Die Flucht des Monsieur Monde - Georges Simenon - E-Book

Die Flucht des Monsieur Monde E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

»Genau genommen begann es wie eine Grippe.« Norbert Monde ist Industrieller, erfolgreicher Inhaber einer Pariser Firma für Kommissionsgeschäfte und Export, respektiertes Familienoberhaupt, vermögend und hoch angesehen. Eines Tages, auf dem Weg zur Arbeit, überläuft ihn ein Frösteln. Es ist sein achtundvierzigster Geburtstag. Keiner gratuliert ihm – weder seine Frau noch seine Kinder, nicht mal die Angestellten. Als wäre er ein Niemand. Da greift Monsieur Monde einmal tief in die Firmenkasse, rasiert sich den Bart ab, tauscht seinen Maßanzug gegen einen aus zweiter Hand und verschwindet. Seine Flucht führt Monsieur Monde in den Süden bis an die Côte d'Azur. Hier darf er endlich mal niemand sein.

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Seitenzahl: 197

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Band 51

 

 

Certes, ils préfèrent que je ne voie pas

certaines choses. Mais ce qu’il ne faut surtout pas,

c’est que je leur en raconte d’autres.

– Vous direz tout?

– Et vous?

– J’essaierai. Si je n’y parviens pas,

je m’en voudrais toute ma vie

 

Peuples qui ont faim, 1934

Georges Simenon

Die Flucht des Monsieur Monde

Roman

Mit einem Nachwort von Pia Reinacher

Aus dem Französischen von Barbara Klau, Hansjürgen Wille und Mirjam Madlung

Band 51

 

 

Certes, ils préfèrent que je ne voie pas

certaines choses. Mais ce qu’il ne faut surtout pas,

c’est que je leur en raconte d’autres.

– Vous direz tout?

– Et vous?

– J’essaierai. Si je n’y parviens pas,

je m’en voudrais toute ma vie

 

Peuples qui ont faim, 1934

Kampa

Alle Personen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre purer Zufall.

Certes, ils préfèrent que je ne voie pas

certaines choses. Mais ce qu’il ne faut surtout pas,

c’est que je leur en raconte d’autres.

– Vous direz tout?

– Et vous?

– J’essaierai. Si je n’y parviens pas,

je m’en voudrais toute ma vie

Peuples qui ont faim, 1934

1

Es war fünf Uhr am Nachmittag – kaum später, der große Zeiger der Uhr stand nur ein kleines Stück weiter rechts –, als Madame Monde am 16. Januar in das Polizeikommissariat gestürmt kam und mit ihr ein Schwall eisiger Luft.

Sie musste aus einem Taxi gesprungen sein oder einem Privatwagen und wie ein Schatten den Gehsteig der Rue La Rochefoucauld überquert haben. Vermutlich war sie auf der schlecht beleuchteten Treppe gestolpert, und sie hatte die dreckig graue Tür mit solchem Schwung aufgerissen, dass die automatische Langsamkeit, mit der diese wieder zufiel, im Kontrast dazu lachhaft wirkte. Die Leute blickten erstaunt auf, und eine Frau mit Umschlagtuch und ohne Hut, die dort bereits über eine Stunde im Stehen wartete, schubste eins ihrer Kinder, die sich an sie klammerten, und murmelte:

»Geh und mach die Tür zu.«

Bis dahin war man unter sich gewesen. Auf der einen Seite der Barriere saßen Polizeibeamte in Uniform oder Zivil und schrieben oder wärmten sich die Hände am Ofen. Auf der anderen Seite saßen Leute auf einer Bank an der Wand, während andere standen. Wenn jemand mit einem frisch ausgestellten Papier in der Hand hinausging, rückte der Nächste auf. Der erste Schreiber hob den Kopf. Alle nahmen es hin – den schlechten Geruch, die kümmerliche Beleuchtung durch die beiden grünen Lampenschirme, das eintönige Warten oder die lila Tinte, mit der die Formulare ausgefüllt werden mussten. Und hätte eine unvorhergesehene Katastrophe das Kommissariat für eine gewisse Zeit von der übrigen Welt abgeschnitten, wäre aus den hier Versammelten vermutlich eine Sippschaft geworden.

Ohne jemanden anzurempeln, hatte sich die Frau, in Schwarz gekleidet, das Gesicht sehr weiß, die Nase unter dem Puder bläulich rot, ganz nach vorn gedrängt. Sie sah niemanden an und kramte in ihrer Tasche, die Finger in schwarzen Handschuhen, glatt wie Ebenholz und präzise wie der Schnabel eines Raubvogels. Alle warteten, alle sahen zu, wie sie eine Visitenkarte hervorzog und über die Barriere reichte.

»Würden Sie mich bitte dem Kommissar melden?«

Man hatte zwar genügend Gelegenheit, sie zu mustern, doch der Eindruck blieb rein äußerlich.

»Scheint eine Witwe zu sein«, sagte der Polizist zum Kommissar. Der unterhielt sich in seinem mit Zigarrenrauch vernebelten Büro freundschaftlich mit dem Intendanten des Théâtre de Paris.

»Einen Augenblick noch.«

Und der Polizist wiederholte, ehe er sich wieder setzte und Ausweise, die man ihm reichte, entgegennahm:

»Einen Augenblick noch.«

Sie blieb stehen. Sie stand in ihren eleganten Schuhen mit den ungewöhnlich hohen Absätzen auf dem schmutzigen Fußboden, doch es wirkte, als stünde sie wie ein Reiher auf einem Bein. Sie sah niemanden, starrte auf irgendetwas, vielleicht auf die Asche, die aus dem Ofen gefallen war, und ihre Lippen zuckten wie bei alten Frauen, die in der Kirche beten.

Eine Tür öffnete sich. Der Kommissar erschien.

»Madame?«

Er schloss die Tür hinter ihr, deutete auf einen grün bezogenen Stuhl, ging langsam, die Visitenkarte in der Hand, um seinen Empiretisch herum, und setzte sich.

»Madame Monde?«, sagte er fragend.

»Richtig. Wohnhaft Rue Ballu Nummer 27.«

Und sie blickte feindselig auf die nicht ganz erloschene Zigarre, die der Kommissar im Aschenbecher ausgedrückt hatte.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte melden, dass mein Mann verschwunden ist.«

»Sehr gut … Pardon!«

Er nahm sich einen Notizblock und einen silbernen Drehbleistift.

»Ihr Mann, sagten Sie?«

»Mein Mann ist seit drei Tagen verschwunden.«

»Seit drei Tagen. Also ist er am dreizehnten Januar verschwunden.«

»Ja, am Dreizehnten habe ich ihn zum letzten Mal gesehen.«

Sie trug einen schwarzen nach Veilchen duftenden Persianermantel und nestelte mit ihren behandschuhten Fingern an einem mit dem gleichen Parfüm besprühten Taschentuch.

»Scheint eine Witwe zu sein«, hatte der Beamte gesagt.

Offenbar war sie doch keine Witwe, jedenfalls am Dreizehnten mit Sicherheit nicht gewesen, denn da gab es noch einen Ehemann. Warum fand der Kommissar, dass man sie zu Recht für eine Witwe hielt?

»Verzeihen Sie, aber ich kenne Monsieur Monde nicht. Ich wurde erst vor einigen Monaten in dieses Viertel versetzt.«

Er wartete, bereit, sich Notizen zu machen.

»Mein Mann ist Norbert Monde. Sie haben vermutlich von der Firma Monde gehört, Kommissionsgeschäfte und Export. Die Büros und Lagerräume befinden sich in der Rue Montorgueil.«

Er stimmte zu, mehr aus Höflichkeit als aus Überzeugung.

»Mein Mann ist in dem Stadtpalais in der Rue Ballu geboren, in dem wir wohnen. Er hat immer dort gelebt.«

Er neigte sich erneut zustimmend nach vorn.

»Er ist achtundvierzig Jahre alt … Plötzlich fällt es mir ein. An dem Tag, als er verschwand, wurde er achtundvierzig.«

»Der dreizehnte Januar also. Und Sie haben nicht die leiseste Ahnung …«

Vermutlich legten die Steifheit der Besucherin und ihre verkniffene Miene nahe, dass sie keine Ahnung hatte.

»Sie wünschen, nehme ich an, dass wir Nachforschungen anstellen.«

Ihr verächtlicher Ausdruck konnte sowohl bedeuten, dass sie das selbstverständlich fand, als auch, dass es ihr egal war.

»Sagen wir also, der dreizehnte Januar … Verzeihen Sie, aber ich muss Ihnen die Frage stellen: Hatte Ihr Mann Grund, Selbstmord zu begehen?«

»O nein.«

»Wie war seine finanzielle Lage?«

»Die Firma Monde wurde von seinem Großvater Antonin Monde 1843 gegründet, sie ist eine der solidesten von ganz Paris.«

»Hat Ihr Mann spekuliert? Hat er gespielt?«

Auf dem Kamin hinter dem Kommissar stand eine Uhr aus schwarzem Marmor, die schon vor einer Ewigkeit um fünf Minuten nach Mitternacht stehen geblieben war. Warum nahm man fünf Minuten nach Mitternacht an und nicht fünf Minuten nach zwölf Uhr mittags? Automatisch dachte man an fünf nach zwölf in der Nacht. Neben der Uhr stand ein Wecker, der laut tickend die genaue Zeit anzeigte. Er befand sich in Madame Mondes Gesichtsfeld. Trotzdem verrenkte sie von Zeit zu Zeit den langen, mageren Hals, um einen Blick auf die winzige Uhr zu werfen, die sie wie ein Medaillon um den Hals trug.

»Geldsorgen können wir also ausschließen. Ihr Mann hatte vermutlich keinen geheimen Kummer? Verzeihen Sie, wenn ich insistiere.«

»Mein Mann hatte keine Geliebte, wenn Sie das meinen.«

Er verzichtete darauf zu fragen, ob sie einen Geliebten hatte. Es war nicht sehr wahrscheinlich.

»Und die Gesundheit?«

»Er ist nie in seinem Leben krank gewesen.«

»Gut. Ausgezeichnet. Dann also … Würden Sie mir bitte sagen, was Ihr Mann am Dreizehnten gemacht hat?«

»Er ist wie jeden Tag um sieben Uhr aufgestanden – er geht immer früh schlafen und steht früh auf.«

»Verzeihung: Teilen Sie das Schlafzimmer?«

Ein frostiges, böses Ja.

»Er ist um sieben aufgestanden und in sein Badezimmer gegangen, wo er trotz … nun, das spielt keine Rolle … die erste Zigarette geraucht hat. Dann ist er hinuntergegangen.«

»Lagen Sie noch im Bett?«

Wieder ein steinhartes Ja.

»Hat er mit Ihnen gesprochen?«

»Er hat mir wie jeden Morgen Auf Wiedersehen gesagt.«

»Haben Sie in dem Augenblick daran gedacht, dass es sein Geburtstag war?«

»Nein.«

»Er ist hinuntergegangen, sagten Sie …«

»Er hat in seinem Büro gefrühstückt. Das ist ein Raum, in dem er nie arbeitet, an dem er aber hängt. Das große Fenster hat bunte Glasscheiben, die Möbel sind fast alle gotisch.«

Offensichtlich mochte sie weder die Fensterscheiben noch die gotischen Möbel. Oder sie hätte das Zimmer, das als ein Büro erhalten werden musste, lieber anders genutzt.

»Haben Sie viel Personal?«

»Ein Hausmeisterpaar. Die Frau macht die grobe Arbeit, ihr Mann ist unser Diener. Wir haben auch eine Köchin und ein Zimmermädchen, und dann gibt es den Chauffeur, Joseph. Er ist verheiratet und schläft nicht im Haus. Ich stehe gewöhnlich um neun Uhr auf, nachdem ich Rosalie die Anweisungen für den Tag gegeben habe. Rosalie ist mein Zimmermädchen, sie war schon vor meiner Heirat bei mir, das heißt, vor meiner zweiten Ehe.«

»Monsieur Monde ist also Ihr zweiter Mann?«

»In erster Ehe war ich mit Lucien Grandpré verheiratet. Er ist vor vierzehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er nahm jedes Jahr am Vierundzwanzigstunden-Rennen von Le Mans teil, nur zum Spaß.«

Auf der abgewetzten Bank im Warteraum rückten von Zeit zu Zeit die dort Sitzenden einen Platz weiter. Andere schlüpften leise aus der Tür.

»Kurz, an dem Morgen war alles wie immer?«

»Alles wie immer. Ich hörte, wie der Wagen um halb neun abfuhr, der meinen Mann in die Rue Montorgueil bringt. Er möchte die Post immer selbst öffnen und fuhr darum schon so früh ins Büro. Sein Sohn ist eine Viertelstunde nach ihm aufgebrochen.«

»Ihr Mann hat also einen Sohn aus erster Ehe?«

»Wir haben beide einen Sohn aus erster Ehe. Er hat auch eine Tochter, sie ist verheiratet. Das Paar hat eine Weile bei uns gelebt, jetzt wohnen sie am Quai de Passy.«

»Gut. Sehr gut. Ist Ihr Mann wirklich ins Büro gefahren?«

»Ja.«

»Und ist er zum Mittagessen nach Hause gekommen?«

»Er isst fast immer in einem Restaurant in der Nähe seiner Firma.«

»Wann haben Sie angefangen, sich Sorgen zu machen?«

»Am Abend um acht Uhr.«

»Sie haben ihn also seit dem Morgen des Dreizehnten nicht mehr gesehen?«

»Ich habe ihn kurz nach drei angerufen und gebeten, mir Joseph mit dem Auto zu schicken. Ich wollte Besorgungen machen.«

»Wirkte er am Telefon wie immer?«

»Ja.«

»Hat er gesagt, dass er später als sonst zurückkommen würde, oder hat er davon gesprochen, dass er vielleicht verreisen müsse?«

»Nein.«

»Aber am Abend um acht Uhr ist er nicht zum Essen nach Hause gekommen? So war es doch?«

»So war es.«

»Und seitdem haben Sie kein Lebenszeichen von ihm. In der Firma hat man ihn wohl auch seit dem Dreizehnten nicht gesehen?«

»Richtig.«

»Wann hat er das Büro verlassen?«

»Gegen sechs. Das hat er mir zwar nicht gesagt, aber ich weiß, dass er die Angewohnheit hat, statt direkt nach Hause zu kommen, unterwegs im Cintra einzukehren, in der Rue Montmartre, und dort ein Glas Portwein zu trinken.«

»War er an dem Abend dort?«

Würdevoll:

»Ich weiß es nicht.«

»Darf ich Sie fragen, warum Sie sich erst heute, nach drei Tagen, entschlossen haben, das Verschwinden Ihres Mannes zu melden?«

»Ich hatte die Hoffnung, er würde noch auftauchen.«

»Kam es öfter vor, dass er auf diese Weise verschwand?«

»Niemals.«

»Und doch haben Sie drei Tage lang auf ihn gewartet?«

Ohne darauf zu antworten, starrte sie ihn mit ihren kleinen schwarzen Augen an.

»Sie haben doch gewiss seine Tochter benachrichtigt, die, wie Sie sagten, verheiratet ist und am Quai de Passy wohnt?«

»Sie war vorhin bei uns und hat sich derartig schlecht benommen, dass ich sie hinauswerfen musste.«

»Sie verstehen sich nicht gut mit Ihrer Stieftochter?«

»Wir sehen uns nie. Seit zwei Jahren jedenfalls nicht.«

»Aber Ihren Mann trifft sie regelmäßig?«

»Wenn sie Geld braucht. Dann besucht sie ihn in seinem Büro.«

»Wenn ich recht verstehe, hat Ihre Stieftochter kürzlich Geld gebraucht und sich in die Rue Montorgueil begeben, um ihren Vater zu bitten. Er hat ihr wohl immer welches gegeben?«

»Ja.«

»Und da erfuhr sie, dass Monsieur Monde verschwunden war.«

»Wahrscheinlich.«

»Und ist eilig in die Rue Ballu gelaufen.«

»Wo sie unbedingt in sein Bürozimmer gehen und die Schubladen durchsuchen wollte.«

»Haben Sie eine Ahnung, was sie dort suchte?«

Schweigen.

»Nun, wenn man annimmt, dass Monsieur Monde tot ist, was ich allerdings für unwahrscheinlich halte …«

»Warum?«

»… dann stellt sich die Frage, ob er ein Testament hinterlassen hat. Haben Sie bei Ihrer Heirat Gütertrennung vereinbart?«

»Ja. Ich besitze ein persönliches Vermögen und ein Haus in der Avenue de Villiers.«

»Was meint Ihr Stiefsohn zum Verschwinden seines Vaters?«

»Gar nichts.«

»Ist er noch in der Rue Ballu?«

»Ja.«

»Hat Ihr Mann, bevor er verschwand, irgendwelche Verfügungen getroffen, hinsichtlich seiner Firma zum Beispiel? Es werden doch wahrscheinlich Geldmittel zur Abwicklung der Geschäfte benötigt.«

»Der Kassierer, Monsieur Lorisse, ist zeichnungsberechtigt.«

»Wurde ihm das notwendige Geld ausgezahlt?«

»Nein. Eben nicht. Am dreizehnten Januar kurz vor sechs Uhr fand sich mein Mann in der Bank ein.«

»War da nicht schon geschlossen?«

»Für den allgemeinen Publikumsverkehr, ja, aber nicht für ihn. Die Angestellten arbeiten bis spät abends. Er kam durch die kleine Tür und hob dreihunderttausend Franc von seinem Girokonto ab.«

»Sodass der Kassierer am nächsten Morgen in einer peinlichen Lage war?«

»Nein, nicht am nächsten Morgen. An dem Tag hatte er keine größeren Geschäfte zu tätigen. Erst gestern Abend wollte er eine bestimmte Summe für die Zahlungen vorbereiten und erfuhr, dass das Geld abgehoben worden war.«

»Wenn ich recht verstehe, hat Ihr Mann bei seinem Verschwinden weder für seine Firma noch für Sie und seine Kinder Geld dagelassen.«

»Das stimmt nicht ganz. Der größte Teil seines Vermögens, der aus Aktien und Wertpapieren besteht, befindet sich in seinem Banktresor, und dem hat er in der letzten Zeit nichts entnommen. Er ist nicht einmal hinuntergegangen, wie mir der Direktor versichert hat. Der Schlüssel zu dem Tresor lag wie immer zu Hause in seinem Schreibtisch.«

»Haben Sie eine Vollmacht?«

»Ja.«

»Na dann …«, sagte der Kommissar, ungewollt lässig.

»Ich bin zur Bank gegangen. Ich versprach dem Kassierer, das Geld zu besorgen. Man verweigerte mir aber den Zutritt zu den Tresoren, unter dem Vorwand, ich könne mich nicht wie vorgeschrieben dafür verbürgen, dass mein Gatte lebt.«

Der Kommissar seufzte und hätte fast eine Zigarre aus dem Etui genommen. Er hatte verstanden. Das Gespräch war zu Ende.

»Sie möchten also, dass wir Nachforschungen anstellen?«

Erneut sah sie ihn nur an, stand auf und verdrehte den Hals, um auf ihre Uhr zu sehen.

Dann durchquerte sie den großen Raum. Dort war die Frau mit Umschlagtuch, vom Gewicht des Babys auf ihrem Arm leicht nach links geneigt, dabei zu erklären, dass ihr Mann vor fünf Tagen bei einer Schlägerei verhaftet worden sei, und sie habe kein Geld.

Madame Monde ging über den Gehsteig, den die Laterne des Kommissariats rötlich färbte, zu Joseph. Der Chauffeur hielt ihr die Tür auf, und bevor er sie hinter ihr wieder schloss, nannte sie ihm die Adresse ihres Anwalts, bei dem sie erst vor einer Stunde gewesen war und der sie nun erneut erwartete.

Alles, was sie dem Kommissar gesagt hatte, stimmte. Aber es kommt vor, dass nichts so falsch ist wie die Wahrheit.

 

Monsieur Monde war um sieben Uhr morgens aufgewacht und leise, ohne auch nur einen Luftzug unter die Decke geraten zu lassen, aus dem Bett geglitten, in dem seine Frau reglos lag. So machte er das immer. Jeden Morgen tat er, als glaubte er, dass seine Frau noch schlief. Er knipste die Nachttischlampe nicht an und tappte im Dunkeln, in das durch die Ritzen der Läden nur feine Lichtstreifen fielen, um das große Bett herum, barfuß, die Pantoffeln in der Hand. Dabei war er sicher, dass er den kleinen schwarzen Augen seiner Frau begegnen würde, wenn er zum Kopfkissen hinsähe.

Erst im Badezimmer holte er tief Luft, ließ aus beiden Hähnen Wasser in die Wanne laufen und steckte seinen Rasierapparat in die Steckdose.

Er war dick, genauer gesagt, er war, was man korpulent nennt. Er hatte schütteres blondes Haar, und wenn es morgens nach allen Seiten abstand, sah er fast kindlich aus.

Auch seine blauen Augen hatten, während er sich beim Rasieren im Spiegel betrachtete, den erstaunten Ausdruck eines Kindes. Als wunderte sich Monsieur Monde jeden Morgen, wenn er aus dem Schlaf kam, in dem es kein Alter gibt, über den nicht mehr ganz jungen Mann im Badezimmerspiegel, einen Mann mit faltigen Lidern und einem kleinen rotblonden Schnurrbart unter der Nase. Er schnitt Grimassen, um die Haut für den Rasierapparat zu spannen.

Immer vergaß er die Badewanne, die volllief, und stürzte erst im letzten Augenblick hinzu, wenn das Wasser schon überzuschwappen drohte, ein verräterisches Geräusch, das durch die Tür bis zu Madame Monde drang.

Nach dem Rasieren betrachtete er sich wohlgefällig. In seinen Blick mischte sich ein Hauch von Bitterkeit. Er bedauerte, dass er nicht mehr der unschuldige dicke Junge von einst war, und er konnte sich nicht damit abfinden, dass er die Lebensmitte bereits überschritten hatte.

An dem Morgen im Badezimmer fiel ihm ein, dass er gerade achtundvierzig geworden war. Sonst nichts. Er war achtundvierzig Jahre alt. Bald fünfzig. Er fühlte sich matt. Im heißen Wasser dehnte und streckte er sich, um die Muskeln von der Müdigkeit, die sich in vielen Jahren angesammelt hatte, zu befreien.

Während er sich ankleidete, zeigte über ihm das Klingeln eines Weckers an, dass sein Sohn Alain nun ebenfalls aufstand.

Er zog sich fertig an. Mit seiner Toilette nahm er es sehr genau. Die Kleidung durfte weder Falten noch Flecken haben. Die Wäsche musste zugleich weich und kühl sein, und manchmal betrachtete er auf der Straße oder im Büro zufrieden den Glanz seiner blankgeputzten Schuhe.

Heute war sein achtundvierzigster Geburtstag. Würde seine Frau daran denken? Sein Sohn? Seine Tochter? Vermutlich niemand. Vielleicht Monsieur Lorisse, der alte Kassierer, der schon bei seinem Vater Kassierer gewesen war und der, jedes Wort betonend, zu ihm sagen würde:

»Herzlichen Glückwunsch, Monsieur Norbert.«

Er musste durchs Schlafzimmer gehen. Er beugte sich über die Stirn seiner Frau und berührte sie mit den Lippen.

»Brauchst du den Wagen?«

»Heute Vormittag nicht. Wenn ich ihn am Nachmittag brauche, rufe ich im Büro an.«

Sein Haus war ein komisches Haus, für ihn war es einzigartig auf der Welt. Als sein Großvater es damals gekauft hatte, hatte es schon zahlreiche Besitzer erlebt. Und jeder hatte Veränderungen vorgenommen, sodass der ursprüngliche Plan gar nicht mehr zu erkennen war. Türen waren zugemauert, andere hineingebrochen worden. Aus zwei Zimmern hatte man eins gemacht, ein Fußboden war erhöht, ein Flur mit unvorhersehbaren Biegungen angelegt worden. Nun gab es weitere unvorhersehbare Stufen, über die Fremde stolperten und Madame Monde noch immer stolperte.

Auch bei strahlendem Sonnenschein herrschte im Inneren des Hauses ein Halbdunkel, sanft wie der Staub der Zeit, es roch, könnte man meinen, nach einem etwas faden Parfum, köstlich duftend aber für den, dem es seit jeher vertraut war.

Die Gasleitungen waren noch sichtbar auf den Wänden verlegt, der Treppenaufgang wurde noch mit Gaslampen beleuchtet, und auf dem Speicher dämmerten haufenweise Petroleumlampen aus den verschiedensten Zeiten.

Einige Zimmer waren zu Madame Mondes Reich geworden.

Fremde, gesichtslose Möbel hatten sich unter die alten Möbel des Hauses gemischt, sie manchmal in die Abstellkammern verdrängt, aber das Büro war unangetastet geblieben, so wie Norbert Monde es gewohnt war, mit seinen roten, gelben und blauen Fensterscheiben, die je nach Einfall der Sonne erstrahlten und in den Ecken lebhafte bunte Flämmchen aufleuchten ließen.

Nicht Rosalie brachte Monsieur Monde das Frühstück herauf, sondern die Köchin. Das lag an dem Zeitplan, den Madame Monde erstellt hatte. Jedem im Haus waren zu jeder Stunde des Tages bestimmte Arbeiten zugeteilt. Es war im Übrigen auch besser so, denn Monsieur Monde mochte Rosalie nicht. Anders als ihr Name erwarten ließ, war sie ein dürres, kränkliches Mädchen, das seine schlechte Laune an allen ausließ, außer der Hausherrin.

An diesem dreizehnten Januar las er Zeitung, während er Croissants in seinen Kaffee stippte. Er hörte, wie Joseph die Toreinfahrt öffnete, um den Wagen hinauszufahren. Er wartete noch einen Moment, wobei er zur Decke blickte, als hoffte er, dass sein Sohn mit ihm zusammen in die Firma fahren würde. Aber das kam praktisch nie vor.

Als er aus dem Haus trat, war es eiskalt. Eine bleiche Wintersonne hing über Paris.

In diesem Augenblick war Monsieur Monde noch weit entfernt von irgendeinem Fluchtgedanken.

»Guten Morgen, Joseph.«

»Guten Morgen, Monsieur Monde.«

Genau genommen begann es wie eine Grippe. Im Auto fröstelte ihn. Er war sehr empfindlich und bekam leicht einen Schnupfen. In manchen Wintern wurde er ihn wochenlang nicht los und hatte die Taschen voll feuchter Taschentücher, was er als demütigend empfand. Außerdem schmerzten ihn an diesem Morgen alle Glieder. Hatte er sich im Schlaf verlegen? Oder das Abendessen schlecht verdaut?

Ich kriege eine Grippe, dachte er.

Als sie über die Grands Boulevards fuhren, blickte er– anders als sonst, wo er auf eine der pneumatischen Uhren sah – hinauf zu den rosa Kappen der Schornsteine, die sich gegen den Himmel abhoben. Im Blassblau segelte eine winzige weiße Wolke.

Es erinnerte ihn ans Meer. Die Harmonie aus Rosa und Blau kam ihm wie ein Lufthauch vom Mittelmeer in den Sinn, und er beneidete die Menschen, die in dieser Jahreszeit im Süden lebten und weiße Baumwollhosen trugen.

Ihn streifte der Geruch der Markthallen. Das Auto hielt vor einer Einfahrt, über der in gelben Lettern stand: Norbert Monde, Kommissionsgeschäfte und Export, gegründet 1843.

Dahinter öffnete sich ein alter, mit Glas überdachter Hof, der an eine Bahnhofshalle erinnerte.

Wie Bahnsteige umliefen ihn erhöht liegende Rampen, von denen aus Lastwagen mit Kisten und Paketen beladen wurden. Lagerarbeiter in blauen Kitteln schoben kleine Wagen vorbei und riefen:

»Guten Morgen, Monsieur Norbert.«

Die Büros lagen alle auf einer Seite, jedes hatte eine Glastür und darüber eine Nummer. Auch das glich einem Bahnhof.

»Guten Morgen, Monsieur Lorisse.«

»Guten Morgen, Monsieur Norbert.«

Würde der Kassierer ihm zum Geburtstag gratulieren? Nein. Er hatte nicht daran gedacht. Dabei war die Kalenderseite schon abgerissen. Monsieur Lorisse war siebzig Jahre alt. Er sortierte die Briefe und schob sie ungeöffnet in kleinen Haufen seinem Chef hin.

An diesem Morgen war das Glasdach gelb. Durch die dicke Staubschicht darauf schien nie die Sonne herein, aber an schönen Tagen war das Dach gelb, fast quittengelb. Im April hingegen, wenn sich die Sonne plötzlich hinter einer Wolke versteckte, wurde es so dunkel, dass man Licht machen musste.

Die Sache mit der Sonne spielte eine große Rolle an diesem Tag, ebenso wie die verwickelte Geschichte mit einem unverhohlen zahlungsunwilligen Kunden in Izmir, mit dem man seit über einem halben Jahr stritt. Immer wieder fand er einen Weg, sich seinen Verpflichtungen zu entziehen, sodass man ihm schließlich recht geben würde, einfach weil man es satt hatte.

»Ist die Lieferung für die Maison Bleue in Bordeaux schon fertiggestellt?«

»Der Wagen fährt gleich ab.«

Um zwanzig Minuten nach neun, als alle Angestellten schon auf ihrem Posten waren, sah Monsieur Monde Alain vorüberkommen und in das Büro vom Auslandsdienst gehen. Alain, immerhin sein Sohn, kam nicht zu ihm herein, um ihn zu begrüßen. Es war jeden Morgen das Gleiche. Und jeden Morgen litt Monsieur Monde darunter. Jeden Morgen hätte er am liebsten zu ihm gesagt:

»Du könntest doch, wenn du kommst, zu mir hereinsehen.«

Aber er wagte es nicht. Aus einer Art Scham. Er schämte sich seiner Empfindlichkeit. Ganz abgesehen davon, dass sein Sohn es falsch deuten und glauben würde, sein Vater wolle kontrollieren, wann er zur Arbeit kam, denn er kam immer zu spät. Warum, wusste im Übrigen Gott allein. Wäre er morgens fünf Minuten eher fertig, könnte er mit seinem Vater im Auto zum Büro fahren.

Wollte er seine Unabhängigkeit zeigen und fuhr deshalb allein mit dem Bus oder der Metro? Als vor einem Jahr feststand, dass er das Abitur nicht bestehen würde, war er gefragt worden, was er vorhabe, und er hatte geantwortet:

»Im Büro arbeiten.«