren unbeschwert gewesen, meistens jedenfalls. In fünf Wochen würde das Festival in Seinäjoki stattfinden, im Juli, wie immer. Bis dahin sollte sie das Kleid genäht haben. Das Hotel hatten sie im letzten Jahr im Voraus gebucht. Das Fest wurde ständig beliebter, und die Unterkünfte waren schnell ausgebucht. Ansonsten musste sie für das Festival nichts vorbereiten. Sie hatte dort keinerlei Verpflichtungen mehr. Anfangs war sie Mitglied im Organisationsteam gewesen. Dann aber wurde das Festival immer größer und bekannter, und sie war ausgestiegen. Heute unterrichtete sie nur ab und an Tango für die Einheimischen ihres Dorfes und manchmal für Touristen. Meist Deutsche, die sich freuten, wenn jemand ihre Muttersprache konnte und der Unterricht nicht auf Englisch stattfand.

So hatte sie auch Philipp wiedergetroffen, nach vielen Jahren. Er hatte damals mit seiner Familie in Inari Urlaub gemacht, und da seine Frau sich nicht für Tango interessierte, hatte er alleine einen Tangokurs gebucht. Zumindest hatte er ihr das so erzählt. Aber Riitta war sich nicht sicher, ob er ihr die Wahrheit gesagt hatte. Wahrscheinlich hatte er eine Ausrede benutzt, damit seine Frau nicht auf die Idee kam, am Tanzkurs teilzunehmen. Denn konnte es Zufall gewesen sein, dass sie sich nach so vielen Jahren in Inari wiedergetroffen hatten? In diesem kleinen Dorf in Finnisch-Lappland, das dreitausend Kilometer von ihrem früheren Zuhause in Süddeutschland entfernt war?

»Ich habe den Namen Riitta auf der Tango-Kursbeschreibung gelesen«, hatte Phil damals gesagt.

»Aber es war Riitta mit zwei i und zwei t«, hatte sie erwidert.

»Es passt zu dir, dass du deinen Vornamen dem Land angepasst hast, in dem du lebst. Und da dachte ich, Riitta und Tango – das kannst nur du sein.« Er hatte sie mit seinen dunkelblauen Augen angeschaut, und sie hatte sofort gewusst, dass sich ihr Leben von nun an ändern würde.

Riitta schnitt einen dünnen schwarzen Faden ab, hielt die Nadel weit weg von den Augen, fädelte den Faden ein und beugte sich wieder über ihre Näharbeit. Die letzten Stiche musste sie mit der Hand erledigen. Schließlich nähte sie die übrig gebliebene ausgefranste Stelle an Kirsis Mantelkragen mit winzigen Stichen zusammen.

Nach diesem Wiedersehen in Inari hatten Phil und sie sich für das kommende Jahr zum Tangofestival in Seinäjoki verabredet, und daraus waren ihre jährlichen Treffen entstanden. Und jetzt?

Riitta legte den reparierten Mantel sorgfältig zusammen und ging in die Küche. Anders als in ihrem penibel geordneten Nähzimmer herrschte hier ein Chaos, das sie nie in den Griff bekam. Sie schaffte es nicht, gebrauchtes Geschirr unverzüglich zu spülen, oder Zutaten, mit denen sie ihre Mahlzeiten zubereitete, sofort wieder zurückzustellen. Zwischen der Tüte Dinkelmehl und den kaputten Eierschalen, die auf ihr Pfannkuchenfrühstück heute Morgen hinwiesen, fand sie eine angefangene Packung Kaffee. Sie kochte Wasser auf, nahm den weißen Porzellanfilter, stellte ihn auf ihre vor vielen Jahren selbst getöpferte Kaffeekanne, brühte sich Kaffee und ging nach draußen vor die Haustür. Sie setzte sich auf die blaue Holzbank neben der Tür, deren Farbe vom Wetter schon an vielen Stellen abgeblättert war, und streckte ihr Gesicht den wärmenden Sonnenstrahlen entgegen, die selbstbewusst die Wolken verdrängt hatten. Sie trank einen Schluck Kaffee, umklammerte die warme Tasse mit beiden Händen und schaute auf den See, dessen Wasser im Gegensatz zu heute Morgen, als starker Wind blies, still vor sich hin plätscherte.

Wie sie diesen Blick liebte! Auf den riesigen Inarisee, dessen Ende nicht zu sehen, nur zu erahnen war. Und das Beste: Es gab nur die Natur und sie.

»Was willst du denn dort draußen, so alleine? Wenn mal was passiert?«, fragte ihr alter Freund Adam in regelmäßigen Abständen. Aber was sollte schon passieren?

Seit zehn Jahren wohnte sie hier. Onni, ihr Freund, hatte ihr das Holzhaus mit dem großen Grundstück am Inarisee vermacht. Er war an einem Schlaganfall gestorben. Onni hatte in Helsinki gewohnt, sie in Inari. Das Holzhaus war ihr Treffpunkt gewesen, wenn sie sich getroffen hatten. Seit Onnis Tod hatte Riitta zum ersten Mal ein richtiges Zuhause. Kurz vor ihrem vierundvierzigsten Geburtstag war sie sesshaft geworden. Davor hatte sie mal hier, mal dort gewohnt, ohne ein Gefühl, angekommen zu sein. Aber hier gefiel es ihr. Sie hatte ihre Ruhe, musste mit niemandem Küche oder Bad teilen, wie sie es so viele Jahre lang getan hatte. Manchmal kam der Briefträger vorbei, wie heute, oder Nachbarn, die etwas zum Nähen brachten. Sie war nur ab und an in Inari, um einzukaufen, einen Tangokurs zu leiten oder im Sámi-Museum auszuhelfen. Die Tangokurse und das Geld, das sie durch Nähen und ihre Arbeit im Museum verdiente, reichten ihr zum Leben. Außer Lebensmitteln, dem jährlichen Stoff für ihr Kleid, gelegentlich einem Ausflug nach Rovaniemi und der Reise nach Seinäjoki zum Tangofestival brauchte sie nicht viel. Sie hatte schon lange aufgehört, neue Kleidung zu kaufen. Wenn ein Stück kaputtging, reparierte sie es oder kaufte sich Second-Hand-Kleidung. Ein neues Kleid pro Jahr, selbst genäht, für eine Woche, das genügte ihr.

Riitta stellte die Kaffeetasse auf der Bank ab. Jetzt hatte sich auch die letzte Wolke verzogen, und die Sonne strahlte in einem dunkelblauen Frühlingshimmel.

Sie schloss die Augen. Es war so schön hier Anfang Juni. Endlich ging es auf den Sommer zu, das Eis auf dem See war geschmolzen, das blaue Wasser glitzerte. Wenn nur dieses ungute Gefühl nicht wäre, das sie so sehr plagte und gegen das sie jetzt unbedingt etwas unternehmen sollte.

2

»Kannst du bitte zu mir kommen?«

Johanna zuckte zusammen. Sie hielt das Handy fest umklammert. »Natürlich.« Sie hatte sicher zwei, drei Sekunden benötigt, um zu reagieren. Als er nicht antwortete, merkte sie, dass sie das Mikrofon zugehalten hatte. Er hatte sie nicht hören können. »Jetzt sofort?«

»Ja.«

»Ist etwas passiert?«

»Nein.«

Mehr kam nicht, und Johanna wusste, dass ihr Vater auch nicht mehr sagen würde. Er hatte nie viel geredet.

Ihr Blick fiel auf die bunten Zeiger der Uhr, die sie vor zwei Jahren mit Paul zusammen ausgesucht hatte, kurz bevor er sie verlassen hatte. »In zwanzig Minuten muss ich Leni von der Kita abholen. Wir wären in ungefähr einer Stunde bei dir. Ist das okay?«

»Natürlich. Danke«, sagte er und legte auf.

Johanna schoss das Blut in den Kopf. Ging es ihrem Vater schlecht? Vor einem Dreivierteljahr waren zum ersten Mal Herzrhythmusstörungen bei ihm aufgetreten. Mit der Hilfe seines Arztes hatte er die Krankheit gut in den Griff bekommen und sich schnell wieder erholt. Aber dann war kurz vor Weihnachten ihre Mutter gestorben. Ganz plötzlich, an einem Hirnschlag. Und Papa war wie gelähmt gewesen.

Doch gerade hatte seine Stimme ruhig, ja fast fröhlich geklungen. Aber vielleicht tat er nur so, als ob es ihm gut ginge.

Vor zwei Wochen, als sie ihn das letzte Mal mit Leni besucht hatte, stand er in der Garage und putzte sein uraltes Käfer-Cabrio. Sie beobachtete ihn, wie er am Boden kniend versuchte, die Felgen von Schmutz zu befreien. Johanna konnte ihre Tränen kaum zurückhalten. Ihr Vater hatte in den letzten Monaten abgenommen. Seine schon immer großen Hände wirkten auf einmal noch viel größer als sonst, so als wäre sein übriger Körper geschrumpft und nur die Hände hätten ihre normale Größe behalten. Vergeblich versuchte er mit einem Schwamm in seinen langen Fingern die Felgen entlangzufahren. Er mühte sich ab, aber es klappte nicht, deshalb flüsterte sie Leni zu, dass Opa sich sicher freute, wenn sie ihm helfen würde. Und ihre Kleine packte begeistert mit an und schrubbte mit dem nassen Schwamm den letzten Schmutz aus den Rillen. Ihr Vater hatte Leni lächelnd mit einem Kuss auf die Wange gedankt, war schwerfällig aufgestanden und hatte sich im Wohnzimmer aufs Sofa gelegt.

Es war dieses Lächeln, diese Ruhe, die Johanna so stutzig gemacht hatte. Er merkte doch sicher, dass seine Kräfte weniger wurden. Wie konnte er dennoch lächeln und so ruhig wirken? Hatte er mit zweiundsiebzig Jahren vom Leben genug? Oder war er einfach zufrieden, wie es gelaufen war? Eine lange glückliche Ehe, die vor einem halben Jahr mit dem Tod seiner Frau Hedi, Johannas Mutter, geendet hatte. Insgesamt drei Kinder, allesamt in guten Berufen, wenn Johanna sich selbst ausnahm, denn als freie Journalistin verdiente sie in letzter Zeit immer weniger. Ihre beiden jüngeren Geschwister wohnten im Ausland, Laura in den USA, Manuel in Frankreich. Keiner war »abgerutscht«, wie ihre Mutter immer betont hatte, keiner war mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder drogenabhängig. Mit Leni hatte Papa vier Enkel. War es ein Erfolg, so viele Nachkommen gezeugt zu haben? Konnte man dann gelassen sterben? Aber wie kam sie zu solchen Gedanken? Johanna schüttelte den Kopf. Man starb doch nicht einfach, nur weil man Herzrhythmusstörungen hatte und Medikamente nehmen musste. Und vielleicht stimmte es gar nicht, dass es ihm schlecht ging. Hatte er nicht gesagt, dass er seit einigen Wochen wieder regelmäßig mit seinem Freund Ludwig Golf spielen ging? Vielleicht hatte er abgenommen, weil er sportlich aktiv war.

Trotzdem, sein Telefonanruf war merkwürdig gewesen. »Komm, wenn du Zeit hast«, hatte er sonst gesagt und nicht »kannst du bitte zu mir kommen? Sofort!«

Johanna klappte den Laptop zu. Auf ihren Artikel konnte sie sich sowieso nicht mehr konzentrieren. Egal, es war ohnehin mehr als fraglich, ob sie ihn würde verkaufen können. Und ein Artikel mehr würde ihr aus ihrer finanziellen Misere nicht heraushelfen.

 

Es dauerte länger, als ihr lieb war. Lenis Erzieherin verwickelte sie in ein Gespräch über den anstehenden Elternabend zu den Themen vegane Ernährung und Umweltschutz. Langsam konnte Johanna es nicht mehr hören. Sie bat Leni, endlich Schuhe und Jacke anzuziehen und ihre Vesperdose zu suchen, die wie immer fehlte. Gleichzeitig nickte sie zu den mantraartigen Wiederholungen der Erzieherin von Wörtern wie »vegan«, »bio«, »Abfallvermeidung« vor sich hin, was die Erzieherin ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen als Bestätigung aufnahm. Johanna war froh, als sie sich endlich loseisen und Leni auf der Rückbank im Kindersitz festschnallen konnte.

»Wir fahren zu Opa«, sagte Johanna und versuchte, den Golf zu starten. Der Wagen röhrte kurz und fuhr dann los.

»Hat geklappt!«

Johanna sah im Rückspiegel, wie Leni grinste. »Hat geklappt«, sagte sie.

Leni streckte ihr ihre kleine Hand hin. »Give me five!«

Johanna drehte sich um und schlug ein. Sie war erleichtert. Gewöhnlich mochte es das alte Gefährt nicht, wenn sie es die wenigen Kilometer zur Kita fuhr, den Motor ausmachte, um ihn kurz danach wieder zu starten. Ihn im Leerlauf zu lassen, traute sich Johanna nicht. Sie hatte keine Lust auf die bösen Blicke oder verärgerten Kommentare der Erzieher und umweltbewussten Eltern. Und auf den Rat, sich endlich ein neues, schadstoffarmes E-Auto zuzulegen, konnte sie verzichten. In neunzig Prozent der Fälle weigerte sich der alte Golf anzuspringen. Johanna musste immer die Motorhaube öffnen, an einem Kabel ziehen, das ihr ein netter Mann vom TÜV gezeigt hatte, dann sprang ihr Gefährt wieder an, als ob nichts gewesen wäre. Aber als ob ihr Golf geahnt hätte, dass sie es eilig hatte, muckte er heute kein bisschen, sondern startete sofort.

»Warum fahren wir zu Opa?«, fragte Leni von hinten und biss in das Käsebrot, das Johanna ihr in die Hand gedrückt hatte. Leni hatte nach der Kita immer Hunger. Vielleicht sollte Johanna doch beim Elternabend auftauchen und ihre Meinung zur Ernährung von Kindern kundtun. Aber das war jetzt nicht wichtig. Ihr Vater wartete.

»Er möchte uns gerne sehen«, sagte sie.

»Okay.« Leni kaute an ihrem Käsebrot. »Ich möchte ihn auch gerne sehen«, sagte sie und schaute versonnen aus dem Seitenfenster.

 

An den üblichen Baustellen auf der A8 floss der Verkehr heute erstaunlich gut. So dauerte es nur knapp eine halbe Stunde vom Stuttgarter Westen bis in die Hölderlinstadt Nürtingen, wo ihr Vater zeit seines Lebens wohnte und wo Johanna ihre Kindheit verbracht hatte. Johanna schmunzelte. Immer wenn sie das gelbe Stadtschild sah, fiel ihr der schizophrene Dichter Hölderlin ein, der hier zur Schule gegangen war, der später jahrzehntelang abgeschottet im Tübinger Turm gelebt hatte und der heute ein so gefeierter Poet war. Sein Ruhm hätte ihm zu Lebzeiten sicher mehr genutzt. Sie seufzte. Schon früher gab es arme Dichter und heute eben arme Journalisten. Manches änderte sich nicht.

Sie fuhr Richtung Stadtmitte, den kleinen Hügel an einem alten Forsthaus vorbei, dessen weitläufiger Garten neben wunderschönen Rosenranken voller gegossener Bronze-Rehe und Bronze-Wildschweine war. Leni bewunderte sie, und jedes Mal, wenn sie daran vorbeikamen, musste Johanna langsam fahren. Aber heute hatten sie es eilig. Johanna wollte so schnell wie möglich wissen, was los war, und sogar Leni schien zu verstehen, dass Opa wichtiger war als leblose Tierfiguren.

Ihr Vater hatte wohl schon hinter dem Vorhang gestanden, denn als Johanna in der Steinstraße geparkt hatte und mit Leni an der Hand das von Flechten überwucherte, ehemals weiße Gartentor öffnete, hörte sie bereits das Summen des Türöffners.

Leni drückte gegen die Tür, huschte hinein, und Johanna folgte ihr in den breiten hellen Flur.

Sie war erleichtert. Papa sah gesund aus, zwar schmal, aber mit seinen ein Meter neunzig immer noch fast aufrecht, und heute wirkte er keineswegs müde wie bei ihrem letzten Besuch. Nein, er strahlte sogar etwas Starkes, Entschlossenes aus, als er Leni und sie umarmte und ohne Umschweife sagte: »Ich möchte gerne nach Finnland fahren. Kommt ihr mit?«

3

Riitta war startklar. Sie hatte den großen Rucksack geschultert, auf ihren krausen Haaren saß der schwarze Helm. Der fast knielange, wasserabweisende Anorak, der Onni gehört hatte, würde den Fahrtwind abhalten und vielleicht auch den Regen, der für später angesagt war. Das Wetter änderte sich oft schlagartig, und es würde sicher zwei Stunden dauern, bis sie wieder zu Hause wäre. Die Fahrt nach Inari dauerte nur eine Viertelstunde, aber sie hatte einiges zu erledigen. Riitta drückte auf den Startknopf, rückte ihre Brille zurecht und fuhr mit ihrer metallic grünen Vespa den unbefestigten Weg entlang, der durch Birken- und Fichtenwald führte. Nach zweihundert Metern holpriger Fahrt bog sie auf die Landstraße Richtung Inari ab. An diesem Donnerstagnachmittag war wenig los, die meisten Bewohner der Gegend arbeiteten. Ein Schulbus fuhr in die entgegengesetzte Richtung und brachte die Kinder von der Schule wieder nach Hause in die umliegenden Dörfer oder Höfe. Nur ein paar Wohnmobile düsten nach Inari. Die Touristensaison hatte Mitte Mai begonnen. Letzten Samstag hatte Riitta einen Tangokurs geleitet, und vielleicht würde am nächsten Wochenende der zweite stattfinden, wenn sie dann noch hier wäre.

Riitta genoss den Fahrtwind in ihrem Gesicht. Es waren sicher kaum zehn Grad, aber die Sonne wärmte trotzdem, und der Anorak und die dicke Arbeitshose hielten den kühlen Wind ab. Während der Fahrt blickte sie an sich hinunter. Sie schmunzelte. Wo sonst, wenn nicht hier, könnte sie in diesen uralten Klamotten herumfahren? Schon öfter hatte sie bemerkt, wie sie im Dorf von Leuten auf der Straße angestarrt wurde, meist von Touristen. Die Einwohner Inaris machten sich nichts aus ihrem Outfit, sie kannten sie so. Beim Einkaufen, beim Gärtnern oder wenn sie mit ihrem Boot zum Angeln auf den See hinausfuhr, trug sie oft wetterabweisende Overalls und eine dicke Mütze, unter der sie ihre störrischen Haare verbarg. Wenn sie im Museum arbeitete oder Tango unterrichtete, schlüpfte sie dagegen in eine schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt, was fast elegant wirkte, denn sie hatte sich trotz ihrer vierundfünfzig Jahre ihre schlanke Figur bewahrt. Nur die Hände, die von zahlreichen hervorstehenden Adern durchzogen waren, zeigten, dass sie nicht mehr zu den Jüngsten gehörte. Riitta mochte diesen Zwiespalt, diese Verwandlung vom hässlichen Entlein in eine Prinzessin. Diese »Provokation«, wie ihre Mutter sich ausdrücken würde, wenn sie noch lebte.

Schon als Jugendliche hatte Riitta sich anders gekleidet, nicht konform mit der Garderobe, wie sie in ihrem kleinen schwäbischen Dorf üblich gewesen war und erwartet wurde. Statt des kratzenden Faltenrocks und des selbst gestrickten Pullunders trug sie Minirock mit kniehohen Lackstiefeln. Dazu ein buntes Stirnband, was ihre Mutter entsetzlich fand. Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter sich zu Tode geschämt hatte, weil sie nicht nur zu Hause in dieser »schrecklichen Aufmachung« herumlief, sondern darin auch beim Dorfmetzger oder im Dorfladen einkaufte. Aber ihre Mutter konnte nichts dagegen unternehmen. Riitta erarbeitete sich ihre Kleidung selbst. Regelmäßig trug sie in den Sommerferien Post aus und sprang auch unter dem Schuljahr ein, wenn jemand ausfiel. Seit sie sechzehn Jahre alt war, verdiente sie ihr eigenes Geld und ließ sich nicht mehr von ihren Eltern aushalten. Auch später war sie nie von einem Mann abhängig. Bis auf die eineinhalb Jahre, in denen sie mit Phil zusammengelebt hatte.

Riitta blinkte und überholte einen Traktor, der ihr zu langsam fuhr. Sie winkte Anni, einer Bekannten, zu, die dorfauswärts mit ihrem Pick-up unterwegs war, passierte am Ortseingang einen Campingplatz und ließ das Hotel Inari, das vor einem Jahrzehnt endlich einen neuen Anstrich bekommen hatte und jetzt einladend aussah, rechts liegen. Am Seeufer des Inarisees standen ein paar Wasserflugzeuge, die auf Touristen warteten. Eigentlich hätte sie jetzt zur Tankstelle gegenüber abbiegen können, aber Riittas Weg führte immer zuerst über die Brücke, damit sie die vielen Boote und den Katamaran betrachten konnte, den Lauri, ein Freund von ihr, gebaut hatte. Und vor allem tauchte rechts von ihr im See die Insel Ukonsaari, die heilige Insel der Samen, auf. Und jedes Mal hüpfte ihr Herz, und sie spürte, hier war ihr Zuhause.

Am Parkplatz des Siida-Museums drehte sie wieder um, fuhr zurück Richtung Dorfmitte und parkte am Supermarkt. Am Schalter der Poststelle drückte ihr die Verkäuferin das Paket aus Italien in die Hand, an der Tankstelle schwatzte sie mit dem Tankwart und vergaß dabei fast das Fett für die quietschende Tür des Gewächshauses. Schließlich fuhr sie weiter zu ihrem alten Freund Adam, der in der Hauptstraße einen Laden hatte, in dem er samisches Kunsthandwerk herstellte und verkaufte. Eine kleine Türglocke bimmelte, als Riitta eintrat.

Adam saß hinter seinem mit unterschiedlichen Arbeitsutensilien übersäten Holztisch. Sein Kopf beugte sich über eine Holzschale, die er gerade mit feinstem Schleifpapier bearbeitete. Es dauerte, bis er zur Tür schaute, dann blitzten seine dunklen Augen auf.

»Oh! Welch unerwarteter Besuch. Lange her. Setz dich.« Er deutete auf den wackligen Holzstuhl vor seinem Arbeitstisch.

Riitta zog die Jacke aus und legte sie zusammen mit Helm und Brille auf das breite Fensterbrett, das Richtung Hauptstraße ging. Sie tauschte den Wackelstuhl durch einen stabileren aus, der in einer Ecke stand. Und wie immer durchbohrte Adams Blick sie, und obwohl er schwieg, wusste sie sofort, was er dachte.

Stell den Stuhl nachher genau wieder dahin, wo er stand. Ich will nicht, dass die Touristen lange bleiben und Unsinn schwatzen.

»Klar, mach ich«, antwortete Riitta auf seine unausgesprochene Ermahnung und setzte sich. »Ich war übrigens erst vor ein paar Wochen bei dir.«

»Da lag noch Schnee.«

»Da der Schnee bei uns bis in den Mai hinein liegen bleibt, ist das noch nicht so lange her.« Jetzt lächelte Riitta. Sie mochte ihr freundschaftliches Geplänkel. Und sie mochte Adam, mit dem sie vor vielen Jahren in einer WG gewohnt hatte, zusammen mit Sirpa, seiner jetzigen Ex-Frau. Sirpa hatte irgendwann die Kälte nicht mehr ertragen und war in den Süden Finnlands gezogen.

Er schaute kurz von seiner Arbeit hoch. »Brauchst du mich wieder als Männerersatz für einen deiner nächsten Tangokurse?« Adam wartete ihre Antwort nicht ab. »Ich kann leider nicht, irgendetwas stimmt nicht mit meiner Hüfte. Muss zum Arzt.« Er pustete den feinen Holzstaub von der Schale und schaute sie an.

Riitta schüttelte den Kopf. »Kann ich bei dir ins Internet?«

Adam seufzte. »Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du dir zumindest ein Smartphone anschaffen sollst? Es muss ja nicht gleich ein richtiger Computer sein. Du bist so was von altmodisch. Oder …«, er grinste, »dickköpfig. Wenn dir da draußen mal was passiert, kannst du niemanden erreichen.«

»Was sollte mir denn passieren? Und zudem hab ich Festnetz.«

»Das hilft dir sicher, wenn du in deinem Boot kurz vorm Ertrinken bist und …«

»Darf ich?«, unterbrach Riitta ihn und deutete auf Adams Laptop, das hinter ihm in einem Regal lag. Sie kannte die Litanei zur Genüge.

»Klar.« Adam stand auf, klopfte den feinen Staub von seiner ledernen Arbeitsschürze und putzte seine Hände an einem Tuch ab. Er langte nach hinten und reichte Riitta den Laptop über den Tisch. »Wenigstens weißt du, wie man damit umgeht.«

Sie antwortete nicht, öffnete die Klappe und drückte auf den Startknopf.

»Das Passwort ist immer noch Hugo?«

Adam nickte. »Wenn ich mal einen neuen Hund hab, werde ich es ändern.« Er setzte sich wieder.

Riitta schaute ihrem Freund in die Augen. »Wird Zeit, oder?«

Adam nickte. »Irgendetwas fehlt.« Sein Blick fiel in die leere Ecke hinter sich, wo sonst Hugos Hundebett gestanden hatte. Er seufzte. »Was musst du denn so dringend im Internet suchen?«

»Weißt du, wie man einen günstigen Flug von Rovaniemi nach Stuttgart bucht?«, fragte Riitta.

Adam schaute erstaunt. »Was willst du denn da? Du warst doch ewig nicht mehr in Deutschland, oder?«

»Ich möchte jemanden besuchen«, sagte Riitta.

»Jemanden?«

»Jemanden sehr netten.«

»Geht’s auch genauer?«

»Jemanden, der mir viel bedeutet.«

»Aha«, sagte Adam und griff wieder nach Schleifpapier und Schale.

 

Blödsinn, Blödsinn, Blödsinn!

Schon auf der Fahrt nach Hause ärgerte sie sich über sich selbst. Warum hatte sie nur dieses irrsinnige Hirngespinst, dass Phil etwas zugestoßen sein könnte? Sie und nach Deutschland fliegen … völlig daneben.

Adam hatte recht. Sie war seit Jahrzehnten nicht mehr dort gewesen. Genau genommen seit siebenundzwanzig Jahren. Warum sollte sie sich das noch einmal antun? Ihre letzte und einzige Reise war ein Desaster gewesen.

Riitta parkte die Vespa am späten Nachmittag, als sie aus dem Dorf zurückkam, in der Garage, schnallte das Stoffpaket vom Gepäckträger, schloss die Haustür auf und stellte Rucksack und Paket in den Flur. Sie quälte sich aus der dicken Hose, der Jacke und den Stiefeln, ließ alles stehen und liegen, wo es war, und kochte sich in der Küche einen Ingwertee mit Zucker. Den brauchte sie unbedingt.

Adam hatte recht mit seinen Andeutungen. Was hatte er sie gefragt, als sie kurz vorm Gehen war? »Willst du diesen Mann, der dir so viel bedeutet, überraschen? So wie damals, vor Jahren, als du als heulendes Elend aus Deutschland zurückgekommen bist und dir geschworen hast, nie mehr zurückzugehen?«

Riitta hatte die Stirn gerunzelt. Aber wenn einer das Recht hatte, so mit ihr zu reden, dann Adam.

»Man kann seine Meinung ändern«, hatte sie zu ihm gesagt, hatte sich umgedreht und war ohne einen Gruß gegangen.

Natürlich war es verrückt, was sie vorhatte. Sie hatte nicht einmal einen handfesten Grund. Nur ein Bauchgefühl, das ihr sagte, Phil gehe es nicht gut. Was, wenn das an den Haaren herbeigezogen war? Dennoch, im letzten Jahr hatte er so blass ausgesehen. Und beim Tanzen hatte er des Öfteren schnell geatmet, so als ob er keine Luft bekäme. Und einmal hatten sie einen Tanz unterbrechen müssen, weil ihm schwindelig geworden war und er sich setzen musste. Aber mehr war nicht gewesen. Danach war alles wie immer. Sie genossen das Fest, tanzten mit Tausenden anderen auf der Straße und in der Festhalle Tango, vergnügten sich, lachten, aßen gut und lauschten der melancholischen Tangomusik, die sie beide so liebten. Sie küssten und liebten sich, ließen sich das Frühstück aufs Zimmer bringen, verschliefen, spazierten im Park, unterhielten sich über Politik, über die erste weibliche Ministerpräsidentin, die sie in Deutschland bewunderten und die es in Finnland nicht leicht hatte. Riitta hatte sich letzten Sommer sogar einmal überreden lassen, Golf mit Phil zu spielen. »Ich habe doch Hedi immer erzählt, dass ich deshalb nach Finnland fliege«, hatte er gesagt. Schon den Namen wollte sie nicht hören. Hedi, die Frau, die Phils Leben begleitete. Sie ließ sich dennoch zu einer Golfpartie verleiten. Und es machte ihr sogar Spaß. Trotzdem war ihr diese Szene, als Phil von Hedi gesprochen hatte, und das Spiel auf dem Golfplatz später immer mal wieder in den Sinn gekommen. Denn sie hatten vereinbart, dass sie bei ihren Treffen alles ausschlossen, was zum Privatleben jedes Einzelnen gehörte. Und dazu gehörte nun mal auch der Name einer Ehefrau. Sie selbst hatte Phil gegenüber nie Onnis Namen in den Mund genommen, auch wenn er sich sicher denken konnte, dass es in ihrem Leben nicht nur ihn gegeben hatte.

Und dann, Ende letzten Jahres, hatte Phil sich sogar entgegen aller Abmachungen zwischen ihren Treffen gemeldet und ihr geschrieben, dass Hedi an einer Hirnblutung gestorben sei. Sie hatte das nicht wissen wollen, sie wollte überhaupt nichts von Phils Leben in Deutschland wissen. Und jetzt kreisten ihre Gedanken um nichts anderes als um Phil.

Riitta setzte sich mit dem Ingwertee in ihren Lesesessel im Wohnzimmer. Der Tee war zu heiß, sie blies auf die Oberfläche und stellte ihn, ohne einen Schluck getrunken zu haben, auf den abgesägten Holzstamm, der ihr als Beistelltisch diente und der sie immer an Onni erinnerte. Onni war es, der vor Jahren die uralte kaputte Birke abgesägt und den Stamm von der Rinde befreit hatte. Er war es, der auf die Idee gekommen war, den Holzstamm als Tisch zu benutzen. Nein, sie hatte Onni Phil gegenüber nie erwähnt, auch nicht, als er gestorben war. Es wäre ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen, ihn darüber zu informieren. Onni und sie, das war eine Sache, Phil und sie eine völlig andere.

 

Am Abend kam kühler Wind aus Norden auf. Regen war angesagt. Eigentlich waren die Abende im Juni oft hell und klar, weil die Sonne sich nicht mehr hinter dem Horizont versteckte. Doch jetzt war es trüb und ungewöhnlich dunkel. Riitta schaute nach ihren Pflänzchen und sicherte die Plane auf dem Holzstoß mit dicken Scheiten, damit der Wind sie nicht abdeckte und das Holz nass würde. Dann ging sie in die Küche und kochte sich Rentiergulasch mit Pasta. Aber sie ließ den halb leeren Teller stehen. Sie hatte keinen Appetit. Ihre Gedanken kreisten ständig um Phil.

4

»Bald fahren wir mit Opa weg«, sagte Leni.

»Freust du dich?« Johanna legte das Vorlesebuch beiseite, auf das sich Leni heute Abend kaum konzentrieren konnte, und deckte ihre kleine Tochter zu.

Leni nickte. Sie schwieg und schaute aus dem Fenster.

Draußen war es noch hell, und Johanna zog die Vorhänge vor.

»Ich glaube, Opa ist krank. Er schnauft manchmal so komisch. Ganz laut. Wie eine Lokomotive.« Leni grinste und versuchte, das Schnaufen nachzumachen.

»Er hat manchmal Probleme mit dem Atmen.«

»Und warum will er dann eine Reise machen?«

»Er möchte uns gerne ein Land zeigen, das er sehr mag, und …«

»Stirbt Opa bald?«, unterbrach Leni sie und schaute sie mit großen Augen an.

Johanna erschrak. Merkte ihre Kleine, dass sie sich um ihren Vater sorgte?

»Opa ist ja schon ganz schön alt. Er hat auch schon ganz weiße Haare«, fuhr Leni fort. »Annas Oma ist letzte Woche gestorben.« Sie setzte sich noch einmal auf. »Deshalb trägt sie jetzt immer eine Halskette. Da ist ein Bild von ihrer Oma drin. ›Dann hab ich sie immer bei mir‹, hat Anna gesagt. Ich will aber keine Halskette mit Opa drin. Die schlenkert immer so blöd, und man muss aufpassen, dass man beim Spielen nicht mit ihr hängen bleibt. Gestern ist Annas Kette kaputtgegangen, und sie hat den ganzen Nachmittag geweint.«

»Uns fällt bestimmt etwas ein, was du einmal von Opa bekommen könntest. Aber jetzt lebt er ja noch, und übermorgen gehen wir erst mal auf große Reise.« Johanna lächelte.

»Im Wohnmobil. Da haben wir alle Platz.«

»Genau, im Wohnmobil.«

»Startet das auch immer?«

»Keine Sorge, das Wohnmobil ist besser in Schuss als unser alter Golf.«

Ihr Vater hatte sie letzte Woche mit seinem Wunsch nach Finnland zu fahren völlig überrumpelt. Er hatte bereits alles geplant und sie vor vollendete Tatsachen gestellt.

»Das Wohnmobil ist top gepflegt«, hatte er gesagt. »Damit bin ich mit Hedi vor drei Jahren sogar bis nach Sizilien gefahren, ohne eine einzige Panne. Und seither stand es in der Garage. Da wird es auch nach Lappland kommen.«

»Lappland?« Johanna hatte ihn erstaunt angeschaut. »Ganz schön weit weg. Willst du dahin, wo du im Sommer immer mit Ludwig Golf-Urlaub gemacht hast?« Johanna wusste, dass ihr Vater seit vielen Jahren regelmäßig nach Finnland gereist war. Als Leiter der Volkshochschule hatte er viele freie Wochen gehabt, und ihre Mutter hatte sich nie etwas aus dem Norden gemacht. Sie hatte lieber Sonne und Strand genossen.

Auf dem Wohnzimmertisch breitete ihr Vater eine riesige Skandinavien-Karte aus. Mit dem Zeigefinger