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Frauen-Freundschaft, Feminismus und die besondere Kraft der Fotografie: Einfühlsam und mitreißend erzählt Stephanie Butland die Geschichte von drei ungewöhnlichen Frauen von 1968 bis heute In jedem Foto steckt ein Leben – niemand weiß das besser als die ehemalige Star-Fotografin Veronica Moon. Deshalb hatte sie als junge Frau mit dem Fotografieren begonnen. Und deshalb hat sie vor Jahren damit aufgehört. Doch nun wird eine Ausstellung über ihr Lebenswerk für die Fotografin zu einer Reise in die Vergangenheit: von jenen wilden Tagen 1968, als sie in der Feministin Leonie Barratt eine Freundin fürs Leben findet, bis zu Leonies tragischem Tod, über den Veronica bis heute schweigt. Die Ausstellung leitet ausgerechnet Leonies Nichte Erica, die so vieles von Veronica wissen möchte. Ist endlich die Zeit gekommen, ihr Schweigen zu brechen und die Vergangenheit loszulassen? »Die Frau auf dem Foto« porträtiert drei ganz unterschiedliche Frauen und eine innige Freundschaft, die mehr als einmal auf die Probe gestellt wird. Ganz nebenbei ist Stephanie Butlands Roman auch eine Geschichte des Feminismus – und eine Hommage an die besondere Kraft der Fotografie. »Dieses Buch ist brillant recherchiert, regt zum Nachdenken an und berührt das Herz. Ohne Zweifel Stephanie Butlands bester Roman bisher.« Lancashire Evening Post
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Seitenzahl: 501
Veröffentlichungsjahr: 2021
Stephanie Butland
Roman
Aus dem Englischen von Heike Reissig
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
In jedem Foto steckt ein Leben – niemand weiß das besser als die ehemalige Star-Fotografin Veronica Moon. Deshalb hatte sie als junge Frau mit dem Fotografieren begonnen. Und deshalb hat sie vor Jahren damit aufgehört.
Doch nun wird eine Ausstellung über ihr Lebenswerk für die Fotografin zu einer Reise in die Vergangenheit: von jenen wilden Tagen 1968, als sie in der Feministin Leonie Barratt eine Freundin fürs Leben findet, bis zu Leonies tragischem Tod, über den Veronica bis heute schweigt.
Die Ausstellung leitet ausgerechnet Leonies Nichte Erica, die so vieles von Veronica wissen möchte. Ist endlich die Zeit gekommen, ihr Schweigen zu brechen und die Vergangenheit loszulassen?
Widmung
Prolog
Erster Teil: Sujet
Zweiter Teil: Licht
Dritter Teil: Fokus
Vierter Teil: Abstand
Fünfter Teil: Bewegung
Sechster Teil: Belichtung
Siebter Teil: Entwicklung
Epilog
Anmerkung der Autorin
Dank
Hallo!
Für Ihren eigenen Buchklub
Ausgewählte Literatur
Für Dad, der mir das Fotografieren beibrachte –und dass ich alles schaffen kann
Der Anblick des Fotos würde ein Schock sein.
So wie immer. Obwohl sie es selbst aufgenommen hatte.
Veronica lehnte sich an die Wand gegenüber dem Galerieeingang und wappnete sich innerlich. Dann richtete sie ihren Blick auf das Plakat. Die schnörkellose Schrift verkündete: »Die Macht der Frauen: Veronica Moon und die zweite Welle des Feminismus. 26. April – 26. August 2018.« Nur noch zwei Tage. Vee starrte die Wörter an, bis sie keinen Sinn mehr ergaben, dann gab sie sich einen Ruck und schaute auf das Bild. Und als sie es betrachtete, an diesem öffentlichen Ort, mit Radfahrern, die durch ihr Blickfeld schwirrten, mit dem Londoner Verkehrslärm im Hintergrund, war ihr auf einmal, als sei sie bereits halb von dieser Welt verschwunden.
Die Gefühle waren immer die gleichen geblieben, obwohl die Erinnerung längst verloren war. Liebe, Trauer, Schmerz und weiß glühende, lodernde Wut darüber, was ihr damals alles genommen worden war, als sie auf den Auslöser drückte und der Verschluss auf und zu ging, schneller als ein Wimpernschlag beim Abschiedsblick. Selbst nach all der Zeit konnte sie die Wucht dieser Gefühle noch immer spüren.
Leonie, die Frau, die sie mehr als jeden anderen Menschen im Laufe ihrer siebzig Lebensjahre geliebt hatte, blickte ihr finster entgegen. Ihre dichten Augenbrauen, die halb geschlossenen Augen, die stolze Adlernase bildeten ein stimmiges Ganzes, das nun auf Plakatformat vergrößert worden war. Leonie hatte stets gewusst, dass sie mehr Raum verdiente, als die Welt ihr zugestehen wollte. Jetzt, dreißig Jahre später, sah die Schwarz-Weiß-Aufnahme zeitlos aus, der Trend zu knalligen Farben war inzwischen wieder abgeklungen.
Wenn sie sich bemühte, brachte Vee es sogar fertig, dieses Foto zu bewundern. Ihr ganzes Können steckte darin: die Art, mit dem Licht umzugehen, den Winkel zu wählen und ein Porträt zu erschaffen, das einerseits größer als Leonie war und zugleich den Kern ihres Wesens offenbarte. Aber sie hatte gute Gründe, sich nicht allzu sehr in das Bild zu vertiefen. Es dokumentierte den Moment, in dem sie die zwei größten Verluste ihres Lebens erlitten hatte.
Selbst jetzt, wo sie sich allem stellen und Frieden schließen sollte, wo ihre Augen so viel wie möglich aufsaugen sollten, bevor es zu spät war, ertrug sie es nicht, das Bild lange anzuschauen.
Ob es ihr gefiel oder nicht, die Welt würde sich wegen dieses Fotos an sie erinnern. Wäre sie eine Kriegsfotografin gewesen, hätte man sie damals gefeiert. Erst recht, wenn sie ein Mann gewesen wäre. Unerschrocken, hätte man von ihr gesagt. Kühn. Kompromisslos. Doch da Veronica Moon eine Frau war, hatte es geheißen, sie sei herzlos. Gefühllos. Egoistisch. Von Ehrgeiz zerfressen. Karriere aus und vorbei.
Erstens: Vergessen Sie alles, was Sie über die Kamera zu wissen glauben. Die Kamera ist kein neutraler Gegenstand, kein Auge, das alles unvoreingenommen sieht und aufnimmt. Auch wenn die Welt Sie das glauben machen will.
In den Händen einer echten Fotografin kann die Kamera listig, gerissen, gemein oder zerstörerisch, aber auch freundlich, sanft oder barmherzig sein. Und klug. Das sollte sie auch sein, zumindest so klug wie die Person, die sie in den Händen hält. Wenn diese Person eine Frau ist, wird sie bereits wissen, worauf sie achten muss und wie sie in ihrem Umfeld Hinweise erkennt, die ihre Aufmerksamkeit verlangen und denen sie nachgehen sollte.
Jedes Mal, wenn Sie auf den Auslöser drücken, treffen Sie eine Entscheidung darüber, wohin geschaut wird und was Sie zeigen oder ins Gedächtnis rufen wollen. Fotografieren bedeutet, eine Geschichte zu erschaffen.
Veronica Moon, Fotografien von Frauen (unveröffentlicht)
»Briefträger an der Streikpostenkette«
Veronica Moon
Ausstellungsabschnitt: Frühwerk
Kamera: Nikon F1
Film: Kodak, 200 ASA
Erstveröffentlichung: Zeitschrift This Month, 1968
Willkommen in der Welt der Veronica Moon, die mit subtilen, subversiven Fotografien Frauen in den Mittelpunkt stellt und sich nicht davor scheut, den Betrachtenden die Interpretation zu überlassen.
Dieses Bild wurde 1968 beim Näherinnen-Streik im Ford-Werk Dagenham aufgenommen. Die Näherinnen – sie stellten die Autositzbezüge her – hatten die Arbeit niedergelegt, um dagegen zu protestieren, dass sie schlechter bezahlt wurden als ihre männlichen Kollegen. Moon war gerade dort eingetroffen, als der Briefträger kam, um die Post zu bringen. Sie fing den Moment ein, als er, statt die Streikpostenkette zu durchbrechen, unter dem Jubel der streikenden Arbeiterinnen kehrtmachte. Der Fokus ihres Bildes liegt jedoch nicht auf dem Briefträger, von dem nur Schulter und Tasche zu sehen sind. Stattdessen lenkt Moon unseren Blick auf die drei Frauen im Vordergrund und das Zusammenspiel ihrer Körper; die eingehakten Arme, die im Lachen zurückgeworfenen Köpfe. Das Foto erinnert an einen Urlaubsschnappschuss, doch auch an die Kriegsplakate der Women’s Land Army aus dem Zweiten Weltkrieg; ein Sinnbild der großartigen Verbundenheit, die Frauen zu Schwestern macht.
Die drei Frauen im Vordergrund wirken stark, humorvoll und entschlossen; ein sehr authentisches Bild. Hinter ihnen befindet sich eine weitere Gruppe von Frauen; ganz rechts ist die Feministin und Schriftstellerin Leonie Barratt zu sehen, eine langjährige Weggefährtin und enge Freundin von Moon.
Diese frühe Aufnahme trägt bereits viele Markenzeichen, die Moons spätere Arbeit auszeichnen. Der Fokus ist gestochen scharf; wie bei ihren späteren Porträts verzichtet Moon auf Weichzeichnen oder das Verbergen von Makeln. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Gesichter der Frauen, die sie im linken Bilddrittel platziert hat. Das Foto wirkt in keiner Weise statisch oder gestellt. Es hält einen Moment fest, der ansonsten verloren gegangen wäre.
Das Bild wurde zusammen mit einer Kolumne von Leonie Barratt in der Juni-Ausgabe 1968 der britischen Zeitschrift This Month veröffentlicht, die von 1962 bis 1986 erschien und Auflagen von bis zu 250000 Exemplaren erreichte. Die Aufnahme markiert den Beginn von Moons feministischer Fotografie. Zuvor hatte Moon schon häufig Frauen für die Tageszeitung Colchester Echo abgelichtet, jedoch nur in traditionellen Rollen, etwa auf Wohltätigkeitsveranstaltungen. Moon wurde ausschließlich zu solchen Events geschickt; Fotoaufträge für Nachrichtenthemen und Sportberichte waren ihren männlichen Kollegen vorbehalten. Nach Dagenham fuhr sie damals in ihrer Freizeit, weil der Chefredakteur ihr verboten hatte, als offizielle Fotografin des Echo dort zu erscheinen.
Harold Wilson, Labour-Politiker, ist Premierminister von Großbritannien.
In den USA kommen Robert F. (Bobby) Kennedy und Martin Luther King im Abstand von nur wenigen Wochen bei Attentaten ums Leben.
Die Beatles landen zwei Nummer-eins-Hits in den englischen Charts, »Lady Madonna« und »Hey Jude«.
Der konservative Unterhausabgeordnete Enoch Powell hält seine berüchtigte Rede, in der er vor »Strömen von Blut« warnt.
Die populäre britische Sitcom Dad’s Army feiert TV-Premiere.
Eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg am Londoner Grosvenor Square nahe der US-Botschaft endet mit Polizeigewalt und Massenverhaftungen.
Das britische Abtreibungsgesetz von 1967 tritt in Kraft; Schwangerschaftsabbrüche werden damit unter zahlreichen Bedingungen für zulässig erklärt.
Agatha Christies Roman Lauter reizende alte Damen erscheint.
Der Film Rosemary’s Baby kommt in die Kinos.
Das berühmte »Earthrise«-Foto, das die aufgehende Erde zeigt, wird an Bord des Raumschiffs Apollo während seiner Mondumkreisungen aufgenommen.
Außerdem streiken die Näherinnen des Ford-Werks in Dagenham, um eine angemessene Bezahlung für ihre Arbeit zu fordern, nämlich den gleichen Lohn, den ihre männlichen Kollegen für vergleichbare Tätigkeiten bekommen. Veronica Moon hält den bahnbrechenden Streik der Frauen mit ihrer Kamera fest.
Worüber stöhnst du denn diesmal, Dad?« Veronicas Vater Stanley las den Daily Mirror weniger wegen der Neuigkeiten, sondern um Diskussionen vom Zaun zu brechen.
»Ich bin ja für Gleichberechtigung, aber das geht nun wirklich zu weit«, sagte er. »Hör dir das an. ›Tausende von Ford-Arbeitern müssen nächste Woche vorübergehend entlassen werden, falls die 187 Näherinnen ihren Streik für höhere Löhne nicht beenden.«
»Du bist also gar nicht wirklich für Gleichberechtigung«, sagte Veronica. Sie war gerade dabei, ihre Fotoausrüstung zu überprüfen; sie hatte alle Teile vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, um sie nacheinander zu inspizieren und zu reinigen: Kameragehäuse, Objektive, Filter, Gurt und Tasche. Wenn sie den Auslöser drückte oder den Spannhebel zog, ertönte das Geräusch jedes Mal synchron zu ihrem Herzschlag. Oder zumindest redete sie sich das ein.
»Oh, doch, Vee, das bin ich! Aber das hier hat nichts mit Gleichberechtigung zu tun.« Stanley lehnte sich in seinem Sessel vor und zerknitterte dabei die Zeitung, die auf seinem Schoß lag. »Die Frauen arbeiten doch nur, um sich ein bisschen Taschengeld dazuzuverdienen. Aber die Männer, die vorübergehend entlassen werden, müssen eine ganze Familie ernähren! Was werden ihre Frauen wohl sagen, wenn sie mit leeren Händen heimkommen?«
»Ich will Donnerstag hinfahren«, sagte Vee. »Wenn ich freihabe.«
»Schickt Bob dich denn nicht hin, um für den Echo zu fotografieren?«
»Dagenham ist zu weit weg, aber Bob würde sowieso nicht mich, sondern George hinschicken. Ich bekomme nur die Aufträge, auf die George keine Lust hat.« Vees Highlight der letzten Woche war ein Flohmarkt gewesen, auf dem Geld für den Behindertenverband gesammelt wurde.
Als Vee als Junior-Fotografin beim Colchester Echo anfing, war ihr klar gewesen, dass sie bloß Glück gehabt hatte und sich hocharbeiten musste. (Wahrscheinlich hatte sie die Stelle nur bekommen, weil ihr Dad ihren Chef Bob beim Armdrücken besiegt hatte; die beiden kannten sich seit der Schule. Aber eigentlich wollte sie das gar nicht genau wissen.)
Ihr Vater hievte sich aus seinem Sessel. »Na ja. Ich bin dann mal im Garten. Der jätet sich ja nicht von selbst.«
»Wo du recht hast, hast du recht«, sagte Veronica.
»Schönes Wetter heute. Aber du verschanzt dich vermutlich wie üblich unter der Treppe, stimmt’s?«
Veronica lächelte. »Was sollte ich wohl sonst machen?«
»Wenn du verheiratet bist, muss sich das ändern, Schatz«, sagte ihr Vater kopfschüttelnd. »Barry wird kaum wollen, dass du dich jeden Samstagnachmittag hier herumtreibst.«
»Barry macht das nichts aus, Dad. Und abgesehen davon, dauert es noch ein paar Jahre bis zur Hochzeit.«
»Deine Mutter war neunzehn, als sie mich geheiratet hat.« Elf Jahre war es nun her, seit ihre Mutter gestorben war, aber die Trauer war noch immer so groß, dass Vater und Tochter einen Moment innehielten, bevor sie sich anschauten und mit einem tapferen Lächeln die Tatsache akzeptierten, dass sie, im Gegensatz zu ihnen, nicht mehr da war und dass niemand außer ihnen beiden jemals verstehen würde, was das bedeutete.
»Bringst du Rhabarber mit? Den könnten wir morgen zum Nachtisch essen.«
Ihr Vater liebte heißes Rhabarberkompott mit Büchsenmilch über alles.
Er nickte, nahm seinen Hut vom Garderobenständer an der Tür und ging aus dem Haus.
Als Vee es mit fünfzehn endlich geschafft hatte, sich eine eigene Kamera zu besorgen – ein kombiniertes Geburtstags- und Weihnachtsgeschenk, zu dem sie mit ihrem Ersparten beigetragen hatte –, wurde ihr schnell klar, dass es zu teuer war, ihre Filme im Labor entwickeln zu lassen. Also beschloss sie, sich das Entwickeln selbst beizubringen, und richtete sich mit Unterstützung ihres Vaters im Verschlag unter der Treppe eine kleine Dunkelkammer ein. An den beißenden Geruch der Chemikalien und das schaurige Rotlicht hatte sie sich noch immer nicht ganz gewöhnt.
Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als sie zum ersten Mal einen Fotografen bei der Arbeit gesehen hatte: auf der Hochzeit ihrer Cousine Betty. Sie war damals sieben und eine der Brautjungfern; sie trug ein hellrosa Kleid mit einer weißen Strickjacke, dazu geliehene Satinschuhe mit zusammengeknüllten Taschentüchern in der Schuhspitze, damit sie besser passten, und in der Hand hielt sie einen Strauß pinkfarbener Seidenrosen. Auf jeder Aufnahme, die an jenem Tag von ihr gemacht wurde, starrte sie direkt in die Kamera. Denn sie wollte damals unbedingt herausfinden, was unter dem Tuch passierte, unter dem der Fotograf sich versteckte. Wenn sie nicht fotografiert wurde, stellte sie sich hinter das Stativ und lauschte den Geräuschen der Kamera. Als Cousine Betty das Fotoalbum später im Familienkreis präsentierte – ihr Mann schien Millionär zu sein, niemand sonst besaß ein solches Album –, konnte Vee miterleben, wie die Erwachsenen den Tag der Hochzeit mithilfe der Fotos noch einmal lebendig werden ließen. Sie sprachen über den schicken Hut der Brautmutter, den schönen Blumenstrauß, das schlechte Wetter (so schade!) und darüber, wie gut der Bräutigam ausgesehen hatte. Der Mann unter dem Tuch hatte ihren Erinnerungen mithilfe eines Knopfes und eines Hebels Gestalt gegeben.
Damals verstand sie natürlich noch nicht alles im Detail, aber sie wollte trotzdem unbedingt eine Kamera haben, so wie andere Kinder sich einen Hüpfstab wünschten.
Nun war sie mit Barry verlobt, der am liebsten seine gesamte Freizeit mit ihr verbracht hätte, aber die Samstagnachmittage in der Dunkelkammer wollte sie sich auf keinen Fall nehmen lassen. Seitdem ihr Vater Barry zum Fußball mitnahm, war es etwas einfacher geworden. An Spieltagen konnte sie sich später mit ihnen im Pub treffen, um gemeinsam zu jubeln oder zu jammern, und anschließend konnten sie ins Kino zu gehen oder Barrys Eltern auf einen Tee besuchen. Es fiel ihr leichter, höflich über Z-Cars und andere Fernsehserien oder über Harold Wilson und sonstigen Kram zu plaudern, der sie nicht interessierte, wenn sie ein paar Stunden in ihrer Dunkelkammer verbracht und im Schein der Rotlichtlampe ihren Bildern im Chemikalienbad beim Entwickeln zugeschaut hatte. Sie musste dabei zwar immer den Kopf einziehen, aber sie war trotzdem jedes Mal überglücklich, weil sie endlich das tun konnte, wovon sie schon als kleines Mädchen geträumt hatte.
Vee war noch nie zuvor bei einem Streik gewesen.
»Tu nichts, was ich auch nicht tun würde«, hatte ihr Vater morgens zum Abschied gesagt. Vorher hatte er noch die Reifen des Ford Anglia überprüft, den sie sich teilten. Als wäre die anderthalbstündige Fahrt von Colchester nach Dagenham eine Weltreise. Aber eine so weite Strecke war sie bisher tatsächlich noch nie allein gefahren.
»Hast du in deiner Freizeit nichts Besseres zu tun?«, hatte Barry gesagt, aber da sein eigener Job für ihn nur eine lästige Pflicht war, verstand er das natürlich nicht. Er bezeichnete Vees Fotografie immer als »Hobby«, was sie nicht leiden konnte. Ein besseres Wort dafür fiel ihr allerdings auch nicht ein. Eigentlich war die Fotografie ihre Leidenschaft, doch als ihm das erzählte, lachte er nur und meinte, das stimme nicht, er sei ihre Leidenschaft.
Nun stand sie also vor dem Ford-Werk in Dagenham. Endlich war sie mal dort, wo was los war.
Tags zuvor hatten die Zeitungen berichtet, dass Ford wegen des Streiks täglich über eine Million Pfund verlor. Der Innenminister hatte sich inzwischen eingeschaltet. Auf der Fahrt hatte Vee sich gefragt, was sie bei ihrer Ankunft wohl erwarten würde. Vielleicht würde sie erleben, wie die Welt sich vor ihren Augen veränderte, und bekäme die Chance, diejenige zu sein, die diesen Moment für die Ewigkeit festhielt. So wie Bill Eppridge den sterbenden Bobby Kennedy fotografiert hatte. Natürlich hatte das Attentat sie schockiert und sie hatte die Berichterstattung in den Zeitungen und im Fernsehen verfolgt, so wie alle anderen auch. Aber als sie das Bild mit dem am Boden liegenden Kennedy gesehen hatte, das Blut und den jungen Mann, der Kennedys Kopf stützte, hatte sie auch noch etwas anderes gefühlt. Genauer gesagt, hatte sie sich vorgestellt, sie wäre selbst im Ambassador Hotel in Los Angeles gewesen, als die Schüsse fielen. Ob sie wohl ebenfalls die Geistesgegenwart besaß, solche Aufnahmen zu machen? Bestimmt. Sie musste einfach nur dafür sorgen, vor Ort zu sein, wenn Dinge passierten, die die Welt veränderten.
Die streikenden Näherinnen trugen flache Schuhe und Minikleider, die Sonne schien auf ihre nackten Arme; kleine, leuchtende Gestalten, die vor den Stahltoren standen, hinter ihnen ragte die düstere Backsteinfassade des Werksgebäudes auf. Vee fluchte innerlich, weil sie ihre typische Arbeitskleidung anhatte. Ihr knielanger Rock war statisch so aufgeladen, dass er förmlich an der Strumpfhose klebte. Für ihre Jacke mit den praktischen Taschen, in denen sie Filmrollen und Ersatzobjektive verstaut hatte, war es eigentlich viel zu warm, aber sie konnte sie unmöglich ausziehen, weil ihre Bluse darunter klatschnass geschwitzt war. Sie kam sich plötzlich furchtbar altmodisch vor, geradezu hinterwäldlerisch. Sie hatte kein einziges Minikleid im Schrank, und nachts schlief sie mit Lockenwicklern. Warum zum Teufel musste sie ausgerechnet jetzt an Kleider und Frisuren denken?
Vielleicht sah es so aus, wenn die Welt sich veränderte. Der Streik wirkte nicht so dramatisch wie die Proteste am Grosvenor Square oder in Paris, aber er konnte ja trotzdem einen Umbruch bedeuten. Wie ihr Dad immer sagte: Nichts hält ewig.
Vees Blick wanderte zu den Spruchbändern. Sie waren sorgfältig bemalt worden, alle Buchstaben gleich groß, mit ausreichenden Abständen zwischen den Wörtern. Auf einem stand: »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!«, auf einem anderen: »Ungleicher Lohn ist Diskriminierung!«; ein drittes verkündete: »Gleiche Rechte für Frauen!« Die streikenden Näherinnen waren gut organisiert, und sie meinten es ernst. Vee holte tief Luft. Was sie hier sah, war definitiv ein Umbruch. Sie musste noch daran arbeiten, so etwas auf Anhieb zu erkennen.
Die Frauen hinter den Bannern unterhielten sich und lachten. Eine ging herum und verteilte Sandwiches. Eigentlich sprach ja nichts dagegen, wenn etwas Picknick-Stimmung aufkam. Auch wenn es hier natürlich um etwas Ernstes ging.
Vee schaute sich nach der Anführerin um. Es schien jedoch keine offizielle zu geben. Aber eine der Frauen kam ihr aus der Zeitung bekannt vor.
»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Veronica Moon. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich ein paar Fotos mache? Vom Streikposten?«
»Aber klar doch«, sagte die Frau. »Nett, dass Sie fragen. Die Männer machen das nie. Woher kommen Sie?«
Vee nahm den Objektivdeckel von der Nikon F1. Manchmal konnte sie es noch immer kaum fassen, dass die Kamera ihr gehörte. Na gut, eigentlich gehörte sie ihr erst dann, wenn sie Dad von ihrem Lohn das zurückzahlte, was er dafür vorgestreckt hatte. »Aus Colchester. Vom Echo. Aber ich bin nicht offiziell hier. Heute ist mein freier Tag. Ich wollte nur mal vorbeischauen.«
Die Frau nickte. »Da sind Sie nicht die Erste. Verdienen Sie als Fotografin wenigstens das Gleiche wie Ihre Kollegen?«
Vee dachte an George, den Cheffotografen des Echo, der ihr stets das Gefühl gab, ihm Gott weiß was zu schulden, weil sie unter ihm arbeiten durfte. Und sie dachte an die Reporter, die kaum Notiz von ihr nahmen. Die Einzigen, die ihr das Gefühl gaben, überhaupt willkommen zu sein, waren die Redaktionssekretärinnen. Vee fühlte sich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Nein, das traf es nicht – sie fühlte sich wie ein Fisch, dem die anderen Fische keinen Platz machen wollten. Dabei konnte sie bei freier Bahn genauso schnell schwimmen. »Ich glaube nicht«, erwiderte sie.
»Wäre ja auch zu schön gewesen«, sagte eine andere Frau. Vee nickte bloß. Die Erkenntnis, wie stark der Gegenwind war, der ihr tagtäglich entgegenwehte, schnürte ihr die Kehle zu. Plötzlich wurde ihr die große Chance bewusst, die dieser Streik für alle Frauen bedeutete. Sie machte ein paar Aufnahmen von den Näherinnen und den Spruchbändern; anschließend wechselte zu einem Weitwinkelobjektiv und kniete sich hin, um das Werksgebäude zu fotografieren, das hinter den Arbeiterinnen aufragte und einen düsteren Kontrast zu ihrer strahlenden Entschlossenheit bildete.
Was, wenn das kein Streik unter vielen war, sondern ein besonderer, weil er von Frauen durchgeführt wurde? Was, wenn es dabei nicht nur um gleichen Lohn, sondern auch um andere Dinge ging? Zum Beispiel darum, dass Vee dankbar dafür sein musste, es als Frau in eine Männerdomäne geschafft zu haben? Oder darum, dass ihre verheirateten Freundinnen auf sie herabschauten und vom Kochen für ihre Männer schwärmten, als seien Ehe und Haushalt für eine Frau die einzig wahre Berufung? In Vees Welt war die Frauenbewegung nur ein Witz. An Weihnachten hatte Barrys Vater ausnahmsweise den Abwasch erledigt und lachend gesagt: »Da soll noch mal einer behaupten, ich wäre gegen Feminismus!« Barrys Mutter hatte daraufhin lachend erwidert: »Na, wenn das so ist, brauche ich mir die Beine ja nicht mehr zu rasieren!« Doch was, wenn es bei der Frauenbewegung um mehr ging als um Männer, die ab und zu den Müll rausbrachten? Was, wenn es dabei um echte Gleichberechtigung ging? Darum, dass Vee allein für ihre Leistung beurteilt würde? Darum, dass es keine Rolle spielen würde, ob sie eine Frau oder ein Mann war, weil allein die Qualität ihrer Arbeit zählte? Diese Gedanken ließen Vees Herz plötzlich schneller schlagen, es hämmerte regelrecht vor Aufregung. Sie richtete sich wieder auf und bedankte sich bei der Frau. Dann holte sie tief Luft und sprach sich selbst Mut zu, wie sie es immer tat, wenn sie von etwas überwältigt war oder sich überfordert fühlte. Mach deinen Job, Veronica. Mach deinen Job und gib dein Bestes.
Als sie wieder zum Normalobjektiv wechselte, hörte sie Pfiffe hinter sich und drehte sich um. Ein Briefträger kam auf die Frauen zu.
»Kaum fahre ich in Urlaub, passiert was!«, rief er. »Ist das euer berühmter Streikposten, Mädels?«
»Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«, rief eine kleine kurzhaarige Blondine. »Dagegen hast du doch wohl nichts einzuwenden, oder?«
»Wo denkst du hin – meine Sheila würde mir den Kopf abreißen!«, entgegnete er. Die Frauen lachten, und Vee hielt instinktiv den Sucher vors Auge und machte ein Foto. Sie wusste gar nicht so recht, warum. Eigentlich war es Schwachsinn, den Mann abzulichten, es ging ja schließlich um den Frauenstreik. Das Bild hätte sie sich sparen können. Zu spät, jetzt hatte sie den Moment schon im Kasten. Sie spulte den Film weiter. »Noch immer keine Einigung in Sicht?«, fragte der Briefträger.
»Nee. Die meinten, wir wären unverantwortlich und sie würden dagegen vorgehen. Aber wir haben ihnen gesagt, dass wir unsere Arbeit erst dann wieder aufnehmen, wenn sie uns dafür das Gleiche bezahlen wie den Männern.«
»Gut gemacht, Mädels«, sagte der Briefträger. »Dann ist das also ein offizieller Streikposten?«
»Na klar. Wir machen unsere Arbeit immer gut. Deshalb platzt bei deinem Autositz auch nie die Naht!« Alle brachen in Gelächter aus, und am liebsten hätte Vee die Kamera sinken lassen und mitgelacht, aber wenn sie überhaupt etwas Nützliches bei der Zeitung gelernt hatte, dann die Regel, dass sie Abstand halten musste, wenn sie ein gutes Foto machen wollte. »Du bist nicht hier, um dazuzugehören«, hatte Georgezu ihr gesagt, als er sie das erste Mal mitnahm. »Du bist hier, um deine Linse draufzuhalten.«
»Wenn das so ist, Kolleginnen«, sagte der Briefträger, »werden eure Chefs heute leider keine Post bekommen.« Dann stopfte er das Briefbündel, das er in der Hand hielt, in seine Tasche zurück, und als er kehrtmachte, drückte Vee auf den Auslöser. Jetzt hatte sie das perfekte Bild, das wusste sie intuitiv. Ein richtig gutes Foto. Wenn es veröffentlicht werden würde, käme die hohe Qualität allerdings kaum zur Geltung, denn auf Zeitungspapier sahen selbst die besten Aufnahmen scheußlich aus.
»He!« Es dauerte einen Moment, bis Vee begriff, dass sie gemeint war. Eine Frau kam auf sie zu. Sie hatte zwei Begleiterinnen im Schlepptau, und ihr finsterer Blick brachte Vee dazu, die Kamera sinken zu lassen.
»Hallo«, sagte Vee und hielt der Frau ihre Hand hin, überrascht, dass sie nicht zitterte. »Ich bin Veronica Moon.«
Die Frau machte allerdings keine Anstalten, ihren Gruß zu erwidern. Vee ließ die Hand wieder sinken. Die Frau trug eine Latzhose. Eine Latzhose! So etwas trugen doch eigentlich nur Männer. »Der Name sagt mir nichts«, entgegnete die Frau. »Müsste ich ihn kennen?« Ihre selbstbewusste Stimme hatte nicht die Spur eines Akzents. Davon konnte Vee nur träumen. Die Frau klang zwar nicht so vornehm wie eine Radiosprecherin, aber ihre Herkunft war ihr nicht anzuhören. Das war ein großer Vorteil.
»Nein«, erwiderte Vee. Am liebsten hätte sie weiter fotografiert – sie tat schließlich nichts Unrechtes –, aber sie hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Da die Frau und ihre Begleiterinnen in der Mehrzahl waren, sagte sie: »Ich arbeite als Fotografin beim Colchester Echo. Aber eigentlich bin ich hier nur zum …« Ihr fehlten die richtigen Worte. Zum Spaß? Zum Privatvergnügen? »Ich habe heute frei und wollte selbst sehen, was hier los ist.«
Die Frau reichte ihr nun doch die Hand, und Vee schüttelte sie. Plötzlich schämte sie sich für ihren kaugummirosafarbenen Nagellack. Ihren Verlobungsring hatte sie zu Hause gelassen, sie trug ihn nie bei der Arbeit. Sie erzählte Barry immer, dass sie nicht riskieren wollte, den Ring zu verlieren, aber der wahre Grund war, dass der Ring sich genauso komisch anfühlte wie das Wort »Verlobte«.
»Leonie Barratt«, stellte die Frau sich vor.
»Veronica Moon. Aber alle nennen mich Vee.«
»Hallo, Vee.« Leonie ließ Vees Hand wieder los und grinste. »Ich schreibe eine Kolumne für This Month. Jedenfalls ist das der Plan. Du wolltest also sehen, was hier los ist. Und, was sagst du dazu?« Die Frau hatte braune Augen, makellose Haut und eine große Höckernase. Sie war ungeschminkt. Vee hatte eine halbe Stunde gebraucht, um sich zu frisieren und Make-up, Rouge und Lidschatten aufzulegen, bevor sie am Morgen losgefahren war. Ihre Mutter hatte sie damit früher immer aufgezogen: Na, setzt du wieder ein Gesicht auf? Und irgendwie traf es das sogar, denn Vee hatte oft das Gefühl, dass ihr eigenes Gesicht nicht genug war. Leonie – seltsamer Name für eine Frau – schien dieses Problem jedoch nicht zu haben.
»Ich unterstütze das natürlich«, sagte Vee.
Eine von Leonies Begleiterinnen kicherte, aber Leonie ignorierte sie. »Was genau meinst du? Den Streik? Oder gleichen Lohn?«
»Beides.« Vee setzte den Deckel aufs Objektiv und wich einen Schritt zurück. Die Ford-Arbeiterinnen hatten sie wenigstens in Ruhe ihre Fotos machen lassen. Sie war wirklich nicht in der Stimmung, sich blöde Sprüche von einer Journalistin und ihrer dämlichen Eskorte anzuhören. Das musste sie bei der Arbeit schon oft genug von ihren Kollegen ertragen.
»Soll ich dich mit ein paar Leuten bekannt machen?«, fragte Leonie. »Damit du noch mehr Fotos machen kannst?«
»Nein, danke«, antwortete Vee. Bob durfte auf keinen Fall davon erfahren, dass man sie für eine offizielle Fotografin hielt. Aber da sie nicht unhöflich erscheinen wollte, fügte sie hinzu: »Ich möchte nicht stören. Ich sollte eigentlich gar nicht hier sein.«
Leonies Begleiterinnen lachten, und die eine sagte spöttisch: »Du hast echt keine Ahnung, worum es hier geht, Schwester.« Vee wandte sich verärgert ab. Am besten machte sie noch ein paar letzte Bilder vom Streikposten, um ihren Film aufzubrauchen, bevor sie wieder nach Hause fuhr.
Sie hatte wirklich Besseres zu tun, als sich verhöhnen zu lassen.
Da legte Leonie ihr die Hand auf den Arm. »Warte«, sagte sie und warf ihren Begleiterinnen einen finsteren Blick zu. »Jetzt macht mal halblang. Wir unterstützen unsere Schwestern. Wir haben schließlich alle klein angefangen.« Dann schaute sie Vee an und lächelte. Ihre braunen Augen leuchteten warm. »Komm, lass uns was trinken gehen. Dann erzähle ich dir, was Sache ist.«
Vee nahm an, dass sie irgendwo Tee trinken würden – es war gerade erst Mittag –, aber stattdessen landete sie in einem Pub namens George and Dragon. In der Tür fehlte eine Glasscheibe, die mit einem Stück Pappe zugeklebt worden war, und der Teppich hatte auch schon bessere Tage gesehen. Der Spiegel hinter dem Tresen hatte einen Sprung in der Mitte, der die Gesichter der Leute verzerrte, die dort auf ihre Bestellungen warteten. Leonies Freundinnen – die eine hieß Bea, der Name der anderen begann mit F, mehr hatte Vee nicht verstanden – machten sich auf die Suche nach Sitzplätzen. Vee folgte Leonie zum Tresen.
Als Leonie bestellen wollte, fiel der Barkeeper ihr ins Wort: »Frauen werden am Tresen leider nicht bedient.«
»Was?«, rief Leonie ungläubig. »Soll das ein Witz sein? Wir sind im Jahr 1968! Frauen verdienen inzwischen ihr eigenes Geld und kaufen sich davon, was sie wollen. Und in dieser verdammten Welt können sie weiß Gott einen Drink gebrauchen! Irgendjemand sollte deinem Chef mal verklickern, dass wir nicht mehr im Mittelalter leben.«
Wenn Vee es gewagt hätte, zu Hause »verdammt« zu sagen, hätte ihr Vater sie sofort zurechtgewiesen. Der Barkeeper zuckte mit den Schultern. »Ich habe die Regeln hier nicht aufgestellt.« Er deutete auf zwei Männer, die am anderen Ende des hufeisenförmigen Tresens saßen; einer von ihnen schaute interessiert zu ihnen herüber. »Aber ich bin sicher, dass einer dieser Gentlemen euch behilflich sein wird.«
»Und wenn wir nicht wollen, dass uns jemand behilflich ist?«, fragte Leonie schnippisch. Vees Vater hätte gesagt: Die glaubt wohl, sie ist was Besonderes. Ist wohl mit ’nem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen. War bestimmt auf ’ner Nobelschule, wo sie Uniform mit Hut tragen. Leonie nahm jedenfalls kein Blatt vor den Mund.
»Ich bin den Damen gerne behilflich«, sagte einer der Männer an der Theke. »Setzt euch einfach zu euren Freundinnen. Was wollt ihr haben? Ich bringe es euch herüber.«
»Danke«, sagte Vee und lächelte dem Mann zu. Doch Leonie achtete gar nicht auf sie.
»Schon mal was von Gleichberechtigung gehört? Von Emanzipation?«
Der Barkeeper grinste träge. Er hatte langes Haar und trug ein Tyrannosaurus-Rex-T-Shirt. Wahrscheinlich war er so eine Art Lokalmatador. »Klar«, sagte er. »Aber ihr seid hier in Essex, Schätzchen, nicht in Schickimicki-London.«
Leonie richtete sich auf. Sie wirkte größer, als sie war, und setzte den Effekt gekonnt ein. Sie sah dem Barkeeper direkt in die Augen und zischte: »Sack bleibt Sack, egal wo.«
Vee glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Bea und die Frau, deren Name mit F anfing, erhoben sich von ihrem Tisch und kamen zur Bar herüber. Was wohl als Nächstes passierte? Es gab zwei Möglichkeiten, Vee hatte das schon mehrere Male erlebt. Manchmal ging sie mit Barry freitagabends ins King’s Arms. Wenn jemand Streit anfing, gab es entweder eine Schlägerei oder das Ganze löste sich in Gelächter auf. Hier würden sicher keine Fäuste fliegen; Männer, die sich weigerten, Frauen am Tresen zu bedienen, würden ihnen gegenüber bestimmt nicht handgreiflich werden, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Aber unangenehm war das Ganze trotzdem. Vee schaute wieder zu dem Mann, der angeboten hatte, ihnen die Getränke zu besorgen, und lächelte ihn abermals an. Der Mann erwiderte ihr Lächeln, und die Spannung, die in der Luft lag, löste sich auf. Alles war wieder normal. So normal, wie es zur Mittagszeit in einem Pub eben sein konnte.
»Na gut«, sagte der Barkeeper. »Aber zackig. Was soll’s sein?«
Leonie warf Vee einen fragenden Blick zu. »Einen Martini Sweet mit Limonade, bitte«, sagte Vee.
»Ist das dein Ernst?«, fragte Leonie.
»Ja«, sagte sie. »Warum auch nicht.« Man konnte über ihren Dad und Barry denken, was man wollte, aber sie schrieben ihr zumindest nicht vor, was sie zu trinken hatte.
»Wie du willst.« Leonie wandte sich dem Barkeeper zu. »Einen Martini Sweet mit Limonade und drei Pint Cider. Wenn’s recht ist.«
Der Barkeeper zögerte kurz, bevor er nach den Pint-Gläsern griff, aber falls ihm etwas auf der Zunge lag, verkniff er es sich.
»Bitte schön, die Damen.«
»Danke«, sagte Vee.
»Wir sind keine Damen, sondern Frauen«, sagte Leonie. »Aber mir fehlt jetzt wirklich die Zeit, das näher zu erklären.«
Vee war heilfroh, als sie endlich zum Tisch hinübergingen und dort Platz nahmen. Hier saß sie nun also, auf einem wackligen Hocker in einem schäbigen Pub, zusammen mit drei Krawallschwestern, die sie eben erst kennengelernt hatte. Zum Glück wurden der Barkeeper und seine Thekenfreunde von einer Männerhorde abgelenkt, die fluchend und rauchend hereinplatzte. Vee atmete auf. Sie hatte das Gefühl, gerade noch einmal davongekommen zu sein, dabei hatte sie gar nichts angestellt.
Einige der Männer grüßten Leonie und ihre zwei Begleiterinnen. Sie kamen wohl von außerhalb, vermutlich Reporter, die über den Streik berichten wollten. Nein: die AUCH über den Streik berichten wollten. Vee war schließlich selbst Profi und hatte die perfekte Aufnahme bereits im Kasten.
Leonie und die Frauen tranken ungerührt ihren Cider, das war anscheinend normal für sie. Nach einer Weile sagte Leonie zu Vee: »Du solltest nicht mit Männern flirten, nur damit sie dir Drinks besorgen. Und du solltest sie auch nicht in Schutz nehmen, wenn sie sich wie Idioten aufführen. Denn damit tust du nicht nur dir, sondern auch allen anderen Frauen keinen Gefallen.«
Vee starrte Leonie an. Die kühne Kompromisslosigkeit, mit der Leonie ihre Mission verfolgte, beeindruckte sie zwar, aber sie brauchte sich bestimmt nicht zu verstecken. Sie hatte schließlich ihren Berufswunsch durchgesetzt, und davor hatte sie sich als einzige Frau unter allen Bewerbern einen Platz im Fotografie-Lehrgang erkämpft. »Was soll ich denn stattdessen machen? Das, was du mir vorschreiben willst?«
Bea verschluckte sich fast vor Lachen. »Jetzt hat sie’s dir aber gegeben, Leonie«, sagte sie, dann zu Vee: »Du musst ihr Kontra geben. Setz dich durch. Es gibt ja nicht nur Männer, die andere unterdrücken.«
Leonie lachte auch, und dann sah sie Bea an, ließ die Hand unter den Tisch gleiten und legte sie auf Beas Oberschenkel. Vee wurde knallrot, als sie begriff, dass sie Zeugin eines Flirts wurde, der außerhalb der ihr vertrauten Normen stattfand. Schließlich sagte Leonie zu ihr: »Ich wollte dich nicht bevormunden. Ich wollte dir nur sagen, dass Frauen gelernt haben, Männer zu umschmeicheln, damit sie bekommen, was ihnen zusteht. Dabei haben wir das Recht, es zu fordern.«
Vee nickte. »Aber der andere Weg ist leichter. Findest du nicht?«
»Es ist auch leichter, sich mit dreißig Prozent weniger Lohn zufriedenzugeben, anstatt zu streiken und mehr zu verlangen«, konterte Leonie. »Aber wenn wir so denken, werden wir nie etwas erreichen. Findest du nicht?«
»Stimmt«, sagte Vee. Ob ihr Vater wohl auch bereit wäre, einer Frau einen Drink an der Bar zu bestellen, wenn der Barkeeper sich weigerte, sie zu bedienen? »Aber diese Typen wollten uns doch nur helfen«, fügte sie hinzu. Der Alkohol zeigte allmählich Wirkung. Da sie nicht gefrühstückt hatte, stieg er ihr rascher als sonst zu Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass dieses Gespräch wichtig war, aber es fiel ihr schwer, sich darauf zu konzentrieren und herauszufinden, warum. Es hing mit dem Gefühl zusammen, das zuvor in ihr aufgestiegen war, als sie die Näherinnen am Streikposten fotografiert hatte; dass es Wichtigeres auf der Welt gab und dass ihre Arbeit über den Wunsch, selbst ernst genommen zu werden, hinausging.
Die Frau namens F-wie-auch-immer raunte Bea etwas zu; Vee konnte es nicht verstehen. Leonie aber schon, denn sie sagte: »Halt die Klappe, Fen. Wir haben alle klein angefangen. Es ist schwer zu erkennen, wie das Patriarchat alles durchdrungen hat, wenn man darin aufgewachsen ist.«
»Schon gut, ich bin nicht Eliza Doolittle«, sagte Vee. Am liebsten hätte sie noch ein »Verdammt!« hinterhergeschoben. Aber ihr Dad mochte es nicht, wenn sie fluchte. Auch wenn das patriarchatisch war (so hieß das Wort doch, oder?), sie liebte ihren Vater, er war alles, was sie hatte, abgesehen von Barry. Er befürwortete die Frauenbewegung vielleicht nicht voll und ganz, aber er hatte Vee immer unterstützt, ihr alles erklärt, was sie wissen wollte, und sie in ihrem Berufswunsch bestärkt.
»So ist es recht«, sagte Bea. »Gib ihr Paroli.« Leonie und Bea grinsten sich an. Fen ging zur Bar und kehrte mit vier Pints Cider zurück. Leonie erzählte Vee, für welche Zeitschriften sie arbeitete, worüber sie als Nächstes schreiben wollte und dass immer mehr Frauen sich zusammenschlossen, um für die Gleichberechtigung zu kämpfen, und Vee spürte plötzlich ein Kribbeln im Bauch, das nicht nur vom Martini und vom Cider kam.
Nach der zweiten Runde brachen Fen und Bea auf; Vee und Leonie blieben noch. Bea und Leonie verabredeten sich für später und küssten sich zum Abschied auf den Mund.
»Du kannst jetzt mit dem Glotzen aufhören«, sagte Leonie, als der Kuss zu Ende war.
»Entschuldigung«, sagte Vee. Vom Cider berauscht, fügte sie hinzu: »Ich bin bloß noch nie zuvor Lesben begegnet. Ihr seid meine ersten.«
Leonie lachte. »Das bezweifle ich«, sagte sie. »Außerdem bin ich keine Lesbe. Manchmal bin ich mit Frauen zusammen, dann wieder mit Männern. Aber was soll’s, im Namen aller Lesben begrüße ich dich!« Sie beugte sich vor und drückte Vee einen Kuss auf den Mund. Die Reporter an der Bar pfiffen im Chor. Leonie gab ihnen das Victory-Zeichen, was sie mit einem Lachen quittierten. Vee konnte gar nicht genau sagen, was ihr am unangenehmsten war: der Kuss, das seltsame Kribbeln, das sich dadurch noch verstärkte, ihr Schwips oder das unangenehme Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen, wovor ihre Kamera sie normalerweise bewahrte.
»Ich bin verlobt«, sagte sie. »Mein Verlobter und ich sind zusammen, seit wir fünfzehn sind.« Eines wusste sie jedenfalls: Flirten war nicht dazu da, andere bloßzustellen.
»Schön für dich«, sagte Leonie grinsend. Einer der Reporter kam herüber und brachte ihnen zwei Pints. »Verpiss dich!«, sagte Leonie. »Verpiss dich selbst«, sagte der Mann. Die beiden kannten sich offenbar. Was Vee besonders aufstieß, seit sie bei der Zeitung arbeitete, war der raue Umgangston. Ihr Vater legte großen Wert auf gute Manieren, doch in der Redaktion wurde sie von den anderen ständig aufgezogen, weil sie so höflich war, und die gegenseitigen Pöbeleien der Kollegen verschlugen ihr die Sprache. Ihr Dad hätte nie im Leben »Verpiss dich« zu jemandem gesagt. Gut, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, dass sie gerade in einem Pub saß und mit Leuten redete, die in aller Öffentlichkeit das Wort »Sack« aussprachen.
»Mein Verlobter möchte, dass wir nächstes Jahr heiraten«, sagte sie.
Leonie kramte in ihren Taschen herum, zog eine Tabakdose heraus und drehte sich eine Zigarette. Vorher hatte sie mit Bea und Fen welche aus Beas Packung geraucht, Benson & Hedges. Sie hatten Vee auch eine angeboten, aber sie wollte nicht. Sie hatte es mal probiert, als sie mit einigen Schreibkräften zusammensaß, die sich in der Mittagspause immer trafen, um in der Marie Claire oder My Weekly zu schmökern. Aber es war einfach nicht ihr Ding. Sie konnte das heiße, kribbelnde Gefühl im Mund nicht leiden. Ein Frauenkuss fühlte sich fast genauso an, das wusste sie jetzt. Aber beim ersten Mal fühlte sich eigentlich alles komisch an. »Und was hältst du von seinen Heiratsplänen?«, frage Leonie.
»Ich weiß nicht«, sagte Vee. »Ich finde, wir sollten noch etwas warten. Er hat nichts dagegen, wenn ich weiterhin arbeiten gehe. Zumindest bis wir ein Baby bekommen. Aber er meint, damit bräuchten wir uns ja nicht zu beeilen.«
»Wirklich? Das ist aber nett von ihm.«
Leonies Sarkasmus war nicht zu überhören. Natürlich bedeutete Kinderkriegen für die meisten Frauen, dass sie ihr Potenzial nicht ausschöpfen konnten, was schade war. Aber Leonie kannte Barry gar nicht. Barrys Mutter, die ihr Leben lang Hausfrau gewesen war, stichelte oft über Vees »kleinen Job«, als wäre er ein Witz. Barry dagegen nahm Vee ernst. »Er ist damit einverstanden, dass ich arbeiten gehe. Er findet, dass das für Frauen normal sein sollte; sie sollten es nicht bloß machen, um sich ein Taschengeld zu verdienen.«
Leonie zog an ihrer Selbstgedrehten. »Und was willst du? Das ist doch wohl die wichtigere Frage.«
»Ich?«, fragte Vee. Bevor sie hierhergefahren war, um sich den Streik anzusehen, war sie eigentlich überzeugt gewesen, dass sie bereits alles hatte, was sie wollte. Bei der Arbeit lief es zwar nicht perfekt, aber sie konnte ja dazulernen. Und selbst wenn sie sich hocharbeiten und darum kämpfen musste, respektiert zu werden, sie würde es schon schaffen. Sie verdiente genug Geld, ihr Dad war glücklich und Barry auch. Doch nun saß sie in diesem Pub, wo wahrscheinlich seit fünfzig Jahren dieselben Stammgäste an der Bar hockten, nur wenige Hundert Meter von den streikenden Frauen in Miniröcken entfernt, die lautstark ihre Rechte einforderten, in der festen Überzeugung, sie zu verdienen. Und mit einem Mal war sie gar nicht mehr sicher, ob sie selbst glücklich war. Wenn du einen Fehler siehst, korrigiere ihn, sagte ihr Vater immer, wenn er den Müll fremder Leute vom Gehweg vor ihrem Tor aufsammelte.
»Ja, wer denn sonst, Herzchen? Mit wem rede ich denn gerade?«
»Ich will …« Vee ahnte, dass nur ihr kühnster Traum Leonie zufriedenstellen konnte. »Ich will Fotos machen, die den Menschen etwas bedeuten.«
Nein, das traf es nicht. Fotos bedeuteten denjenigen, die sie betrachteten, schließlich immer etwas. Vees erste Versuche, Momente mit der Kamera einzufangen, waren jämmerlich gewesen – unscharfe Familienporträts und die verwackelte Aufnahme einer Geburtstagstorte. Und trotzdem hatten die Fotos ihrem Vater so viel bedeutet, dass er sie ins Album klebte.
Sie unternahm einen weiteren Anlauf.
»Frauen«, sagte sie. Als sie das Wort aussprach, wurde ihr der wahre Grund klar, warum sie am Streikposten auf den Auslöser gedrückt hatte. Da war wieder dieses Gefühl gewesen, das sie zum Beispiel bekam, wenn sie sich in der Redaktion vortastete und Vorschläge machte, die jedes Mal aufs Neue abgeschmettert wurden. Ihre Fotos von Frauen, die auf Charity-Veranstaltungen in angeregte Gespräche vertieft waren, wurden nie genommen. Bob interessierten nur Aufnahmen von Damen, die mit selbst gemachtem Kuchen und Tee vor der Kamera posierten. Dabei wirkten diese Bilder aufgesetzt, und sie waren vollkommen austauschbar – sie konnten ebenso gut vom Kirchenbasar der letzten Woche wie vom letzten Treffen des Müttervereins stammen. »Ich will Fotos von Frauen machen, auf denen sie … wie sie selbst aussehen.«
Leonie wandte den Blick nicht von ihr ab. Also redete Vee weiter, obwohl ihr gar nicht klar war, was sie eigentlich sagen wollte; sie wartete genauso gespannt wie Leonie darauf, welche Worte als Nächstes aus ihrem Mund kommen würden. »Von Frauen wird doch ständig erwartet, dass sie etwas hermachen. Die meisten Frauen haben keinen richtigen Beruf, wie Tischler oder Anwalt. Auf Fotos sind sie meistens neben ihrem Mann oder mit einer selbst gebackenen Torte zu sehen. Und selbst wenn sie Karriere machen, zum Beispiel als Sängerin wie Dusty Springfield, sollen sie vor allem gut aussehen. Bei Männern wird darauf gar nicht so geachtet. Schau dir Pink Floyd an. Frauen dürften sich das nicht erlauben.«
Leonie nickte. »Und wie passt das alles mit Heiraten zusammen?«
»Keine Ahnung.« Vee nahm noch einen Schluck Cider. »Barry hat jedenfalls kein Problem damit, dass ich arbeite. Und abgesehen davon, warum sollte ich nicht heiraten, wenn ich es will? Was sollen Frauen denn sonst machen?«
Leonie blies eine Rauchwolke aus. »Tja, wenn sie den Mumm dazu haben, könnten sie ihrem Herzen folgen. Sie könnten ihren Beruf ernst nehmen. Sie könnten richtig Karriere machen. Vorausgesetzt, sie hätten diese Vision überhaupt und würden erkennen, dass die Welt langsam, aber sicher anfängt, Frauen ernst zu nehmen. In jeder Beziehung.«
Vee versuchte sich vorzustellen, eine Frau mit einer Vision zu sein. Bei dem Gedanken wurde ihr schwindlig. »Glaubst du das wirklich?«, fragte sie.
»Na, wir haben immerhin Barbara Castle«, sagte Leonie. »Die einzige Frau im Kabinett. Schade, dass es momentan nur sie gibt, aber das ist besser als gar keine.«
»Aber wir haben doch inzwischen viele weibliche Abgeordnete im Unterhaus«, sagte Vee. Ihr Vater hatte nach der Unterhauswahl 1966 nicht schlecht gestaunt.
»Zwanzig von über sechshundert«, sagte Leonie. »Das würde ich nicht gerade repräsentativ nennen.«
»Stimmt.« So hatte Vee das noch nie betrachtet.
»Und jetzt haben wir die Frauen, die Ford zum Stillstand bringen, weil den Machos in der Chefetage ihre tollen Fertigungslinien und dicken Eier nichts nützen, solange niemand die Bezüge für die Autositze näht – und die Frauen sind die Einzigen, die wissen, wie das geht. Wir bekommen immer mehr Macht. Weil wir sie verdienen.«
Vees Kopf nickte wie von selbst. »Ja, das stimmt«, sagte sie.
Leonie legte die Selbstgedrehte vorsichtig auf dem Aschenbecher ab, um sich die Strickjacke auszuziehen. Dabei schlug ihr Anstecker mit dem Friedenssymbol gegen die Tischkante. Vee stieg plötzlich der Duft von Lavendel in die Nase. Und ihr fiel auf, dass Leonie sich die Achseln nicht rasiert hatte. Sofort musste sie an all die Witze über Frauen mit Achselhaaren denken. Bisher hatte sie sie immer für übertrieben gehalten, für ein bloßes Klischee; saubere, glatte Achseln waren schließlich genauso selbstverständlich wie saubere Zähne und glatt gebürstetes Haar. Beim Anblick von Leonies Achselhaaren wurde Vee ganz flau im Magen. Doch gleichzeitig verspürte sie den Impuls, sie zu berühren, einfach nur, um herauszufinden, wie sie sich anfühlten. Ihre eigenen Achseln rasierte sie sich einmal pro Woche. Das war ganz normal für sie. Die Mutter ihrer Freundin Patty hatte ihnen gezeigt, wie das geht, als sie beide fünfzehn waren; irgendwann im Sommer. Leonie lehnte sich zurück gegen die Wand und fragte: »Warum fotografierst du eigentlich so gern?«
Vee zuckte mit den Schultern. Es gefiel ihr einfach. Nach Bettys Hochzeit hatte Vee ihren Vater jedes Mal, wenn er im Urlaub oder an Weihnachten seine kostbare Contax-Messsucherkamera hervorholte, so lange angebettelt, sie benutzen zu dürfen, bis er nachgab. Und danach hatte sie ihm so lange in den Ohren gelegen, bis sie endlich ihre eigene Kamera bekam.
Leonie zog wieder an ihrer Selbstgedrehten. Sie schaute Vee an, schien aber nicht ungeduldig auf eine Antwort zu warten. Vee empfand es als Wohltat, nicht unter dem Druck zu stehen, sofort etwas Kluges sagen zu müssen, oder Stille mit Small Talk zu überbrücken. Wenn es bei der Arbeit doch auch so wäre, dachte sie. Dann käme sie schneller voran.
»Ich glaube, ich mag es, kontrollieren zu können, was ich sehe«, sagte sie schließlich. »Und was andere Leute sehen, wenn sie meine Fotos anschauen. Ich kann die Geschichte so erzählen, wie ich sie sehe. Aber niemand merkt das. Weil alle denken, dass die Kamera nicht lügt.« Am meisten gefiel Vee das Sucherfenster, das einen Augenblick lang die ganze Welt einrahmte. Und dass sie durch die Art und Weise, wie sie die Kamera hielt und den Zoom benutzte, die Geschichte gestalten und etwas Bestimmtes in den Vordergrund rücken konnte. Leonie nickte und wartete darauf, dass sie weiterredete.
»Das mag ich daran.« Vee nippte an ihrem Cider. »Kontrolle zu haben. Letztes Jahr habe ich die Hochzeit meiner jüngsten Cousine fotografiert. Meine Tante war richtig fies zu mir gewesen, als meine Mum starb; sie meinte, ich müsste jetzt erwachsen werden. Ich war damals erst acht. Und als ich sie dann auf der Hochzeit meiner Cousine fotografierte, habe ich jedes Mal ein Stückchen von ihr weggelassen. Ihre Hutkrempe oder ihre Füße. Sie hatte sich extra neue Schuhe besorgt und schon im Vorfeld ständig damit angegeben, wie teuer sie waren. Die Schuhe sind natürlich auf keinem einzigen Foto zu sehen.«
Leonie warf lachend den Kopf zurück, ein kehliges Lachen, fast schon ein Bellen. »Weiber, hütet euch vor Weibern.«
»Ich habe das aber nicht getan, weil sie eine Frau ist«, sagte Vee, »sondern ein mieses Stück.«
»Wie dem auch sei«, sagte Leonie. »Du hast also gern die Kontrolle.« Sie trank einen Schluck. »Und was gefällt dir noch am Fotografieren?«
»Dass ich mich verstecken kann.«
Leonie zog die Augenbraue hoch.
»Als Fotografin wirst du nicht beachtet, weil alle nur auf die Kamera schauen. Du stehst also nicht im Mittelpunkt. Außer, du willst es.«
»Und warum willst du nicht im Mittelpunkt stehen?«
Vee wusste nicht, was sie zu ihrer Antwort trieb. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie kurz zuvor den Tod ihrer Mutter erwähnt hatte. »Weil ich es furchtbar fand, als meine Mutter starb. Es gab nur noch mich und meinen Vater. Es kamen zwar ständig Leute und boten uns ihre Hilfe an, aber … ich kam mir vor wie im Zoo. Sobald ich anfing zu weinen, stürzten sie sich auf mich. Wenn ich nicht weinte, hieß es, ich stände unter Schock. Und wenn ich ihnen einen Tee brachte, hieß es, ich sei ein braves, tapferes Mädchen. Wie ich das gehasst habe.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Leonie. »Als mein Vater starb, war es für mich und meine Schwester genauso. Ein Freund unserer Eltern kam zum Internat, um uns abzuholen. Wir kannten ihn kaum; meine Eltern hatten ihn zwar oft zum Abendessen eingeladen, aber wir waren dann immer ins Bett geschickt worden. Trotzdem nahm er sich das Recht heraus, uns zu sagen, dass wir uns zusammenreißen müssten, unserer Mutter zuliebe. Wir wussten nicht einmal, wie er hieß.« Und plötzlich spielte alles, was an Leonie einschüchternd und befremdlich wirkte – ihre Stimme, ihr Gang, die derbe Ausdrucksweise, der Kuss, die Achselhaare, die grundsätzliche Ruppigkeit, die ihr anzuhaften schien –, keine Rolle mehr. Es war egal. Vee hatte nicht länger das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Denn die Frau, die mit ihr am Tisch saß, schien sie zu verstehen. Leonie seufzte. Dann lächelte sie und nahm einen Schluck, bevor sie, nun wieder mit ruppiger Stimme, sagte: »Du hast also gern die Kontrolle und machst dich gern unsichtbar. Das gefällt dir. Und du willst beides nutzen.«
»Ja.«
»Willkommen im Feminismus«, sagte Leonie. »Wir brauchen Schwestern wie dich.«
»Danke«, erwiderte Vee. Als Feministin hatte sie sich noch nie betrachtet. Bei der Arbeit war »Feministin« gleichbedeutend mit »Zicke«. Das würde Barry bestimmt übel aufstoßen. Genauso wie die Tatsache, dass sie zur Mittagszeit in einem Pub saß und gerade ihr zweites Pint Cider leerte.
Leonie grinste sie von der Seite an, als würde sie flirten, und fragte: »Was hältst du davon, wenn wir irgendwo was essen gehen, damit wir was in den Magen bekommen, und dann machst du ein Foto von mir? Das wäre doch groovy, oder?«
»Groovy«, wiederholte Vee. Sie hatte dieses Modewort schon im Fernsehen gehört, aber noch nie im echten Leben. Mit Leonie zu reden gab ihr das Gefühl, am Puls der Zeit zu sein.
Auf der Rückfahrt dachte Vee an den Abend ihrer Verlobung mit Barry zurück. Sie gingen miteinander, seit sie beide fünfzehn waren, seit vier Jahren also. Barry war ein netter Kerl, er hatte ein gutes Herz und brachte sie zum Lachen. Er hatte gemeint, die Verlobung sei der nächste logische Schritt, und sie hatte zugestimmt. Der Abend, an dem sie über Geld und ihre Pläne für die Zukunft gesprochen hatten, war nun schon fast sechs Monate her, aber sie wusste noch genau, was damals in ihr vorgegangen war. Als er angefangen hatte, seine Hand ihren Oberschenkel hochwandern zu lassen, hatte sie sie mit einem Klaps verscheucht. Sie war müde gewesen und außerdem hatte sie das Gefühl gehabt, dass er eine Belohnung von ihr wollte, weil er ihr verraten hatte, wie viel er verdiente. Als er gegangen war, hatte sie ausgerechnet, wie hoch ihr eigener Verdienst sein würde, bis sie ein Kind bekamen, und wie hoch er danach sein würde, falls sie dann Teilzeit arbeitete. Und als sie feststellte, wie weit sie unter dem lag, was Barry als Immobilienmakler bekam, die Provision noch gar nicht mit eingerechnet, hatte sie sich regelrecht dafür geschämt, von einer Karriere zu träumen. So etwas schien Frauen versperrt zu sein.
Als sie zu Hause ankam, wartete Barry bereits auf sie. Sie hatte ganz vergessen, dass sie zusammen ins Kino gehen wollten. »Hallo, Schatz«, sagte sie. Er schaute auf seine Uhr, bevor er ihr einen Kuss auf die Wange gab. Barry war immer pünktlich und zuverlässig. Das gefiel ihr an ihm; ihrem Vater auch. Und er konnte wirklich nett und lustig sein. »Meine Güte, hast du eine Fahne«, sagte er nun. »Wo warst du?«
»Um Himmels willen«, mischte ihr Vater sich ein. »Schatz, du weißt doch, dass Alkohol am Steuer keine gute Idee ist. Wenn sie dich anhalten, musst du ins Röhrchen blasen.«
»Immer mit der Ruhe« sagte Vee. »Heute Mittag habe ich ein bisschen was getrunken. Nur einen Martini Sweet und ein Pint Cider.« Dass es etwas mehr gewesen war, verschwieg sie, um des lieben Friedens willen.
»Ein Pint?«, fragte ihr Vater entgeistert. Ups – sie hatte ganz vergessen, dass Barry und Dad es unanständig fanden, wenn Frauen ein ganzes Pint tranken.
Tja. Wenn sie sich schon verplapperte, ließ sie am besten gleich die ganze Katze aus dem Sack. »Ja. Mit ein paar Lesben, denen ich unterwegs begegnet bin. Jetzt lass uns gehen, oder willst du etwa den Film verpassen?«
Zeitschrift This Month
Leonie Barratt: Briefe einer Feministin
Unser monatlicher Frontbericht vom Kampf der Geschlechter
Lieber John,
nach ihrem dreiwöchigen Streik haben die Näherinnen von Ford Dagenham ihre Arbeit wieder aufgenommen. Jetzt bist du sicher erleichtert. Du fährst zwar keinen Ford, aber vor der Marke hast du Respekt. Und vor Henry Ford erst recht. Der sprach nämlich noch eine Sprache, die andere Männer verstehen konnten.
Man könnte seine Weisheiten als selbst gestrickt bezeichnen, aber Männer stricken bekanntlich nicht. Männer schuften in Fabriken, da wird gepumpt, gehämmert, geschraubt und geschwitzt. Wenn dort überhaupt Frauen arbeiten, erledigen sie den Kleinkram. In Fabriken wie der von Mr Ford haben Männer das Sagen.
Trotzdem wurde Ford von Frauen zum Stillstand gebracht. Denk mal darüber nach, John.
Ich frage mich, was Henry Ford wohl von dem Streik in Dagenham gehalten hätte. Immerhin war er derjenige, der sagte: »Zusammenkommen ist ein Anfang, Zusammenbleiben ein Fortschritt, Zusammenarbeiten ein Erfolg.« Aber wenn die BH-tragenden Belegschaftsmitglieder weniger Lohn bekommen als diejenigen ohne BH, ist mit der Zusammenarbeit doch was faul, oder? Möglicherweise bin ich wegen meiner Brüste und Hormone etwas schwer von Begriff. Vielleicht kannst du mir die Sache ja erklären. Sobald ich es geschafft habe, deine Hemdknöpfe wieder anzunähen.
Du bist es bestimmt schon leid, in der Zeitung über den Streik zu lesen. Aber du weißt ja, wir Frauen finden einfach kein Ende. Vielleicht hältst du mich für eine Zicke oder Nervensäge und willst mir einen Beschwerdebrief schicken. Aber spar dir die Zeit lieber, denn es ist mir vollkommen egal, wie du über mich denkst.
Du willst wissen, warum ich weiterhin über den Streik schreibe? Weil er wichtig ist und etwas bewirkt hat. Ich habe den Streikposten diese Woche sogar besucht. Und weißt du, was ich dort gesehen habe? Entschlossenheit. Beharrlichkeit. Und die Gewissheit, das Richtige zu tun. Es ist schwer, das durchzuhalten, wenn man Hunger hat. Drei Wochen von Streikgeld zu leben macht in deinem Alltag als Mann vielleicht keinen großen Unterschied, John, aber glaub mir: Wenn du davon Strom und Milch bezahlen musst, merkst du im Handumdrehen, dass es kaum fürs Nötigste reicht. Und wenn deine Spardose leer ist, weil du als Frau ohnehin nur drei Viertel von dem verdienst, was deine männlichen Kollegen bekommen, ist ein Streik besonders schwer. Das verdient Respekt.
Was ich am Streikposten außerdem sehen konnte, war Unterstützung. Meine Schwestern halfen sich nicht nur gegenseitig, sie bekamen sogar Rückendeckung durch unsere Brüder, zum Beispiel den Briefträger, der kehrtmachte, weil er der Gewerkschaft angehörte. Manche Leute hatten eine lange Anfahrt in Kauf genommen, um sich mit eigenen Augen ein Bild von der Situation zu machen. Am Ende haben die streikenden Frauen keine Niederlage erlitten, sondern den Sieg davongetragen und die Arbeit wieder aufgenommen. Aber glaub bloß nicht, dass die Sache damit vorbei ist, John.
Bei dem Streik in Dagenham ging es um mehr als Autositzbezüge und Näherinnen, die sich aufplustern wollten. Der Streik war ein deutliches Signal dafür, dass die Welt allmählich aufwacht und erkennt, was richtig ist. Es wird Zeit, dass du mit ins Boot kommst, John. Es wird Zeit, dass du merkst, woher der Wind weht. Es wird Zeit, dass du als Arbeitgeber Frauen und Männern für die gleiche Arbeit das Gleiche bezahlst – oder dass du dich als Kollege auf die Seite deiner Kolleginnen stellst, wenn sie weniger verdienen als du. Mehr wollen wir gar nicht. Wir bitten niemanden um einen Gefallen. Wir verlangen das, was wir verdienen und was uns zusteht. Ich habe es dir früher schon einmal erklärt, erinnerst du dich? Der Grund, warum Frauen dir etwas abschmeicheln oder von dir erwarten, dass du sie zum Essen einlädst, ihnen ein Kleid kaufst oder sie mit anderen Aufmerksamkeiten »verwöhnst«, liegt einfach nur darin, dass sie weniger Geld haben als du. Wenn sie genauso viel hätten wie du, müssten sie das nicht mehr tun. Das leuchtet doch ein, oder?
Wenn du das nächste Mal in dein Auto steigst – auch wenn es kein Ford ist, wurden die Sitzbezüge wahrscheinlich von einer Frau genäht –, ruf dir ein weiteres Zitat von Henry Ford in Erinnerung: »Wenn Erfolg überhaupt ein Geheimnis hat, dann die Fähigkeit, andere Standpunkte einzunehmen und die Dinge nicht nur aus dem eigenen Blickwinkel zu betrachten.« Versuch es mal. Handle wie ein Mann.
Leonie
Bei den Grammy Awards vor vier Tagen trugen viele Stars weiße Rosen aus Solidarität mit der #TimesUp-Bewegung zur Bekämpfung sexueller Übergriffe in der Musikindustrie
Bist du zum Abendessen wieder hier?«, fragte Marcus, als er nach seinem Handy und seinem Schlüsselbund griff; er war auf dem Sprung zur Arbeit. Erica schaute gerade nach, ob noch genug im Kühlschrank war, damit ihre Schwiegermutter mittags etwas kochen konnte. Tom saß derweil im Kinderhochstuhl und spielte mit seinem Weetabix-Müsli. Marcus hatte es geschafft, ihm einen Kuss zu geben, ohne bekleckert zu werden; Erica gelang das nie.
»Ich denke schon«, sagte sie. »Deine Mutter kommt um zwölf. Ich muss um halb eins los.«
»Schaffst du es denn, pünktlich wieder hier zu sein?«
»Ich treffe mich mit einer siebzigjährigen Fotografin, um über ihre Ausstellung zu sprechen; das wird kein Junggesellinnenabschied«, sagte Erica etwas schärfer als beabsichtigt. Sie hatte die Uhrzeiten auf dem Wandkalender notiert, aber Marcus warf leider nie einen Blick darauf. Sie wandte sich Tom zu, um die Müslireste zu beseitigen, bevor sie eintrockneten.
»Bist du nervös?«
Seine Frage klang aufrichtig interessiert, er schien wegen ihres Tonfalls nicht sauer zu sein. Es war also nur fair, ihm gegenüber freundlich zu bleiben. (Wann war ihre Ehe eigentlich zu einem diplomatischen Verhandlungsmarathon mutiert?) »Ja. Nein. Ich weiß nicht.« Sie musste unwillkürlich über sich lachen. »Ich glaube, nervös ist nicht das richtige Wort.«
Er schaute sie weiter an, lud sie ein, noch mehr zu sagen.
»Ich habe einfach so viel in die Sache investiert«, sagte sie schließlich. Veronica Moon hatte die Öffentlichkeit jahrzehntelang gemieden und bisher sämtliche Einladungen, ihre Werke auszustellen, Gastreden zu halten, Beiträge zu schreiben oder an Partys teilzunehmen, kategorisch abgelehnt. Doch zu dem Treffen mit Erica hatte sie sich bereit erklärt. Vielleicht wollte sie endlich auspacken, was Leonie betraf. Falls sie tatsächlich vorhatte, jemandem die Wahrheit zu erzählen, dann hoffentlich Erica. Als Erica mit dem Ausstellungsprojekt begonnen hatte, war ihr Interesse zu neunzig Prozent akademischer und zu zehn Prozent persönlicher Natur gewesen. Doch inzwischen hatte sich das Verhältnis umgekehrt.
»Ich weiß«, sagte Marcus. Er legte den Arm um sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie schmiegte sich an ihn, legte den Kopf an seine Brust, lauschte seinem Herzschlag, der durch Hemd, Sakko und Mantel gedämpft wurde, den sie aber trotzdem hören konnte, wenn sie sich konzentrierte. Plötzlich waren sie wieder fünfundzwanzig, und nichts auf der Welt war so wichtig wie ihre Liebe.
Und einen Moment lang war alles wunderbar.
Dann ließ er sie wieder los, nahm seine Aktentasche und sagte: »Falls du es nicht rechtzeitig schaffst, kann ich Mum als Babysitter ablösen.«
Erica glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen.
»Du bist aber kein Babysitter«, sagte sie so laut, dass sowohl Marcus als auch Tom sie unwillkürlich anstarrten, zwei identische blaugraue Augenpaare.
»Was?«
»Du bist nicht Toms Babysitter, sondern sein Vater!«
Marcus griff nach dem Türknauf, ein klares Signal, dass er dafür keine Zeit hatte. »Ich weiß. Das war doch bloß eine Redewendung.«
Es fühlte sich allerdings nicht wie eine an. Vergangene Nacht war Erica mal wieder diejenige gewesen, die zweimal aufstand, um den schreienden Tom zu beruhigen. Marcus sagte zwar immer, dass sie ihn bloß zu wecken brauchte und dann würde er sich um den Kleinen kümmern, aber seltsamerweise war er nie wach zu kriegen. »Dass die Redewendung so klingt, als wäre ich als Einzige für unser Kind verantwortlich, ist dir aber schon klar, oder?«
Jeden Morgen beim Aufstehen nahm sie sich vor, sich Mühe zu geben. Und trotzdem kam es tagein, tagaus zu Situationen wie diesen, die sie zur Zicke mutieren ließen. Manchmal passierte es nicht schon beim Frühstück, sondern erst abends, was sich fast schon wie ein Sieg anfühlte. Wann hatte das alles eigentlich begonnen? Als Tom zur Welt kam, waren sie noch glücklich gewesen, sie hatten sich beide gefreut.
Marcus seufzte. »Vielleicht hätten wir uns doch besser dagegen entschieden, dass du diese Ausstellung organisierst. Das ist viel zu viel Arbeit und obendrein schlecht bezahlt.«
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