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Klimawandel, Kriege und Seuchen haben der Menschheit arg zugesetzt. Davor geschützt führt jedoch eine kleine Schar Menschen in einer künstlichen Welt vollkommen abgeschottet von der Außenwelt ein beschauliches Leben als Ackerbauern. Sie ahnen von nichts. Elisa, eine junge Frau, vollbringt dort wie all die anderen ihr Tagwerk unter den gestrengen Augen der Irratio, die wie Götter über die Menschen zu wachen scheinen. Tagein, tagaus führen sie alle ein gleichförmiges Leben. Bis mit einem Mal ein Fremder in Elisas Leben eindringt und ihr Weltbild ins Wanken gerät. Ihr Herz schlägt wie wild, als in mondheller Nacht eine so fremde, aber auch vertraute Stimme so wundervolle Worte in ihr Ohr haucht. Es ist Janos, ihr Freund aus Kindertagen, den sie vor so vielen Jahren als Menschenopfer den Irratio dargebracht haben, um das Leben aller anderen Menschen zu verschonen. In diesem Augenblick zerbricht Elisas Welt, so wie sie sie bisher kannte. Je mehr Fragen Elisa stellt, desto mehr begreift die junge Frau, dass die Welt gar nicht so klein ist, wie man es ihr immer gesagt hat, sondern dass draußen eine noch viel größere, unbekannte Welt wartet. Aber auch, dass diese ihre kleine Welt, die eher eine künstliche Siedlung im Nirgendwo ist, bald dem Untergang geweiht sein wird. Ihr Onkel Jakob ist der Hüter der Welt, der alles zusammen halten muss und Elisa als seine Nachfolgerin auserkoren hat. Zögerlich weiht er Elisa in die Geheimnisse ihrer abgeschotteten Welt ein. Im Hintergrund wirkt Irraton, die alles steuernde künstliche Intelligenz, auf Elisa ein, um sie auf die ihr zugedachte Aufgabe vorzubereiten. Zwischen all diesen Akteuren kämpft Elisa um ihren Platz und ob sie will oder nicht: sie muss sich der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft stellen. Nicht nur das: Am Ende bekommt sie gar das Schicksal aller in die Hände gelegt...
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Seitenzahl: 446
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Jörg Geisbüsch
Die Farben im Paradies
Roman
1. Kapitel
in dem die Welt noch immer so ist, wie sie ist – nur ein wenig anders
2. Kapitel
in dem das Gestern, das Heute und das Morgen ein wenig durcheinandergeraten
3. Kapitel
in dem Regen fällt, der nicht fallen sollte, es aber trotzdem tut
4. Kapitel
in dem es Frühstück gibt, einen Spaziergang und eine unheilvolle Versammlung
5. Kapitel
in dem manche Menschen das bekommen, was sie sich schon immer erhofft hatten oder auch nicht
6. Kapitel
in dem es viele Träume gibt – manch wirre, manch banale aber umso gefährlichere
7. Kapitel
in dem es um Abschiednehmen geht
8. Kapitel
in dem sich Elisa offenbart, dass die Welt gar nicht so klein ist
9. Kapitel
in dem Zeitgenossen und Welten aufeinanderprallen
10. Kapitel
in dem manches anders ist, manches aber auch wie eh und je
11. Kapitel
in dem es um Helden geht – manche wären es gerne, manche waren es, manche werden es, aber niemand scheint sie mehr haben zu wollen
12. Kapitel
in dem Menschen auch nur Menschen sind und ein Versprechen auch nur ein Versprechen ist
13. Kapitel
in dem noch jemand die Bühne betritt – der aber kein Er und keine Sie ist
14. Kapitel
in dem diejenigen Männer zu Wort kommen, die sich wirklich auskennen und die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fest im Blick haben
15. Kapitel
in dem die Frage aller Fragen beantwortet wird
16. Kapitel
in dem Elisa den ihr zugedachten Platz einnimmt
17. Kapitel
in dem die großen Steine ins Rollen geraten
18. Kapitel
in dem es um die Wurst geht oder den Braten – wie man es nimmt
19. Kapitel
in dem herauskommt, was so alles im Kochtopf landet
20. Kapitel
in dem es hoch hergeht – sowohl am Boden als auch in der Höhe
21. Kapitel
in dem die Menschen in eine neue Zukunft geführt werden oder auch nicht
22. Kapitel
in dem alles ein Ende hat oder einen Anfang oder wie auch immer
Texte: © 2020 Copyright by Jörg GeisbüschCover:© 2020 Copyright by Jörg Geisbüsch
Verlag:
Jörg Geisbüsch
Obertorstr. 1856729 [email protected]
„Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
behaart und mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
bis zur dreißigsten Etage.“
Erich Kästner, Die Entwicklung der Menschheit
Man hatte die Hässlichkeit aus der Welt verbannt. Diese hier war schön. So jedenfalls empfand es Elisa, als sie auf die kleine Waldlichtung hinaustrat. Eine warme Brise umschmeichelte ihre Wangen, obschon die Schatten der Bäume merklich länger wurden. Die Sonne stand bereits tief am Himmel.
Die junge Frau atmete tief durch und sog die warme Frühlingsluft ein. Ach, war sie froh, hier nun eine kleine Weile für sich zu sein. Müde schlenderte sie über die Lichtung hin zu dem großen Apfelbaum, der zu dieser Zeit unzählige, wunderschöne Blüten trug.
Dort, zu seinen Füßen, ließ sich Elisa ins Gras fallen, schloss ihre Augen und horchte in die Welt um sie herum hinein, wie sie es so oft tat. Sie lauschte dem leisen Plätschern des kleinen Baches, der nicht weit von hier entsprang. Sie hörte das Summen der Insekten, die um all die Blütenpracht herumschwirrten. Sie tauchte ein in die Lieder der Vögel, die in den Wipfeln der Bäume saßen und ihre Weisen zum Besten gaben. Frieden umgab sie.
Elisa öffnete ihre Augen und schaute blinzelnd in den Abendhimmel. Sie seufzte. Ihre Glieder waren steif von einem langen, arbeitsreichen Tag auf den Feldern des Dorfes. Von früh an waren sie alle auf den Beinen gewesen. Während die einen das große Fest am Abend vorbereiteten, waren die anderen auf die Felder hinausgegangen und hatten Kartoffeln gepflanzt. Alle – Alt und Jung – waren zu dieser Zeit des Jahres auf den Beinen und packten mit an. Jetzt galt es, die Felder zu bestellen. Erst Getreide, dann Kartoffeln.
Was daraus erwuchs, war es, wovon sie ein ganzes Jahr lang satt werden mussten. Jede Hand wurde gebraucht, um die Saat auszubringen. Waren sie fleißig, so wurde es ein gutes Jahr. Waren sie es nicht, so konnte das die gesamte Ernte des Jahres gefährden. Denn jene sahen alles. So sagte man.
War Elisas Alltag auch sehr streng und straff organisiert, so gab es aber doch einige wenige Freiheiten. Das heißt, Elisa nahm sich diese Freiheiten heraus. Dieser Ort hier war eine davon. Elisa hatte die Lichtung vor Jahren durch Zufall entdeckt, als sie als kleines, neugieriges Mädchen mit ihrem besten Freund unbekümmert durch Wald und Flur strolchte. Ihre Eltern hatten es ihnen zwar verboten, sich zu weit in den Wald vorzuwagen, aber schon damals war Elisa ein wenig anders als die anderen gewesen.
Sie liebte es, sich einfach davonzustehlen und die Welt zu erkunden. Neues zu entdecken. Sicher hatte auch sie Angst vor dem, was die Alten erzählten. Vor dem, was da draußen lauern konnte. Aber ihre Neugier war immer stärker gewesen und hatte sie angetrieben. Und so hatte sie eines Tages diesen Ort hier entdeckt. Seitdem kam sie regelmäßig zu der Lichtung. Früher mit ihrem besten Freund Janos. Heute, um allein zu sein.
Hier war sie vollkommen für sich, denn sonst traute sich niemand hierher. Dieser Ort lag ihnen allen zu nahe an der Grenze. Die anderen suchten lieber den Schutz des Dorfes, der Gemeinschaft. Aber Elisa hatte von dieser Gemeinschaft hin und wieder die Nase voll. Und gerade heute sehnte sie sich noch nach etwas Einsamkeit, denn am Abend wurde das Genaro – das große Fest gefeiert. Da würden dann auch wieder alle zugegen sein. Alle Bewohner ihrer kleinen Welt.
Nein, für den Moment lag die junge Frau lieber hier im Gras. Die Augen geschlossen. Entspannt. Zufrieden. Geborgen.
Doch da! Etwas knackte im Unterholz. Der Eichelhäher schlug Alarm. Urplötzlich wurde es still, unheimlich. Was war da los? Das war kein Tier, so viel war Elisa sofort klar. Angst beschlich sie. War ihr doch jemand gefolgt? Unwahrscheinlich. Alle anderen waren schon vor ihr nach Hause aufgebrochen. Was dann?
War es einer der Irratio? Einer jener Geister, die hinter der Grenze herrschten? Elisa fröstelte. So musste es ja einmal kommen. Wie oft hatten sie ihre Mutter und ihr Onkel nicht davor gewarnt, hierhin zu gehen. So nah dem verbotenen Wald – dem Reich der Irratio. Elisa hatte das immer abgetan. Aber nun überkam sie dieses Schaudern.
Ängstlich kauerte sich die junge Frau ins Gras und wartete. Wieder knackte es. Jemand kam. Elisa konnte seine Anwesenheit deutlich spüren. Alle Muskeln ihres Körpers waren zum Bersten gespannt. Gebannt richtete sie ihren Blick auf die gegenüberliegende Seite der Lichtung.
Äste knackten, Blätter raschelten. Dann schließlich, nach einer schieren Ewigkeit, bahnte sich eine Gestalt den Weg durch die Hecken. Ein, zwei, drei Schritte und sie trat auf die Lichtung hinaus. Elisa hielt die Luft an, damit nur ja kein Laut über ihre Lippen drang. Sie schaute ihn an.
Der, der dort stand, war ein Mann. Womöglich. Jemand, den Elisa jedoch noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Dabei kannte sie alle Männer ihrer Welt. Die junge Frau war irritiert. Auch davon, dass der dort zwar aussah wie ein Mann, aber doch auch wieder so ganz und gar nicht.
Sie betrachtete ihn eingehend und mit wachsender Neugier. Er trug seltsame Kleider. Sie schienen weder aus Leinen noch aus Wolle zu sein – wie Elisas eigene Kleidung. Der da hatte etwas Blaues an. Eine Art enges Kleid, das vom Hals bis zu den Füßen reichte. So etwas hatte die junge Frau noch nie gesehen. Und dann hatte dieser blaue Mann da noch so ein seltsames, metallisches Ding auf seiner Nase. Und Haare, Haare hatte er auch keine mehr.
Für einen Moment hatte Elisas unbändige Neugier die Oberhand über ihre Gefühle erlangt, doch kehrte die Angst unvermittelt zurück, denn der blaue Mann setzte sich wieder in Bewegung und kam nun direkt auf Elisa zu.
Während er ging, schaute er sich suchend und unschlüssig um. So, als habe er sich verlaufen oder als suche er etwas. Schritt für Schritt kam er näher an Elisa heran.
Noch waren es fünfzehn Schritte, bis er Elisa unweigerlich entdecken musste. Noch zehn, noch fünf. Abrupt blieb der blaue Mann stehen. Elisas Herz schlug ihr bis zum Hals. Der blaue Mann stand jetzt still, richtete seinen Blick in die Sonne und zögerte. Da, er holte etwas aus seinem blauen Kleid hervor und hielt es der Sonne entgegen. Was tat er da? War das eine Zeremonie? Elisa schaute gebannt hin.
Eine Zeitlang stand der blaue Mann einfach so da und hielt so etwas wie ein Kästchen gen Himmel. Die Sekunden dehnten sich zur Ewigkeit. Doch je länger es dauerte und je länger Elisa ihn genauer betrachtete, desto mehr wich die Angst wieder ihrer Neugier. Der, der da vor ihr stand, war wirklich ein richtiger Mensch. Ein dicker gar, mit gutgewachsenem Bäuchlein. Und auf dem Kopf fehlte ihm das ein oder andere Haar. So aus der Nähe betrachtet, strahlte der blaue Mann ganz und gar nichts Furcht erregendes aus. Er wirkte eher unbeholfen und gutmütig.
Nun nahm der blaue Mann die Hände wieder herunter und verstaute den Kasten in seinem Kleid. Er klopfte mit den Händen auf seine Hüften und setzte sich tapsend in Bewegung. Elisa atmete erleichtert auf, denn er schlug den Weg ein, auf dem er hergekommen war. Immer weiter entfernte er sich von der im Gras kauernden Elisa. Wenige Augenblicke später hatte der blaue Mann den Waldrand erreicht. Dort sah Elisa ihn noch unbeholfen stolpern, dann verschwand er unter Flüchen zwischen den Hecken.
Einsam und friedlich lag die Lichtung wieder da. Die unheimliche Stille war alsbald vorüber. Erst zaghaft, doch dann umso ausgelassener fingen die Vögel wieder an zu zwitschern. Elisas Herz aber schlug noch immer wie verrückt. Für einige Augenblicke verharrte sie weiterhin kauernd auf dem Boden, dann fiel die Anspannung von ihr ab und sie atmete tief durch. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich gänzlich beruhigt hatte. Um sie herum war schon alles wieder so, als sei nie etwas gewesen. Die Vögel sangen, die Bienen summten und die Blätter raschelten im Wind.
Elisa saß im Gras und starrte auf den Waldrand, dem seltsam anmutenden Mann hinterher. Und da war sie wieder. Diese Neugier. Was hatte das zu bedeuten? Wer war das? Zu bizarr war die ganze Szenerie gewesen, als dass Elisa sie hatte begreifen können. Darum wollte die junge Frau unbedingt mehr erfahren. Und so Furcht erregend war dieser Mann doch gar nicht gewesen! Also packte sie all ihren Mut zusammen, stand auf und ging langsam auf die Stelle des Waldes zu, wo der blaue Mann soeben verschwunden war.
Sie betrachtete die dichte Hecke aus Schlehdorn. Eigentlich war hier kein Durchkommen, doch dann entdeckte sie die Fußspuren. An jener Stelle gab es eine kleine Lücke zwischen den Büschen. Sie zauderte, wischte ihre Zweifel aber rasch beiseite und zwängte sich zwischen den Ästen hindurch.
Als die Hecken sie wieder freigaben, stand sie in einem lichten Wald aus Buchen und Eichen. Deutlich sah sie die Spuren des blauen Mannes. Von Wissendurst getrieben folgte sie diesen Spuren tiefer in den Wald hinein. Die Augen fest auf den Boden gerichtet, um seine Spur nicht zu verlieren, lief sie über den Waldboden. Mit jedem Schritt wurde der Wald um sie herum dichter und finsterer. Irgendwann stand sie vor einer dichten Wand aus Fichten, die sich drohend gen Himmel reckten.
Überrascht hob Elisa den Blick vom Boden, schaute auf die Stämme der Bäume und schrak zusammen. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht, als sich ihre Augen auf das unübersehbare Zeichen auf den Bäumen hefteten: das Mal der Irratio. Es zeigte einen dicken roten Kopf mit einer grässlichen Fratze und verzerrten Augen. Groß und unmissverständlich prangte das Zeichen an den Bäumen. Die Botschaft war unmissverständlich: Wage es ja nicht weiterzugehen!
Denn hier begann das Reich der Irratio. Das war sie also, die Grenze zum verbotenen Wald. Bis hierher und nicht weiter, so besagte es der Codex. Auf der anderen Seite lag das Reich der Geister, das Reich des Todes.
Beim Anblick des Mals begann die junge Frau zu zittern. Fassungslos über ihre eigene Unvernunft haderte sie mit sich selbst: Hatte das Schicksal sie nicht schon genug verschont für heute? Musste sie es denn geradezu noch herausfordern?
Elisa wollte nur noch weg. Nur noch nach Hause. Sie schaute sich um. Alles schien ruhig. Nichts war zu sehen, nichts zu hören. Einigermaßen beruhigt drehte sich Elisa um und schlich langsam zurück zur Lichtung. Dabei drehte sie sich immer wieder ängstlich um, um zu sehen, ob ihr nicht doch jemand oder etwas folgte. Doch da war nichts. So erreichte sie schließlich wieder ihre Lichtung. Dort angekommen fiel sie ins Gras und begann zu weinen. Sie konnte die Tränen einfach nicht zurückhalten.
Doch schon bald waren die Tränen versiegt. Und Elisa wurde wütend. Sie hatte doch nichts Böses getan. Nein, er war es. Dieser seltsame, blaue Mann. Er war einfach so hier in ihre beschauliche, kleine Welt eingebrochen. Was hatte er hier zu suchen? Elisa wusste es nicht, doch sie ahnte, dass da weitaus mehr dahintersteckte. Und sie würde es herausfinden. Langsam setzte die Dämmerung ein. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Mit gemischten Gefühlen machte sich die junge Frau auf den Heimweg.
Tief in Gedanken versunken lief sie durch den Wald. Elisa kannte den Weg in und auswendig, so oft schon war sie ihn gegangen. Während ihre Füße dem schmalen Weg folgten, kreisten in ihrem Kopf die Gedanken. Alles war so merkwürdig, so äußerst absurd. Wer war dieser blaue Mann?! Wo kam er her? Was hatte er dort getan? So sehr war sie mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie auf die Welt um sie herum gar nicht mehr achtete.
Erst als sie den Wald verließ und sich vor ihr die Felder erstreckten, wurde sie aus ihrem Grübeln gerissen. Doch da war es schon zu spät. Nicht weit von ihr entfernt sah sie den Franz. Elisa biss sich auf die Lippe und fluchte innerlich. Der hatte ihr gerade noch gefehlt! Was für ein Tag!
Nun, der Franz war nicht gerade ein furchtbarer oder gar unansehnlicher Zeitgenosse. Ganz im Gegenteil. Er war groß, kräftig und gut gebaut – ein blonder Hüne mit wallender Mähne. Selbst Elisa gestand sich ein, dass sie ihn anziehend fand; so lange er allerdings mehr als zehn Meter entfernt war und nicht den Mund auftat. Denn wenn er sprach, brachte Elisa das immer in Rage. Nun, er sprach nicht viel, nicht viel Gescheites jedenfalls. Aber oh, wie sie es hasste, wenn er anfing zu prahlen. Hach, er war einfach dumm wie Stroh, fand Elisa. Und eine Begegnung mit ihm war nun genau das, was sie noch gebrauchen konnte.
Der blonde Jüngling hatte Elisa bisher den Rücken zugewandt und war zu sehr mit seinem Pferd und seinem Karren beschäftigt gewesen, um Elisa zu bemerken. Die junge Frau hoffte für einen winzigen Augenblick, es könnte ihr gelingen, sich wieder leise in den Wald zurück zu schleichen. Doch zu spät. Der Franz drehte sich um und schaute ihr geradewegs in die Augen.
Fürs erste war er völlig verdutzt, dann jedoch grinste er bis über beide Ohren. Elisa erwiderte sein Grinsen sichtlich gequält. Langsam lugte auch der Kopf des Pferdes hinter seinem Rücken hervor. Es bleckte die Zähne, wieherte und stand damit seinem Besitzer in nichts nach. Elisa schaute das Pferd an, schaute den Franz an und fragte sich unweigerlich, ob nun das Pferd grinste und Franz die Zähne bleckte und wieherte oder umgekehrt. Schließlich wieherten beide. Eigentlich hätte Elisa da lachen müssen, aber im Augenblick war ihr nicht zum Lachen zumute.
„Na, Elisa“, feixte Franz und holte Elisa wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Hallo Franz“, entgegnete Elisa seufzend, „noch nicht zu Hause?“ Wohl oder übel würde sie nun mit dem Franz heimwärts gehen müssen. Was konnte sie sich bloß einfallen lassen, damit das nur halbwegs erträglich wurde?
„Nö, mein Klepper hier“, antwortete der Franz und klopfte seinem Pferd aufs Hinterteil, „der tut sich schwer mit der Karre. Ist ihm wohl zu voll beladen.“
Ja, ja du lässt schon auch immer gern die anderen schuften, dachte Elisa und bedauerte das arme Pferd. Da kam ihr eine Idee.
„Warum hilfst du ihm denn nicht beim Schieben?“, fragte sie den Franz ganz frech.
Von dieser Frage war der Franz sichtlich überrumpelt und so wusste er zunächst auch nichts darauf zu antworten. Stattdessen kaute er verlegen auf seiner Unterlippe.
„Hm, vielleicht hast du recht“, sagte er schließlich.
„Ich könnte ja vorne gehen und das Pferd führen. Du könntest von hinten schieben. Und wir wären ratz fatz zu Hause“, sagte Elisa sichtlich erfreut über ihren Einfall.
„Gute Idee“, befand Franz und nickte. Schon ging er um die Karre herum nach hinten und legte Hand an. Elisa nahm die Trense des Pferdes in die Hand und war erleichtert darüber, dass der Franz ihr nicht zu enge Gesellschaft leistete, sondern schön hinten die Karre anschob.
„Na gut. Franz, dann wollen wir mal nach Hause. Allez hopp“, rief sie und gab dem Pferd einen Klaps. So setzte sich der Tross in Bewegung. Elisa vorneweg, das Pferd ihr nach und ganz hinten schob der Franz. So trotteten sie einträchtig daher.
„Warst du wieder im Wald?“, fragte der Franz nach einer Weile leicht keuchend.
Elisa schwieg. Sie wusste, dass die anderen hinter ihrem Rücken über sie tuschelten. Doch das war ihr egal. Schließlich traute sich sonst niemand, zu der Lichtung zu gehen. So hatte sie dort wenigstens ihre Ruhe davor, ständig beobachtet und für gut oder schlecht befunden zu werden.
„Was hast du denn auf der Karre geladen?“, fragte Elisa dann, anstatt ihm eine Antwort auf seine Frage zu geben.
„Och, nur ein wenig Holz für den Winter“, erwiderte Franz. „Weißt du, direkt am Waldrand stand so eine riesige alte, dürre Eiche.“
Er hob die Hände über den Kopf und deutete an, wie riesig der Baum gewesen war.
„Der Wind hat sie umgeworfen und nun habe ich sie Stück für Stück zersägt und mit dem Pferd nach Hause geholt. So ein Baum war das, sag ich dir!“
Elisa wusste, dass er ein wenig übertrieb. Ein Blick auf den Karren verriet ihr, dass der Baum wohl nicht ganz so dick gewesen war. Aber tüchtig war der Franz allemal, das musste Elisa zugeben.
„Holz habe ich reichlich für den Winter. Schön warm und kuschelig ist es dann bei mir. Weißt du, wenn ich mal eine Frau hab, die soll es gut haben. Auch in den Wald könnte die gehen. Das wäre schon in Ordnung“, erklärte er keuchend, denn das Pferd war müde und Franz schob und mühte sich redlich mit der schweren Karre.
Elisa zog die Augenbraue hoch. Was in aller Welt meinte er damit?
Franz war zweiundzwanzig, ein Jahr älter als Elisa. Er war mittlerweile alt genug, so dass er schon alleine auf einem Hof wohnte und darauf wartete, zu heiraten. In dem Alter, in dem Elisa und Franz waren, wurden die Ehen nun mal geschlossen. Die junge Frau musste an die Zeit denken, als sie noch Kinder waren. Sie, Franz und Janos hatten hin und wieder miteinander gespielt.
Während Franz eben Franz war, hatte sie Janos abgöttisch geliebt. Er war so lustig und herzlich gewesen. Mit ihm hatte sie Pferde stehlen können. Wie lange war das schon her, dass er nicht mehr unter ihnen weilte? Er hatte gehen müssen, zum Wohle für seine Familie und für alle Menschen. Geopfert den Irratio. So war es nun einmal. Elisa schluckte. Ihr Herz wurde traurig, als sie nun an ihn dachte. Was für ein seltsamer Tag, dachte sie. Was wohl heute sonst noch alles geschehen mochte? Doch Elisa rief sich zu Ordnung und wischte die düsteren Gedanken beiseite. Es war eben so.
Die junge Frau richtete ihren Blick auf die Landschaft um sie herum. Das beruhigte sie immer. Elisa betrachtete die Felder und Wiesen längs des Weges. Sanft und ruhig lagen sie da in der Dämmerung. An den feuchteren Stellen blühte noch das Wiesenschaumkraut. Elisa mochte diese zarten, kleinen Pflänzchen, waren sie doch eher unscheinbare Frühlingsboten. Die Bäume entlang der Allee standen bereits in saftigem Grün. Ihre Mächtigkeit erfüllte Elisa immer wieder mit Ehrfurcht.
Vor Elisa, Franz und seinem Pferd waren nun auch bereits die Dächer der kleinen Häuser ihres Dorfes zu sehen. Das Pferd wieherte. Offenbar hatte es begriffen, dass es bald daheim im Stall sein würde.
„Na, bald sind wir ja zu Hause“, sagte Elisa, nur um etwas gesagt zu haben.
„Wird auch Zeit“, japste der Franz von hinten.
Missmutig aber auch nicht ganz ohne Vorfreude dachte Elisa an das Frühlingsfest, das sie heute Abend feiern würden. Es war eines dieser großen Feste, auf dem sich alle trafen und miteinander feierten. Und es waren eben auch die Gelegenheiten, wo die großen Ankündigungen gemacht wurden. Unter anderem die, wer wen heiratete.
Elisa wusste, dass sie dies nicht mehr völlig ignorieren konnte. Sie war nun einmal im heiratsfähigen Alter. Und da es nicht so sonderlich viele passende junge, unverheiratete Männer gab, blieb fast nur der Franz übrig.
So einfältig eben jener auch sein mochte, selbst er hatte wohl so seine Schlüsse gezogen. Elisa war in letzter Zeit schon öfter aufgefallen, wie er sie anschaute. Keineswegs aufdringlich, aber begehrend. Und so wie er vorhin gesprochen hatte? Sie hatte es immer verdrängt, aber bei dem, was ihr heute schon widerfahren war, würde das auch noch ins Bild passen.
Aber Elisa wollte nicht heiraten! Und schon gar nicht den Franz. Niemals! Ihre innere Abneigung steigerte sich in eine wahre Wut gegenüber der Welt und gegenüber dem, wie alles zu sein hatte. Grollend beschleunigte Elisa ihren Schritt. Das Pferd folgte ihr bereitwillig, war es doch das Signal zum Endspurt nach Hause in den Stall. Doch mit einem Mal zügelte Elisa abrupt das Tempo und blieb stehen.
Die junge Frau stand stocksteif da und schaute unschlüssig in Richtung Dorf. Sie sah von dort eine Gestalt heraneilen. Elisa erkannte ihren Onkel Jakob. Die wehenden grauen Haare und der leicht wiegende Gang waren unverkennbar. Von weitem wirkte es auf Elisa immer so, als umgebe ihn ein unsichtbares Leuchten. Das Leuchten des Allwissenden, des Ersten unter den Menschen.
Das war ihr Onkel. Er verfügte über ein enormes Wissen. Der weise Mann wusste alles über die Pflanzen, die Tiere und auch die Menschen. Und er wusste alles über diese Welt und die Welt der Irratio auf der anderen Seite. Als Erster unter den Menschen war ihr Onkel auch der Vermittler zwischen diesen beiden Welten. Jakob genoss ein hohes Ansehen, denn er war es auch, der mit Heilpflanzen umzugehen wusste und die Menschen gesund machen konnte. Er war Lehrer, Priester und Freund.
Elisa mochte ihn sehr; sie waren gute Freunde. Nur heute verstörte sie sein Anblick mehr, als dass sie sich darüber freute. So kam denn dieser Mann ihnen immer näher – etwas trieb ihn – und bald schon hatte er Elisa und Franz erreicht.
„Hallo“, keuchte er, „gut, dass ich euch hier treffe!“ Seine Verlegenheit konnte er jedoch nicht ganz verbergen.
Der Franz grinste verdattert. Elisa runzelte die Stirn. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Kam ihr Onkel etwa, um mit ihr und dem Franz alleine über gewisse Dinge zu sprechen? Jetzt dämmerte es Elisa. Natürlich, die anderen waren bereits alle zu Hause und nur sie beide waren noch nicht ins Dorf zurückgekehrt. Da lag es doch nahe, dass sie wohl zusammen von den Feldern heimkamen. Und wer weiß, was die Leute sich noch alles so zusammenreimten. Elisa schluckte schwer. Sie ahnte, was kommen würde. Und sie sah, dass auch der Franz in diese Richtung dachte. Er grinste immer noch. Elisa starrte ihren Onkel mit offenem Mund an.
Jakob war mittlerweile wieder zu Atem gekommen und blickte etwas verwirrt drein. Dann schien er der vertrackten Situation irgendwie gewahr zu werden, denn schließlich sagte er etwas umständlich: „Äh, nun ja, ich meinte, schön dass ihr beide zusammen ins Dorf kommt. Zu zweit. Ja. Obwohl ich ja nur mit Elisa gerechnet hatte. Hähä. Aber jetzt seid ihr beide ja hier und...“.
Elisas Unwohlsein wuchs. Sie kniff die Augen zusammen und fixierte ihren Onkel. Was sollte das bitte schön? Franz grinste immer noch, aber er begriff nun auch nichts mehr. Sein Pferd wieherte und zog kurzzeitig die Blicke auf sich. Musste der dämliche Gaul schon wieder so grinsen?
„Ihr zwei. Ja. Mann und Frau. Oh. Äh“, stammelte Jakob mit hochrotem Kopf.
Dann hatte er sich aber wieder im Griff, ging zu dem blonden Jüngling hin und legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter: “Ach Franz, es wäre gut, wenn ich einmal mit der Elisa allein sprechen könnte. Du weißt schon. Vielleicht machst du dich schon mal mit deinem Pferd und deiner Karre allein auf den Weg ins Dorf. Es ist ja nicht mehr so weit und wir sehen uns dann ja gleich auf dem Fest.“
Der Franz wusste nicht so recht, wie ihm geschah, dann zuckte er jedoch mit den Achseln und trieb sein Pferd an. Polternd setzte sich der Karren in Bewegung. Elisa und Jakob blickten ihnen nach. Franz ging nun voraus, das Pferd und der Karren rumpelten hinterdrein. Nach einer Weile wurde das Rumpeln leiser und Franz befand sich gänzlich außer Hörweite.
Elisa wartete. In ihr brodelte es, aber sie sagte nichts. Sie blickte ihren Onkel nur ernst und grimmig an. All das, was nun kommen mochte; er sollte es wahrlich nicht leicht haben. Wenn er heute Abend eine Verlobung – ihre Verlobung – bekannt geben wollte, dann nur über ihre Leiche. Ihre Antwort stand fest und die würde sie auch nie in ihrem Leben ändern. Für niemanden, den sie kannte.
Ihr Onkel schaute immer noch dem Franz hinterher. Dabei kratzte er sich mit der Hand am Hinterkopf, so als sei er sehr verlegen. Dieses Gebaren kannte Elisa von ihm gar nicht. Aber an diesem Tag wunderte sie sich über nichts mehr. Langsam drehte sich Jakob zu ihr um und schaute seine Nichte an.
„Komm mit“, sagte er dann und ging ein Stück in Richtung Dorf. Elisa folgte ihm wortlos. Er steuerte auf eine kleine Bank am Wegesrand zu. Unweit davon lag ein Steinhaufen, den die Dorfbewohner über die Jahrzehnte hinweg aufgeschichtet hatten. Jakob ließ sich auf der Bank nieder. Elisa tat es ihm gleich. Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Dann las Jakob einen Stein vom Boden auf und betrachtete ihn eingehend.
Schließlich begann er zu reden: „Das Leben ist schon seltsam. Sieh nur diesen Stein hier. Ein Quarzit. Vor langer Zeit waren das einmal Sandkörner, die ins Meer gespült wurden. Dort haben sie sich auf dem Grund des Meeres angesammelt. Mehr und mehr Körner kamen dazu. So ging es eine lange Zeit und weil obenauf immer mehr Körner hinzukamen, wurde der Sand zu Stein, zu Sandstein. Dann verging wieder eine lange Zeit. Der Sandstein wurde nochmals zusammengedrückt.
Die Sandkörner wurden noch mehr zusammengepresst und am Ende entstand dann dieser Quarzit. Aber es dauerte viele Menschenleben, bis er überhaupt einmal aus der Tiefe der Erde ans Tageslicht kam. Dort haben ihn dann unsere Mütter und Väter aus dem Boden herausgeschlagen und mit ihm ein Haus gebaut. Viele, viele Jahre haben sie darin gelebt – Eltern, Söhne, Töchter und Enkel – bis das Haus eines Tages zusammenfiel. Dann haben sie mit den anderen Steinen ein neues Haus gebaut. Nur diesen Stein hier, den brauchten sie nicht mehr und brachten ihn hierher auf die Wiesen, wo er nun neben so vielen anderen liegt und darauf wartet, dass mit ihm etwas Neues erschaffen wird.“ Jakob seufzte und holte tief Luft.
„Was denkst du?“, wandte er sich an seine Nichte. „Wenn er reden könnte, was würde er uns wohl zu sagen haben? Über uns. Über unsere Vorfahren. Er könnte so einige wundersame Geschichten erzählen. Er würde dir auch einige Dinge erzählen, die du vielleicht gar nicht begreifen könntest. Denn wir Menschen haben auch eine Geschichte. Eine Geschichte, die ich euch schon so oft erzählt habe und auch eine Geschichte, die ich dir noch nicht erzählt habe. Unser Leben war nicht immer so wie wir es heute führen. Die Menschen früher haben ein wenig anders gelebt als wir heute.“
Jakob geriet ins Stocken. Immer noch sah er seine Nichte nicht an. „Aber was uns und den Stein verbindet ist, dass es uns gibt. Den Stein und uns Menschen. Der Stein wird noch lange da sein...“, fügte Jakob noch hinzu und verstummte schließlich. Sein Blick wurde trüb und verlor sich in der Ferne.
Elisa hatte die ganze Zeit neben ihm gesessen und ihm zugehört. Aber sie hatte nicht wirklich begriffen, worauf er hinaus wollte. Was sollte das? Da ihr Onkel von alleine nicht mehr weiter zu reden schien, sah sie sich genötigt, eine Frage zu stellen: „Warum erzählst du mir das alles?“
„Weil Menschen manchmal Dinge sehen, die sie eigentlich gar nicht sehen sollten. Dinge, die sie nicht begreifen können“, gab er ihr zur Antwort. Dabei blickte er noch immer gedankenversunken auf die Steine. Nun war es an Elisa, vollends verwirrt zu sein. Wusste ihr Onkel, dass sie auf der Lichtung diesen Fremden gesehen hatte? Aber woher sollte er das wissen?
„Was meinst du damit?“, fragte sie ihn.
„Nun, die Dinge sind manchmal nicht so wie sie scheinen“, sagte er geheimnisvoll. „Leider auch nicht in unserer Welt hier. Glaub mir, wenn es einfach wäre, würde ich dir hier auf der Stelle alles erklären, aber das ist es nicht. Wenn die Zeit kommt, werde ich dir reinen Wein einschenken. Bis dahin, bitte hab Geduld und hadere nicht.“
Als er dies zu Elisa sagte, hatte er sich ihr zugewandt und schaute ihr direkt in die Augen. Die junge Frau blickte in seine tiefen, dunklen Augen. Sie hörte die Worte und sie sah ihn an. Für einen kurzen Augenblick war es ihr, als könne sie plötzlich tief in sein Innerstes sehen. Was sie sah, verwirrte sie, denn es war eine eigenartige Mischung aus Stärke, Schwäche, Angst, Vertrauen, Verzweiflung und Hoffnung. Wie konnte ein Mensch all das zugleich in sich tragen?
Es war das erste Mal für Elisa, dass sie ihren Onkel so sah. In diesem Augenblick erblickte sie in ihm einen Menschen voller Gefühle und Widersprüche. Seltsamerweise verwirrte und beruhigte sie diese Erkenntnis zugleich. Sie wusste, dass er ihr Erlebnis von heute kannte. Sie wusste nicht woher, aber sie stellte ihre Fragen fürs erste zurück. Sie würde warten, bis Jakob es ihr sagte. Also schwieg sie.
„Komm lass uns gehen“, forderte Jakob sie auf. „Die anderen warten schon. Das große Fest geht bald los“. Jakob nahm Elisas Hand, drückte sie fest und zog sie von der Bank hoch. Seite an Seite gingen sie nach Hause.
„Also willst du mich nicht mit dem Franz verloben?“, fragte Elisa, um zumindest in diesem Punkt Klarheit schaffen zu können.
„Was? Wie?“, stammelte Jakob völlig verdutzt. „Ach so. Ach je. Das habt ihr beide vorhin gedacht! Du und der Franz?! Aber nein, aber nein!“ Der Gedanke schien Jakob völlig abwegig, was Elisa sehr beruhigte. Obwohl die Vorstellung, wie der arme Franz mit einer Frau wie Elisa fertig werden wollte, schon auch etwas Amüsantes an sich hatte, fand Jakob. Er schüttelte den Kopf.
„Auf dich wartet etwas anderes“, sagte er. „Vielleicht wirst du dir später sogar einmal wünschen, lieber den Franz geheiratet zu haben. Aber so oder so. Auf dich wartet etwas anderes!“
Schon wieder sprach Jakob in Rätseln und da er nicht in der Stimmung schien, irgendwelche erhellenden Erklärungen zu liefern, stellte Elisa keine Fragen mehr. Sie wusste, dass sie heute keine Antworten mehr erhalten würde. Sie wusste nicht, wann sie überhaupt eine Antwort erhalten würde. Vor allem wusste sie in diesem Augenblick nicht, ob sie überhaupt eine Antwort erhalten wollte.
Die Dämmerung hatte sich bereits über das Land gelegt, als Jakob und Elisa endlich das Dorf erreichten. Rotweiße Fachwerkhäuser ragten links und rechts der Straße empor und grüßten sie stumm. In ihren Fenster brannte nirgends Licht, denn ihre Bewohner waren längst aufgebrochen zum Dorfplatz. Am heutigen Festtag blieb kein Mensch zu Hause; alle hatten sich auf dem Platz eingefunden. Elisa und Jakob hörten das Lärmen der Menschen schon von weitem. Onkel und Nichte bogen gerade in die Dorfgasse ein, als eine kleine Gestalt an ihnen vorüber huschte. Sie trug etwas Großes in Händen.
„Michael!“, rief Jakob erstaunt und ungehalten zugleich. Der Angesprochene hielt inne, wandte sich um und kam mit gesenktem Kopf zurück geschlichen.
„Ja“, sagte Michael sichtlich verlegen.
„Wo kommst du denn her? Solltest du nicht längst auf dem Dorfplatz sein? Und was trägst du da überhaupt mit dir herum?“, fragte Jakob streng. Man sah es dem Jungen selbst in der Dunkelheit an, dass es ihm unangenehm war, so ertappt worden zu sein. Er wollte nicht recht mit der Sprache heraus.
„Na los, sag schon, was du da hast!“ Jakobs Tonfall wurde ungehaltener.
„Ich hab was gefunden“, nuschelte der Junge.
„So? Was denn?“ Jakob wollte es genau wissen.
„Och, nur so was Kleines“, druckste Michael herum. „Da war so ein Kästchen zwischen den großen Steinen da hinten hinter dem Dorf. Da war diese kleine Maschine drin, mit der man Dampf machen kann. Oder so ähnlich. Glaub ich jedenfalls. Und dann hab ich einfach mal damit rumgespielt und das mit dem Dampf herausgefunden. Wie das geht. Durch den Dampf kann man hier vorne so eine Kurbel bewegen. Und wenn sich alles dreht, dann kann ich vielleicht über eine Schnur etwas Anderes wie ein Rad oder so antreiben. Und wenn wir das dann in groß bauen würden!“ Das Leuchten in Michaels Augen war sogar noch im Dämmerlicht zu erkennen.
„Das hast du dir ausgedacht?“, fragte Elisa sichtlich erstaunt, ohne dass sie das alles bis ins Letzte verstanden hatte.
„Na ja“, antwortete Michael. „Ich hab die Teile eigentlich nur gefunden und damit gespielt. Sieht so aus, als ob jemand das da mal versteckt hat. Am Anfang wusste ich nicht recht, was es sein soll. Aber beim Feuer machen kam mir dann irgendwie die Idee mit dem Dampf. Und heute wollte ich es dann mal ausprobieren. Es klappt schon ganz gut.“
„So, so“. Jakob nickte ernst. „Sachen, die man zwischen Steinen findet. Wo die wohl herkommen. Und Dampf. Und eine Maschine. Nun ja, nun ja. Bist ein pfiffiges Kerlchen. So, aber jetzt bring das mal schnell nach Hause und dann nichts wie ab auf das Fest. Gleich geht es los und wir warten nicht auf dich!“ Jakob schickte den Jungen davon. Michael ließ sich das nicht zweimal sagen und verschwand im Dunkel der Gassen.
„Ein ganz schön aufgeweckter Junge“, befand Elisa als sie mit ihrem Onkel wieder allein war. „Er erinnert mich sehr an Janos.“ Traurig blickte sie dem Jungen nach.
„Mich auch“, antwortete Jakob grummelnd. „Komm, lass uns gehen! Vergessen wir das Ganze! Die anderen warten schon.“
Sie hatten nur noch eine letzte Biegung vor sich, dahinter erstreckte sich der Dorfanger. Überall hatte man kleine Feuer angezündet, um den Platz auch im Dunkel der aufziehenden Nacht hell zu erleuchten. Elisa liebte diesen Anblick. Jedes Mal bekam sie eine Gänsehaut. Die Schatten der züngelnden Feuer tanzten frivol an den Wänden der Häuser. Je dunkler es wurde, desto wilder schienen sie zu tanzen. Jakob und Elisa näherten sich nun den anderen. Die Stimmung war heiter und erwartungsvoll wie jedes Jahr. Fröhlich wurden sie begrüßt. Elisa sah ihre Mutter auf sich zukommen.
„Ach Kind“, sagte die vorwurfsvoll, „wo hast du dich denn schon wieder herumgetrieben? Sag, du siehst ja ganz mitgenommen aus? Komm her und setz dich mal. Dann iss und trink und dir wird es gleich besser gehen!“ Und bevor Elisa auch nur ansatzweise etwas erwidern konnte, hatte sie schon einen Krug Bier und einen Teller Suppe in Händen.
„Hier wird nicht protestiert, hier wird gefeiert!“, sagte ihre Mutter resolut. Erschöpft ließ sich Elisa neben ihre Mutter auf die Bank sinken und gestattete es sich, auch nur noch einmal Tochter zu sein. Sie aß, trank und blendete die Gedanken an das heute Erlebte aus.
Der Zauber des Frühlingsfestes hatte sie schnell in seinen Bann gezogen. Genau wie all die anderen Menschen um sie herum. Das Treiben nahm seinen Lauf. Der Platz war proppenvoll mit allen Bewohner der drei Dörfer. Das Frühlingsfest wurde traditionell von den Bewohnern aus Freudental ausgerichtet, Elisas Heimatdorf, welches auch zugleich das größte aller Dörfer war.
Zu den Festen kamen die Menschen von überall her zusammen, dann bildeten sie eine verschworene Gemeinschaft. Die Männer aus Esperanza grölten mit denen aus Beauville und die Frauen aus Esperanza schäkerten mit den Männern aus Freudental. Und umgekehrt.
Diese Feste waren etwas Besonderes. Es gab Bier in rauen Mengen, dazu Kartoffelsuppe, Gemüse und Salat im Überfluss. Und als besondere Delikatesse: Wildbret, Schweine- und Rindfleisch. An diesen Abenden durften die Menschen einmal richtig über die Stränge schlagen. Und das kosteten sie auch aus. Die Stimmung war ausgelassen und tat schon bald ihr Übriges, dass von Elisa alle trüben Gedanken abfielen. Sie ließ sich in der heiteren Stimmung treiben, schwatzte und lachte mit den Leuten um sie herum. So flogen die Stunden nur so dahin und es wurde ein sehr lustiges Fest.
Jakob hatte den ganzen Abend über das getan, was er auf den Festen immer tat. Er ging durch die Reihen, sprach mit den Leuten, hörte, wie es ihnen ging und hatte für jeden ein gutes Wort übrig. Als er seine Runde beendet hatte, kam er zurück an Elisas Tisch und nahm ihr gegenüber Platz.
Zu allererst leerte er einen Krug Bier, dann machte er sich über eine Portion Salat her, bevor er am Ende noch einen Teller Kartoffelsuppe verdrückte. Müde lehnte er sich zurück und verschnaufte ein Weilchen.
Elisa beobachtete ihn. Der quirlige und putzmuntere Jakob wirkte heute mitgenommen, müde und erschöpft. Zum ersten Mal, fand Elisa, war ihm anzumerken, was das alles für eine Kraft erforderte. Doch dies alles währte nicht lange, denn nur einen Augenblick später hatte Jakob wieder die Augen geöffnet, tief durchgeatmet und sich vom Tisch erhoben.
„So, es geht los. Schau gut hin und betrachte alles ganz genau“, riet er Elisa, dann eilte er in die Mitte des Platzes.
Elisa und die Umstehenden wurden von Erregung erfasst. Sie wussten, was jetzt kam. Jakob ging zu einer der großen Trommeln, die dort in der Mitte standen, und begann zu trommeln. Erst langsam, dann wurde er immer schneller bis er sich in den traditionellen Rhythmus eingefunden hatte. Alle Anwesenden waren verstummt, nun wandten sie ihre Köpfe der Mitte des Platzes zu, um dem Spektakel zu folgen und nur ja nichts zu verpassen.
Vier Männer eilten daraufhin zu Jakob; sie begannen ebenfalls zu trommeln und dem Rhythmus zu folgen. Drei Frauen traten aus der Menge hervor. Sie trugen brennende Fackeln, mit denen sie kleine Feuer in der Mitte des Platzes entfachten.
Alle Menschen sollten genau sehen können, was sich ihnen in der Folge darbot. Elisa hatte es zwar schon oft gesehen, aber immer wieder wurde sie in den Bann gezogen – in den Bann des Genaro, des Zerstörungs- und Schöpfungsmythos ihrer Welt. Durch diesen Tanz wurde den Menschen immer wieder vor Augen geführt, wie ihre Welt entstanden war.
Das Trommeln dröhnte über den ganzen Platz. Die Spannung war zum Greifen. Auf den Platz traten nun vier kostümierte Gestalten. Die erste war in einen dunkelblauen Umhang gekleidet, an den Seiten hingen Tropfen herab. Sie stellte das Wasser dar. Die zweite Gestalt war in einen durchsichtigen, hauchdünnen Stoff gehüllt – die Luft. Ein feuerroter Umhang zierte die dritte Gestalt – das Feuer. Zu guter Letzt gesellte sich die vierte Gestalt zu den drei anderen. Wegen des Umhangs aus dickem braunem Stoff war sie zweifelsfrei als die Darstellung der Erde zu erkennen. Die vier Elemente Erde, Luft, Wasser und Feuer formten nun einen Kreis, indem sie sich fest bei den Händen fassten. Langsam begannen sie zu tanzen und wogten dabei sanft im Rhythmus der Trommeln hin und her.
Wie alle anderen um sie herum, so folgte auch Elisa dem Spiel mit größter Aufmerksamkeit, schließlich wurde dies hier nur einmal im Jahr dargeboten. Zu gerne hätte Elisa bei diesem Schauspiel einmal selbst mitgewirkt. Doch war sie bisher immer zu jung gewesen, um mitmachen zu dürfen. Vielleicht im nächsten Jahr. Heute blieb ihr, wie den meisten anderen auch, nur die Zuschauerrolle. Alle schauten sie auf die tanzenden Elemente in der Mitte des Platzes: Alte, Junge, Große, Kleine, Frauen und Männer.
Das Trommeln wurde schneller und kündigte den Aufmarsch von zwölf Frauen und Männern an. Sie traten zu den Elementen und begannen ebenfalls hin und her zu wiegen. Erst ganz sachte und vorsichtig, um die Elemente nicht zu stören, doch dann wurden sie forscher und forscher.
Zunächst drehten sie sich nur um die eigene Achse, dann machten sie zudem einen Schritt vor und wieder einen zurück. Zu den zwölf Menschen kamen noch ein Mann und eine Frau hinzu und auch sie tanzten mit den anderen im flackernden Lichtschein. Weitere Paare kamen hinzu. Bald waren es mehr als zwanzig Männer und Frauen, die um die vier Elemente herumtanzten.
Erde, Luft, Feuer und Wasser hielten sich immer noch an den Händen, doch sie wurden von den tanzenden Menschen bedrängt und angerempelt. Mit jedem neuen Menschen, der hinzukam, wurde das Spektakel wilder. Die Männer und Frauen tanzten sich in eine ekstatische Raserei. In ihrer willenlosen Wildheit rempelten sie die Elemente immer wieder an. Verzweifelt versuchten diese, sich weiter an den Händen zu halten. Noch gelang es ihnen und ihr Kreis blieb geschlossen. Doch je wilder das Treiben wurde, desto mehr ließen die Kräfte der Elemente nach. Bis dann von einem Augenblick auf den anderen ihr Kreis auseinanderbrach.
Die Elemente fielen zu Boden, die Trommeln verstummten und der Tanz der Menschen fand ein jähes Ende. Erwacht aus ihrer Raserei fielen diese auf die Knie und sahen, was geschehen war. Alle verharrten und hielten den Atem an. Auch Elisa.
Still und leise betrat hernach eine andere Gruppe das Geschehen: die Irratio. Große, schwarze Gestalten, die sich gemächlich, aber herrisch um die Menschen und Elemente herum stellten und warteten. Einfach warteten. Die Frauen und Männer, die vor ein paar Augenblicken noch wie wild getanzt hatten, reckten nun ihre Köpfe und zitterten. Jetzt erst merkten sie, wie sehr sie die wohlbehaltenen Elemente brauchten. Sie japsten nach Luft, doch die Luft war zu dünn, ihre Lungen mit Odem zu füllen. Sie bibberten vor Kälte, doch das Feuer glomm zu schwach, um ihre Leiber zu wärmen. Sie gierten nach Wasser, doch das Wasser war versiegt. Schließlich suchten sie Schutz im Schoß von Mutter Erde, doch an ihrer Statt gab es nur noch trockenen, spröden Staub. Die Menschen hatten den Kreis der Elemente zerstört. Doch ohne sie konnten auch die Menschen nicht mehr leben, wie sie nun bitter erkennen mussten. Männer und Frauen sanken der Reihe nach zu Boden, zappelten und zuckten. Sie starben.
Die Irratio sahen ihnen dabei zu und taten nichts. Erst als nur noch zwölf Männer und Frauen am Leben waren, lösten sie sich aus ihrer Starre. Sie traten zu den Elementen, richteten sie auf und verbanden sie wieder mit ihren Händen. Der Kreis ward wieder geschlossen und nur so blieben die restlichen Menschen am Leben. Das Trommeln setzte erneut ein und auch die Menschen begannen von neuem zu tanzen. Aus der Freude heraus, noch am Leben zu sein, tanzten die Menschen wieder so wild und unbesonnen wie zuvor, denn Menschen vergaßen recht schnell.
Anders die Irratio, die dem neuerlichen Treiben der Menschen ein baldiges Ende bereiteten. Sie drängten die Menschen zusammen, indem sie einen äußeren Kreis bildeten und ebenfalls zu tanzen begannen. Bedrohlich schwebten sie um die Frauen und Männer herum, hielten sie zusammengetrieben. Die Irratio bestimmten von nun an das Geschehen und die Frauen und Männer sahen und begriffen. Nun beendeten die Irratio ihren Tanz, gaben die Menschen frei und zogen sich zurück. Außen um die Menschen herum bildeten diese schwarzen Gestalten einen großen Kreis und ließen den Menschen in ihrer Mitte ein Stück Freiheit. Zaghaft begannen dann die Menschen wieder zu tanzen, sachte und langsam, aus Furcht vor den Irratio.
Nach einer Weile geschah es, dass wieder ein Mann und eine Frau zu den Zwölfen hinzukamen. Doch nun geschah etwas völlig anderes als vorhin. Sobald ein Mann und eine Frau hinzukamen, erhoben sich zwei Irratio, gingen zu den Menschen und zerrten einen Mann und eine Frau mit sich fort. Wie viele Männer und Frauen auch hinzukamen, die Irratio nahmen genauso viele mit sich. Es blieben von nun an immer zwölf Männer und Frauen.
Das Schauspiel näherte sich seinem Ende. Drei Kreise tanzten ineinander: Außen die Irratio, dann die Menschen und innen die Elemente. Drei Kreise tanzten im Gleichklang. Das Trommeln schwoll an, der Rhythmus wurde nochmals schneller. Die Kreise wirbelten durcheinander und schienen fast eins zu werden. Dann erlosch das Trommeln, es wurde still und das Schauspiel war vorüber.
Die Darsteller hatten sich völlig verausgabt und sanken erschöpft zu Boden. Um sie herum standen die Zuschauer und begannen zu applaudieren. Auch Elisa stimmte ein. Alle klatschten.
„Ach, wundervoll“, sagte Elisas Mutter, die neben ihrer Tochter saß.
„Ja“, antwortete Elisa. „Ein grandioses Schauspiel“.
Nun kehrte etwas Ruhe auf dem Platz ein. Alle erholten sich zunächst ein wenig von dieser mitreißenden Darstellung. Die Akteure und die Zuschauer wandten sich für einige Minuten wieder den Genüssen des Abends zu. Aber gleichzeitig warteten alle ungeduldig auf den nächsten Programmpunkt.
„Ich bin gespannt, was Jakob wohl diesmal noch so zu verkünden hat“, sagte Eva zu ihrer Tochter und stieß ihr mit dem Ellbogen in die Seite. Als nächstes nach dem Genaro war es üblich, dass Jakob die wichtigen Ankündigungen machte: Etwa, wer in diesem Jahr miteinander verheiratet werden sollte.
„Hm“, grummelte Elisa.
Auch alle anderen warteten auf Jakobs Ansprache. Aber nichts geschah. Er machte keinerlei Anstalten, noch irgendetwas sagen zu wollen. Und so gingen die Menschen nach einiger Zeit schulterzuckend zum fröhlichen Treiben über. Zu den Trommlern gesellten sich die Musiker mit ihren Instrumenten und alle zusammen spielten munter drauflos. Es wurde getanzt, gelacht und gesungen. Wie alle Menschen, so tauchte auch Elisa wieder ein in den Bann dieser Nacht. Dies waren die wenigen Nächte, in denen die Menschen ausgelassen feierten. Wo sie einmal den sehr geregelten Alltag vergaßen und ihren Gefühlen freien Lauf ließen.
Elisa genoss das tolle Treiben sichtlich. Sie liebte es vor allem, bei diesen Gelegenheiten die Menschen zu beobachten: Manche gaben sich bei diesen Festen völlig anders, als man sie sonst kannte. Viele, die sich sonst ernst und zugeknöpft zeigten, blühten hier völlig auf.
Der Hannes zum Beispiel. Sonst war er ein gestrenger, beflissener Bauer, doch heute wurde er durch den Alkohol beredsam und gab einen Witz nach dem anderen zum Besten.
Wo Elisa auch hinblickte, sie sah viele solcher Menschen. Sie betrachtete jedes Gesicht eingehend und machte sich so ihre Gedanken. Auf der anderen Seite des Platzes etwa sah sie Antonio und musste unwillkürlich lachen. Normalerweise war er ein eher schüchterner, unbeholfener junger Mann. In dieser Nacht aber benahm er sich wie ein Gockel und legte sich bei den Damen mächtig ins Zeug. Das tat er aus gutem Grund, denn er war wie auch Franz einer der nächsten, für den es einen Ehepartner zu finden galt.
In seiner Nähe begann mit einem Mal eine Frau fürchterlich zu zetern. Elisa versuchte, die Ursache dafür auszumachen und erspähte schließlich Natascha. Neben ihr stand der Franz und machte ein betröppeltes Gesicht. Offenbar hatte er nicht so ganz die richtigen Worte für Nataschas vorzüglichen Eintopf gefunden, worauf sie ihn ordentlich zurecht stutzte.
So saß Elisa lange auf der Bank in der Nähe ihrer Mutter, betrachtete aufmerksam die Leute um sie herum, aß, trank, redete und lachte. Sie durchlebte einen schönen Abend. Nicht ahnend, dass sie ebenfalls den ganzen Abend über beobachtet wurde.
Mittlerweile war es bereits weit nach Mitternacht. Das Fest war noch in vollem Gange und längst noch nicht vorüber, – vor dem Morgengrauen endeten diese Feste nie – aber Elisa war hundemüde. Die Erlebnisse des Tages hatten sie sehr mitgenommen. Sie wollte nur noch ins Bett. So verabschiedete sie sich von den Menschen um sie herum und ging allein nach Hause. Bald schon hatte sie den Platz hinter sich gelassen, das freudige Lärmen wurde leiser.
Ein, zwei Augenblicke später bog sie in die kleine Seitenstraße ein, in der das Haus und der kleine Hof ihrer Familie lag.
Der Mond war bereits aufgegangen, hinter Wolken versteckt spendete er aber nur spärlich Licht, so dass die Umrisse der Häuser kaum auszumachen waren. Aber das kümmerte Elisa wenig, denn sie kannte den Weg in- und auswendig. Der Abend hatte sie so beschwingt, dass die merkwürdigen Vorkommnisse des Tages bereits tief in ihrem Kopf schlummerten. Die junge Frau war froh und zufrieden, als sie so durch die Dunkelheit schlenderte. Sie wusste bei jedem Schritt genau wo sie war. Gerade etwa ging sie am Haus der Brannts vorbei.
Vor ihrem inneren Auge zeichnete sich das stattliche Fachwerkhaus aus alten Eichenstämmen ab. Drei Generationen lebten auf diesem Hof. Da fiel Elisa die Begegnung mit Michael, dem jüngsten Sohn der Brannts, wieder ein. So wie er dagestanden hatte, mit der komischen Maschine, erinnerte er sie nur zu sehr an ihren Freund Janos. Auch Janos war einmal so ein pfiffiger Junge gewesen. Doch vor sieben Jahren hatte er gehen müssen. Die Irratio hatten ihn zu sich gerufen. Unendlich traurig war Elisa damals gewesen. Sie war es auch heute noch.
Die junge Frau stand nun genau vor dem großen Hoftor. Die schweren Eichenbretter schützten vor jedem ungewollten Eindringling. Links und rechts vom Tor rankte sich dichter Efeu empor. Elisa blieb einen Moment stehen und lauschte in die Nacht hinein. Eine leichte Brise kam auf und spielte neckisch mit den Blättern des Efeus. Wenn Elisa das Zittern des Laubes hörte, wurde ihr immer ganz wehmütig ums Herz. Dann musste sie unweigerlich an Janos denken, daran wie sie als Kinder im Wald gelegen und über ihnen die Blätter geraschelt hatten. Ganz deutlich sah sie sein Gesicht vor sich und die Erinnerung an ihn wurde hell und klar.
Der Wind ließ nach, die Nacht wurde wieder still. Ein leises Geräusch riss Elisa aus ihren Gedanken. Etwas knirschte. Die junge Frau horchte auf. Es hörte sich an, als ob jemand versuchte, über den Kiesweg zu schleichen. Er gab sich besondere Mühe, nicht gehört zu werden. Was ihm auch gelungen wäre, hätte sich der Wind nicht gelegt. Wieder knirschte es, die Schritte kamen näher. Elisas Herz stolperte. Mit aller Macht kamen die Bilder und Erlebnisse des Tages wieder hoch. Vergangenes und Gegenwärtiges vermischten sich: In der Dunkelheit wähnte sie plötzlich den blauen Mann auf sich zukommen. Elisa stöhnte. Etwas stimmte in ihrer Welt nicht mehr. Aus Furcht presste sie sich dicht an das große Holztor, versuchte sich im Efeu zu verstecken. Vielleicht hatte sie noch einmal Glück und er ging vorüber.
„Elisa“, flüsterte plötzlich jemand.
Sie horchte auf. Was, wer rief sie da?
„Elisa“, wieder dieses Flüstern. Elisa wurde es ganz seltsam zumute. Obwohl alles so unheimlich war, obwohl ihr Herz wild pochte. Ihre Angst legte sich und wich einem ganz anderen Gefühl: Erregung.
„Elisa“, wieder dieses Flüstern. Es war ein sehnsuchtsvolles, zärtliches Flüstern direkt in ihr Ohr gehaucht. Er stand jetzt genau hinter ihr. Sie konnte seinen Atem spüren. Ihr Körper zitterte, bebte gar.
„Elisa, oh Elisa. So viele Jahre. So viele Jahre habe ich dich vermisst. Du weißt nicht, wie das ist. Von allen getrennt. Von dir getrennt.“
Sie spürte, wie seine Hände sich um ihre Hüften schlangen. Sanft, zärtlich, verlangend. Sie schmiegte sich an ihn, ließ sich fallen. Warum nur fühlte sie sich so geborgen? Was machte das für einen Sinn? Sie war vollends verwirrt. Diese Stimme. Sie hatte sie noch nie gehört und doch war sie ihr so vertraut. Elisa war nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sprechen, stattdessen nahm sie nur seine Hand und hielt sie fest. So standen sie da – eine Weile, einen Augenblick. Wie im Himmel. Keiner von ihnen sagte ein Wort.
Doch ihre Zweisamkeit währte nicht lange; jemand bog mit einer Laterne in die kleine Seitenstraße ein. Eiligen Schrittes kam er auf sie zu und riss die Umschlungenen aus ihrer Vertrautheit. Sie ließen voneinander ab.
„Ich muss gehen. Aber wir werden uns wiedersehen!“, flüsterte er ihr noch ins Ohr. Dann zog er seine Hand zurück und wollte gehen, doch Elisa hielt noch für einen Moment seine Hand und bat ihn: „Versprich es mir!“
„Ich verspreche es. Wir werden uns wiedersehen“, sagte er und verschwand.
Sie war wieder alleine. Was war das heute für ein seltsamer Tag? Einerseits kannte sie den Mann nicht, der sie gerade so berührt hatte. Doch andererseits war er ihr so vertraut, als kenne sie ihn schon ein Leben lang. So vertraut wie ein alter, guter Freund. Elisas Gedanken überschlugen sich, als sie eine Ahnung beschlich. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn mit ihr. Eine Träne löste sich aus ihrer Mädchenseele und rann ihr über die gerötete Wange, als sie ihm in die dunkle Nacht hinterher flüsterte: „Komm zurück, komm zurück, mein Geliebter“.
Aber der geheimnisvolle Fremde kam nicht zurück. An seiner Statt kam jemand anderes. Der Mann mit der Laterne – Elisas Onkel Jakob. Er fand seine Nichte an das große Tor der Brannts gelehnt und war sichtlich erleichtert, sie alleine vorzufinden.
Als Jakob bemerkt hatte, dass Elisa das Fest vorzeitig und ganz alleine verlassen hatte, war er ihr mit einer Laterne nachgeeilt. Wer wusste schon, wer oder was ihr im fahlen Mondlicht nicht alles begegnen konnte. Jakob hielt die Laterne hoch, um Elisas Gesicht betrachten zu können. Das, was er sah, gefiel ihm gar nicht. Ihre Gesichtszüge waren merkwürdig verschlossen und ihr Blick bohrte sich geradezu in seine Augen.
„Du solltest nicht alleine nach Hause gehen“, sagte Jakob ein wenig vorwurfsvoll.