Die Fowl-Zwillinge und die große Entführung - Eoin Colfer - E-Book

Die Fowl-Zwillinge und die große Entführung E-Book

Eoin Colfer

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Beschreibung

Ein neues Abenteuer für die genialen Fowl-Twins Die Zwillinge Myles und Beckett sind mal wieder gelangweilt und unternehmen deshalb mit dem Fowlschen Düsenjet einen kleinen "Ausflug". Das Flugzeug wird unterwegs allerdings von einem mysteriösen Flieger attackiert und explodiert. Die Zwillinge können sich zwar in letzter Sekunde retten, doch Myles wird gefangen genommen und verschleppt. Nun muss Beckett mit einer ihm verhassten Elfe zusammenarbeiten, um seinen Bruder zu finden – und das obwohl er Hausarrest hat. Tauch ein in Band zwei der Serie um die Fowl-Zwillinge.

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Die Fowl-Zwillinge und die große Entführung

Der Autor

Eoin Colfer lebt mit seiner Familie in Dublin. Er war Lehrer und hat mehrere Jahre in Saudi-Arabien, Tunesien und Italien unterrichtet, ehe er als Schriftsteller für junge Leser erfolgreich wurde. Neben seiner inzwischen 8-bändigen Artemis-Fowl-Serie, die in 34 Ländern erscheint, hat er zahlreiche weitere Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Außerdem ist er als Autor von Hardboiled-Krimis für Erwachsene erfolgreich.

Das Buch

Die Zwillinge Myles und Beckett sind mal wieder gelangweilt und unternehmen deshalb mit dem Fowlschen Düsenjet einen kleinen »Ausflug«. Das Flugzeug wird unterwegs allerdings von einem mysteriösen Flieger attackiert und explodiert. Die Zwillinge können sich zwar in letzter Sekunde retten, doch Myles wird gefangen genommen und verschleppt. Nun muss Beckett mit einer ihm verhassten Elfe zusammenarbeiten, um seinen Bruder zu finden – und das obwohl er Hausarrest hat.

Eoin Colfer

Die Fowl-Zwillinge und die große Entführung

Roman

Aus dem Englischen von Conny Lösch

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Mai 2022© für die deutsche AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022© Eoin Colfer, 2020Titel der englischen Originalausgabe:The Fowl Twins. Deny All Charges(First published by Harper Collins, UK)Lektorat: Dr. Caroline DraegerUmschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München (Wolken / Feuer / Funken / Gold & Kleidung), GettyImages / Digital Vision / © David Trood (Junge hinten), GettyImages / Digital Vision / © David Trood (Junge vorn)Autorenfoto: © Michael PaynterE-Book-Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-8437-2857-7

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Was man wissen sollte

Kapitel 1: Warum Artemis ein Dummkopf ist

Kapitel 2: Lazuli vom Himmel hoch

Kapitel 3: Deliveroo

Kapitel 4: Der Handkantenstups

Kapitel 5: Das Abschiedsritual

Kapitel 6: Ratte oder Narbe

Kapitel 7: Trennungsangst

Kapitel 8: Ohne Geduld, aber mit Spucke

Kapitel 9: Der Irische Backstop – die Hintergründe

Kapitel 10: Die Piepspistole

Kapitel 11: Flashcon

Kapitel 12: Unschuldige Menschen gibt es nicht

Kapitel 13: Unmittelbar bevorstehender Tod

Kapitel 14: Tic-Tac-Toe

Kapitel 15: Blut auf dem Felsen

Kapitel 16: Dummer Troll

Kapitel 17: Cool bleiben

Kapitel 18: Eine toxische Beziehung

Kapitel 19: Ankunft einer Zwelfe

Epilog

Nachtrag

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Was man wissen sollte

Widmung

Für Zwillinge an jedem Ort

Was man wissen sollte

Den meisten Unterirdischen ist der Name Artemis Fowl wohlbekannt. Die Heldentaten des jungen Mannes werden sogar in einem abschreckenden Lied erwähnt, das man in den Kindergärten der Unterirdischen singt. Die berühmteste Fassung geht so:

Leg dich nicht an,Mit dem jungen Mann.Artemis Fowl,Allen ein Graul,Ist schlau wie ein Fuchs,Das ist kein Jux.Nen riesigen Troll konnt’ er versohlenUnd hat dem Erdvolk Gold gestohlen,Zum Schluss hat niemand mehr gelacht,Denn die ZUP hat sich vor Angst in die Hosen gemacht.

Commander Trouble Kelp von der Zentralen Untergrund-Polizei stellte einmal bei einer Konferenz für Bildungsfragen den Antrag, das Lied vom Lehrplan zu streichen, und zwar mit folgender Begründung:

In Wirklichkeit hat nicht Artemis Fowl den Troll versohlt, sondern sein Leibwächter Butler (siehe ZUP-Akte:

Artemis Fowl).

Die Behauptung, Mitarbeiter der ZUP hätten während der Belagerung von Fowl Manor

Angst

gehabt, ist bestenfalls anekdotisch belegt. Mag sein, dass ein paar Agenten ein bisschen Schiss hatten, von Angst kann aber keine Rede sein.Und (Trouble suchte nun wirklich im Kleingedruckten …)

Zoologen zufolge sind Füchse eigentlich gar nicht so klug und schlechter erziehbar als gewöhnliche Hunde, weshalb es faktisch nicht korrekt ist, den Fuchs für eine Verkörperung von Schläue zu halten.

Der Einwand sorgte für schallendes Gelächter unter den Anwesenden.

Dummerweise musste Commander Kelp den Reim im Rahmen der Antragstellung höchstpersönlich aufsagen, und ab der zweiten Zeile sprachen alle mit. Wenig später wurde – sehr zur Verärgerung des Commanders – per Abstimmung entschieden, dass der Reim weiterhin Teil des Lehrplans bleiben solle.

Auch wenn es stimmte, dass Artemis Fowls erstes Zusammentreffen mit den Unterirdischen zunächst alles andere als vielversprechend verlaufen war, so nahm es der Rat doch zum hochwillkommenen Anlass, die Sicherheitsvorschriften zu aktualisieren und unter anderem einen jahrhundertealten Fluch aufzuheben, der es Unterirdischen verbot, menschliche Behausungen uneingeladen zu betreten, sowie ein Gesetz zu verabschieden, das Unterirdische verpflichtete, jederzeit ein Exemplar des Buchs des Erdvolks mit sich zu führen. Dennoch seufzten viele erleichtert auf, als Artemis und sein Leibwächter Butler zu einer wissenschaftlichen Fünf-Jahres-Expedition zum Mars aufbrachen. Eine indiskrete Ratsangehörige (die nach einem Interview vergessen hatte, ihr Mikro auszuschalten) merkte schnippisch an, ihr täten »die Außerirdischen da draußen leid, die diesem jungen Fowl in die Quere« kämen. Ganz schön hart, wenn man bedenkt, dass Artemis die Welt vor der größenwahnsinnigen Wichtelin Opal Koboi gerettet und dafür vorübergehend sogar sein eigenes Leben geopfert hatte.

Doch wie so häufig, wenn sich ein kriminelles Genie in den Weltraum begibt, es stand schon ein anderes bereit, um seinen Platz einzunehmen. In diesem Fall war das kein anderer als Artemis’ jüngerer Bruder Myles, der die Welt mit womöglich noch größerer Herablassung betrachtete als seinerzeit Artemis. In seinem Blog Myles to Go kanzelte Mylesregelmäßig anerkannte Wissenschaftler mit Kommentaren wie dem folgenden ab:

Leonardo da Vinci verstand so viel von Flugmaschinen wie ich von Boybands.

Oder:

Einsteins Urknalltheorie? … also bitte: Sie enthält mehr hypothetischen Unsinn als die Fernsehserie The Big Bang Theory und ist fast genauso lachhaft.

Damit machte er sich bei Heerscharen von Albert-Einstein-Fans nicht gerade beliebt.

In seinem Blog prangerte er die Menschheit im Allgemeinen an und verfasste unter anderem einen vernichtenden Text mit dem Titel: »Liebes Internet: Eine einzige Tatsache ist mehr wert als eine Milliarde hysterische Meinungen.«

Das wurde zehntausendmal kommentiert, doch in keinem Kommentar fand sich auch nur ein einziges Smiley.

Zur Senkung des allgemeinen Blutdrucks in den sozialen Medien trug aber bei, dass Myles’ Zwilling Beckett über ein sonnigeres Gemüt verfügte und die scharfen Bemerkungen seines Bruders häufig abmilderte. Oder wie Myles es formulierte: Wo ich in einem Wassertropfen die Lichtbrechung erkenne, sieht Beck einen Regenbogen. Allerdings konnte er es sich nicht verkneifen, die Bemerkung zu relativieren, indem er hinzufügte: Obwohl jeder, der schon mal einen meteorologischen Text auch nur überflogen hat, sehr wohl weiß, dass von einem Bogen nicht die Rede sein kann.

Die Bemerkung zeigte, dass Myles Fowl über ungefähr so viel Humor verfügte wie ein Vulkan und möglicherweise zu den schlimmsten fünf Prozent aller überheblichen Streber auf dem Planeten zählte, außerdem natürlich zu dem einen unübertroffen schlimmen Prozent aller überheblichen Zwölfjährigen.

Beckett war in vielerlei Hinsicht das absolute Gegenteil seines Bruders, und wären sie nicht verwandt gewesen, hätten sie einander vermutlich nicht einmal gemocht, doch wie das bei Zwillingen so ist, liebten und beschützten sie sich gegenseitig auf Leben und Tod, gelegentlich sogar darüber hinaus.

Beckett half Myles bei allem, was das Körperliche betraf – ein Gebiet, auf dem Myles ungefähr so viel Geschick besaß wie ein Stück Rollrasen; auf Gehwegen stolperte er, und Treppen fiel er hinauf, wofür fast schon so etwas wie Talent nötig war. Einmal stürzte sich eine Gruppe Albert-Einstein-Anhänger bewaffnet mit Hardcover-Ausgaben von Die Bedeutung der Relativitätstheorie vor dem Schultor auf Myles. Beckett entledigte sich ihrer, indem er sich mehrere Streifen Kaugummi in den Mund schob und sich dann Räder schlagend und laut schmatzend auf sie zubewegte. Myles hatte ihm nämlich einmal erklärt, dass Menschen mit hohem IQ häufig an der sogenannten Misophonieleiden, einer instinktiven Reaktion auf bestimmte Geräusche, zu denen unter anderem lautes Schmatzen zählte. Becketts Kaugummitrick schlug die Einstein-Jünger in die Flucht, allerdings war auch Myles danach so desorientiert, dass er gegen das Tor knallte und mit mehreren Stichen an der Stirn genäht werden musste. Insgesamt ein eher durchwachsener Erfolg.

Beckett war von Natur aus Optimist und sah in allem das Gute, also die Schönheit in jedem Grashalm. Auch akrobatisch war er gewissermaßen einzigartig begabt und hätte locker eine Zirkustruppe leiten können, hätte er dies gewollt. In Kampfsituationen ließen sich seine Talente wunderbar nutzen. Zum Beispiel beherrschte Beckett den berüchtigten Cluster Punch, von dem Meister der Kampfkunst nicht einmal glaubten, dass es ihn gab. Das Schöne am Cluster Punch war, dass er das Opfer vorübergehend lähmte, ohne echte Schmerzen zu verursachen. In Anbetracht seiner Familie durfte Beckett getrost davon ausgehen, häufig Gelegenheit zur Anwendung des Cluster Punchs zu bekommen. Tatsächlich führte der Fowl-Zwilling sogar Buch über seine Siege, und er hatte eigenen Berechnungen zufolge bis dato siebenundzwanzig Officer von Spezialeinheiten außer Gefecht gesetzt, außerdem elf Einbrecher, ein kleines Auto voller Clowns, sechs betrunkene Dubliner, die bei einem Junggesellenabschied zur Insel der Fowls, Dalkey Island, schwimmen wollten, fünf Schulhoftyrannen, die auf Kleineren herumhackten, und gleich drei Großwild-Wilderer, die mangelnde Körpergröße mit großkalibrigen Waffen kompensieren wollten.

Myles dagegen hatte noch nie einem Feind auch nur eine reingehauen, aber es war ihm durchaus schon einmal gelungen, sich bei einem Ringkampf mit seinem Bruder selbst in den Hintern zu boxen und dann hatte er sich aus Versehen noch die eigenen Schnürsenkel zusammengebunden. Myles löste das Schnürsenkelproblem, indem er möglichst nur noch Lederslipper trug, die ausgezeichnet zu den schwarzen Anzügen passten, die sein Markenzeichen waren. Das Problem mit seinem Hintern schaffte er aus der Welt, indem er sich vornahm, nie wieder zu boxen, es sei denn, Becketts Leben hinge davon ab.

Im vergangenen Jahr begannen die Fowl-Zwillinge das, was in der Verbrecherkartei der ZUP als Zweiter Zyklus der modernen Fowl-Abenteuer bezeichnet wird. Modern, weil bereits Myles’ und Becketts’ Vorfahren mehrfach mit unangenehmen Vorfällen in den unterirdisch archivierten Akten unter M wie Menschen Erwähnung gefunden hatten. In der Vergangenheit war es den Zwillingen gelungen, einen Zwergtroll namens Whistleblower zu retten, als ein gewisser Lord Teddy Bleedham-Drye, Herzog von Scilly, ihm sein Gift abzapfen wollte, da es unter strengen Laborbedingungen lebensverlängernd wirken konnte. (Später mehr über dieses verwerfliche Individuum.) Die Jungs hatten außerdem wesentlichen Anteil daran, dass ACRONYM zumindest teilweise ausgeschaltet worden war – eine regierungsübergreifende Geheimorganisation, die nur ein einziges Ziel verfolgte, nämlich Unterirdische mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu jagen, je inhumaner und brutaler, umso besser. Dabei waren Myles und Beckett ins Visier der Zentralen Untergrund-Polizei geraten, die Lazuli Heitz, eine Wichtel-Elfen-Hybride oder auch Welfe, als Fowl-Ambassador abgestellt hatte, ein anderes Wort für UVO oder auch Unterirdischer Verbindungsoffizier. Myles war sich voll und ganz darüber im Klaren, dass die Welfe in Wirklichkeit als eine Art Bewährungshelferin fungierte, während Beckett sich gar nicht darum scherte, welche Aufgabe Lazuli versah; er freute sich, eine neue blaue Freundin gefunden zu haben.

Wir begegnen den Zwillingen nun im Sommer ihres dreizehnten Lebensjahres; das heißt, sie sind zwölf und haben die irische Grundschule beendet. Myles bekam kürzlich am University College Dublin den Doktortitel im Fach Biologie verliehen, nachdem er in seiner Dissertation die Theorie dargelegt hatte, dass Fruchtwasser mehreren Babys als gemeinsames Gehirn dienen kann, was die enge Bindung vieler Zwillinge zueinander erklären könnte. Beckett hatte endlich erstmals ein Buch zu Ende gelesen, das kein Bilderbuch war. Es trug den Titel Ein Außerirdischer beim Kacken. Beckett bewunderte den Jungen, um den es ging, da er sich einen Finger in den Hintern stecken und trotzdem kackte – eine Vorstellung, die den blonden Zwilling bei jeder Lektüre erneut zum Lachen brachte. Beckett hatte sich geschworen, dass Ein Außerirdischer beim Kacken das einzige Buch bleiben sollte, das er jemals lesen würde, es sei denn, der Verlag brachte eine Fortsetzung heraus. Er hatte sogar bereits an den Verleger geschrieben und einen Titel für den zweiten Band vorgeschlagen, Der Außerirdische kackt noch mal, ein Titel, der wie Myles zugeben musste, durchaus dem Geist des ersten Romans entsprach.

Dem flüchtigen oder auch aufmerksamen Betrachter der ZUP-Überwachungsprotokolle mochte es vorkommen, als hätten sich die Fowl-Zwillinge in den vergangenen Monaten größtenteils an vorhersehbare Verhaltensmuster gehalten und sich meist mehr oder weniger im Rahmen der Vorschriften bewegt. Ausnahmen ließen sich leicht durch familien- oder freizeitbezogene Aktivitäten erklären. Zum Beispiel zeigten die Aufzeichnungen, dass Myles Vorträge in einem Dojo für Codierer auf dem Festland hielt, während Beckett dort einen klassischen Dojo besuchte, wo er rasch als der mit Abstand beste Schüler einsam an der Spitze stand.

Das ist keine Metapher: Beckett türmte die ihm Unterlegenen unter sich auf, kletterte auf den höchsten Punkt des sich windenden Haufens und sang »Ain’t No Mountain High Enough«, ein Lieblingslied seiner Mutter.

Doch auch wenn die Zwillinge hin und wieder vom geregelten Tagesablauf abwichen, bemühten sie sich doch, möglichst nicht in die Angelegenheiten der Unterirdischen verwickelt zu werden, und verpassten keine einzige Facetime-Sitzung mit ihrer Bewährungshelferin. Lazuli Heitz war so zufrieden mit dem Betragen ihrer Schützlinge, dass sie eine magische Heilung der Narben auf Myles’ Brust veranlasste, die sie ihm versehentlich selbst zugefügt hatte. Es war das Mindeste, was sie tun konnte, da Myles und Beckett in vielerlei Hinsicht vorbildliche Gefangene waren.

Und eigentlich waren Myles und Beckett ja auch genau das: Vorbilder.

Kapitel 1 Warum Artemis ein Dummkopf ist

Dreitausend Fuß über dem Atlantik

Laut der meisten Luftverkehrverordnungen ist Kindern das Lenken von Flugzeugen (nicht nur) auf transatlantischen Strecken untersagt. Dabei handelt es sich um eine durchaus vernünftige Vorschrift, da junge Menschen im Allgemeinen weder über das Temperament noch die Ausbildung verfügen, die ein Pilot benötigt, um eine Maschine von einem Kontinent zum anderen zu lenken. Nicht nur das, Jugendlichen fehlt es typischerweise an der nötigen Körpergröße, um an die Pedale unten sowie die Reihen von Reglern an der Decke heranzureichen. Myles Fowl löste das Problem, indem er die Reglerfunktionen des umweltfreundlichen Power-to-Liquid (oder PtL)-betriebenen Fowl Tachyons auf sein Handy übertrug und im Cockpit auf einer Sitzerhöhung Platz nahm, sodass er auf und durch die smarte Windschutzscheibe schauen konnte. Jedes Mal, wenn er sich auf dem Pilotensitz anschnallte, freute Myles sich auf den Tag, an dem er endlich den entscheidenden Wachstumsschub haben und die Erhöhung folglich nicht mehr brauchen würde. Anhand der genetischen Geschichte seiner Familie und einer persönlichen Wachstumstabelle hatte er berechnet, dass dieser Schub in sechshundertdreißig Tagen genau um Mitternacht einsetzen müsste, plus/minus dreißig Minuten.

Beckett fungierte als Co-Pilot und löste das Pedalproblem, indem er Plateauschuhe aus den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts trug, die – wie ihm der Online-Verkäufer »Rocketman 1972« versicherte – einst Elton John gehört hatten. Die Regler bediente Beckett mithilfe einer Greifzange mit langem Stil, die er sich aus dem Gartenschuppen geborgt hatte.

Im Grunde war keins dieser Hilfsmittel notwendig, da die Nano-Artifizielle-Neuro-Netzwerk-Intelligenz, kurz NANNI genannt, die in Myles’ Graphenbrille integriert war, den Jet kompetenter hätte fliegen können als der beste Superpilot. Aber die Zwillinge hatten nun mal Spaß daran, und deshalb hatte NANNI versprochen, sich herauszuhalten, es sei denn, der Jet ginge in den Sturzflug über, was häufiger vorkam, als man angenommen hätte, nämlich meist dann, wenn sich Beckett langweilte.

Während der sogenannte Fowl Tachyon die smaragdgrüne Insel Kuba überflog, übergab Myles die Regler an Beckett, der zweifellos der intuitivere Pilot der beiden war, und setzte zu einem weiteren Vortrag in der Reihe über sein Lieblingsthema an: »Warum unser Bruder Artemis ein Dummkopf ist«.

Myles räusperte sich, richtete sich die goldene Krawatte und schickte seiner Rede zwei dreiste Lügen voraus. »Ich spreche ungern schlecht über Abwesende, Beck, aber unser Bruder Artemis ist ein Dummkopf.«

Beckett korrigierte die Flugklappen mithilfe seiner Greifzange, obwohl sich der betreffende Hebel durchaus in seiner Reichweite befand. »Artemis ist kein Dummkopf. Er hat ein Raumschiff gebaut.«

»Und was für eins«, sagte Myles verächtlich. »Meinst du etwa, die Artemis Interstellar? Die er bescheiden nach sich selbst benannt hat? Die Maschine ist kaum mehr als ein fliegendes Jojo. Mir wär’s peinlich, die Exosphäre in so einem Gefährt zu durchbrechen.«

»Unser großer Bruder hat ein Raumschiff gebaut«, beharrte Beckett. »Dummköpfe bauen keine Raumschiffe.«

Myles war noch lange nicht fertig mit seinem jüngsten Versuch, Artemis herabzuwürdigen. »Interstellar? Was soll das überhaupt für ein Name sein? Streng genommen – und anders sollte ein Wissenschaftlicher niemals etwas nehmen – ist die gesamte Menschheit interstellar.«

Dies war möglicherweise ein guter Einwand, aber Becketts Interesse an den Argumenten seines Zwillingbruders hielt selten länger als ein oder zwei Sätze vor, weshalb er zu einem verwandten Thema überging. »Steckt Arty in Schwierigkeiten, Myles?«

»Natürlich nicht«, sagte Myles, sofort milder gestimmt, denn absolut nichts auf der Welt machte ihn trauriger, als seinen Bruder traurig zu sehen. Vermutlich lag dies daran, dass Myles und Beckett die weltweit einzigen nachweislich zweieiigen siamesischen Zwillinge waren. »Artemis ist nicht dumm genug, um in Schwierigkeiten zu geraten«, erklärte er. »Ich sage ja nur, dass unser großer Bruder auf der anderen Seite aber auch nicht schlau genug ist, um als Wissenschaftler ernst genommen zu werden. Auf jeden Fall ist Unwissenheit ein Segen, wie man so schön sagt, und deshalb würde Artemis es gar nicht merken, wenn er in Schwierigkeiten steckte, selbst wenn es so wäre.«

Beckett richtete das Höhenruder neu aus, woraufhin der Tachyon in den Sturzflug überging, Becketts liebste Fortbewegungsart. »Ein Nein hätte genügt, Myles«, sagte er. Doch dann kam Beckett der zweite ernsthafte Gedanke in ebenso vielen Minuten. »Stecken wir in Schwierigkeiten?«

Myles Eingeweide wollten sich fast zu einer Schleife verknoten, als der Jet zehntausend Fuß pro Minute an Höhe verlor, aber er dachte ruhig über seine Antwort nach. »Definitiv nicht«, sagte er schließlich, ausgerechnet er, der immer »definitiv« sagte, wenn er eine Lüge überspielte. »Das ist nur ein Aufklärungsflug heute. Ein Abstecher, um ein Gespür für unser Ziel zu bekommen und ein paar Fotos zu machen.«

Automatisch sagte Becket: »Du hast definitiv gesagt.«

»Möglicherweise bewegen wir uns auf Schwierigkeiten zu, Bruderherz«, gestand Myles. »Aber nicht heute und wenn, dann gewiss keine, mit denen ich nicht klarkäme. Außerdem sind Schätze doch sicher ein paar Schwierigkeiten wert.«

»Schätze und Schwierigkeiten«, sagte Beckett und glich die Flughöhe wieder aus, bevor NANNI die Kontrolle an sich riss. »Super. Meinst du, ich kann mal wieder meinen Cluster Punch verwenden?«

»Ein Cluster Punch liegt durchaus im Bereich des Möglichen, aber nur gegen die Bösen«, sagte Myles, strich sich das glänzend schwarze Haar zurück. »Und nur, wenn sie’s absolut verdient haben, was bei Bösen häufig der Fall ist, wie man fairerweise dazusagen muss.«

Beckett zog eine weitere Frage aus seinem scheinbar unerschöpflichen Vorrat. »Und niemand, der uns etwas bedeutet, wird wütend auf uns werden, weil wir nicht da sind, wo wir eigentlich sein sollten?«

Myles verdrehte die Augen. »Beck, alle wären sauer auf uns, wenn sie wüssten, wo wir stecken. Absolut stinkwütend sogar. Lazuli würde uns die Bewährung aufkündigen. Mutter und Vater würden uns Hausarrest aufbrummen, mindestens das. Wahrscheinlich wäre sogar Artemis so dreist, uns eine Standpauke aus dem All zu halten.«

»Und wieso sind wir dann nicht, wo wir sein sollten?«, fragte Beckett.

Entgegen den Vorschriften zur Flugsicherheit löste Myles seinen Gurt und stand auf. »Weil wir Fowls sind«, erklärte er und reckte den ausgestreckten Finger gen Himmel, er hatte nämlich eine Schwäche für das Melodramatische. »Und weil Fowls immer das Unerwartete tun.«

Beckett dachte darüber nach und ruinierte Myles’ großen Moment mit einem seiner typischen Sprüche. »Ist nicht anders zu erwarten.«

»Das trifft hier nicht zu.« Myles hatte schon das Gegenargument parat. »Bei einer begrenzten Anzahl möglicher erwartbarer Handlungen in einer konkreten Situation ist die Zahl der unerwartbaren Reaktionen unendlich groß.«

»Aber weißt du, ganz allgemein«, fuhr Beckett hartnäckig fort, was nun gar nicht typisch für ihn war, vielleicht aber hatte er das Gefühl, Myles sei verärgert. »Wenn man viel Unerwartetes tut, fällt das ›Un‹ irgendwann weg, und übrig bleibt nur das Erwartete.«

Myles war sich vollkommen darüber bewusst, dass es viel schwieriger werden würde, diese Debatte zu gewinnen, als jemanden, der die Erde für eine Scheibe hält, davon zu überzeugen, dass sie eine Kugel ist. Und so war er richtig erleichtert, als NANNI ihm eine Warnung auf die Gläser seiner Smartbrille schickte und ihm einen Grund lieferte, das Thema zu wechseln.

Myles übertrug die Warnung auf die Windschutzscheibe des Jets und zog sie mit Daumen und Zeigefinger größer auf. »Schau mal, Bruderherz«, sagte er und zeigte auf einen stromlinienförmigen Zylinder, der auf das Flugzeug zuraste. »Da kommt eine Rakete auf uns zu, und sie zielt genau auf uns.«

»Ein Geschoss!«, rief Beckett voller Freude. »Wunderbar. Wir kommen nachher auf das Streitgespräch zurück, das du verloren hast.« Und mit dem Klicken eines Schalters leitete er die regulären Abwehrmaßnahmen des Tachyons ein, ohne auf den entsprechenden Befehl zu warten, aber Schalter umlegen zählte nun einmal zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Beckett hatte sich ein Brett an die Wand des gemeinsamen Schlafzimmers der Zwillinge genagelt und verschiedene Schalter darauf festgeschraubt. Manchmal verbrachte er Stunden damit, sie umzulegen, was Myles, der aufgrund seiner Misophonie jegliche Geräusche hasste, unerträgliche Qualen bereitete.

Aber zurück zu den Abwehrmaßnahmen. Diese sind sehr beliebt, besonders bei Piloten, die gerne überleben, und der Tachyon sah gleich dreierlei Abwehrmaßnahmen vor:

Die erste bestand aus infraroten Leuchtkugeln, die ein wärmesuchendes Geschoss derart überlisteten, dass es statt des Flugzeugmotors, auf den es gerichtet war, etwas anderes Superheißes in die Luft jagte, denn trotz der beindruckenden Thermodämmung und des Bypass-Motors der Tachyon ließ sich kaum vermeiden, dass er eine Wärmesignatur abgab, die eine hochentwickelte Langstreckenrakete nicht verfehlen konnte.

Die zweite Abwehrmaßnahme bestand in einem Konfettiregen aus geschreddertem Aluminium, Plastik und Papier, der, einmal freigesetzt, das radargesteuerte Zielsuchsystem einer Rakete verwirrte.

Und die dritte Maßnahme zur Geschossablenkung war ein elektronisches Gehäuse in der Spitze der Jet-Schnauze, das das Radarsystem des Verfolgers blockierte, falls das mit dem Konfetti mal nicht klappen sollte.

Diese Maßnahmen waren für Myles’ Geschmack keineswegs verlässlich genug, da sie nur aus der Nähe funktionierten und davon abhingen, über welches Leitsystem das Geschoss selbst verfügte und welche Treibstoffreserven vorhanden waren. Myles hatte daher mit beträchtlicher Unterstützung durch NANNI das Abwehrsystem des Tachyons durch zwei weitere Funktionen ergänzt.

Die erste davon bestand aus einem halben Dutzend Hochgeschwindigkeitsdrohnen mit holografischen Projektoren, die sechs weitere Fowl Tachyons an den Himmel warfen und von ferngesteuerten Raketen angegriffen werden konnten, und die zweite waren zwei Railguns, die Projektile mit mehr als fünffacher Schallgeschwindigkeit abfeuerten. Myles’ Railguns verbargen sich unter einer versenkbaren Verkleidung an beiden Flügeln. Die auf der Steuerbordseite war ein Plasma-Modell und feuerte heiße ionisierte Partikel ab, die praktisch in alles ein Loch schlugen, was sie trafen, die Railgun auf der Backbordseite feuerte Cybermunition in Form von Haftprojektilen ab, die an den Rumpf des feindlichen Geschosses andockten, um dort möglichst die Kontrolle zu übernehmen – oder aber, sollte dies nicht möglich sein, sämtliche Systeme abzuschalten. Vor einigen Monaten hatte Myles seinen Zwilling mit der Bezeichnung BCRYPT für diese geniale Munition vertraut gemacht. Er hatte Beckett erklärt, dass BCRYPT für Ballistische-Cyber-Reaktivierungs-Projektile mit Yottabyte-Potenzial-Transfer stand. Myles hatte außerdem ziemlich hochnäsig behauptet, das Akronym sei eine Art Easter Egg für Technikbegeisterte, da BCRYPT gleichzeitig der Name der kryptologischen Hashfunktion sei, die 2016 nach dem berühmten Hackerangriff auf Yahoo verwendet worden war. Hätte Myles erwartet, mit einem Schulterklopfen für sein schlaues Wortspiel belohnt zu werden, er wäre bitter enttäuscht worden, denn Beckett tat die Abkürzung als ebenso dumm wie lächerlich ab. Er hatte gerade erst etwas über Skarabäen in der ägyptischen Geschichte gelernt und fand, dass die Projektile wie große Käfer aussahen und eigentlich besser SKARABs heißen sollten. Myles musste sich nun gezwungenermaßen eine andere Erklärung für den neuen Namen ausdenken und entschied sich schließlich für: SYSTEME AUS KAPSELN ZUR ABLENKUNG VON RAKETEN-ANGRIFFEN UND BOMBEN, was den Sachverhalt, wie er zugeben musste, genauer traf und zudem eingängiger war.

Obwohl gerade ein Geschoss mit einer Geschwindigkeit von sechs Meilen pro Sekunde auf den Fowl Tachyonzuraste, war keiner der beiden Fowl-Zwillinge sonderlich beunruhigt, denn sie hatten natürlich noch einige Tricks auf Lager beziehungsweise in diesem Fall: Flügel am Rumpf.

Myles setzte sich vernünftig hin und schnallte sich vorsorglich an, weil Beckett möglicherweise Ausweichmanöver fliegen würde, egal, ob sie nötig waren oder nicht. Einmal war sein Bruder mit dem Tachyon eine Fassrolle geflogen, nur weil er unter einer Erkältung litt und dachte, er könne mit der Flugfigur seine Nasennebenhöhlen befreien.

NANNIs Avatar tauchte auf der Windschutzscheibe auf und bestätigte, was die Zwillinge bereits sahen.

»Die Rakete hat die beiden ersten Abwehrmaßnahmen überwunden«, verkündete die superintelligente KI. »Anscheinend macht sie sich nichts aus unseren Täuschkörpern, den Blockern und dem Konfetti.«

»Unfassbar«, sagte Beckett. »Alle lieben Konfetti. Das ist wie eine Party am Himmel.«

Tatsächlich schien es, als würde sich die Rakete ganz allgemein nichts aus Partys am Himmel machen und sich genauso wenig von ihrem Ziel ablenken lassen. Sie raste noch immer direkt auf den Tachyon zu, wobei sie eine ungewöhnliche violette Flamme hinter sich herzog.

»Zwanzig Sekunden bis zum Einschlag«, sagte NANNI. »Vielleicht sollten wir etwas unternehmen?«

Etwas unternehmen?, dachte Myles. Das hilft uns jetzt auch nicht weiter. Laut sagte er: »Setz die Hologramme frei, Bruder.«

»Wirklich, Bruder?«, fragte Beckett, der komischerweise gerade keine Lust hatte, einen Schalter umzulegen. »Vielleicht sollten wir …«

Myles fand, dass nicht die Zeit für ein »Vielleicht sollten wir« war, und legte den entsprechenden Schalter selbst um, womit er sechs winzige Drohnen aus dem Rumpf entließ. Diese waren so programmiert, dass sie Bilder des Tachyons in hoher Auflösung projizierten, die selbst im prallen Sonnenlicht opak erschienen und fernsteuernde Piloten verwirren sollten.

Vielleicht hätte der Trick sogar funktioniert, hätten die Drohnen das projiziert, was Myles ursprünglich auf die Festplatte übertragen hatte. Statt holografischer Jets tauchten nun aber sechs freischwebende Versionen einer sehr grobschlächtig animierten humanoiden Gestalt in der Troposphäre auf, die sich einen Finger in den Hintern steckte und kackte.

Myles war so gut wie sprachlos, aber nur so gut wie. »Beck, ist das der kackende Außerirdische?«

Beckett nickte. »Mir war langweilig, also hab ich ihn im Computer abgespeichert. Ich dachte, der ist eine bessere Ablenkung als jedes Flugzeug.«

Myles sah seinen Bruder böse an. »Sag mir die Wahrheit, Bruderherz. Hast du ihn selbst animiert?«

»Hab ich«, sagte Beckett. »War ganz einfach. Ich hab den Code benutzt, den du mir beigebracht hast.«

Myles unterrichtete Beckett auf mehreren Gebieten, unter anderem in Algebra und im Programmieren sowie in der Tatsache, dass Taten meist Folgen haben. Doch jetzt spürte er, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, nicht etwa, weil der sichere Tod nur noch Sekunden entfernt war, sondern weil sein Zwillingsbruder gelerntes Wissen tatsächlich praktisch angewendet hatte. »Gut gemacht, Bruderherz«, murmelte er leise. »Hut ab!« Und dann, beinahe beiläufig an NANNI gerichtet: »Fahr die Railgun aus, aber bitte SKARABs NANNI. Wir müssen der Welt unsere Ankunft nicht gleich mit einer Explosion bekannt geben. Außerdem würde ich mir gerne die Mechanik der Rakete ansehen, der Feuerschweif da hat eine ungewöhnliche Farbe.«

»Einverstanden«, sagte NANNI. »Und ich würde gerne mal einen Blick auf das Ding werfen, das da am Rumpf hängt. Nur aus Neugier.«

»Oh ja«, sagte Beckett. »Das schauen wir uns mal an. Ich liebe Dinger. Und ich glaube, es lebt. Ich hab’s wackeln sehen.«

»Ein Ding?«, wiederholte Myles. »Was für ein Ding?«

NANNI vergrößerte das Bild auf dem Smart-Screen – wobei es wohl nicht mehr viel zu vergrößern gab, da das Geschoss sich inzwischen gefährlich nahe beim Ziel befand. Ganz eindeutig war etwas am Rumpf der Rakete befestigt, ein kleines Stück vor dem Heck, genauer gesagt, und wenn es lebte, was Beckett vermutete, dann durfte man es auf keinen Fall mit ionisierten Partikeln bombardieren.

Myles verwendete seine Smart-Brille, um es sich genauer anzusehen, und entdeckte, dass das »Ding« ein glitzernder durchscheinender Klumpen ungefähr von der Größe eines Wäschesacks war, in dem sich ein haariger Fuß bewegte.

»Ich glaube, wir haben einen Hobbit«, sagte NANNI.

Das war eine schlichtweg unerhörte Behauptung, und Myles nahm sich vor, sie sofort zu widerlegen, sobald der Tachyon nicht mehr von einer Rakete bedroht wurde – gleich nachdem er Beckett erklärt hatte, weshalb jemand, der sich fortgesetzt unberechenbar verhielt, nicht unbedingt als berechenbar bezeichnet werden konnte. Aber zunächst beschränkte sich der stets abschweifende Myles darauf, sich auf das zu konzentrieren, was man inzwischen mit Fug und Recht als Kubakrise bezeichnen durfte.

»SKARABs, NANNI«, sagte er knapp. »Sofort.«

Es wäre nicht nötig gewesen, den Befehl zu geben, denn er wurde bereits ausgeführt. Die SKARABs bewegten sich schneller, als das menschliche Auge sie erfassen konnte, weshalb NANNI ihren Kurs hilfsbereit auf dem Smart-Screen in Form von animierten roten Pfeilen anzeigte.

Myles beugte sich instinktiv vor. Die SKARABs kamen zum ersten Mal in der Praxis zum Einsatz, und er wollte sehen, wie effektiv sie waren, da er in einem Videopaket, dass er an Artemis geschickt hatte, bereits ziemlich mit ihnen angegeben hatte. Sollten sie jetzt versagen, wäre das außerordentlich demütigend für ihn gewesen, auch wenn dann sowieso niemand überleben würde und er wohl kaum noch in Verlegenheit gebracht werden konnte.

Er hätte sich keine Nanosekunde lang Sorgen machen müssen. Die SKARABs machten perfekt ihr Ding, hefteten sich an den Rumpf des fremden Geschosses und schlugen gleichsam die elektronischen Zähne tief in dessen Apparatur.

»Yeah, Baby!«, jauchzte NANNI, deren Persönlichkeit sich ständig weiterentwickelte. »Du bist geliefert.«

»Bericht«, zischte Myles durch definitiv aufeinandergepresste Zähne.

»Warte kurz«, sagte NANNI. »Lass mich den alten Stier bei den Hörnern packen.«

Myles ächzte. Das superintelligente System drückte sich keineswegs superintelligent aus, doch seinem Bruder gefiel die Bildhaftigkeit. Prompt stieß Beckett etwas aus, das sich nur als wildes Cowboygebrüll bezeichnen ließ.

Auf dem Bildschirm verwandelte sich das Geschoss in eine schematische Darstellung seiner selbst, und aus den Sensoren der SKARABs drangen elektronische Tentakel in den Mechanismus ein.

»Okay«, sagte NANNI: »Wir sind drin. Ich habe das Mistding abgebremst. Es wird weiterfliegen, aber gerade so. Der Hobbit befindet sich in einer Blase, die mit einer Art Kleber an dem Geschoss befestigt ist. Durch magnetisches Pulsieren müsste er sich lösen, die Scherwinde erledigen dann den Rest.«

»Bauweise?«, fragte Myles.

»Unbekannt«, erwiderte die KI. »Könnte von Unterirdischen stammen, aber gesehen haben wir so was noch nicht. Gemessen am ZUP-Standard ist es ganz schön primitiv.«

»Und die Bombenlast?«, überlegte Myles.

»Nichts Atomares, das ist schon mal gut. Einfach eine Art Sprengsatz, reicht aber kaum, um das Ding selbst hochzujagen. Ich kann es mir später genauer ansehen – jetzt widmen wir uns erst mal einem kleinen Problem.«

»NANNI«, presste Myles immer noch durch die Zähne, »bitte liefere mir alle relevanten Informationen in einer einzigen Aussage. Diese Häppchentaktik ist äußerst frustrierend.«

»Okay, Motzkopf«, sagte NANNI.

»Myles ist übermüdet«, sagte Beckett. »Er braucht ein Gummibärchen.«

»Ich brauche kein Gummibärchen«, erklärte Myles mit Nachdruck, während er gleichzeitig die Hand in die Tüte mit den Süßigkeiten in seiner Tasche schob. »Sag mir einfach, worin dieses ›kleine Problem‹ besteht.«

NANNI fackelte nicht lange. »Die Rakete detoniert beim Aufprall, sie verfügt aber zusätzlich über eine Zeitschaltuhr, nur komme ich nicht dran.«

»Dann schick das Ding ins All und lass es da explodieren«, sagte Myles. »Wie lange haben wir noch?«

»Drei Minuten«, erwiderte NANNI.

«Mehr als genug«, sagte Myles. »Das ist doch sicher kein Problem.«

»Nur für den Hobbit«, sagte Beckett.

Ein berechtigter Einwand.

»Hm«, sagte Myles. »Ich …«

Beckett fiel ihm aufgeregt ins Wort. »Myles hat ›Hm‹ gesagt. Das heißt, er weiß etwas nicht, und das bedeutet: Ich bin der Chef. Und ich sage: Lufttransfer.«

NANNI streckte eine holografische Hand aus dem Bildschirm und fist-bumpte Beckett. »Ganz deiner Meinung, Partner. So wie wir’s geübt haben.«

»Moment mal …«, sagte Myles. »Was? Geübt?«

Beckett schüttelte bedauernd den Kopf. »Das sind doch keine richtigen Sätze, Bruderherz. Verwende richtige Wörter.«

Aber Myles fielen keine ein, ebenso wenig hatte er eine bessere Idee. Beckett verstand das Schweigen seines Bruders als Aufforderung, die Kontrolle zu übernehmen.

Der Himmel stehe ihnen bei.

Ihnen und dem Hobbit.

Kapitel 2 Lazuli vom Himmel hoch

Haven CityZwölf Stunden zuvor

Specialist Lazuli Heitz von der ZUP-Aufklärungs-Division hatte einen ausgesprochen schlechten Tag. Und zwar von einem Kaliber, wie ihn die meisten Menschen nur einmal im Leben haben – in der Regel sind sie dann noch vor dem Abendessen tot. Auch wenn dieser Tag aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem einen oder anderen Todesfall enden sollte, hatte Specialist Heitz genau genommen schon eine ganze Reihe solch unheilvoller Tage überlebt, und zwar hauptsächlich wegen der Fowl-Zwillinge, wobei fairerweise erwähnt werden sollte, dass diese die lebensbedrohlichen Ereignisse selbst erst ausgelöst hatten.

Dieser Tag jedoch sollte allein an Abwechslungsreichtum alle anderen übertreffen, denn er begann mit einem Krankenhausbesuch und endete mit einem unerwarteten Überschallflug – wir wollen versuchen, erzählerisch mit dem Tempo mitzuhalten.

Lazuli hatte sich nicht freiwillig ins Krankenhaus begeben, auch fühlte sie sich nicht besonders krank, abgesehen von einem anhaltenden Halskratzen, das sie einfach nicht mehr loswurde. Sie hatte es sich bei einem der jüngeren Fowl-Zwischenfälle auf der Insel St. George vor der Küste Cornwalls (siehe ZUP-Akte: Die Fowl-Zwillinge) zugezogen, als sie dort spontan Feuer gespuckt hatte. Nichts anderes als diese Feuerkraft hatte ihre Vorgesetzte und Mentorin, die Elfe Commodore Holly Short, dazu veranlasst, einen Termin für Lazuli in dem erst kürzlich eröffneten Magitek-Flügel der J. Argon Clinic in Haven City zu vereinbaren. Dr. Jerbal Argon hatte den genialen Zentauren Foaly von der ZUP abwerben und als Leiter der Einrichtung gewinnen können, indem sie ihm ein Riesengehalt anbot – sowie ein Eckbüro mit Blick auf das Polizeipräsidium und die Innenstadt von Haven.

In diesem Büro saß Specialist Heitz nun und rieb sich die Stelle am Oberarm, wo man ihr eine Spritze verabreicht hatte. Es hatte ein bisschen gebrannt, aber nicht so wie die Impfungen, die alle ZUP-Beamten nachweisen mussten, um Oberflächen-Visa ausgestellt zu bekommen. Zu den Schmerzen kam hinzu, dass Lazuli sich in dem papierdünnen Krankenhaus-Nachthemd, das vorne viel zu groß und hinten viel zu knapp geschnitten war, entblößt und schutzlos fühlte. Möglicherweise hätte sie Einwände erhoben, hätte Foaly ihr nicht bereits die Zunge runtergedrückt und ihr einen Holzmundspatel in den Rachen gerammt, um sich ihren Apparat in Ruhe anzusehen. Gerade als Lazuli glaubte, würgen zu müssen, zog Foaly das Ding wieder heraus und trabte um seinen Schreibtisch.

»Faszinierend«, sagte der Zentaur und warf den Spatel in den surrenden Schlund des Recycling-Schachts. »Sie haben keine koboldtypischen Kennzeichen: Öldrüsen, Funkenzähne und so weiter …«

Lazuli wartete höflich darauf, dass er den Gedanken zu Ende führte, wozu es aber nicht kam, weil der Zentaur nun ein kompliziertes 3-D-Modell von Lazulis Rachen in den Smart-Raum über seinem Schreibtisch zeichnete.

»Und so weiter …?«, drängte sie ihn schließlich.

Foaly zuckte zusammen, als habe er vergessen, dass sie da war. Typisch geistesabwesendes Genie-Verhalten.

»Oh ja. Und so weiter. Wo war ich? Sie verfügen nicht über die Merkmale, verstehen Sie, um …« Der Zentaur wackelte wütend mit den Fingern vor seinem Mund, womit er, wie Lazuli vermutete, züngelnde Flammen andeuten wollte. »Es war also magisch. Die ganze Geschichte. So was habe ich noch nie erlebt – wobei ich es dieses Mal ja auch nicht erlebt habe, aber Holly hat mir versichert, dass es tatsächlich passiert ist, und deshalb habe ich Ihnen einen Magie-Unterdrücker eingesetzt. Der winzige Chip wird verhindern, dass Sie aus Versehen Ihre Schwadron bei einer Besprechung vaporisieren, was meines Erachtens schlecht wäre.«

»Oh ja«, pflichtete Lazuli ihm bei. »Sehr schlecht.«

Foaly nickte. »Genau. Durch den Chip sind alle auf der sicheren Seite. Meiden Sie Stromschläge, Sie könnten ihn dadurch versehentlich kurzschließen.«

»Ich will’s versuchen«, erwiderte Lazuli.

Foaly hielt inne und fixierte sie neugierig. »Verzeihen Sie, dass ich Sie anstarre, aber Sie sind eine Hybride und noch dazu eine Welfe. Doppelt gesegnet, würde ich sagen. Sie stellen meiner Meinung nach die nächste Stufe der Evolution der Unterirdischen dar. Absolut faszinierend aus wissenschaftlicher Sicht, auch wenn nicht alle meine Meinung teilen. Hybride zählen nicht einmal zu den offiziell anerkannten Unterirdischen.« Er zwinkerte ihr zu. »Zentauren ebenso wenig, aber wer will schon offiziell anerkannt sein, hm? Oder überhaupt normal? Was auch immer das sein mag.«

Lazuli staunte.

Solange sie denken konnte, hatten vermeintlich aufgeklärte Unterirdische auf sie herabgesehen, weil sie halb Wichtel und halb Elfe war. In diesem Büro hier hatte sie nicht mit Vorurteilen gerechnet, zumal Commodore Short große Stücke auf den Magitek-Direktor hielt, andererseits hatte sie aber auch keine so freundlichen Worte erwartet. Sie schüttelte den Kopf. »Eben«, sagte sie. »Wer will schon normal sein?«

In Wahrheit sehnte sie sich schon viel zu lange und schmerzlich danach.

»Also, Specialist Heitz«, sagte Foaly, »der nächste Schritt ist ein MRT, wenn Sie bereit sind?«

MRT, dachte Holly. Magische-Resonanz-Tomografie. Die nächste Stufe der Überführung von Magie in Wissenschaft. Um nichts anderes geht es hier in diesem Gebäude. Soll ich jetzt das neuste Versuchskaninchen werden? Mit Nadeln gespickt und abgefüllt mit radioaktiven Flüssigkeiten?

Wenn Foaly nicht mit sich selbst beschäftigt war, konnte er gelegentlich recht aufmerksam sein, und wie sich herausstellte, war dies eine solche Gelegenheit. »Keine Angst, Specialist. Wir werden kein Laborexperiment aus Ihnen machen, falls Sie sich sorgen. Wir sind ja keine Menschen. Wir müssen herausfinden, wozu Sie fähig sind und welchen Schaden Sie sich selbst intern zugefügt haben könnten. Feuerspucken kann nicht gut sein für den Zahnschmelz.« Der Zentaur lachte, und sein trällernd-kicheriges Wiehern war so ansteckend, dass Lazuli lächelnd das Gesicht verzog.

»Na schön«, sagte sie. »Was kann es schaden?«

»Überhaupt nichts«, verkündete Foaly. »Sie werden es im Nu hinter sich haben.«

Das war, wie sie beide wussten, einfach eine beruhigende Plattitüde, ein Spruch, den Ärzte häufig brachten, damit ihre Patienten sich entspannten, aber in diesem Fall erwies es sich sogar als wahr, wenn auch nicht so, wie Foaly sich das vorgestellt hatte.