9,99 €
Eine Liebeserklärung ans Lesen – weil ein Buch dein Leben verändern kann: »Hoffnung auf Papier« ist ein liebevoller, kluger und herzerwärmender Roman über Menschlichkeit und das richtige Buch zur rechten Zeit. In Loveday Cardews geliebtem Antiquariat in York ist es still geworden und einsam – wie in ganz England während des Corona-Lockdowns. Und das, obwohl die Menschen doch gerade jetzt Bücher am dringendsten brauchen, um ihr Herz zu weiten und der räumlichen und geistigen Enge zu entfliehen. Da erhält Loveday den rührenden Brief eines alten Ehepaars: Rosemary und George wissen, dass ihre gemeinsame Zeit zu Ende geht, und bitten um einige Bücher, um noch einmal auf die Reise zu gehen – literarisch, auf der Bank ganz hinten in ihrem Garten am Meer. Der Brief bringt Loveday auf eine Idee, mit der sie nicht nur ihr Antiquariat retten, sondern auch ganz verschiedenen Menschen durch diese dunklen Zeiten helfen kann … Der anrührende Roman der britischen Autorin Stephanie Butland ist kein Pandemie-Roman im eigentlichen Sinn: Vielmehr nutzt der Roman die Pandemie als Ausnahmesituation, die uns anhand ganz verschiedener, einfühlsam geschilderter Schicksale zeigt, worauf es im Leben wirklich ankommt. »Hoffnung auf Papier« ist die lose Fortsetzung von Stephanie Butlands wunderschönem Roman »Ich treffe dich zwischen den Zeilen«, der Lovedays Geschichte erzählt. Entdecke auch die anderen Romane von Stephanie Butland: - Ich treffe dich zwischen den Zeilen - Fünfzehn Arten eines Wunders - Die Frau auf dem Foto
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 489
Veröffentlichungsjahr: 2023
Stephanie Butland
Roman
Aus dem Englischen von Maria Hochsieder
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
In Lovedays geliebtem Antiquariat in York ist es still geworden und einsam – wie in ganz England während des Lockdowns. Und das, obwohl die Menschen doch gerade jetzt Bücher am dringendsten brauchen, um ihr Herz zu weiten und der räumlichen und geistigen Enge zu entfliehen. Da erhält Loveday den rührenden Brief eines alten Ehepaars: Rosemary und George wissen, dass ihre gemeinsame Zeit zu Ende geht, und bitten um einige Bücher, um noch einmal auf die Reise zu gehen – literarisch, auf der Bank ganz hinten in ihrem Garten am Meer. Der Brief bringt Loveday auf eine Idee, mit der sie nicht nur ihr Antiquariat retten, sondern auch ganz verschiedenen Menschen durch diese dunklen Zeiten helfen kann …
Widmung
Vorher
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
77. Kapitel
78. Kapitel
79. Kapitel
80. Kapitel
81. Kapitel
82. Kapitel
83. Kapitel
84. Kapitel
85. Kapitel
86. Kapitel
87. Kapitel
88. Kapitel
89. Kapitel
90. Kapitel
91. Kapitel
92. Kapitel
93. Kapitel
94. Kapitel
95. Kapitel
96. Kapitel
97. Kapitel
Die Bücher
Danksagung
Für Eli
Darf ich vorstellen, der beste Buchladen der Welt«, sagt Kelly, obwohl sie sich nicht ganz sicher ist, ob man jemandem einen Laden überhaupt vorstellen kann, noch dazu, wenn er geschlossen hat.
Craig umarmt sie und legt seinen Kopf auf ihre Schulter. »Hallo, Buchladen.«
Es ist zehn Uhr abends an einem Donnerstag im Dezember, und Kelly und Craig sind in einem Zustand zwischen Beschwipstheit und Übermut. Kelly weiß nicht genau, ob es an dem heißen Cider liegt oder daran, dass sie beim Abendessen das erste Mal »Ich liebe dich« zueinander gesagt haben. Überall in York finden vorweihnachtliche Feiern statt, doch in der kopfsteingepflasterten Straße, in der die Buchhandlung Lost For Words liegt, herrscht Ruhe.
Kelly liebt ihre Arbeit im Buchladen. Dort kann sie ganz sie selbst sein, dort ist sie in ihrem Element, dort trifft sie Menschen, denen Bücher genauso wichtig sind wie ihr.
Craig fängt an, sie vor und zurück zu wiegen, und Kelly dreht sich in seinen Armen zu ihm um und legt die Hände auf seine Schulter. Sie wiegen sich immer noch, es ist kein Tanz, doch es ist Harmonie. Craig neigt im Allgemeinen nicht zu öffentlichen Liebesbekundungen – dazu sei er zu alt, behauptet er, obwohl er gerade mal siebenunddreißig ist –, und so lehnt sich Kelly ihm entgegen und genießt es. Genau das bedeutet es, ein Paar zu sein. Genau das bedeutet es, geliebt zu werden. Und zu lieben.
Am Ende der Straße zieht eine betrunkene Horde vorbei. Craig löst sich von ihr. »Zu dir?«, fragt er, und sie nickt. Vielleicht bleibt er ja heute Nacht.
Für einen Bücherfreund ist eine Buchhandlung nicht etwa ein Ort innerhalb der Welt, sondern eine Welt für sich.
Du kennst das.
Du weißt, wie es ist, wenn du die Tür aufziehst und die Glocke über dir leise und fordernd erklingt.
Du kennst den Geruch nach Buchseiten, der in der Luft liegt wie Rauch; du kennst das Gefühl, nach Hause zu kommen, egal, ob du jemals ein Zuhause hattest oder nicht.
Du weißt, dass irgendwo an diesem Ort ein Buch existiert, das dir geben kann, wonach du dich sehnst.
Du weißt, Bücher bedeuten Sicherheit und Flucht, Weisheit und Frieden und die Unterstützung, um weiterzumachen. Egal, ob sie dir erklären, wie man eine Pilzsuppe kocht, oder ob sie dir das Herz mit dem Kummer eines anderen brechen, sodass du deinen eigenen besser ertragen kannst; ob sie dich zum Lachen bringen, wenn es in deinem Leben keinerlei Heiterkeit gibt, oder dir Angst einjagen, sodass das echte Leben weniger beängstigend erscheint.
Du verstehst.
Und damit verstehst du auch und kannst dir vorstellen, wie seltsam ein leerer Buchladen ist. Plötzlich leben wir in einer Welt, in der ein Buch nicht mehr von einer Hand in die andere wandert und jemand sagt: Ich denke, das hier könnte genau das Richtige für Sie sein. Eine Welt, in der Buchhändler – sogar jene, die Bücher den Menschen vorziehen – sich danach sehnen, dass jemand hereinkommt und ihre perfekt nach dem Alphabet geordneten Regale durcheinanderbringt.
Und in der selbst die am innigsten geliebten Buchläden anfangen, um ihre Existenz zu kämpfen. Es ist nutzlos, antiquarische Schätze aller Art zu horten, Bücher, die geliebt und weitergegeben wurden, wenn es niemanden gibt, der die Tür aufmacht, tief einatmet und dem Buchladen eine Frage stellt.
Meine Mutter möchte etwas aus der Schulzeit wiederlesen, doch sie erinnert sich nicht an den Titel.
Ich habe gerade mein Examen geschrieben und möchte ein Buch lesen, das nicht das Geringste mit Krieg oder Geschichte zu tun hat.
Ich kann nicht schlafen. Also lese ich. Wo sind die Bücher, die mir das Gefühl geben, von Freunden umgeben zu sein, statt mich wie der einzig wache Mensch in der dunklen weiten Welt zu fühlen?
Diese stillen Fragen lassen sich ganz leicht stellen, wenn du in einem Buchladen bist. Du kannst ganz einfach zwischen den Regalen hindurchwandern, an Buchrücken entlangfahren und in Seiten blättern und fragen: Bist du das Buch, das ich brauche?
Manchmal ist es ganz unkompliziert, mit dem Buchhändler zu reden, zu sagen, ich suche etwas Leichtes oder ich hätte gern eine Empfehlung. Und der Buchhändler wird zwischen den Zeilen heraushören, dass du die endlosen Nachmittage nicht erträgst oder nicht mehr weißt, worum es in deinem Leben geht.
Allerdings nicht, wenn die Tür zur Buchhandlung geschlossen ist.
Nicht, wenn du am Telefon zu erklären versuchst, was du brauchst, während du dir eigentlich wünschst, dass dich der Buchladen einlädt und dir zu verstehen gibt, dass es in Ordnung ist, herumzuwandern, Bücher zu betasten und zu sinnieren.
Nicht, wenn du nicht weißt, was du brauchst, noch dazu, wenn die Sehnsucht nach einem neuen Buch trivial und maßlos wirken mag: wenn es dir unangemessen erscheint, dass deine einzige Sorge die ist, was du lesen sollst.
Nicht, solange der ganzen Welt die Worte zu fehlen scheinen.
Rosemary, 2020, Whitby
Rosemary hat Schmerzen in den Fingergelenken, doch es erscheint ihr unmöglich, den Griff am Riemen der Handtasche zu lockern. Der heutige Tag brachte das Gefühl eines sich anbahnenden Unheils mit sich, das sie fortzuschwemmen droht, eine riesige, unsichtbare Woge, die das Haus in Trümmer legt, die Pflanzen aus der Erde reißt und sie beide und alles, was ihr langes gemeinsames Leben ausmacht, in die kalte Nordsee spült.
Fest kneift sie die Augen zusammen.
Sie braucht nur eine Minute. Nur eine.
Es ist nichts geschehen, sagt sie sich. Der Arzt hat George eine Menge Fragen gestellt, und eine Sprechstundenhilfe hat ihm Blut abgenommen. Mehr nicht. Nichts, worüber man sich Gedanken machen müsste.
Unbeholfen fuhrwerkt George mit dem Hausschlüssel herum. Rosemary bemerkt, wie er die Schultern in dem Moment sinken lässt, als der Schlüssel endlich ins Schloss findet. Sie kennt die Bedeutung der herabsinkenden Schultern. Immerhin hat sie all die Jahre seit ihrer ersten Begegnung im Jahr 1964 an seiner Seite verbracht. Nachdem sie 2005 in den Ruhestand gegangen waren, waren sie kaum je getrennt gewesen, und mit Beginn der Pandemie gar nicht mehr. Die herabfallende Schulter bedeutet, dass ihr Mann etwas bewältigt hat, was er für beinahe unmöglich gehalten hatte. Sie weiß noch, wie er die gleiche Bewegung gemacht hat, nachdem sie den Gipfel des Scafell Pike erreicht hatten, im Regen, kurz nach ihrer Verlobung. Oder als das Schulorchester beim Weihnachtskonzert ohne Pannen und einigermaßen im Takt durch den Marsch aus Tschaikowskys Nussknacker kam. Oder in dem Jahr, als sie feststellten, dass sie den Knöterich im Garten ihres geliebten Cottages in Whitby, von dem aus man Sicht auf das Meer hat, endlich losgeworden waren.
Nun aber ist George derart erschöpft, dass er es kaum schafft, die Haustür aufzusperren.
»Tee im Garten, Liebes?«, fragt er, als sie im Haus sind.
»Ich mache das. Geh du schon voraus. Vielleicht kannst du unterwegs einen Blick auf die Löwenmäulchen werfen.«
»Wird gemacht!« George lächelt seine Frau auf dieselbe Art an wie eh und je, und einen Augenblick lang denkt Rosemary, dass vielleicht doch alles gut wird. Viele Menschen verlieren Gewicht. Alle alten Männer stehen nachts auf, um auf die Toilette zu gehen, oder nicht?
Das Wasser kocht, und Rosemary holt die alte braune Teekanne vom Regal über dem Wasserkocher. Doch dann stellt sie sie zurück und geht stattdessen zu dem Schrank, in dem sie das Geschirr und die Gläser für besondere Anlässe aufbewahren. Sie nimmt die feine Porzellankanne mit der wunderschönen zarten Zeichnung einer Gartenwicke heraus. Sie haben sie 2009 auf einem Kunsthandwerkermarkt auf dem Gelände der Abtei von Whitby entdeckt und sich zum vierzigsten Hochzeitstag geschenkt. Normalerweise benützen sie sie an Weihnachten oder an Geburtstagen. Doch sie sollten sie häufiger verwenden. Es heißt so oft, das Leben sei kurz, und tief im Innern ist Rosemary klar, dass sie die langsam fortschreitenden Veränderungen bei George nicht länger ignorieren oder als dieselbe Art gewöhnlicher Altersmüdigkeit abtun dürfen, die Rosemary alle fünf Minuten ihre Lesebrille vergessen lässt. Deswegen waren sie beim Arzt.
Durchs Fenster sieht Rosemary George auf seinem Weg durch den Garten zu. Immer wieder bleibt er stehen, um die Pflanzen und Beete zu betrachten. Er wirkt langsam, aber genau genommen ist sie es auch. Im Herbst sind sie beide achtundsiebzig, sie hat im Mai Geburtstag und er im August.
Rosemary schenkt den Tee aus der Kanne in die Thermosflasche und stellt die Blechtassen und das Milchkännchen mit Schraubverschluss in den Korb, der einfacher zu tragen ist als ein Tablett. Bis sie bei ihm ist, wird George nicht nur die Löwenmäulchen auf Blattrost inspiziert, sondern noch andere notwendige Arbeiten ausgemacht haben: hier etwas zum Zurückschneiden, ein wenig Wasser da, eine Stelle, an der sie alte Teeblätter auslegen sollten, um die Nacktschnecken von den zarten Trieben fernzuhalten.
Sie täuscht sich nicht. Als sie sich neben ihn auf die alte warme Holzbank setzt, sagt er: »Ich muss das Geißblatt zurückschneiden, sonst kommt der Jasmin niemals durch.« So als wäre dieser sonnige Nachmittag im Spätfrühling ein Tag wie jeder andere seit ihrer Rente.
Rosemary schenkt Tee ein und reicht ihm seine Tasse. Dabei bemerkt sie, wie kalt seine Finger sind.
»Ich habe die Decke vergessen, ich dumme Gans«, sagt sie.
»Das macht nichts«, antwortet George. Und dann, so als kommentiere er einen Zeitungsartikel, sagt er: »Da haben wir uns die ganze Zeit vor Corona geschützt und dabei das Wesentliche übersehen.«
Rosemary möchte einwenden, dass noch nichts sicher ist – der Arzt meinte nur, dass ein paar Untersuchungen nötig seien und er George möglicherweise ins Krankenhaus überweisen wolle, je nachdem. Doch sie bringt kein Wort heraus. George hat recht. Sie hatten sich darum gesorgt, ob die Lebensmittellieferung alles Nötige enthielt, weil sie nicht mehr zum Einkaufen gegangen waren und weit und breit kein Nachbar war, den man um Hilfe bitten konnte. Heutzutage sind alle anderen Häuser in dieser kleinen Straße Ferienhäuser, sämtliche ehemalige Nachbarn haben schon vor Jahren verkauft und sind weggezogen, und dieses Jahr war es so still ohne die Woche um Woche anreisenden Urlauber. Die einzigen Orte, an die George und Rosemary sich wagen, sind die Arztpraxis und die Apotheke, in der Rosemary darauf achtet, dass der junge Mann seine Hände desinfiziert, bevor er ihr die Tüte mit den verschreibungspflichtigen Medikamenten über den Tresen reicht.
Sie blickt aufs Meer.
Vor mehr als fünf Jahrzehnten hielt George bei einem Spaziergang an der Promenade von Whitby um ihre Hand an. Hier zu sitzen und zuzusehen, wie der Wind über ebenjenes Meer streicht, hilft Rosemary, darauf zu vertrauen, dass sie trotz der Mühen des Älterwerdens und all der Zipperlein an diesen Ort gehören, der ihnen so viel bedeutet. So oft haben sie gesagt, dass sie sich kaum etwas Schöneres vorstellen können, als hier zu sitzen. Sie holt tief Luft. Na los, Rosemary. Jetzt sei nicht wehleidig. Es gibt keinerlei Grund, dich selbst zu bemitleiden. Du hast schon jetzt mehr gehabt, als viele andere jemals bekommen.
Die Wolken ziehen nur langsam, die Sonne scheint beständig und der Wind weht schwach. Es ist kaum zu glauben, dass die Welt in einer Krise steckt und dass sie beide, George und Rosemary, die seit 1969 verheiratet sind und einander alles bedeuten, womöglich dem Ende zugehen.
Hier auf dieser Bank, die von Beginn an im Garten stand, ist ihr Leben noch genauso, wie es die dreiunddreißig Jahre seit dem Kauf des alten Cottages mit dem lang gezogenen Gartengrundstück war. Im Laufe der Jahrzehnte renovierten sie ihr Zuhause, reparierten und verschönerten es, hielten es instand. Doch nun verfällt es langsam, genau wie sie selbst. Nachts stößt der Wind das hintere Fenster auf, und die Heizkörper klappern und scheppern erbärmlich. In den vergangenen zwei Jahren haben sie sich nicht mehr um das Gewächshaus gekümmert, sondern Tomaten und Salat auf dem Markt gekauft – so etwas wäre in ihren Anfangsjahren undenkbar gewesen. Damals hatten sie die Erde für die Kartoffeln umgegraben, noch bevor sie ihr Bett bezogen.
Doch wenn sie auf der Bank sitzen und aufs Wasser schauen, kehren sie dem überwucherten Garten und der abgeblätterten Farbe an der Terrassentür den Rücken zu. Hier konnten sie die Sorgen nicht einholen, noch nicht einmal in den schwierigeren Zeiten. Auf dieser alten Bank konnten sie zur Ruhe kommen, zufrieden sein und Frieden schließen.
»Du wirst das schaffen, meine Liebe«, sagt George.
»Was meinst du?«
Er nimmt ihre Hand, blickt aber hinaus aufs Meer. »Wenn ich nicht mehr da bin. Du schaffst das.«
Ein lautes Schluchzen entfährt ihr, das sie beide überrascht. Rosemary hat noch nie zum Weinen geneigt.
»Nein, tu ich nicht«, sagt sie und weiß, dass sie wie eines der zahllosen trotzigen Kinder klingt, die sie in ihrer langen Lehrerlaufbahn erlebt haben.
George erwidert nichts, doch er drückt ihre Finger.
»Außerdem kommst du schon wieder in Ordnung.«
Er nickt, und sie spürt Erleichterung. Dann allerdings sagt er leise: »Aber nicht für immer.«
Schlafenszeit. George liest in einem Geschichtsbuch, das er vor dem Lockdown in der Bücherei ausgeliehen hat. Dem Buch haftet der Pfeifenrauch eines Fremden an. Vor dem Einschlafen verkraftet Rosemary keine Sachbücher, deswegen liest sie einen Agatha-Christie-Krimi. Sicher hat sie ihn schon einmal gelesen, aber das kümmert sie nicht. Sie muss nur drei Seiten lesen, dann schläft sie ein. Meistens jedenfalls.
»Ich habe nachgedacht«, sagt George nach ein paar Minuten und klappt sein Buch zu.
»Pass bloß auf, dass du dir nicht wehtust«, antwortet Rosemary. Es ist ein alter Witz. Er lächelt.
»Die ganzen Bücher, die wir damals weggegeben haben. Als wir uns für alt hielten.«
Rosemary lacht. »Ja.« Das war vor acht Jahren gewesen, sie waren gerade siebzig geworden. Sie hatten beschlossen, ihre kleine, geliebte Bibliothek der Schule zu stiften, an der Rosemary ihr Berufsleben begonnen hatte und an der George später Fachbereichsleiter für Mathematik geworden war. Sie wollten sichergehen, dass sich auch nach ihrem Tod noch jemand um ihre sorgsam gehegten Bücher kümmern würde. Außerdem haben die Schulen heutzutage nicht mehr viel Geld für Bücher.
»Weißt du noch, wie wir einander vorgelesen haben?«
Mit den Kissen im Rücken sitzt Rosemary da und regt sich nicht. Plötzlich wird ihr ganzer Körper von Wärme durchflutet. Früher haben sie nie mehr als ein Buch auf einmal gekauft und sich dann gegenseitig laut vorgelesen, um die Freude am Geschriebenen beim ersten Mal gemeinsam zu erleben. Sie weiß nicht mehr genau, wann sie damit aufhörten. Vermutlich, als sie zu viel anderes zu tun hatten. Oder als der Besitz eines Buchs kein solcher Luxus mehr war.
»Ja, ich erinnere mich«, sagt sie.
Sie denkt an das Antiquariat, das sie jedes Mal aufsuchten, wenn sie einen Tagesausflug nach York machten, und fragt sich, ob es noch existiert.
George, 1964
Der erste Schultag scheint für einen Lehrer nicht weniger schrecklich zu sein als für einen Schüler. George ist gut vorbereitet auf den Unterricht. Den Sommer über hat er seine Aufzeichnungen aus dem Studium durchgearbeitet, Unterrichtspläne entworfen und versucht, sich nicht in den Wahnsinn zu treiben mit der Frage, ob er mit zweiundzwanzig tatsächlich ein Lehrer sein kann. Er hat keine Ahnung, woher er die Autorität nehmen soll, Menschen zu unterrichten, die kaum jünger sind als er selbst. Er sagt sich, dass er dazu fähig ist: Wenn es darauf ankommt, dann klappt es, so wie es während des Schulpraktikums auch geklappt hat. Doch als er im Herbst 1964 auf die funkelnagelneue Mittelschule in Harrogate zugeht, fühlt er sich wie ein kleiner nervöser Junge. Und es wird nicht besser, als er das Lehrerzimmer voller Zigarettenrauch und dem dröhnenden Geplauder von Leuten, die sich bereits kennen, betritt.
Er stellt die Tasche neben einem Stuhl ab, der nicht besetzt zu sein scheint, und hofft, dass ihn niemand bemerkt. Er ist sich nicht sicher, ob ihm seine Stimme gehorchen wird, falls er zu reden versucht. Kein guter Start in den Lehrerberuf.
Und dann kommt Rosemary herein.
George ist derart nervös – bis zum ersten Läuten bleibt ihm nur mehr eine Viertelstunde –, dass er beinahe verpasst, dass er sich augenblicklich und unsterblich in sie verliebt.
Sie hat etwas an sich. Nie zuvor ist er einem Menschen begegnet, der so sehr er selbst ist. In diesem ersten Augenblick, während sie sich noch im Raum umsieht und er Kaffeepulver in eine Tasse schaufelt, scheint er sie ganz und gar zu erkennen. Ihre Güte, ihre Ernsthaftigkeit und dass sie ihn verstehen wird. George ist Mathematiker, in solchen Kategorien denkt er eigentlich nicht. Und doch. Er lächelt und winkt. Alle anderen sind viel zu sehr damit beschäftigt, sich mit den alten Kollegen auszutauschen, um die neuen überhaupt zu bemerken. Rosemary sieht George winken, und als wäre es das Signal, auf das sie gewartet hat, kommt sie durch den Raum auf ihn zu.
»George Athey.« Er streckt ihr die Hand hin. »Neueinsteiger.«
»Rosemary Bell«, erwidert sie und schüttelt ihm die Hand. »Ich auch.«
Bevor sie noch irgendetwas sagen können, werden sie von ihren jeweiligen Fachbereichsleitern abgeholt und zu ihren Klassenzimmern gebracht.
Es ist keine bewusste Entscheidung, jeden Mittag zusammenzusitzen, doch es fügt sich so. Anfangs ist George still, weil er nicht in der Lage ist, Small Talk zu führen, während er davon überwältigt wird, wie stimmig sich Rosemarys Anwesenheit für ihn anfühlt. Also fragt er sie, wie der Vormittag war, und lauscht ihrer Begeisterung darüber, endlich eine richtige Lehrerin zu sein, in einem echten Klassenzimmer und mit echten Schülern.
Die Stühle in der Nähe der Tür werden ihr Stammplatz im Lehrerzimmer, so als hätten sie sie gezielt ausgesucht und als säßen die anderen Lehrer nicht absichtlich weiter weg, um nicht auf das Klopfen der Schüler reagieren zu müssen, die mit Nachrichten, Geschichten oder Berichten über irgendwelche Missetaten ankommen. Aber George und Rosemary sind dort ganz zufrieden. Meistens hat George ein Sandwich dabei, manchmal auch einen Apfel. Schon bald fängt Rosemary an, ein zweites Kuchenstück für die Mittagspause einzupacken. Nach dem Essen streicht sie das Butterbrotpapier sorgfältig glatt und faltet es zusammen, um es wiederzuverwenden. Er ist davon überzeugt, dass sie das immer tun wird – und tatsächlich bewahrheitet sich das in ihrem gemeinsamen Leben.
Kelly
Kellys Spaziergang zur Arbeit ist wunderschön, ein perfekter Arbeitsweg. Sie läuft an der Ouse entlang, über die Lendal Bridge und von dort in die Altstadt von York.
Mittlerweile ist es der schönste Teil des Tages.
Ihr fällt auf, dass sie der Gedanke an den Buchladen nicht mehr mit Begeisterung erfüllt, seit er kein geschäftiger, lebendiger Ort mehr ist, an dem die Zeit wie im Flug vergeht. Um ihren Bachelor zu finanzieren, arbeitete Kelly in einem Pub und später, bis zum Master, als Pflegerin. Der Job im Buchladen Lost For Words sollte sie durch ihren Doktor bringen, wurde aber sehr bald zu dem Ort, an den sie sich vor der Doktorarbeit flüchtete. Es ist fast vier Jahre her, dass sie hier anfing, und bis die Pandemie zuschlug, war sie nie glücklicher mit einer Arbeit gewesen.
Jetzt aber fühlt es sich nicht mehr so gut an. Die Einnahmen – von den Bestellungen über das Internet oder per Telefon und den gelegentlichen Passanten, die an der improvisierten Verkaufstheke stehen bleiben, nicht mehr als ein Tisch, den sie in den Eingang zur Buchhandlung gestellt haben – decken mittlerweile noch nicht einmal Kellys Teilzeitlohn. Ihre Chefin Loveday kann sich unmöglich ein Gehalt ausbezahlen, weiß der Himmel, wie sie die übrigen Geschäftskosten begleicht. Kelly weiß, dass Loveday das Antiquariat und ihr Wohnhaus vom ehemaligen Besitzer der Buchhandlung geerbt hat, aber daraus folgt nicht automatisch, dass sie die Betriebskosten für immer und ewig sponsern kann. Geschweige denn will.
Und so denkt Kelly inzwischen jeden Tag während ihres wunderschönen Spaziergangs zur Arbeit darüber nach, ob heute der Tag ist, an dem Loveday ihr kündigen wird. Dann wäre sie völlig allein in ihrer kleinen Wohnung – beim Abbezahlen des Darlehens unterstützt ihr Vater sie immer noch, obwohl sie schon dreißig ist. Tagein, tagaus wird sie dann von früh bis spät allein sein mit ihrer ins Stocken geratenen Doktorarbeit über Schriftstellerfrauen, Schriftstellermütter, Schriftstellerschwestern und Schriftstellergeliebte, die im Schatten der gefeierten Männer, für die sie ihr eigenes Talent geopfert haben, vergessen wurden. Vermutlich sollte Kelly versuchen, sich glücklich zu schätzen, solange sie selbst und ihr Vater gesund bleiben. Immerhin hat sie den lustigen, süßen und liebevollen Craig, auch wenn sie ihn in den zwei langen Monaten seit Beginn des Lockdowns nicht mehr gesehen hat.
Als Kelly zur Brücke kommt, beugt sie sich über das kalte metallene Geländer und blickt auf die Strömung. In York herrscht eine solche Stille, dass sie das fließende Nass hören kann, von dem ihr die Fußsohlen prickeln vor lauter Sehnsucht, in Whitby im Meer zu waten.
In der Tasche vibriert das Handy. Bestimmt ist es Craig, der sich wie jeden Morgen nach ihr erkundigt. Die Pandemie hat auch der Beziehung zu Craig die Freude geraubt, auch wenn es ihr falsch erscheint, sich angesichts der Lage in der Welt zu beklagen. Sie haben sich im vergangenen Oktober über eine Dating-App kennengelernt und sich seither mehrmals die Woche gesehen. Von Anfang an war Craig lustig und fürsorglich und hatte nicht das Geringste dagegen, dass Kelly die Sache langsam angehen wollte – noch nicht einmal, als sie ihm erklärte, dass sie über Weihnachten und Neujahr für zwei Wochen zu ihrem Vater nach Whitby fahren würde. Trotz ihrer Zurückhaltung hat Craig ihr Herz erobert. Sie weiß nicht mehr, wann sie anfing, ihn zu lieben, obwohl sie oft an den Abend denkt, an dem sie es ihm erstmals sagte. Als er ihr an Silvester um Mitternacht eine Nachricht schickte mit den Worten: Frohes neues Jahr. Du sollst in jedem Augenblick des neuen Jahrs wissen, dass ich dich liebe, spürte sie, dass alles seine Richtigkeit hatte. Ihre Anspannung löste sich. Sie wusste, er war der Richtige.
Als sich der Lockdown anbahnte, sprachen sie darüber, ob sie zusammenziehen sollten. Es hatte lange gedauert, bis Kelly sich daran gewöhnt hatte, allein zu leben, und es gefiel ihr nicht wirklich, obwohl es ihr die Freiheit ließ, ein ganzes Wochenende ungestört zu lesen oder nach einem auf dem Bett zugebrachten Arbeitstag an der Dissertation auf dem Sofa zu schlafen, weil sich auf der Bettdecke sorgfältig sortierte Forschungsunterlagen stapelten, die sie nicht wegräumen wollte. Sie schlug Craig vor, es mit dem Zusammenleben zu versuchen, auch wenn es bedeutete, dass sie schneller Fakten schufen, als sie es ohne Pandemie getan hätten. Craig sagte, er sähe es genauso, doch gerade als Kelly im Kleiderschrank Platz für ihn geschaffen hatte, überlegte er es sich anders. Nicht, weil er sie nicht liebe, sagte er mit erstickter Stimme am Telefon, sondern weil er Sorge habe, etwas Gutes kaputt zu machen. Kelly bedeute ihm zu viel, als dass er das Risiko eingehen wolle. Natürlich konnte sie ihm nicht böse sein, insbesondere da sie wusste, dass eine frühere Beziehung von Craig daran gescheitert war, dass sie nach einer ungeplanten Schwangerschaft überstürzt angegangen worden war.
Guten Morgen, lautet die WhatsApp-Nachricht, gefolgt von einem Herzen.
Sie schickt ein Herz zurück und fügt hinzu: Telefonieren?
Craig:
Gib mir 5 Min. Morgendliches Meeting ist gleich zu Ende.
Kelly lehnt sich ans Brückengeländer, legt den Kopf in den Nacken und blickt in den maiblauen Himmel. Der Fluss wirkt noch gegenwärtiger, wenn sie ihm nur lauscht. Jetzt, wo die Buchhandlung Lost For Words nicht geöffnet hat, kümmert es Loveday noch weniger, ob Kelly pünktlich erscheint. Beim Vorstellungsgespräch hatte sie erklärt, dass sie keinerlei Absicht habe, sich in Kellys Organisation des Ladens einzumischen, und obwohl es damals beinahe wie eine Drohung oder Warnung geklungen hatte, bedeutete es für Kelly das reinste Glück. Selbst wenn sie hier eine halbe Stunde stehen bliebe und mit Craig telefonierte, hätte Loveday ziemlich sicher nichts dagegen.
»Hallo«, sagt sie, als er fünf Minuten später zurückruft. Man kann sich immer auf ihn verlassen.
»Hey. Ist alles in Ordnung?«
Sie kann seine Schritte auf einem Gehsteig hören. Es ist so lange her, dass er die Treppen zu ihrer Wohnung hinaufrannte, sie auf die Nase küsste und ihren Po umfasste. »Wo bist du?«
»Ich bin nur kurz zum Einkaufen raus. Ich habe den ganzen Tag Video-Calls und fast keinen Kaffee mehr im Haus. Gefahr im Verzug.«
Mit einem Klingeln trifft ein Foto auf ihrem Handy ein: ein Zettel, auf dem »Kaffee, Birnen, Zeitung« steht, und unten in der Ecke Craigs klobiger Daumen mit dem sauberen, gerade gestutzten Fingernagel. Kelly möchte ihn küssen.
»Du hast für drei Sachen eine Einkaufsliste geschrieben?«
»Ja, ich weiß.« Sie liebt sein Lachen am Satzende. Im Grunde genommen liebt sie so ziemlich alles an ihm. »Also, was ist los?«
»Ich weiß nicht«, antwortet sie, und plötzlich sind ihr der Fluss, der Himmel und die Stille völlig gleichgültig. »Es ist nur … Ich bin auf dem Weg in die Arbeit, und ich wünschte einfach, ich wüsste, wie es weitergeht.«
Sie hört eine Fußgängerampel piepen, dann sagt Craig: »Warum fragst du nicht einfach? Deine Chefin mit dem lustigen Namen – frag sie doch, wie die Dinge stehen.«
»Sie würde es mir schon sagen, wenn sie es wüsste. Keiner weiß, wie es weitergeht.«
»Du bittest sie doch nicht um eine Prognose, wie die globale Pandemie sich entwickelt, Schatz. Du willst doch bloß wissen, ob du deinen Job behältst.«
Oh, dieses Wort – »Schatz«. Am liebsten würde sie es in die Tasche stecken. Sie kann sich kaum mehr erinnern, wie das Leben vor Craig war.
»Ich weiß. Aber ich will sie nicht noch mehr unter Druck setzen. Verstehst du? Sie hat so viel um die Ohren. Ich will sie nicht nerven.«
»Aber du machst dir Sorgen. Das ist auch wichtig.«
»Ich weiß.«
»Du klingst nicht überzeugt.«
Kelly lacht. »Bin ich auch nicht.«
»Wenn du weißt, was du willst, dann kannst du danach fragen.«
»Ich will wissen, ob mein Job sicher ist. Ich will meinen Dad besuchen. Und ich will, dass du vorbeikommst und Essen mitbringst und über Nacht bei mir bleibst«, sagt sie.
Jenny
Bei der Ankunft im Frauenhaus ist den Gesichtern der Frauen stets dasselbe abzulesen: teils ungläubige Freude und teils ungläubiger Schrecken darüber, gerade noch davongekommen zu sein. Jenny ist da keine Ausnahme. Sie drückt ihr Kind an sich, einen Dreijährigen namens Milo. Wie die meisten Kinder ist er noch scheu. Es ist erst wenige Stunden her, dass sie an einem Ort angekommen sind, von dem sie noch nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob sie hier außer Gefahr sind.
Carmen, eine Ehrenamtliche, führt Jenny herum. Die Verwaltung hat den Papierkram erledigt und ihr ein Zimmer zugewiesen. Es ist das Zimmer, in dem Carmen unterkam, nachdem sie vor knapp fünf Jahren aus ihrer Ehe floh, und sie erinnert sich an das Gefühl in der ersten Nacht, als sie im Bett lag und vorsichtig den Gedanken zuließ, möglicherweise in Sicherheit zu sein. Das Zimmer im dritten Stock ist weiß getüncht und hat schwere graue Samtvorhänge, die ein Hotel gestiftet hat und von Freiwilligen angepasst wurden. Sie dämpfen die nächtlichen Geräusche, von denen manche Frauen aufschrecken. An der Wand hängt ein Blumenbild, auf dem Bett liegen gelbe Kissen, und auch das Bettzeug im Kinderbett ist leuchtend gelb. Carmen hat das Begrüßungspaket hergerichtet, während Jenny mit den Angestellten sprach und eine andere Ehrenamtliche sich in Jennys Sichtweite mit Milo beschäftigte.
Aus dem begehbaren Schrank mit den Spenden hat Carmen die üblichen Dinge zusammengesucht: ein eingeschweißter Dreierpack Unterhosen, eine Tafel Schokolade, Zahnbürsten und Zahnpasta, eine große Flasche Duschgel und eine mit Shampoo. Hotels spenden oft Toilettenartikel in Minigrößen, aber Carmen hält es für besser, große Flaschen auszugeben. Die Frauen, die hierherkommen, sollen nicht denken, dass sie nur so lange in Sicherheit sind, wie die Fläschchen mit zwei Portionen Duschgel vorhalten. Danach hat sie saubere Handtücher und Schlafanzüge aus den Schubladen geholt. Sie sind nicht neu, aber sie sind ein Anfang, und sobald Jenny sich ein wenig eingelebt hat, wird ihr eine andere Freiwillige dabei helfen, Kleider in der Kleiderkammer auszusuchen. Carmen würde das auch gern mal machen, aber dafür muss sie erst eine Schulung absolvieren. Viele der Frauen, die aus gewalttätigen Beziehungen zu ihnen flüchten, haben das Bewusstsein dafür verloren, wer sie eigentlich sind, oder sie durften ihre Kleidung nicht selbst wählen. Sie wissen nicht, wie sie aussehen wollen, und um ihnen zu helfen, braucht es Behutsamkeit und Sachverstand. Für Milo hat Carmen ein Malbuch und Buntstifte bereitgelegt. Jenny wird im Lager mit den Kindersachen heraussuchen können, was er benötigt, doch die meisten Mütter bringen die Sachen mit, die ihre Kinder zum Wohlfühlen brauchen, auch wenn sie für sich selbst nichts dabeihaben.
Absichtlich legt Carmen alles ins Zimmer, während Jenny noch im Büro ist. Je seltener es in der Eingewöhnungsphase unerwartet an der Tür klopft, desto besser. Danach geht sie zu Jenny und führt sie herum.
»Hier werden Sie so lange wie nötig ein Zuhause haben«, sagt sie, und Jenny nickt. Carmen achtet darauf, ihr mit einem völlig neutralen Gesichtsausdruck zu begegnen, wie man es ihr beigebracht hat, und vermeidet, dass ihr Blick zu den Hämatomen an Schlüsselbein und Hals und den sterilen Wundpflastern an Jennys blutunterlaufener, geschwollener Wange wandert. Stattdessen sieht sie ihr immer wieder in die Augen und spricht in einem ruhigen Ton. Schon eine zugeschlagene Tür kann bei den Frauen, die hierherkommen, Panik auslösen, und manchmal genügt die Panik, um sie wieder nach Hause zu scheuchen, so schrecklich dieses Zuhause auch sein mag. Im Zustand der Angst kann einem Vertrautheit wichtiger vorkommen als Sicherheit.
Carmen führt Jenny von Zimmer zu Zimmer. Jeder Schritt scheint ihr unermessliche Mühe abzuverlangen. Jenny trägt Milo, der mittlerweile eingeschlafen ist, und es wirkt, als sei er ein kleiner Leopard und seine Mutter ein Baum. Seine herabbaumelnden Beine schlenkern bei jeder Bewegung. Carmen weiß, dass sie Jenny keine Hilfe beim Tragen anbieten sollte.
Sie zeigt Jenny, wie das Sicherheitssystem funktioniert. Hier ist eine Kamera, die das Tor überblickt, und eine weitere für den Haupteingang. Sie werden rund um die Uhr überwacht und die Filmaufnahmen aufgehoben und an einem sicheren Ort aufbewahrt. Sie erklärt ihr, wo sich die Notfallknöpfe befinden, und erinnert Jenny daran, sich das Codewort einzuprägen, das sie für Momente, in denen sie sich in Bedrängnis fühlt, gewählt hat. Carmen führt sie in das Besucherzimmer, doch Jenny schüttelt den Kopf, wie um zu sagen, dass es niemanden gibt, den sie sehen wolle.
»Wenn Sie hier durchgehen«, sagt Carmen, »dann kommen Sie ins Wohnzimmer.« Es ist der Raum, der ihr selbst am besten gefiel, als sie hierherkam. Dort fühlte sie sich weniger in einer Institution als im restlichen Gebäude, und er ist groß genug, damit die von innen gesteuerten Schlösser und die Poster über Schutzmaßnahmen und Sozialleistungen vor der Alltäglichkeit der durchgesessenen Sofas und überquellenden Spielzeugkisten in den Hintergrund treten.
In einem der Tür zugewandten Sitzsack blättert Leanna, die seit zwei Wochen hier ist, in einer Zeitschrift. Sie zuckt zusammen, als die Tür mit einem Klicken aufgeht, doch auf ihrem Gesicht ist nicht mehr der verschreckte Ausdruck vom Anfang.
»Leanna, das ist Jenny. Sie ist gerade angekommen«, sagt Carmen. Leanna sagt Hallo, und als Jenny nicht reagiert, nickt sie und wendet sich wieder der Zeitschrift zu. Aus Erfahrung weiß Carmen, dass die Frauen Geduld füreinander aufbringen und es ihnen manchmal leichter fällt, zu anderen nett zu sein als zu sich selbst.
Das Wohnzimmer ist ein lang gezogener Raum mit Fenstern an beiden Enden. Er wirkt hell und freundlich, während gleichzeitig die beruhigend hohen Mauern beim Blick aus dem Fenster zu sehen sind. Für die Kleinsten gibt es eine Krabbelmatte, eine Kiste voller Spielzeugautos, eine weitere mit Lego und noch eine mit Stofftieren und Puppen. In einem Regal stapeln sich Brettspiele. Obwohl nichts davon neu ist, sind die Sachen in einem guten Zustand; die hier lebenden Frauen sorgen dafür, dass alles sauber und aufgeräumt ist, und Carmen hofft, dass es daran liegt, dass sie sich zu Hause fühlen, und nicht, weil sie Bestrafung fürchten, wenn sie irgendwo eine Tasse stehen lassen.
»Wegen Corona bitten wir derzeit darum, sich für einen bestimmten Zeitraum anzumelden«, erklärt Carmen. »Die Regel besagt, dass sich nur zwei Frauen oder Familien gleichzeitig im Wohnzimmer aufhalten dürfen, und wir bitten darum, Abstand zu halten. Danach können Sie alles, was Sie benutzt haben, in die Kiste neben der Tür legen, damit wir es entweder desinfizieren oder drei Tage lang wegsperren können, bevor es wieder in Umlauf kommt. Sobald sich die Lage normalisiert, wollen wir hier wieder Yoga- und Meditationskurse abhalten.«
Doch sie bemerkt, dass Jenny ihr nicht länger zuhört. Stattdessen blickt sie am Sofa und Couchtisch vorbei zu dem Bücherschrank neben dem Fernseher. Er ist gut bestückt, dank Sarah-Jane, einer Ehrenamtlichen, die auch Kochkurse gibt und deren Tochter eine Buchhandlung besitzt. Es gibt klassische Romane, Bücher über Natur und Reisen, Geschichtsbücher, dicke Bände Strandlektüre, Detektivgeschichten und Science-Fiction. Keine Krimis, zumindest nichts Härteres als Agatha Christie.
Jenny verlagert Milo von einem Arm auf den anderen, blickt Carmen zum ersten Mal direkt ins Gesicht und fängt an zu weinen. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es hier Bücher gibt«, sagt sie.
(»Eines dürfen wir bitte nicht vergessen«, wird die Therapeutin, die Jenny im Frauenhaus betreut, bei einer der Sitzungen behutsam, aber entschieden sagen. »Und zwar die Tatsache, dass Sie keine Schuld haben. Es war nicht Ihre Aufgabe, David zu durchschauen und die Flucht zu ergreifen. Es war Davids Aufgabe, Sie nicht in diese Lage zu bringen und Ihnen nicht wehzutun.«
Nach langen Gesprächen wird Jenny einsehen, dass sie keine Schuld hat. Ihr Verstand wird es irgendwann begreifen, doch viele Jahre, womöglich auch für immer, wird ihr Herz weiterhin darüber brüten, warum sie es zugelassen hat.)
Loveday
Loveday hat das Leserefugium immer geliebt, das sie im Obergeschoss von Lost For Words eingerichtet hat, nachdem das Feuer dem Antiquariat beinahe ein Ende bereitet und ihrem geliebten alten Chef Archie das Leben gekostet hatte. Als sie erfuhr, dass er ihr sowohl das Geschäft als auch sein Wohnhaus vermacht hatte, war sie zunächst überfordert gewesen, doch dann begann die Arbeit. Ihr war klar, dass es niemals gelingen würde, eine Buchhandlung zu gestalten, die besser war als die alte – das war völlig unmöglich.
Stattdessen hat Loveday mithilfe ihrer Mutter und ihres Freundes Nathan etwas geschaffen, das hoffentlich ähnlich gut ist, wenn auch auf andere Art. So wie das Leserefugium, das als Ort gedacht war, an den jeder kommen konnte, der auf der Suche nach Ruhe und Frieden war. Dort konnte man lesen oder schlafen, über alles oder nichts reden. Lovedays Mutter Sarah-Jane, die vor der Pandemie ehrenamtlich in einem Frauenhaus gearbeitet hat, besaß ein Gespür für Leute, die eine Broschüre über Hilfsangebote oder eine ruhige Schulter zum Ausweinen gebrauchen konnten. Auch ein Handy war vorhanden, das man benutzen konnte, falls das eigene Telefon kontrolliert oder getrackt wurde. Nachdem sie ein wenig mit selbst gekochtem Tee und Kaffee experimentiert hatten, traf Loveday mit dem Café nebenan eine Vereinbarung, und so holten sie oder Sarah-Jane Getränke für Leute, die eine Weile bleiben wollten.
Obwohl Loveday es sich zur Aufgabe gemacht hat, sich nicht näher auf die Besucher einzulassen – sie hat nicht dasselbe Talent zum Zuhören wie ihre Mutter –, hält sie es sich zugute, einen Ort geschaffen zu haben, den Teenager, wie sie selbst einer war, für sich entdecken können. Archie hatte Loveday umstandslos und liebevoll aufgenommen, doch das lag ihm im Blut. Lovedays Ressourcen hingegen sind tief vergraben und scheinen immer kurz vor dem Versiegen zu sein. Und so ist ihre Art, sich zu kümmern, das Leserefugium. Wann immer ihre Mutter – ohne Namen zu nennen – von einer Frau erzählt, die sich an die Telefonseelsorge gewandt, sich in eine Notunterkunft geflüchtet oder womöglich sogar die Polizei gerufen hat, weiß Loveday, dass sie das Richtige tut.
Jetzt aber herrscht im Leserefugium jene Kälte, die Orte selbst bei warmem Wetter entwickeln, wenn man ihnen den Zweck raubt. Ist Kelly unten, zwingt Loveday sich, hier oben zu arbeiten, um den nötigen Abstand zu wahren. Sie ist froh, wenn Nathan zum Helfen kommt und sie den Raum mit echten Gesprächen füllen und er Kelly zum Lachen bringt, wenn er unten mit ihr spricht.
Was Loveday allerdings ernsthafte Sorgen bereitet: Ein ungenutzter Zufluchtsort im Gespann mit einer Buchhandlung, die schon vor der Pandemie im Niedergang begriffen war, wird sich womöglich nicht mehr lange halten können.
Als Kelly eintrifft, geht Nathan nach nebenan, Kaffee und Zimtschnecken holen. Vor zwei Jahren hat Richard Morris das Café übernommen und etwas weitaus Trendigeres daraus gemacht als das kitschige, niedliche Geschäft von früher. Manchmal vermisst Loveday die Möglichkeit, einfach nur einen Tee oder einen Kaffee zu bestellen, ohne die unendlichen Variationen, die heutzutage zur Verfügung stehen. Merkt sie, dass sie kleinlich wird, ruft sie sich die Zimtschnecken ins Gedächtnis: frisch und mit etwas Glück noch warm. Ein perfekt ausgewogenes Verhältnis von süß und salzig, weich und kross. Und nur ein winziges bisschen zu groß, sodass es keinerlei Sinn macht, etwas übrig zu lassen.
Zu dritt setzen sie sich mit sicherem Abstand ins Leserefugium: Kelly im Sessel, Loveday am äußersten Ende des Sofas und Nathan am Boden, den Kopf an ihre Knie gelehnt.
Jetzt, da so viele für selbstverständlich gehaltene Vergnügungen weggefallen sind – ein Kinofilm, ein Friseurbesuch, ein sonntagnachmittäglicher Ausflug ans Meer mit Pommes an der Promenade und einem Kieselstein vom Strand, den man mit nach Hause nimmt –, haben die Zimtschnecken eine Bedeutung bekommen, die vorher undenkbar gewesen wäre.
Loveday fürchtet, dass sie satt ist, bevor sie beim besten, zimtigsten Teil in der Mitte ankommt, und beißt sich von der Seite durch bis ins Zentrum. Nathan hingegen isst derart schnell, dass es beinahe so aussieht, als würde er das Gebäckstück als Ganzes verschlingen. Kelly hat eine besondere Technik bei den Schnecken, sie zupft die Ringe von außen nach innen ab und isst die Teigspirale Stück für Stück. Heute aber hat sie ein Stück abgebrochen, hält es in den Fingern und bedenkt es mit einem Blick, als sei es ein Knopf, den sie vom Boden aufgelesen hat.
»Ist alles in Ordnung, Kelly?«, fragt Nathan.
Kelly sieht auf, ein Zögern im Gesicht. Achselzuckend sagt sie: »Ich versuche nur, nicht zu dick zu werden.«
»Wir werden alle dick«, erwidert Nathan. »Wenn das das Schlimmste ist, was uns in dieser Pandemie zustößt, dann soll es mir recht sein.«
Hätte Loveday dasselbe gesagt, dann hätte es wie eine Beleidigung oder Spott geklungen, aber Kelly lässt ein schwaches Lachen hören und sagt: »Da ist was dran.« Sie fängt noch immer nicht an zu essen.
Loveday holt Luft. »Wir müssen darüber reden, wie es mit dem Buchladen weitergeht.«
Kelly legt die Zimtschnecke weg. »Ich mache mir Sorgen um meinen Job.« Es klingt wie eine Antwort auf Lovedays Bemerkung, was es im Grunde auch ist.
»Ich hätte schon früher mit dir reden sollen. Ich war nur … es war viel los.« Sie denkt daran, dass Nathan immer behauptet, so etwas wie zu viel Info gäbe es nicht. Loveday ist selbstverständlich anderer Meinung, sofern es nicht um alte Enzyklopädien geht, für die sie am liebsten eine eigene Buchhandlung eröffnen würde. Doch sie sieht ein, dass es hilft, sich auszutauschen, wenn einen Dinge direkt betreffen. »Ich hatte wohl einfach gehofft, dass sich die Lage bessert.«
Anfangs hatte es so ausgesehen, als würde es eine Auszeit von vielleicht einem Monat geben, und sobald die Türen wieder öffneten, gäbe es eine spendierfreudige Meute ausgehungerter Leser. Nathan, Kelly und sie waren sich einig gewesen, dass es unausweichlich so kommen musste. Sie hatten aufgeräumt, neue Bestellungen vorgenommen und ein breites Sortiment vorrätig gehalten. Doch schon bald wurde klar, dass es in der neuen Normalität der Pandemie zum Normalfall werden könnte, zwei oder drei Bücher am Tag zu verkaufen. Kelly schickte eine Pressemitteilung an die örtlichen Zeitungen, dass das Geschäft selbst zwar geschlossen sei, sie aber jederzeit Bücher verschickten oder an die Haustür lieferten. Die Aktion zeigte keine große Wirkung.
»Musst du mir kündigen?«
»Nein!« Loveday dreht sich schon bei dem Gedanken der Magen um; gleichzeitig ist ihr bewusst, dass es möglicherweise so weit kommen wird. »Ich meine nicht, dass ich dich loswerden will, Kelly. Ich wollte darüber reden, wie wir die Sache überstehen. Du weißt schon.« Sie gestikuliert, als versuche sie, Inspiration aus der Luft zu schöpfen. »Ideen.«
»Ich habe an einen Gedichtwettbewerb gedacht«, sagt Nathan. »Von der Buchhandlung organisiert. Entweder zu einem bestimmten Thema oder einfach darüber, wie es einem geht.«
Loveday lächelt. Mittlerweile beschäftigt sie sich nicht mehr so viel mit Gedichten. Es gab eine Zeit, als ihr das Schreiben von Gedichten wie die Rettung erschien. In dem Moment, als sie die schlimmsten Ereignisse aus ihrem Leben bei dem von Nathan veranstalteten Poetry-Slam öffentlich vorgetragen hatte, hatte sie endlich auf gewisse Art mit der Vergangenheit Frieden schließen können. Sie liest oder hört immer noch gern Gedichte, doch sie hat gesagt, was gesagt werden musste. Nathan hingegen integriert Gedichte in jeden Aspekt des Lebens. »Online?«, fragt sie.
Er verzieht das Gesicht. »Ich glaube, die Leute haben langsam die Nase voll von Online-Meetings. Klar, es ist eine tolle Sache, aber egal, wo man sich einloggt – auch bei schönen Anlässen –, man sieht den Gesichtern an, dass sie keine Lust mehr haben, auf einen Bildschirm zu starren. Außerdem schalten viele Leute die Kamera aus, sodass man nicht einmal weiß, ob sie überhaupt zuhören. Nein, ich dachte per Mail oder Post.«
Kelly seufzt und entsorgt den nur halb ausgetrunkenen Kaffeebecher im Mülleimer. Loveday weiß, dass Nathan den Becher später herausholen, auswaschen und recyceln wird. »Und womit verdienen wir dabei Geld?«
Nathan lacht. »Da ist was dran.« Kurz sieht es so aus, als käme er mit einer weiteren Idee, doch dann reißt er bloß die Papiertüte auf, in der seine Zimtschnecke war, und fährt mit dem Finger an der Innenseite herum, schiebt die Zuckerkrümel zu einem Häufchen zusammen und kippt sie sich in den Mund. Nathan und seine Schwester Vanessa, die für den Lockdown zu ihnen gezogen ist, haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Leute in der Nachbarschaft zu unterhalten, ihnen vom Gehsteig aus das Jonglieren beizubringen und Witze durch zwei Megafone zu brüllen, die sie im Gartenschuppen entdeckt und knallgelb angemalt haben. Vanessa ist Friseurin und arbeitet normalerweise im Filmgeschäft, also hat sie wenig zu tun, bis die Branche wieder in die Gänge kommt. Loveday denkt, dass sie an Vanessas Stelle Angst hätte, ihre Lebensgrundlage zu verlieren, aber Vanessa hat ihren Frieden damit gemacht, einfach abzuwarten, bis die Dinge sich ändern. Die Geschwister scheinen genetisch bedingt unfähig, sich Sorgen zu machen. Loveday versucht, sie um ihre Gabe, sich selbst und anderen so mühelos Freude zu schenken, nicht zu sehr zu beneiden. Vanessa und Nathan ist eine Fröhlichkeit eigen, die Fähigkeit, in allen Dingen etwas Gutes zu sehen, die Loveday nie erreichen wird, das weiß sie. Doch wenn man die beiden um sich hat, ist es durchaus ein wenig ansteckend. (Vanessa hat ihr angeboten, ihr das Haar zu schneiden, doch Loveday empfindet das irgendwie als Schummelei, solange die Friseure geschlossen haben. Also schneidet sie sich das Haar wie gehabt selbst, indem sie es zu einem Pferdeschwanz zusammenbindet und die unteren zwei Zentimeter mit der Küchenschere absäbelt.)
»Wir dürfen nicht zumachen«, sagt Loveday in einem Ton, der sowohl Kelly als auch Nathan aufblicken lässt, und Nathan legt seine Hand auf ihr Knie und drückt es. »Archie hat mir den Laden hinterlassen, ich darf nicht versagen.«
»Wir dürfen nicht versagen«, sagt Kelly und fügt dann hinzu: »Wir könnten meinen Lohn kürzen.«
»Nein, das können wir nicht.« Loveday schüttelt den Kopf und verwirft augenblicklich den Gedanken, und ein Blick auf Kelly zeigt ihr, dass Kelly gleichzeitig beruhigt und besorgt ist. »Was ich meine, ist, dass ich dich hier bestimmt nicht unbezahlt arbeiten lasse. Und der Laden kommt ohne dich nicht aus.«
»Bist du dir sicher?«
»Ich bin mir sicher«, sagt Loveday, doch dann fügt sie hinzu: »So sicher, wie ich mir eben sein kann.« Denn wenn sie das Antiquariat ganz aufgeben muss, dann wird es auch keinen Job mehr für Kelly geben. Doch das kann sie nicht aussprechen, noch nicht. Teilweise um Kellys Seelenfriedens willen, hauptsächlich aber um ihres eigenen Seelenfriedens willen.
Wieder drückt Nathan ihr Knie. »Noch nicht einmal Archie hätte eine weltweite Pandemie vorhergesehen«, sagt er, »auch wenn er am Ende vermutlich die Leute persönlich gekannt hätte, die irgendwann hoffentlich mal den Impfstoff entwickeln.«
Loveday lächelt. Nicht so sehr über den Gedanken an einen Impfstoff – wozu sich voreiligen Hoffnungen hingeben? – als über Archie. Er war der bestvernetzte Buchhändler Englands oder zumindest der mit den besten Geschichten. Für Loveday spielt es keine Rolle, was davon zutrifft. Sie vermisst ihn ganz einfach.
»Archie hätte eine Idee gehabt, wie wir Geld verdienen können.«
Nathan streckt die Hand aus und zaubert eine Schokoladenmünze hinter Lovedays Ohr hervor. Loveday lacht. Dann schnipst er eine weitere Münze durch die Luft Richtung Kelly. »Tut mir leid, dass ich nicht nah genug ran darf, um sie herbeizuzaubern.«
»Ich nehme sie trotzdem«, sagt Kelly.
»Archie hätte Geld hineingesteckt«, sagt Nathan sanft. »Das ist nicht dasselbe wie Geld verdienen.«
»Wahrscheinlich hast du recht.« Archie war richtig reich gewesen, zumindest hatte er immer Geld auf dem Konto. Loveday ist zwar, nun, da sie sein Haus besitzt, vermögend. Aber sie lebt trotzdem von ihrem Gehalt, oder besser gesagt lebte, solange sie sich eines ausbezahlte. Nathan und sie haushalten wie jedes andere Paar, planen und sparen und reden darüber, was sie machen wollen, sollten sie Geld übrig haben. Zwar wohnen sie in einem wunderschönen großen Haus, doch es kommt auch mit entsprechend großen Rechnungen daher.
»Ich habe nachgedacht, was wir tun könnten«, sagt Kelly, »und auch mit Craig gesprochen. Abgesehen von einer besseren Homepage, sind uns nur die sozialen Medien eingefallen.« Sie verzieht das Gesicht, um Loveday zu signalisieren, dass ihr klar ist, dass ihre Chefin wenig Enthusiasmus für diese Idee aufbringt.
Loveday nickt. »Du hast recht. Aber das sind nicht wirklich wir. Außerdem weiß ich gar nicht, wo wir anfangen sollten, um alles online zu stellen.« Lost For Words war immer eine Buchhandlung, bei der die Kunden persönlich vorbeikamen oder anriefen. Online stehen nur die Erstausgaben, Raritäten und Bücher, die für Sammler interessant sein können. Loveday hat die Homepage schon vor langer Zeit eingerichtet und weiß, wie viel Arbeit darin steckt. Alles zu katalogisieren und online aufzulisten, was im Laden steht, wäre sowohl unmöglich als auch sinnlos.
»Vermutlich müssen wir einfach weiterhin nett zu den Kunden sein, die wir schon haben, und hoffen, dass sich das Ganze nicht noch wesentlich länger hinzieht«, meint Kelly.
Nathan nimmt Loveday den Becher aus der Hand und holt den von Kelly aus dem Mülleimer. »Ich glaube, ich sehe mir mal den Hinterhof an. Vielleicht lässt sich damit ja etwas anfangen.«
Der ungeliebte Hof gehört zu Lovedays geringsten Sorgen. Als die Buchhandlung nach dem Feuer wieder aufgebaut wurde, ließ sie das chaotische Hinterzimmer verkleinern und aufräumen, den Notausgang deutlicher markieren und besser erreichbar machen und schaffte etwas Ordnung im Durcheinander aus angebauten Mauern, übrig gebliebenen Paletten und kaputten Regalen im Außenbereich. Es ist besser als früher, findet Loveday. Für mehr fehlt ihr die Kraft.
Kelly steht auf und reckt die Glieder. Loveday ist klar, dass sie noch etwas sagen sollte, etwas Beruhigendes, doch mehr als ein »Danke, Kelly« bringt sie nicht heraus.
»Ich mache dann mal weiter«, sagt Kelly. Beinahe fragt Loveday, womit, doch ihr ist bewusst, dass sie in Nicht-Pandemie-Zeiten nie danach fragte, also sollte sie ihre Geschäftsführerin auch jetzt einfach machen lassen.
»Was willst du dir im Hinterhof ansehen?«, fragt sie Nathan.
Er zuckt die Achseln. »Na ja, wenn dort ein bisschen Ordnung herrscht, dann könntet ihr in der Mittagspause draußen sitzen.«
Frische Luft und Sonnenlicht sind in ihrem Zuhause ein häufiges Gesprächsthema. Nathan und Vanessa wurden zu eingefleischten Outdoor-Fans erzogen, stets bereit zu einer Radtour oder einem Picknick. Lovedays Mutter Sarah-Jane hat ihre eigenen Gründe, gern im Freien zu sein, und hatte den Garten zu ihrem Lockdown-Projekt erklärt, bevor ihre Long-Covid-Erkrankung schon eine halbe Stunde Pflanzen schneiden und Unkraut jäten zu anstrengend machte. Loveday hingegen hat nicht allzu viel dafür übrig, draußen zu sein nur um des Draußenseins willen. Sie hat nichts dagegen, mit dem Fahrrad zu fahren, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, und sie findet es wunderbar, einen Tag an einem Ort herumzuspazieren, den sie liebt oder der einen Zweck erfüllt. Der Zweck kann ein historisches Ereignis sein, ein schöner Ausblick oder der Bezug zu einem Buch. Wenn der Lockdown vorbei ist, dann hat ihr Nathan versprochen, nach Stoneleigh zu fahren, dem Herrensitz, der Jane Austen zu Sotherton im Roman Mansfield Park inspiriert hat, und im Hohlweg ihr Unwesen zu treiben. Sie haben sich beide dasselbe Zitat aus Mansfield Park um das linke Handgelenk tätowieren lassen: »In jedem Augenblick stecken Freude und Hoffnung.« Nathans Tattoo ist in Lovedays Handschrift und das bei Loveday in der von Nathan.
Und wenn Leichtsinn wieder erlaubt ist und es ihrer Mutter besser geht, dann kann Loveday es kaum erwarten, mit ihr nach Whitby zu fahren. Ach ja, ihr geliebtes Meer.
Nur um seiner selbst willen draußen zu sein ist nichts für Loveday. Wenn es Nathan allerdings glücklich macht, den Hinterhof aufzuräumen, dann ist sie voll und ganz dafür.
Anfangs hatte sich die Pandemie weit weg angefühlt, so als geschehe das Ganze in einem Buch, das Loveday las – sie war Furcht einflößend, solange man sich damit beschäftigte, doch man konnte sie problemlos wegschieben und für eine Weile links liegen lassen.
Doch plötzlich wurde alles sehr real: Zuerst erkrankte Lovedays Mutter an Covid, dann sollte sich Kellys Vater wegen seines Lungenemphysems isolieren. Die finanziellen Schwierigkeiten, in denen die Buchhandlung steckte, verschlimmerten sich, weil die Laufkundschaft fehlte und Stammkunden nicht mehr zum Plaudern kamen. Natürlich ist das nebensächlicher Kleinkram in Anbetracht der Menschen, die sie verloren haben, und all der anderen Todesfälle – manchmal scheint die Trauer fast greifbar, wenn um 17 Uhr die neuen Zahlen verkündet werden. Doch die Tage, an denen sie es genoss, wenn im Laden keine Kunden waren, gehören einer lange vergangenen Ära an.
Nathan meint oft, dass es keinen Sinn hat, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, auf die man keinen Einfluss hat, und damit hat er natürlich recht. Aber Loveday denkt oft an die Frauen, deren Namen sie nicht kennt und die die Treppen nach oben stiegen und sich ins Leserefugium setzten. Sie weiß nicht, wo sie jetzt sind und womit sie zu kämpfen haben. Sie betrachtet die Worte von Jane Austen am Handgelenk und hofft, dass die Frauen in Sicherheit sind. Das Hoffen erscheint ihr ungenügend, aber sie weiß nicht, was sie sonst tun soll.
Kelly
Am folgenden Tag kommt Kelly früh zur Arbeit. Craig und sie sind lange wach geblieben und haben über WhatsApp telefoniert, doch statt müde zu werden, hat Kelly sich glücklich, aufgeregt und lebendig gefühlt.
Er fragte sie nach ihrer Forschungsarbeit. Sie versuchte abzuwiegeln, doch als sie sagte: »Das ist langweilig, das willst du bestimmt nicht hören«, lachte Craig und sagte, sie sei nie langweilig, außerdem sei er mit Netflix durch, damit sei Kelly seine einzige Hoffnung auf Unterhaltung. »Ich habe dich schon öfter danach gefragt«, sagte er, »und du versuchst mir immer einzureden, dass es mich nicht interessiert. Mittlerweile solltest du wissen, dass mich absolut alles an dir interessiert.« Wenn er solche Dinge sagt, klingt er manchmal so, als sei er den Tränen nahe, und Kelly zieht sich das Herz zusammen vor Glück, so sehr gesehen zu werden. Bislang hatte sie mit einem Mann nie wirklich ganz sie selbst sein können; sogar die schlauen Freunde von der Uni mussten immer noch etwas schlauer sein als sie. Craig aber ist anders. Er … na ja … er liebt sie ganz einfach. So ist das.
Also hatte sie angefangen zu erzählen. Und ehe sie sich’s versah, war es nach ein Uhr, drei Stunden später, als sie gewöhnlich schlafen geht, weil sie nachts nicht gern allein ist. Doch es war ihr egal gewesen, wie spät es war, als sie sich ins Bett legte und Craigs Stimme noch auf ihrer Haut spürte. Sie hatte tief geschlafen, und als sie noch vor dem Weckerklingeln aufwachte, wartete eine Nachricht von Craig auf sie, in der nichts weiter stand als: Ich weiß nicht, wie lange ich es noch ohne dich aushalte.
Ich auch nicht, antwortete sie.
Sie tritt in den Laden. Sie ist die Erste heute, Nathan und Loveday haben sich den Vormittag freigenommen. Nathan veranstaltet einmal in der Woche einen Poetry-Slam-Abend, der seit der Pandemie online stattfindet; er hat Kelly erzählt, dass er aus alter Tradition Loveday am Morgen danach das Frühstück ans Bett bringt, ein Detail, das Kelly nicht unbedingt hätte erfahren wollen, aber wer weiß das schon in einem Lockdown.
Auf der Fußmatte liegt ein Brief. Der Umschlag ist steif und blau. Der Brief ist an den Laden adressiert, nicht an Loveday oder auch Archie, der immer noch regelmäßig Postkarten und Päckchen aus aller Welt erhält. Also macht Kelly ihn auf und liest.
Liebe Buchhandlung Lost For Words,
früher waren wir regelmäßig Kunden bei Ihnen. Mit siebzig Jahren hörten wir auf, Bücher zu kaufen, stifteten die, die wir besaßen, einer Schule, und begannen, öfter in die Bücherei zu gehen. Jetzt bemühen wir uns, zu Hause zu bleiben, und unsere Bibliothek hat geschlossen.
Ich lege einen Scheck über hundert Pfund bei mit der Bitte, dass Sie uns davon ein paar Bücher aussuchen und zuschicken. Meine Idee wäre, dass Sie uns vielleicht alle zehn Tage eines schicken. Wir lesen uns gerne gegenseitig vor, und unsere Augen sind nicht mehr so gut, wenn Sie also gebundene Bücher oder solche mit Großdruck hätten, würden die sich am besten eignen.
Vermutlich sollte ich Ihnen eine Liste mit Buchtiteln schicken, die wir gerne lesen würden, aber so genau weiß ich das nicht. Eine spezielle Bitte jedoch habe ich: Überredung von Jane Austen, mein absolutes Lieblingsbuch.
Bitte schicken Sie uns Bücher, die wir wunderbar finden. (Ist das eine Zumutung? Wahrscheinlich schon.) Wir lieben die Natur, Dinge, die uns zum Lachen bringen, und altmodische Liebesromane. Wir vertrauen auf gesundes Essen, frische Luft und den Geruch des Meers. Wir waren beide Lehrer und haben keine Kinder. Am Abend machen wir Kreuzworträtsel, und unser Garten ist unsere Freude und unser ganzer Stolz.
Ich weiß nicht, wie weit hundert Pfund uns bringen, doch ich hoffe, dass sie uns ein paar Wochen lang mit Büchern versorgen können. Bitte geben Sie Bescheid, wenn das Geld ausgeht.
Mit freundlichen Grüßen
Rosemary Athey (Mrs)
Scheck inliegend
Wir alle kennen die Macht von Büchern. Doch man darf nicht vergessen, welche Macht ein Brief haben kann. Er tut dasselbe wie ein besonders geliebtes Buch, nur auf konkretere Weise. Er behandelt Gefühle, Wissen, Bitten und Hoffnungen und bringt sie aufs Papier. Und das Papier übermittelt diese Gefühle, das Wissen, die Bitten und Hoffnungen und legt sie einem anderen Menschen offen. Kein Wunder, dass Bücherliebhaber auch Briefe lieben.
Man sehe sich nur Kelly an, die in der Tür ihres heiß geliebten Buchladens steht.
Sie hat nichts in der Hand als einen hellblauen Briefbogen, doch der beschwört eine ganze Welt herauf. Sie hat eine Frau vor Augen, die aussieht wie ihre Großmutter, und den Geruch von Scones und frischem Brot in der Nase. Kelly stellt sich einen Garten voller üppig blühender Blumen vor, einen Korb auf der Terrassenstufe. Sie sieht ein Vogelbad, Himbeersträucher, die sich an Stöcken emporranken, einen Schuppen, vor dem eine Schubkarre steht. In ihrer Vorstellung gräbt ein Mann im Hintergrund pfeifend in der Erde.
All das hervorgerufen nur durch einen Brief.
Und noch mehr.
Kelly malt sich aus, ihre Bücher zusammenzupacken und einer Schule zu schenken. Sie stellt sich vor, dass die eifrigen Schüler – wie sie selbst es war – in Aufregung geraten, und die Kinder, die das Lesen als Strafe und das Lernen als lästige Pflicht empfinden, die Bibliothek als Ort für Flirts und Späße und das Veralbern der fleißigen Schüler benutzen.
Ohne dass es ihr bewusst ist, drückt Kelly den Brief an ihren Körper und schließt die Augen. Sie sucht die Ausgabe von Überredung mit der größten, deutlichsten Schrift heraus und packt sie ein, um sie am Nachmittag aufs Postamt zu bringen. Und dann wird sie ihren Vater anrufen, auch wenn heute keiner ihrer üblichen Telefontage ist.
Jenny
Wieder und wieder hat sich Jenny die Geschichte ihrer Ehe durch den Kopf gehen lassen und sich gefragt, an welchem Punkt sie hätte erkennen müssen, was David für ein Mensch ist. Oder auch – und es wird lange dauern, bis sie diesen Gedanken überwindet –, was sie selbst getan hat, um David zu diesem Menschen zu machen.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: