Die Französische Revolution und die Psychologie der Revolutionen - Gustave Le Bon - E-Book

Die Französische Revolution und die Psychologie der Revolutionen E-Book

Gustave Le Bon

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Beschreibung

Die Französische Revolution eine Revolution des Volkes? Le Bon würde sich totlachen. Wer ihn und insbesondere seine Psychologie der Massen kennt, der kann seine Begründung erahnen. Niemals ist eine Masse zu einem solchen Werk fähig, sie braucht Anführer, die sich ihrer bedienen und im Falle der Französischen Revolution sich an die Stelle des Adels setzten, der allerdings durch seine Schwäche in der Auflösung steckte. Niedere Elemente, wie der Meister der Psychologien sie gerne bezeichnet, die plündern, morden, rauben und brandschatzen wollen, statt Eliten, deren Aufgabe es ist, das Allgemeinwohl zu verwalten. Und so kann man dieses Buch nicht besser zusammenfassen als es der Karikaturist James Gillray auf dem Titelbild getan hat. Der Zenit des französischen Ruhms bestand aus von allen sozialen Bindungen befreiten Menschen, deren Anführer das Volk zu blutigsten Gewalttaten aufhetzten: symbolisiert durch die nicht mehr angebundenen Fußfesseln des auf einer Laterne sitzenden Geigenspielers und seine auf dem Rücken steckenden Dolche. Die Farben der Revolution – blau, weiß, rot – stehen für eine Devise der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die nur noch als gesetzliche Rechtfertigung diente, die Gefühle der Gier, der Eifersucht und des Hasses auf Überlegenheit, die die wahren Triebfedern der Massen sind und die keine Disziplin mehr zurückhalten kann, zu überdecken. Die Guillotine mit der Aufschrift auf ihrer Fahne Vive l'Egalite als Symbol der Gleichheit; die Freiheit verstanden als mit Füßen getretene, hängende Mönche unter dem Bischofsstab mit der roten Jakobinermütze und seiner Aufschrift Libertas; Gute Nacht, mein Herr wurde auf ein Kreuz genagelt, das auf einem Totenschädel ruht – die Gerechtigkeit erhängt; man nehme noch die Brüderlichkeit als Freiheit zu Brand und Mord hinzu: Der Gipfel der Revolution war erreicht.

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Die Französische Revolution

und die Psychologie der Revolutionen

Gustave Le Bon

© 2023 Jost Wunderlich

Webseite: www.psychologie-des-sozialismus.de

Erstveröffentlichung der Originalausgabe 1912

Übersetzt aus dem Französischen

Automatischer Übersetzer: DeepL

Übersetzt von: Jost Wunderlich

Herausgegeben von: Jost Wunderlich

Lektorat von: Angelika Fleckenstein; Spotsrock

Titelbild: James Gillray, The Zenith of French Glory, 1793, Public domain, via Wikimedia Commons

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Jost Wunderlich, c/o Postflex #550, Emsdettener Str. 10, 48268 Greven.

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Die Französische Revolution und die Psychologie der Revolutionen

Vorwort zur neuen Ausgabe

Einleitung

A. Psychologische Elemente revolutionärer Bewegungen

I.Allgemeine Merkmale von Revolutionen

1.Wissenschaftliche und politische Revolutionen

2.Religiöse Revolutionen

3.Die Rolle der Regierungen in Revolutionen

4.Die Rolle des Volkes in Revolutionen

II.Die vorherrschenden Denkweisen während der Revolutionen

1.Individuelle Charakterschwankungen während Revolutionen

2.Die mystische Mentalität und die jakobinische Mentalität

3.Revolutionäre und kriminelle Mentalität

4.Psychologie der revolutionären Massen

5.Psychologie der revolutionären Versammlungen

B. Die Französische Revolution

I.Die Ursprünge der Französischen Revolution

1.Die Meinungen von Historikern über die Französische Revolution

2.Die psychologischen Grundlagen des Alten Staates

3.Geistige Anarchie zur Zeit der Revolution und die den Philosophen zugeschriebene Rolle

4.Die psychologischen Illusionen der Französischen Revolution

II.Rationale, affektive, mystische und kollektive Einflüsse während der Revolution

1.Psychologie der Verfassunggebenden Versammlung

2.Psychologie der Gesetzgebenden Versammlung

3.Psychologie des Konvents

4.Die Regierung des Konvents

5.Revolutionäre Gewalt

6.Die Armee der Revolution

7.Psychologie der Revolutionsführer

III.Der Kampf zwischen angestammten Einflüssen und revolutionären Prinzipien

1.Die letzten Zuckungen der Anarchie: Das Direktorium

2.Die Wiederherstellung der Ordnung. Die Konsularische Repu-blik

3.Die politischen Folgen des Konflikts zwischen Traditionen und revolutionären Prinzipien über ein Jahrhundert

C. Die heutige Entwicklung revolutionärer Prinzipien

1.Die Entwicklung demokratischer Überzeugungen seit der Revolution

2.Folgen demokratischer Entwicklungen

3.Neue Formen demokratischer Überzeugungen

Erkenntnisse

Literatur

Abkürzungen

[Anm. d. Ü.]: Anmerkung des Übersetzers

[Anm. JW]: Anmerkung Jost Wunderlich

[Fn. d. Ü.]: Fußnote des Übersetzers

(Übersetzung JW): Übersetzung Jost Wunderlich

Vorwort des Herausgebers

Auch wenn ich Le Bon in diesem Werk wieder nahezu vollständig zustimme, so möchte ich doch zu Beginn eine Unterscheidung anführen, von der ich meine, dass sie keine Erwähnung findet. Dies ist die Unterscheidung zwischen dem immer wieder von ihm erwähnten Glaubenssystem und dem christlichen Glauben. Für Le Bon stehen sowohl der Sozialismus als auch die Französische Revolution auf einem Glauben. Dieser Glaube bezeichnet nach ihm ein Für-wahr-halten einer Überzeugung. Der Sozialismus hat als Grundlagen den Glauben an Gleichheit, die Schaffung des Paradieses auf Erden, die Zerstörung von Gesellschaftsordnungen, die Zentralisierung und die Umkehrung der Naturgesetze. Die Französische Revolution stand diesem Glaubenssystem in nichts nach und fasste alles unter den drei Devisen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zusammen.

Der christliche Glaube hingegen versteht darunter nicht das Glauben an die Existenz Gottes, denn diese ist beweisbar1, sondern sieht ihn als das Vertrauen auf Gott an.

Jost Wunderlich

Die Französische Revolutionund die Psychologie der Revolutionen

Gustave Le Bon

Vorwort zur neuen Ausgabe

Aktuelle Ansichten über die Französische Revolution

Das Buch, dessen neue Ausgabe ich hier vorlege, wurde nicht geschrieben, um die Revolution zu loben oder zu tadeln, sondern nur, um zu versuchen, sie mithilfe der psychologischen Methoden zu interpretieren, die in einem anderen Buch von mir, Meinungen und Glauben2, dargelegt sind.

Das Ziel, das ich verfolge, befreit mich davon, früher geäußerte Meinungen zu berücksichtigen. Deshalb habe ich ein Kapitel damit verbracht, die widersprüchlichen Ansichten der Historiker über das große Revolutionsdrama aufzuzählen.

Bücher vermitteln meist nur Meinungen, die schon lange zurückliegen. Sie können die Ideen der Zukunft vorbereiten, drücken aber selten die der Gegenwart aus. Nur Zeitschriften und Zeitungen geben die Gefühle der Gegenwart wahrheitsgetreu wieder. Ihre Ansichten sind daher sehr nützlich.

Aus den verschiedenen Artikeln, die für die Analyse in dieser Arbeit benutzt werden, lassen sich drei Auffassungen herausarbeiten, die deutlich die heute vorherrschenden Ideen über die Französische Revolution repräsentieren.

Die erste betrachtet die Revolution als eine Art Glauben, den man entweder akzeptieren oder ablehnen muss; die zweite als ein mysteriöses Phänomen, das unerklärlich bleibt; die dritte als ein Ereignis, das nicht beurteilt werden kann, bevor nicht eine riesige Anzahl von offiziellen, noch unveröffentlichten Dokumenten erschienen sind.

Es wird nicht uninteressant sein, kurz auf den Inhalt dieser drei Auffassungen einzugehen.

Mit den Augen des Glaubens interpretiert, erscheint die Revolution den meisten Franzosen als ein glückliches Ereignis, das sie aus der Barbarei herausgeführt und von der Unterdrückung durch den Adel befreit hat. So mancher Politiker glaubt, dass er ohne die Revolution zum Dienstboten eines Standesherrn degradiert worden wäre.

Diese Geisteshaltung kommt in einer wichtigen Studie gut zum Ausdruck, die ein berühmter Staatsmann, Monsieur Emile Ollivier, der Bekämpfung der Ideen meines Buches gewidmet hat.

Nachdem er an die Theorie erinnert, die die Revolution als ein nutzloses Ereignis betrachtet, fügt der emeritierte Akademiker hinzu:

„Gustave Le Bon hat dieser These gerade seine Zustimmung gegeben. In einem kürzlich erschienenen Werk über die Psychologie der Revolution, in dem man seine Stärke der Synthese und des Stils wiederfindet, sagt er: «Der Gewinn, der auf Kosten so vieler Ruinen errungen wurde, wäre später ohne Anstrengung durch den einfachen Lauf der Zivilisation erreicht worden.»“

Herr Ollivier stimmt dieser Meinung nicht zu. Die Revolution scheint ihm notwendig gewesen zu sein, und er schließt, indem er sagt:

„Es sei derjenige bedauert, der kein Schurke mehr sein will, der Teiche schlägt3, um Frösche daran zu hindern, den Schlaf der Herrschaften zu stören; es sei derjenige bejammert, der nicht mehr die Genugtuung hat, sein Feld von der Meute eines frechen jungen Mannes verwüstet zu sehen; Wer will, kann sich darüber beklagen, dass er nicht mehr in der Bastille aufwachen muss, weil ein Lauzun seine Frau begehrt, oder wegen eines Wortes gegen einen Mächtigen, oder noch besser, aus einem unbekannten Grund; wer will, kann verzweifeln, dass er nicht mehr von einigen Ministern, von einigen Kommissaren, von einigen Verwaltern tyrannisiert wird, dass er nicht mehr auf Gnade und Ungnade dressiert, nicht mehr geplündert und nicht mehr besteuert wird, dass er nicht mehr von angeblichen Eroberern getreten und verhöhnt wird. Ich als einfacher Mann bin denjenigen dankbar, deren harte Arbeit mich von diesen Jochs befreit hat, die ohne sie noch immer auf mir lasten würden, und trotz ihrer Fehler segne ich sie.“

Der in den vorangegangenen Zeilen zusammengefasste Glaube trug zusammen mit dem napoleonischen Epos stark dazu bei, dass die Erinnerung an die Revolution in Frankreich populär wurde. Er rührt vor allem von der selbst unter Staatsmännern so weit verbreiteten Illusion her, dass die Institutionen die Existenzformen eines Volkes bestimmen, während letztere fast ausschließlich durch den wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt bedingt sind. Die Lokomotive war eine Planierraupe, die auf andere Weise wirksam war als die Guillotine, und auch ohne die Revolution wären wir sicher längst in der Phase der Gleichheit und Freiheit angekommen, die wir heute erreicht haben und die übrigens viele Völker schon vor der revolutionären Epoche errungen hatten.

Die zweite der oben genannten Auffassungen (die Revolution als mysteriöses und unerklärliches Ereignis zu beurteilen) trägt ebenfalls zur Aufrechterhaltung ihres hohen Ansehens bei.

In einem Artikel, der der Rezension meines Buches gewidmet war, äußerte sich der politische Direktor einer der wichtigsten Zeitungen von Paris, Herr Drumont, wie folgt:

„Dieses gewaltige Ereignis, das die alte Welt in ihren Grundfesten erschütterte, bleibt immer noch ein Rätsel. Die Methoden der modernen Psychologie machen nicht verständlicher, was das Seltsame und Geheimnisvolle an dieser Krise war, die immer eines der erstaunlichsten Ereignisse der Geschichte bleiben wird.“

Diese Theorie scheint unter unseren Politikern ziemlich verbreitet zu sein. Ich habe sie in etwas anderer Form in einem Artikel eines ehemaligen Ministers, Edouard Lockroy, ebenso gefunden:

„Die Historiker haben die Revolution nicht verstanden. Der Konvent lebte im Chaos inmitten ständiger Aufstände. Die Diktatur Robespierres ist ein Märchen. Die Geschichte der Revolution ist die Geschichte eines Mobs, in dem niemand verantwortlich ist und jeder handelt. Wer ist verantwortlich? Die Menge, jedermann, niemand, obskure Leute, die unbekannte Leute mitreißen.“

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, erscheint die Revolution als eine Reihe chaotischer Ereignisse, die von einem mysteriösen Zufall gelenkt werden.

Diese kurzen Zitate zeigen, welche Unsicherheiten das Studium der Revolution noch immer verdunkeln, und scheinen die Vorsicht von Gelehrten zu rechtfertigen, die sich auf die Veröffentlichung von Texten beschränken.4

Ein unvoreingenommener Geist, der sich eine richtige Vorstellung von der Revolution machen will, sieht sich also heute entweder blinden Glaubensbekenntnissen oder Behauptungen gegenüber, die dieses große Ereignis zumindest mit den heutigen Dokumenten für unerklärlich halten.

Diese Unfähigkeit zur Interpretation war mir aufgefallen, als ich mit dem Studium der Revolution begann, um eine Anwendung meiner psychologischen Methoden zu finden. Es wurde mir sehr schnell klar, dass die Unsicherheiten der Historiker in Bezug auf diese große Krise einfach aus der Gewohnheit resultierten, rationale Interpretationen zu verwenden, um Ereignisse zu erklären, die von mystischen, affektiven und kollektiven Einflüssen diktiert wurden, die der Vernunft fremd sind.

Die Geschichte der Revolution liefert auf jeder Seite den Beweis dafür. Nur die kollektive Logik und nicht die rationale Logik konnte aufdecken, warum die Revolutionsversammlungen immer wieder über Maßnahmen abstimmten, die den Meinungen der einzelnen Mitglieder widersprachen. Die Vernunft konnte auch nicht erklären, warum in einer Nacht die Vertreter des Adels auf Privilegien verzichteten, die ihnen so sehr am Herzen lagen und deren rechtzeitige Aufgabe die Revolution vielleicht verhindert hätte. Wie kann man, ohne die Wandlungen von Persönlichkeiten unter verschiedenen Umständen zu kennen, verstehen, dass die intelligenten und friedlichen Bürger, die in einigen Komitees die Einführung des metrischen Systems und die Eröffnung großer Schulen beschlossen, anderswo für so barbarische Maßnahmen wie den Tod von Lavoisier5, den des Dichters Chénier6, oder die Zerstörung der prächtigen Gräber von Saint-Denis? Wie kann man schließlich die Ausbreitung der revolutionären Bewegungen im Allgemeinen verstehen, wenn man nicht die tatsächlichen Gesetze der Überzeugungskraft kennt, die sich so sehr von denen unterscheiden, die in den Büchern gelehrt werden?

Wir sind in Frankreich zu sehr rationalisiert, um ohne weiteres zuzugeben, dass sich die Geschichte außerhalb der Vernunft abspielen und oft sogar gegen jede Vernunft richten kann. Wir müssen uns jedoch damit abfinden, unsere Methoden der Geschichtsinterpretation völlig zu ändern, wenn wir eine Vielzahl von Ereignissen verstehen wollen, die die Vernunft nach wie vor nicht zu erklären vermag.

Ich glaube, dass sich die in diesem Buch dargelegten Ideen schnell verbreiten werden. Zahlreiche Artikel belegen, dass sie bereits viele Leser beeindruckt haben. Es genügt, einen Auszug aus der wichtigsten englischen Zeitung, der Times, zu zitieren:

„Alle Staatsmänner sollten das Buch von Gustave Le Bon studieren. Der Autor hat keinen Respekt vor den klassischen Revolutionstheorien und seine psychologischen Interpretationen führen ihn zu sehr neuen Schlussfolgerungen. So legt er eindrucksvoll dar, welch geringe Rolle die Masse des Volkes in den revolutionären Bewegungen spielte, dass es einen absoluten Widerspruch zwischen dem individuellen Willen und dem kollektiven Willen der Mitglieder der Versammlungen gab, welches mystische Element die Helden der Revolution antrieb und wie wenig diese Helden von der Vernunft beeinflusst waren.

Ohne die Revolution wäre es schwierig gewesen, zu beweisen, dass die Vernunft die Menschen nicht verändern kann und dass daher eine Gesellschaft nicht nach dem Willen der Gesetzgeber umgebaut werden kann, egal wie umfassend ihre Macht auch sein mag.“

Die Geschichte der Revolution besteht in Wirklichkeit aus einer Reihe von parallelen und oft unabhängigen Geschichten: die Geschichte eines abgenutzten Regimes, das mangels Verteidigern zugrunde geht; die Geschichte der Revolutionsversammlungen; die Geschichte der Volksbewegungen und ihrer Anführer; die Geschichte der Armeen; die Geschichte der neuen Institutionen usw. Die Revolutionsgeschichte ist eine Geschichte von Konflikten, die sich aus psychologischen Gründen ergeben. All diese Geschichten sind meist Konflikte psychologischer Kräfte und müssen mit Methoden der Psychologie untersucht werden.

Man kann über den Wert unserer Interpretationen streiten. Ich glaube jedoch, dass es von nun an schwierig sein wird, eine Geschichte der Revolution zu schreiben, ohne sie in Betracht zu ziehen.

Paris, Januar 1913.

Einleitung

Überprüfung der Geschichte

Das moderne Zeitalter ist nicht nur eine Zeit der Entdeckungen, sondern auch eine Zeit der Überprüfung der verschiedenen Elemente des Wissens. Nachdem die Wissenschaft erkannt hatte, dass es keine Phänomene gibt, deren Ursache nicht zugänglich ist, hat sie ihre alten Gewissheiten erneut überprüft und festgestellt, dass sie brüchig sind. Heute sieht sie, wie sich ihre alten Prinzipien der Reihe nach in Luft auflösen. Die Mechanik verliert ihre Axiome, die Materie, einst ewiges Substrat der Welten, wird zu einem bloßen Gebilde vergänglicher, vorübergehend verdichteter Kräfte.

Trotz ihrer spekulativen Seite, die sie einer allzu harten Kritik ein wenig entzieht, konnte die Geschichte dieser universellen Neufassung nicht entgehen. Es gibt keine einzige Phase mehr, von der man sagen kann, dass sie sicher gewusst wird. Was als endgültig gesichert erschien, wird infrage gestellt.

Zu den Ereignissen, deren Erforschung abgeschlossen schien, gehörte auch die Französische Revolution. Nachdem sie von mehreren Generationen von Schriftgelehrten analysiert worden war, konnte man davon ausgehen, dass sie vollkommen geklärt war. Was kann man noch über sie sagen, außer einige Details zu ändern?

Und doch fangen ihre überzeugtesten Befürworter an, in ihren Urteilen zu schwanken. Alte Selbstverständlichkeiten erscheinen sehr fragwürdig. Der Glaube an Dogmen, die als heilig galten, ist erschüttert. Die letzten Schriften über die Revolution verraten Unsicherheiten. Nach all dem, was man erzählt hat, verzichtet man immer mehr auf Schlussfolgerungen.

Nicht nur die Helden dieses großen Dramas werden ohne Nachsicht diskutiert, sondern man fragt sich, ob das neue Recht, das auf die vorrevolutionäre Staatsform7 folgte, sich infolge des Fortschritts der Zivilisation nicht ohne Gewalt sowieso etabliert hätte. Die erzielten Ergebnisse scheinen nicht mehr im Verhältnis zu stehen, weder zu dem Lösegeld, das sie unmittelbar gekostet haben, noch zu den weitreichenden Folgen, die die Revolution aus den Möglichkeiten der Geschichte manifestiert hat.

Mehrere Ursachen führten zu einer Aufarbeitung dieses tragischen Zeitraums. Die Zeit hat die Leidenschaften gemildert, zahlreiche Dokumente werden allmählich aus den Archiven geholt, und man lernt, sie eigenmächtig zu interpretieren.

Aber vielleicht kann die moderne Psychologie am besten auf unsere Ideen einwirken, indem sie es uns ermöglicht, besser in die Menschen und die Motive ihres Verhaltens einzudringen.

Von ihren Entdeckungen, die bereits jetzt auf die Geschichte anwendbar sind, sind vor allem folgende zu erwähnen: die gründliche Kenntnis der Handlungen unserer Vorfahren, die Gesetze, welche die Massen regieren, die Experimente, die sich mit der Auflösung von Persönlichkeiten befassen, die geistige Übertragung8, die unbewusste Entstehung von Glauben, sowie die Unterscheidung der verschiedenen Arten der Logik.

Um die Wahrheit zu sagen, waren diese Anwendungen der Wissenschaft, die in diesem Buch verwendet werden, noch nicht bekannt. Historiker sind in der Regel auf das Studium von Dokumenten beschränkt. Dies reichte aus, um die Zweifel zu wecken, von denen ich soeben gesprochen habe.

Die großen Ereignisse, die das Schicksal der Völker verändern, wie z. B. Revolutionen oder der Ausbruch von Glaubensrichtungen, sind manchmal so schwer zu erklären, dass man sich darauf beschränken muss, sie festzustellen.

Schon bei meinen ersten historischen Forschungen war mir aufgefallen, dass einige der wichtigsten Phänomene, vor allem die Entstehung von Glaubensvorstellungen, undurchschaubar sind. Ich spürte, dass etwas Grundlegendes fehlte, um sie zu interpretieren. Da die Vernunft alles gesagt hatte, was sie sagen konnte, durfte man nichts mehr von ihr erwarten und man musste nach anderen Wegen suchen, um das zu verstehen, was sie nicht erhellte.

Diese großen Fragen blieben für mich lange Zeit unklar. Auch die Reisen, die ich unternommen hatte, um die Überreste untergegangener Zivilisationen zu studieren, hatten nicht viel Licht gebracht.

Nach häufigem Nachdenken musste ich erkennen, dass das Problem aus einer Reihe von anderen Problemen bestand, die separat untersucht werden mussten. Das tat ich zwanzig Jahre lang und hielt die Ergebnisse meiner Forschungen in einer Reihe von Büchern fest.

Eins der ersten war der Untersuchung mit dem Titel Psychologische Gesetze der Entwicklung der Völker gewidmet. Nachdem ich gezeigt hatte, dass historische Rassen, d. h. Rassen, die durch die Zufälle der Geschichte entstanden sind, letztlich psychologische Merkmale erwerben, die ebenso stabil sind wie ihre anatomischen Merkmale, versuchte ich zu erklären, wie die Völker ihre Institutionen, Sprachen und Künste verändern. In demselben Werk zeigte ich auf, warum unter dem Einfluss plötzlicher Milieuveränderungen individuelle Persönlichkeiten völlig zerfallen können.

Neben den festen Gemeinschaften, aus denen Völker bestehen, gibt es auch bewegliche und vorübergehende Gemeinschaften, die als Massen bezeichnet werden. Nun, diese Massen, mit deren Hilfe sich die großen historischen Bewegungen vollziehen, haben Charaktere, die sich von denen der Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen, völlig unterscheiden. Was sind diese Merkmale und wie entwickeln sie sich? Dieses neue Problem wurde in der Psychologie der Massen untersucht.

Erst nach diesen Studien begann ich, bestimmte Einflüsse zu erahnen, die mir bisher entgangen waren.

Aber das war noch nicht alles. Bei den wichtigsten Faktoren der Geschichte fand sich ein ausschlaggebender: der Glaube. Wie entstehen diese Glaubensvorstellungen und sind sie wirklich rational und willentlich, wie lange Zeit gelehrt wurde? Sind sie nicht vielmehr unbewusst und unabhängig von jeglicher Vernunft? Eine schwierige Frage, die in meinem letzten Buch Meinungen und Glauben behandelt wird.

Solange die Psychologie den Glauben als unfreiwillig und rational ansah, blieb er unerklärlich. Nachdem ich bewiesen hatte, dass er meistens irrational und immer unfreiwillig ist, konnte ich die Lösung für dieses wichtige Problem angeben: Wie konnte ein Glaube, der durch keine Vernunft gerechtfertigt werden kann, von den aufgeklärtesten Köpfen aller Zeitalter ohne Schwierigkeiten angenommen werden?

Die Lösung der historischen Schwierigkeiten, die ich so viele Jahre lang verfolgt hatte, wurde nun deutlich. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass es neben der rationalen Logik, die die Gedanken verknüpft und einst als unser einziger Führer galt, sehr unterschiedliche Formen der Logik gibt: affektive Logik, kollektive Logik und mystische Logik, die meistens die Vernunft dominieren und die Impulse erzeugen, die unser Verhalten bestimmen.

Nach dieser Feststellung wurde mir klar, dass viele historische Ereignisse oft unverstanden bleiben, weil man sie im Licht einer Logik interpretieren will, die in Wirklichkeit kaum Einfluss auf ihre Entstehung hatte.

All diese Forschungen, die hier in wenigen Zeilen zusammengefasst sind, nahmen viele Jahre in Anspruch. Verzweifelt wollte ich sie beenden, und brach sie mehrmals ab, um zu den Laborarbeiten zurückzukehren, bei denen man immer sicher sein kann, die Wahrheit zu berühren und zumindest einen Teil der Gewissheit zu erlangen.

Aber auch wenn es sehr interessant ist, die Welt der materiellen Phänomene zu erforschen, ist es noch viel interessanter, die Menschen zu entschlüsseln, und deshalb kam ich immer wieder auf die Psychologie zurück.

Da mir einige der aus meiner Forschung abgeleiteten Prinzipien vielversprechend erschienen, beschloss ich, sie auf die Untersuchung konkreter Fälle anzuwenden und gelangte so dazu, die Psychologie von Revolutionen, insbesondere der Französischen Revolution, anzugehen.

Als ich mit der Analyse unserer großen Revolution fortfuhr, verschwanden nach und nach die meisten der Meinungen, die ich durch die Lektüre der Bücher vermittelt bekam und die ich für unerschütterlich hielt.

Um diese Zeitspanne zu erklären, darf man sie nicht als einen Block betrachten, wie es verschiedene Historiker getan haben. Sie setzt sich aus gleichzeitig auftretenden, aber voneinander unabhängigen Phänomenen zusammen.

In jeder Phase werden Ereignisse ausgelöst, die auf psychologischen Gesetzen beruhen, die mit der blinden Regelmäßigkeit eines Getriebes ablaufen. Die Akteure in diesem großen Drama scheinen sich wie die Figuren auf einer vorgezeichneten Bühne zu bewegen. Jeder sagt, was er sagen soll, und handelt, wie er handeln soll.

Zweifellos unterschieden sich die revolutionären Akteure von denen eines geschriebenen Dramas darin, dass sie ihre Rollen nicht einstudiert hatten, sondern diese Rollen ihnen von unsichtbaren Kräften so diktiert wurden, als ob sie sie gelernt hätten.

Gerade weil sie dem verhängnisvollen Ablauf einer für sie unverständlichen Logik unterworfen waren, sieht man sie über die Ereignisse, deren Helden sie waren, genauso erstaunt, wie wir es sind. Nie erahnten sie die unsichtbaren Mächte, die sie handeln ließen. Sie waren nicht Herr über ihre Wut und auch nicht Herr über ihre Schwächen. Sie sprechen im Namen der Vernunft und behaupten, dass sie von ihr geleitet werden, doch in Wirklichkeit ist es keineswegs die Vernunft, die sie leitet.

„Die Entscheidungen, die man uns so sehr vorwirft“, schrieb Billaud-Varenne9, „wollten wir nicht. Meistens zwei Tage, einen Tag vorher: Die Krise allein hat sie hervorgerufen.“10

Es ist nicht so, dass wir die revolutionären Ereignisse als von zwingenden Schicksalsschlägen beherrscht betrachten sollten. Die Leser unserer Bücher wissen, dass wir dem überlegenen Handelnden die Rolle zuerkennen, die Fatalitäten zu zerlegen. Er kann jedoch nur wenige von ihnen trennen und ist oftmals machtlos gegenüber dem Verlauf von Ereignissen, die man nur an ihrem Ursprung beherrschen kann. Der Wissenschaftler weiß, wie er die Mikrobe zerstören kann, bevor sie ihre Wirkung entfaltet, aber er ist machtlos, wenn es um den Verlauf der Krankheit geht.

Wenn eine Frage zutiefst widersprüchliche Meinungen hervorruft, kann man sicher sein, dass sie zum Kreislauf des Glaubens und nicht zu dem des Wissens gehört.

In einem früheren Buch haben wir gezeigt, dass der Glaube, der unbewussten Ursprungs und unabhängig von jeglicher Vernunft ist, niemals durch Argumentationen beeinflusst werden kann.

Die Revolution war das Werk von Gläubigen und wurde auch nur von Gläubigen beurteilt. Von den einen verflucht, von den anderen bewundert, blieb sie eines jener Dogmen, die en bloc akzeptiert oder abgelehnt wurden, ohne dass eine rationale Logik bei einer solchen Entscheidung eine Rolle spielte.

Eine religiöse oder politische Revolution mag zwar in ihren Anfängen rationale Elemente als Unterstützung haben, doch sie entwickelt sich nur, wenn sie sich auf mystische und affektive Elemente stützt, die der Vernunft absolut fremd sind.

Die Historiker, die die Ereignisse der Französischen Revolution im Namen der rationalen Logik beurteilten, konnten sie nicht verstehen, da diese Art der Logik sie nicht diktiert hat. Da die Akteure dieser Ereignisse sie selbst nur unzureichend durchdrungen haben, würde man nicht zu weit von der Wahrheit abweichen, wenn man sagt, dass unsere Revolution ein Phänomen war, das von denen, die sie machten, und von denen, die sie erzählten, gleichermaßen unverstanden wurde. In keiner Epoche der Geschichte hat man die Gegenwart so wenig begriffen, die Vergangenheit mehr ignoriert und die Zukunft weniger erahnt.

Die Macht der Revolution lag nicht in den – im Übrigen sehr alten – Prinzipien, die sie verbreiten wollte, oder in den Institutionen, die sie zu gründen vorgab. Völker kümmern sich sehr wenig um Institutionen und noch weniger um Doktrinen. Wenn die Revolution sehr stark war, wenn sie Frankreich die Gewalt, die Morde, die Ruinen und die Schrecken eines schrecklichen Bürgerkriegs auferlegte, wenn sie sich schließlich siegreich gegen das bewaffnete Europa verteidigte, dann deshalb, weil sie nicht ein neues Regime, sondern eine neue Religion begründet hatte. Nun zeigt uns die Geschichte, wie unwiderstehlich ein starker Glaube ist. Selbst das unbesiegbare Rom musste sich einst Heerscharen von Hirtennomaden beugen, die vom Glauben Mohammeds erleuchtet waren. Die Könige Europas leisteten aus demselben Grund keinen Widerstand gegen die zerlumpten Soldaten des Konvents. Wie alle Apostel waren sie bereit, sich selbst zu opfern, nur um den Glauben zu verbreiten, der ihrem Traum zufolge die Welt erneuern sollte.

Die so gegründete Religion hatte die Stärke ihrer Vorfahren, aber nicht deren Ausdauer. Sie ging nicht unter, sondern hinterließ tiefe Spuren und ihr Einfluss hält bis heute an.

Wir werden die Revolution nicht als einen Bruch der Geschichte betrachten, wie ihre Apostel glaubten. Wir wissen, dass sie, um ihre Absicht zu demonstrieren, eine Welt zu errichten, die sich von der alten unterscheidet, ein neues Zeitalter schufen und vorgaben, mit allen Überresten der Vergangenheit vollständig zu brechen.

Aber die Vergangenheit stirbt nie. Sie ist sogar mehr in uns selbst als außerhalb. Die Reformer der Revolution blieben also ohne ihr Wissen mit der Vergangenheit verbunden und führten lediglich die monarchischen Traditionen unter anderen Namen fort, wobei sie sogar die Autokratie und die Zentralisierung des alten Regimes übertrieben. Tocqueville hatte keine Mühe, zu zeigen, dass die Revolution kaum mehr tat, als das zu stürzen, was untergehen sollte.

Auch wenn die Revolution in Wirklichkeit wenig zerstörte, so förderte sie doch die Entstehung einiger Ideen, die danach weiter wuchsen. Die Brüderlichkeit und die Freiheit, die sie verkündete, waren für die Völker nie sehr attraktiv, aber die Gleichheit wurde zu ihrem Evangelium, zum Dreh- und Angelpunkt des Sozialismus und der gesamten Entwicklung der heutigen demokratischen Ideen. Man kann also sagen, dass die Revolution weder mit dem Aufkommen des Kaiserreichs noch mit den darauffolgenden Wiederherstellungen endete. Ob schleichend oder am helllichten Tag, sie entfaltete sich langsam und drückt noch immer auf die Gemüter.

Die Untersuchung der Französischen Revolution, der ein großer Teil dieses Buches gewidmet ist, wird dem Leser vielleicht mehr als eine Illusion nehmen, indem sie ihm zeigt, dass die Bücher, die von ihr berichten, eine Ansammlung von Legenden enthalten, die weit von der Realität entfernt sind.

Diese Legenden werden wahrscheinlich lebendiger bleiben als die Geschichte. Wir sollten das nicht zu sehr bedauern. Für einige Philosophen mag es interessant sein, die Wahrheit zu kennen, aber Völker werden Hirngespinste immer vorziehen. Als Synthese ihrer Ideale stellen sie mächtige Handlungsmotive dar. Man würde den Mut verlieren, wenn man nicht von falschen Ideen unterstützt würde, sagte Fontenelle. Jeanne d'Arc, die Giganten des Konvents, das kaiserliche Epos, all diese Glanzlichter der Vergangenheit werden in den dunklen Stunden nach einer Niederlage immer Hoffnung schüren. Sie sind Teil des Erbes der Illusionen, die unsere Väter uns hinterlassen haben und deren Macht manchmal größer ist als die der Realitäten. Der Traum, das Ideal, die Legende, kurz gesagt das Unwirkliche, das ist es, was die Geschichte antreibt.

A.Psychologische Elemente revolutionärer Bewegungen

Allgemeine Merkmale von Revolutionen

Wissenschaftliche und politische Revolutionen

Klassifizierung von Revolutionen

Der Begriff Revolution wird im Allgemeinen auf plötzliche politische Veränderungen angewandt, doch sollte er auch für alle plötzlichen oder scheinbar plötzlichen Veränderungen von Glaubensvorstellungen, Ideen und Doktrinen verwendet werden.

An anderer Stelle haben wir die Rolle rationaler, affektiver und mystischer Elemente bei der Entstehung von Meinungen und Glauben untersucht, die das Verhalten bestimmen. Es wäre daher unnötig, hier noch einmal darauf einzugehen.

Eine Revolution kann mit einem Glauben enden, aber sie beginnt oft aus völlig rationalen Motiven: Beseitigung von eklatanten Missständen, eines verhassten despotischen Regimes, eines unpopulären Herrschers etc.

Auch wenn der Ursprung einer Revolution manchmal rational ist, darf man nicht vergessen, dass die Gründe, die zu ihrer Vorbereitung angeführt werden, erst dann auf die Massen wirken, wenn sie sich in Gefühle verwandelt haben. Mit rationaler Logik kann man die Missstände aufzeigen, die es zu beseitigen gilt, aber um die Massen zu bewegen, muss man in ihnen Hoffnungen wecken. Dies gelingt nur, wenn man affektive und mystische Elemente ins Spiel bringt, die dem Menschen die Kraft zum Handeln verleihen. Zur Zeit der Französischen Revolution zum Beispiel machte die rationale Logik, die von den Philosophen vertreten wurde, die Nachteile des alten Regimes deutlich und weckte den Wunsch, es zu ändern. Die mystische Logik inspirierte den Glauben an die Tugenden einer Gesellschaft, die nach bestimmten Prinzipien von Grund auf neu geschaffen werden sollte. Die affektive Logik entfesselte die durch jahrhundertealte Bremsen eingedämmten Leidenschaften und führte zu den schlimmsten Exzessen. Die kollektive Logik beherrschte die Klubs und Versammlungen und verleitete ihre Mitglieder zu Handlungen, die weder die rationale, noch die affektive, noch die mystische Logik sie hätten begehen lassen.

Unabhängig von ihrem Ursprung hat eine Revolution erst dann Folgen, wenn sie in die Seele der Massen hinabgestiegen ist. Die Ereignisse nehmen dann die besonderen Formen an, die sich aus der besonderen Psychologie der Massen ergeben. Volksbewegungen haben aus diesem Grund so ausgeprägte Merkmale, dass die Beschreibung eines von ihnen ausreicht, um die anderen zu erkennen.

Die Vielen werden deshalb bei Erfolg einer Revolution mitgerissen, aber sie sind nicht ihr Ausgangspunkt. Die Menge stellt ein amorphes Wesen dar, das ohne einen Kopf, der es anführt, nichts kann und nichts will. Sie steigert sehr schnell den Impuls, den sie erhalten hat, schafft ihn aber nie.

Die plötzlichen politischen Revolutionen, die den Historikern am meisten auffallen, sind manchmal die unwichtigsten. Die großen Revolutionen sind die der Sitten und des Denkens. Die Mentalität eines Volkes wird nicht dadurch verändert, dass man den Namen einer Regierung ändert. Die Institutionen einer Nation umzukrempeln bedeutet nicht, ihre Seele zu erneuern.

Die wahren Revolutionen, die das Schicksal der Völker veränderten, vollzogen sich meist so langsam, dass Historiker ihre Anfänge kaum erkennen können. Der Begriff „Evolution“ ist für sie viel besser geeignet als der Begriff „Revolution“.

Die verschiedenen Elemente, die wir aufgezählt haben und die in die Entstehung der meisten Revolutionen einfließen, können nicht dazu dienen, sie zu klassifizieren. Wir wollen sie daher in wissenschaftliche, politische und religiöse Revolutionen einteilen.

Wissenschaftliche Revolutionen

Wissenschaftliche Revolutionen sind bei weitem die wichtigsten. Obwohl sie wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind sie oft mit weitreichenden Folgen verbunden, die politische Revolutionen nicht erzeugen. Wir stellen sie daher an den Anfang unserer Aufzählung, auch wenn wir sie hier nicht untersuchen können.

Wenn sich zum Beispiel unsere Vorstellungen vom Universum seit der Zeit der Renaissance grundlegend geändert haben, dann deshalb, weil astronomische Entdeckungen und die Anwendung experimenteller Methoden sie revolutioniert haben, indem sie zeigten, dass die Phänomene nicht mehr von den Launen der Götter bedingt, sondern von unveränderlichen Gesetzen bestimmt werden.

Aufgrund ihrer Langsamkeit werden solche Revolutionen als Evolutionen bezeichnet. Es gibt aber auch andere, die zwar ähnlich geartet sind, aber aufgrund ihrer Geschwindigkeit den Namen Revolution verdienen. So wie Darwins Theorien, die in wenigen Jahren die gesamte Biologie umwälzten, oder Pasteurs Entdeckungen, die noch zu Lebzeiten des Autors die Medizin veränderten. Die Theorie der Teilbarkeit der Materie bewies, dass auch das Atom, das einst als ewig galt, den Gesetzen unterliegt, die alle Elemente des Universums zum Verfall und Untergang verurteilen.

Diese wissenschaftlichen Revolutionen, die sich in den Ideen vollziehen, sind rein geistig. Unsere Gefühle und Überzeugungen haben keinen Einfluss auf sie. Wir nehmen sie hin, ohne sie zu diskutieren. Da ihre Ergebnisse durch Experimente überprüfbar sind, entziehen sie sich jeglicher Kritik.

Politische Revolutionen

Unterhalb und weit entfernt von diesen wissenschaftlichen Revolutionen, die den Fortschritt der Zivilisationen hervorbringen, stehen die religiösen und politischen Revolutionen, die mit ihnen nicht verwandt sind. Während die wissenschaftlichen Revolutionen ausschließlich auf rationale Elemente zurückzuführen sind, werden die politischen und religiösen Überzeugungen fast ausschließlich von affektiven und mystischen Faktoren getragen. Die Vernunft spielt bei ihrer Entstehung nur eine geringe Rolle.

In meinem Buch Meinungen und Glauben habe ich ausführlich auf den affektiven und mystischen Ursprung von Glaubensvorstellungen hingewiesen und gezeigt, dass ein politischer oder religiöser Glaube ein im Unbewussten entwickelter Glaubensakt ist, auf den die Vernunft trotz allen Anscheins keinen Einfluss hat. Ich habe auch gezeigt, dass der Glaube manchmal einen solchen Grad an Intensität erreicht, dass ihm nichts entgegengesetzt werden kann. Der von seinem Glauben hypnotisierte Mensch wird dann zu einem Apostel, der bereit ist, seine Interessen, sein Glück, ja sogar sein Leben für den Triumph dieses Glaubens zu opfern. Egal, wie absurd sein Glaube ist, er ist für ihn eine strahlende Wahrheit. Gewissheiten mystischen Ursprungs besitzen die wunderbare Kraft, die Gedanken vollständig zu beherrschen und nur durch die Zeit beeinflusst zu werden.

Allein durch die Tatsache, dass er als absolute Wahrheit betrachtet wird, wird der Glaube zwangsläufig intolerant.

So erklären sich Gewalt, Hass und Verfolgung, die üblichen Begleiterscheinungen großer, politischer und religiöser Revolutionen, insbesondere der Reformation und der Französischen Revolution.

Bestimmte Abschnitte unserer Geschichte bleiben unverständlich, wenn man den affektiven und mystischen Ursprung von Glaubensrichtungen, ihre notwendige Intoleranz, die Unmöglichkeit, sie in Einklang zu bringen, wenn sie sich gegenüberstehen, und schließlich die Macht vergisst, die mystische Glaubensformen den Gefühlen verleihen, die sich in ihren Dienst stellen.

Die vorangegangenen Konzepte sind noch zu neu, als dass sie die Mentalität der Historiker hätten verändern können. Sie werden noch lange darauf beharren, eine Vielzahl von Phänomenen, die der rationalen Logik fremd sind, mit dieser erklären zu wollen.

Ereignisse wie die Reformation, die Frankreich fünfzig Jahre lang erschütterte, wurden keineswegs durch rationale Einflüsse bestimmt. Selbst in den neuesten Büchern werden sie jedoch immer wieder herangezogen. So liest man zum Beispiel in der Allgemeinen Geschichte der Herren Lavisse und Rambaud folgende Erklärung der Reformation:

„Sie ist eine spontane Bewegung, die hier und da im Volk aus der Lektüre des Evangeliums und den freien individuellen Überlegungen entstanden ist, die einfachen Menschen ein sehr frommes Gewissen und eine sehr kühne Vernunft unterstellen.“11

Im Gegensatz zu den Behauptungen dieser Historiker kann man mit Sicherheit sagen, dass solche Bewegungen erstens nie spontan sind, und zweitens, dass die Vernunft an ihrer Entstehung keinen Anteil hat.

Die Stärke der politischen und religiösen Überzeugungen, die die Welt bewegt haben, liegt gerade darin, dass sie aus affektiven und mystischen Elementen entstanden sind und nicht von der Vernunft geschaffen oder verändert werden.

Ob politisch oder religiös, Glaubensrichtungen haben einen gemeinsamen Ursprung und gehorchen denselben Gesetzen. Nicht mit der Vernunft, sondern meist gegen jede Vernunft haben sie sich herausgebildet. Buddhismus, Islamismus, Reformation, Jakobinismus, Sozialismus usw. scheinen ganz unterschiedliche Formen des Denkens zu sein.

Sie haben jedoch identische affektive und mystische Grundlagen und gehorchen einer Logik, die nicht mit der rationalen Logik verwandt ist.

Politische Revolutionen können aus in den Seelen etablierten Glauben resultieren, aber es gibt noch viele andere Ursachen, die sie hervorbringen. Der Begriff der Unzufriedenheit stellt eine Synthese dieser Faktoren dar. Sobald diese Unzufriedenheit allgemein verbreitet ist, bildet sich eine Partei, die oftmals stark genug ist, um gegen die Regierung zu kämpfen.

Unzufriedenheit muss in der Regel lange aufgestaut werden, um ihre Wirkung zu entfalten, und deshalb ist eine Revolution nicht immer ein Phänomen, das endet, gefolgt von einem anderen, das beginnt, sondern ein kontinuierliches Phänomen, das seine Entwicklung ein wenig überstürzt hat. Alle modernen Revolutionen waren jedoch sprunghafte Bewegungen, die zu einem sofortigen Sturz der Regierungen führten. So zum Beispiel die brasilianische, portugiesische, türkische, chinesische und andere Revolutionen.

Im Gegensatz zu dem, was man annehmen könnte, sind sehr konservative Völker zu den heftigsten Revolutionen bestimmt. Da sie konservativ sind, haben sie es nicht geschafft, sich langsam zu entwickeln, um sich an wechselnde Milieus anzupassen, und wenn die Diskrepanz zu groß geworden ist, sind sie gezwungen, sich abrupt anzupassen. Aus dieser plötzlichen Veränderung entspringt dann eine Revolution.

Völker mit progressiver Anpassung entgehen auch nicht immer einer Revolution. Nur durch eine Revolution gelang es den Engländern 1688 den seit einem Jahrhundert andauernden Kampf zwischen dem Königtum, das absolut sein wollte, und der Nation, die beanspruchte, sich durch ihre Delegierten regieren zu lassen, zu beenden.

Große Revolutionen beginnen in der Regel von oben und nicht von unten, aber wenn das Volk einmal entfesselt ist, verdanken sie ihm ihre Stärke.

Es liegt auf der Hand, dass alle Revolutionen nur mit Hilfe eines großen Teils der Armee durchgeführt werden konnten und auch in Zukunft nur mit Hilfe eines großen Teils der Armee durchgeführt werden können. Das Königtum verschwand in Frankreich nicht an dem Tag, an dem Ludwig XVI. guillotiniert wurde, sondern genau in der Stunde, in der seine undisziplinierten Truppen sich weigerten, ihn zu verteidigen.

Es ist vor allem die geistige Übertragung, die die Armeen, die im Grunde genommen der bestehenden Ordnung der Dinge ziemlich gleichgültig gegenüberstehen, ihre Loyalität verlieren lässt. Sobald es der Koalition einiger Offiziere gelungen war, die türkische Regierung zu stürzen, dachten die griechischen Offiziere darüber nach, es ihnen gleichzutun und ihre Regierung abzusetzen, obwohl es keine Analogien zwischen den beiden Regimen gab.

Eine militärische Bewegung kann eine Regierung stürzen (und in den spanischen Republiken werden sie kaum auf andere Weise gewechselt), aber damit die so erreichte Revolution große Wirkungen erzielt, muss sie immer eine allgemeine Unzufriedenheit und Hoffnungen zugrunde liegen haben. Sofern sie nicht allumfassend und übertrieben wird, reicht Unzufriedenheit nicht aus, um Revolutionen zu bewirken. Eine Handvoll Menschen kann man leicht zum Plündern, Zerstören oder Töten verleiten, aber um ein ganzes Volk oder zumindest einen großen Teil des Volkes zu mobilisieren, sind wiederholte Aktionen von Anführern erforderlich. Sie übertreiben die Unzufriedenheit, überzeugen die Unzufriedenen davon, dass die Regierung die einzige Ursache für alle negativen Ereignisse wie Hungersnöte ist, und versichern, dass das von ihnen vorgeschlagene neue System eine Ära der Glückseligkeit einleiten wird. Diese Ideen keimen, verbreiten sich durch Suggestion und Übertragung und der Zeitpunkt ist gekommen, an dem die Revolution reif ist.

Auf diese Weise wurden die christliche und die Französische Revolution vorbereitet. Wenn die letztere in wenigen Jahren entstand und die erste eine große Anzahl von Jahren benötigte, so liegt das daran, dass unsere Revolution schnell unter Waffen stand, während das Christentum erst sehr spät materielle Macht erlangte. Anfangs waren seine einzigen Anhänger die Kleinen, die Demütigen und die Sklaven, die von dem Versprechen begeistert waren, dass ihr elendes Leben in eine Ewigkeit der Wonne verwandelt werden würde. Durch die Übertragung von unten nach oben, für die es in der Geschichte viele Beispiele gibt, drang die Lehre schließlich auch in die oberen Schichten der Nation ein, doch es dauerte noch sehr lange, bis ein Kaiser den neuen Glauben für so weit verbreitet hielt, dass er ihn als offizielle Religion annahm.

Die Ergebnisse politischer Revolutionen

Wenn eine Partei triumphiert, versucht sie natürlich, die Gesellschaft nach ihren Interessen zu organisieren. Die Organisation wird daher unterschiedlich sein, je nachdem, ob die Revolution von Militärs, Radikalen, Konservativen usw. durchgeführt wurde. Neue Gesetze und Institutionen werden von den Interessen der siegreichen Partei und der Klassen, die ihr geholfen haben, wie z. B. dem Klerus, abhängen.

Wenn der Triumph nach gewaltsamen Kämpfen erfolgt, wie zur Zeit der Revolution, werden die Sieger das gesamte Arsenal des alten Rechts pauschal ablehnen. Die Anhänger des gestürzten Regimes werden verfolgt, vertrieben oder ausgerottet.

Das Maximum an Gewalt bei Verfolgungen wird erreicht, wenn die triumphierende Partei neben ihren materiellen Interessen auch einen Glauben verteidigt. Der Besiegte kann dann keine Gnade erwarten. So erklären sich die Vertreibung der Mauren durch die Spanier, die Autodafés12 der Inquisition, die Hinrichtungen des Konvents und die jüngsten Gesetze gegen religiöse Kongregationen.

Diese absolute Macht, die der Sieger für sich beansprucht, führt ihn manchmal zu extremen Maßnahmen, z. B. wie zur Zeit des Konvents, als Gold durch Papier ersetzt wurde oder Waren zu dem von ihm festgelegten Preis verkauft wurden. Er stößt dann schnell auf eine Mauer unausweichlicher Notwendigkeiten, die die öffentliche Meinung gegen seine Tyrannei aufbringt und ihn schließlich den Angriffen hilflos aussetzt, wie es am Ende unserer Revolution der Fall war. So geschah es auch vor kurzem mit einem sozialistischen Ministerium in Australien, das fast ausschließlich aus Arbeitern bestand. Es erließ so absurde Gesetze und gewährte den Mitgliedern der Syndikate13 so viele Privilegien, dass sich die Meinung einhellig dagegen wandte und es innerhalb von drei Monaten gestürzt wurde.

Die Fälle, von denen wir gerade berichtet haben, sind jedoch außergewöhnlich. Die meisten Revolutionen wurden durchgeführt, um einen neuen Herrscher an die Macht zu bringen. Dieser Herrscher weiß sehr wohl, dass die erste Voraussetzung für sein Bleiben darin besteht, dass er nicht zu ausschließlich eine einzige Klasse begünstigt, sondern versucht, alle Klassen unter einen Hut zu bringen. Um dies zu erreichen, wird er eine Art Gleichgewicht zwischen ihnen herstellen, sodass er von keiner dominiert wird. Wer zulässt, dass eine Klasse die Oberhand gewinnt, verurteilt sich selbst dazu, sie bald als Herrscher zu haben. Dieses Gesetz ist eines der sichersten der politischen Psychologie. Die französischen Könige verstanden es sehr gut, als sie energisch gegen die Übergriffe erst des Adels und dann des Klerus kämpften. Hätten sie dies nicht getan, wäre es ihnen wie den deutschen Kaisern des Mittelalters ergangen, die, von den Päpsten exkommuniziert, wie Heinrich IV. in Canossa eine Pilgerreise machen mussten, um demütig um Vergebung zu bitten.

Dieses Gesetz hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder bewahrheitet. Als am Ende des Römischen Reiches die Militärkaste vorherrschend wurde, waren die Kaiser völlig von ihren Soldaten abhängig, die sie nach Belieben ernannten und entmachteten.

Es war also ein großer Vorteil für Frankreich, dass es lange Zeit von einem fast absoluten Monarchen regiert wurde, der seine Macht angeblich von der Gottheit ableitete und daher von einem beträchtlichen Ansehen umgeben war. Ohne eine solche Autorität hätte er weder den Adel, noch den Klerus oder die Parlamente im Zaum halten können. Wenn Polen gegen Ende des 16. Jahrhunderts eine respektierte absolute Monarchie besessen hätte, wäre es nicht auf den Abhang der Dekadenz geraten, der zu seinem Verschwinden von der europäischen Landkarte führte.

In diesem Kapitel haben wir festgestellt, dass politische Revolutionen mit bedeutenden sozialen Veränderungen einhergehen können. Wir werden bald sehen, wie schwach diese Veränderungen im Vergleich zu den Veränderungen sind, die religiöse Revolutionen hervorbringen.

Religiöse Revolutionen

Bedeutung der Kenntnis einer religiösen Revolution für das Verständnis der großen politischen Revolutionen

Ein Teil dieses Buches wird der Französischen Revolution gewidmet sein. Sie ist voll von Gewalt, die naturgemäß psychologische Ursachen hat.

Diese außergewöhnlichen Ereignisse führen immer zu Erstaunen und scheinen selbst unerklärlich zu sein. Sie werden jedoch verständlich, wenn man bedenkt, dass die Französische Revolution eine neue Religion darstellte und daher den Gesetzen der Verbreitung aller Glauben gehorchen musste. Ihre Wut und ihr Blutvergießen werden dann sehr verständlich.

Bei der Untersuchung der Geschichte einer großen religiösen Revolution, der Reformation, werden wir sehen, dass viele der psychologischen Elemente, die dort vorkamen, auch in der Französischen Revolution wirkten. In beiden Fällen zeigt sich, dass der rationale Teil eines Glaubens wenig Einfluss auf seine Verbreitung hat, dass Verfolgungen unwirksam sind, dass es unmöglich ist, gegensätzliche Glaubensrichtungen zu tolerieren, und dass Gewalt und verzweifelte Kämpfe das Ergebnis des Konflikts zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen sind. Man sieht auch, wie ein Glaube von Interessen ausgenutzt wird, die von diesem Glauben weitgehend unabhängig sind. Schließlich zeigt sich, dass es unmöglich ist, die Überzeugungen der Menschen zu verändern, ohne gleichzeitig ihre Lebensweise zu verändern.

Wenn man diese Phänomene erkannt hat, wird klar, warum sich das Evangelium der Revolution mit denselben Methoden verbreitet hat wie alle religiösen Evangelien, insbesondere das von Calvin. Anders hätte es sich nicht ausbreiten können.

Aber auch wenn es zwischen der Entstehung einer religiösen Revolution, wie der Reformation, und einer großen politischen Revolution, wie der unseren, starke Analogien gibt, so sind ihre weitreichenden Folgen doch sehr unterschiedlich, und so erklärt sich auch die ungleiche Dauer. Bei religiösen Revolutionen kann keine Erfahrung den Gläubigen vermitteln, dass sie sich geirrt haben, denn sie müssten in den Himmel kommen, um das zu erfahren. Bei politischen Revolutionen zeigt die Erfahrung schnell den Irrtum der Doktrinen und zwingt sie dazu, sie aufzugeben.

Bis zum Ende des Direktoriums14 hatte die Umsetzung des jakobinischen Glaubens Frankreich zu einem solchen Grad an Ruin, Elend und Verzweiflung geführt, dass selbst die fanatischsten Jakobiner15 ihr System aufgeben mussten. Von ihren Theorien blieben nur einige Grundsätze übrig, die nicht durch die Erfahrung verifiziert werden konnten, wie das universelle Glück, das durch die Gleichheit unter den Menschen herrschen sollte.

Die Anfänge der Reformation und ihre ersten Anhänger

Die Reformation sollte mit einem großen Einfluss auf die Gefühle und moralischen Vorstellungen vieler Menschen enden. Doch in ihren bescheideneren Anfängen war sie zunächst ein einfacher Kampf gegen den Missbrauch durch den Klerus und in praktischer Hinsicht eine Rückkehr zu den Vorschriften des Evangeliums. Auf jeden Fall war sie nie, wie behauptet wurde, ein Streben nach Gedankenfreiheit. Calvin war ebenso intolerant wie Robespierre, und alle Theoretiker der damaligen Zeit waren der Ansicht, dass die Religion der Untertanen die Religion des Prinzen sein sollte, der sie regierte. In allen Ländern, in denen sich die Reformation etablierte, ersetzte der jeweilige Herrscher den römischen Papst mit den gleichen Ansprüchen und der gleichen Macht.

Aufgrund fehlender Öffentlichkeit und Kommunikationsmöglichkeiten verbreitete sich der neue Glaube in Frankreich zunächst recht langsam. Erst um 1520 bekam Luther einige Anhänger und ab 1535 verbreitete sich der Glaube so weit, dass man es für notwendig erachtete, seine Anhänger zu verbrennen.

Gemäß einem bekannten psychologischen Gesetz förderten die Hinrichtungen nur die Verbreitung der Reformation. Zu den ersten Anhängern der Reformation gehörten Priester und Amtsträger, aber hauptsächlich einfache Handwerker. Ihre Bekehrung erfolgte fast ausschließlich durch geistige Übertragung und Suggestion.

Sobald sich ein neuer Glaube verbreitet, gruppieren sich viele Menschen um ihn herum, denen der Glaube gleichgültig ist, die aber in ihm einen Vorwand finden, um ihre Leidenschaften und Begierden zu befriedigen. Dieses Phänomen war zur Zeit der Reformation in mehreren Ländern zu beobachten, insbesondere in Deutschland und England. Da Luther gelehrt hatte, dass der Klerus keinen Reichtum braucht, fanden die deutschen Fürsten eine Religion, die es ihnen erlaubte, sich den Besitz der Kirche anzueignen, überaus reizvoll. Heinrich VIII. hat sich durch einen ähnlichen Vorgang bereichert. Die von den Päpsten oft belästigten Herrscher konnten eine Doktrin, die ihrer politischen Macht die religiöse hinzufügte und jeden von ihnen zum Papst machte, im Allgemeinen nur positiv sehen. Die Reformation verringerte also nicht den Absolutismus der Herrscher, sondern steigerte ihn sogar.

Rationaler Wert der Doktrinen der Reformation

Die Reformation erschütterte Europa und hätte Frankreich beinahe ruiniert, da sie es fünfzig Jahre lang in ein Schlachtfeld verwandelte. Nie zuvor hatte eine rational gesehen so unbedeutende Ursache so große Auswirkungen.

Sie ist einer der zahllosen Beweise dafür, dass sich Glaubensvorstellungen außerhalb jeder Vernunft verbreiten. Die theologischen Lehren, die damals die Seelen so heftig bewegten, insbesondere die von Calvin, sind, was die rationale Logik betrifft, einer Prüfung unwürdig.

Luther war sehr besorgt um sein Seelenheil und hatte eine übertriebene Angst vor dem Teufel, die auch sein Beichtvater nicht zu lindern vermochte. Nachdem er zunächst dem Papst das Recht auf den Verkauf von Ablassbriefen abgesprochen hatte, leugnete er dessen Autorität und die der Kirche vollständig, verurteilte die religiösen Zeremonien, die Beichte, die Verehrung der Heiligen und erklärte, dass die Christen keine anderen Verhaltensregeln als die Bibel haben sollten. Außerdem war er der Ansicht, dass man ohne die Gnade Gottes nicht gerettet werden könne.

Diese letzte Theorie, die sogenannte Prädestinationslehre, die bei Luther noch etwas unsicher war, wurde von Calvin präzisiert und zur Grundlage einer Lehre gemacht, der die meisten Protestanten noch immer gehorchen. Er sagte: „Von Ewigkeit her hat Gott einige Menschen dazu bestimmt, zu brennen, und andere, gerettet zu werden.“ Und warum diese ungeheuerliche Ungerechtigkeit? Einfach weil „es Gottes Wille ist“.

Calvin zufolge, der einige der Behauptungen des Heiligen Augustinus weiterentwickelte, hat sich ein allmächtiger Gott also einen Spaß daraus gemacht, Geschöpfe zu erschaffen, nur um sie in die Ewigkeit zu schicken, ohne Rücksicht auf ihre Taten oder Verdienste. Es ist wunderbar, dass ein so widerwärtiger Irrsinn die Seelen so lange in seinen Bann ziehen konnte und noch immer viele in seinen Bann zieht.16

Calvins Psychologie ist der von Robespierre nicht unähnlich. Da er wie dieser die reine Wahrheit besaß, schickte er diejenigen, die seine Doktrinen nicht teilten, in den Tod. „Gott wolle“, so versicherte er, „dass alle Menschlichkeit vergessen werde, wenn es darum geht, für seine Ehre zu kämpfen.“

Der Fall Calvins und seiner Anhänger zeigt, dass die rational widersprüchlichsten Dinge in Gehirnen, die von einem Glauben hypnotisiert sind, perfekt in Einklang gebracht werden können. In den Augen der rationalen Logik scheint es unmöglich zu sein, eine Moral auf die Theorie der Prädestination zu gründen, da die Menschen, egal was sie tun, mit Sicherheit gerettet oder verdammt werden. Dennoch hatte Calvin keine Schwierigkeiten, eine sehr strenge Moral auf einer völlig unlogischen Grundlage zu schaffen. Seine Anhänger betrachteten sich als von Gott auserwählt und waren durch das Bewusstsein ihrer Würde so aufgeblasen, dass sie glaubten, in ihrem Verhalten als Vorbild dienen zu müssen.

Verbreitung der Reformation

Der neue Glaube verbreitete sich nicht durch Reden und noch weniger durch Argumentationen, sondern durch den in unserem vorherigen Buch beschriebenen Mechanismus, d. h. durch den Einfluss von Behauptung, Wiederholung, Übertragung und Ansehen.17 Die revolutionären Ideen verbreiteten sich später in Frankreich auf die gleiche Weise.

Die Verfolgungen, wie wir bereits erwähnt haben, förderten diese Ausweitung nur. Jede Hinrichtung führte zu neuen Bekehrungen, wie es auch in den ersten Jahren des Christentums zu beobachten war. Anne Dubourg18, ein Parlamentsrat, der zum Verbrennen bei lebendigem Leib verurteilt worden war, ging auf den Scheiterhaufen zu und forderte die Menge auf, sich zu bekehren. „Seine Standhaftigkeit“, so berichtet ein Zeuge, „brachte unter den jungen Menschen in den Schulen mehr Protestanten hervor als die Bücher Calvins.“

Um die Verurteilten daran zu hindern, zum Volk zu sprechen, schnitt man ihnen vor der Verbrennung die Zunge heraus. Der Schrecken der Folter wurde noch gesteigert, indem man die Opfer an einer Eisenkette befestigte, mit der man sie immer wieder in den Scheiterhaufen herablassen und wieder herausziehen konnte.

Nichts brachte die Protestanten jedoch dazu, ihre Aussagen zu widerrufen, auch wenn ihnen Amnestie angeboten wurde, nachdem sie das Feuer spüren durften.

1535 ließ Franz I., der von seiner ursprünglichen Toleranz abgerückt war, in Paris sechs Scheiterhaufen auf einmal anzuzünden. Der Konvent beschränkte sich, wie man weiß, auf eine einzige Guillotine in derselben Stadt. Es ist übrigens wahrscheinlich, dass die Folterungen nicht sehr schmerzhaft gewesen sein dürften. Man hatte bereits die Unempfindlichkeit der christlichen Märtyrer bemerkt. Gläubige werden von ihrem Glauben hypnotisiert, und wir wissen heute, dass bestimmte Formen von Hypnose völlige Gefühllosigkeit hervorrufen.

Der neue Glaube fand schnell Verbreitung. Im Jahr 1560 gab es 2.000 reformierte Kirchen in Frankreich, und viele Standesherren, die der Lehre zunächst ziemlich gleichgültig gegenüberstanden, schlossen sich ihr an.

Konflikt zwischen verschiedenen religiösen Glauben. Unmöglichkeit der Toleranz

Ich habe bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass Intoleranz immer mit starken Glaubensrichtungen einhergeht. Die religiösen und politischen Revolutionen liefern zahlreiche Beweise dafür und zeigen uns auch, dass die Intoleranz zwischen den Anhängern benachbarter Religionen viel größer ist, als zwischen den Verfechtern entfernter Glaubensrichtungen, wie zum Beispiel dem Islamismus und dem Christentum. Betrachtet man nämlich die Glaubensrichtungen, wegen derer Frankreich so lange Zeit zerrissen war, wird man feststellen, dass sie sich nur in nebensächlichen19 Punkten unterschieden. Katholiken und Protestanten beteten genau denselben20 Gott an und unterschieden sich nur in der Art und Weise, wie sie ihn anbeteten. Hätte die Vernunft bei der Ausarbeitung ihres Glaubens auch nur die geringste Rolle gespielt, hätte sie leicht zeigen können, dass es Gott ziemlich gleichgültig sein musste, ob er auf diese oder jene Weise21 angebetet wurde.

Da die Vernunft die Gehirne der Überzeugten nicht beeinflussen konnte, kämpften Protestanten und Katholiken weiterhin erbittert gegeneinander.22 Alle Bemühungen der Herrscher, sie zu versöhnen, blieben erfolglos. Katharina von Medici, die täglich sah, wie die Partei der Reformierten trotz der Folterungen wuchs und eine beträchtliche Anzahl von Adligen und Magistraten in ihre Mitte zog, dachte, sie könne sie entwaffnen, indem sie 1561 in Poissy eine Versammlung von Bischöfen und Pastoren einberief, um die beiden Doktrinen zu vereinen. Ein solches Vorhaben zeigte, wie sehr die Königin trotz ihrer Klugheit die Gesetze der mystischen Logik ignorierte. In der Geschichte gibt es kein Beispiel dafür, dass ein Glaube durch Widerlegung nachgibt. Katharina von Medici wusste noch nicht, dass Toleranz allenfalls zwischen Individuen möglich, aber zwischen Gemeinschaften nicht durchführbar ist. Ihr Versuch scheiterte daher vollständig. Die versammelten Theologen warfen sich Texte und Schmähungen an den Kopf, aber keiner von ihnen zeigte sich einsichtig. Katharina glaubte im Jahr 1562 mehr Erfolg zu haben, als sie ein Edikt erließ, das den Protestanten das Recht einräumte, sich zu versammeln, um ihren Gottesdienst öffentlich zu feiern.