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Ein Buch, das einen so schnell nicht mehr loslässt: Stephanie Butlands herzergreifender Roman erzählt vom Wunder der Liebe und von der heilenden Kraft der Literatur. Mit Piercings und tiefschwarz gefärbten Haaren versucht Loveday, die Welt von sich fern zu halten. Sie ist ein wahrer Büchernarr, umgibt sich lieber mit Literatur als mit Menschen und trägt die Anfangssätze ihrer Lieblingsromane als Tattoos auf dem Körper. Wirklich wohl fühlt sie sich nur in Archies Antiquariat. Der alte Mann hat ihr nicht nur einen Job gegeben, er akzeptiert sie vor allem, ohne Fragen zu stellen. Als Loveday Nathan kennenlernt, scheint ihre Welt heller zu werden: Er nimmt sie mit zu einem Poetry-Slam, und die Gedichte öffnen beiden einen Weg, sich die Dinge mitzuteilen, für die ihnen sonst die Worte fehlen. Zwischen den beiden entwickelt sich eine zarte Liebe. Doch dann werden im Antiquariat Bücher für Loveday abgegeben, die sie zurück in ihre Kindheit führen und schmerzhafte Erinnerungen an eine Familientragödie wecken, die sie nur zu gerne weiter verdrängt hätte. Kann sie mit Archies und Nathans Hilfe endlich mit der Vergangenheit Frieden schließen und über die Ereignisse hinwegkommen, die ihr Leben so sehr erschüttert haben? Ein wunderschöner Roman über Familie, Liebe, Verlust und Vergangenheitsbewältigung mithilfe der besonderen Kraft der Literatur.
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Seitenzahl: 433
Veröffentlichungsjahr: 2017
Stephanie Butland
Roman
Aus dem Englischen von Maria Hochsieder
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Mit Piercings und tiefschwarz gefärbten Haaren versucht Loveday, die Welt von sich fern zu halten. Sie umgibt sich lieber mit Büchern als mit Menschen und trägt die Anfangssätze ihrer Lieblingsromane als Tattoos auf dem Körper. Wirklich wohl fühlt sie sich nur in Archies Antiquariat. Der alte Mann hat ihr nicht nur einen Job gegeben, er akzeptiert sie vor allem, ohne Fragen zu stellen. Als Loveday Nathan kennenlernt, scheint ihre Welt heller zu werden: Er nimmt sie mit zu einem Poetry-Slam, und die Gedichte öffnen beiden einen Weg, sich die Dinge mitzuteilen, für die ihnen sonst die Worte fehlen. Doch dann werden im Antiquariat Bücher für Loveday abgegeben, die sie zurück in ihre Kindheit führen und schmerzhafte Erinnerungen wecken, die sie nur zu gerne weiter verdrängt hätte. Kann sie mit Archies und Nathans Hilfe endlich Frieden schließen mit dem, was sie so sehr verletzt hat?
Widmung
Unverhofft
Was du noch nicht weißt
Blechernes, schepperndes Klingeln
Es soll kein Schweigen herrschen
Ein bisschen krumm
Zeit hat hier keinerlei Bedeutung
Seiten umblättern
Hier gibt es Nahrung
Kein Buch ist ohne Wert
Es gibt keinen Schlüssel
Wiederentdeckt
Gebrochen
Keine Zauberei
Durchmischt von Erinnerung
Salz und Veilchen
Ach, die Menschen
Wählen
Dein Herz heilen
Wiedereröffnung
Eine Buchhandlung
Danksagung
Stephanie Butland im Interview
Quellenangaben
Für Alan
Lyrik
Unverhofft
Ein Buch ist ein Streichholz im schwelenden Augenblick zwischen Anreißen und Aufflackern der Flamme.
Archie meint, dass Bücher die besten Geliebten sind und die anspruchsvollsten Freunde. Er hat recht, aber auch ich habe recht: Bücher können echten Schmerz zufügen.
Ich dachte, das wüsste ich bereits, damals, als ich den Gedichtband von Brian Patten auf dem Gehsteig fand. Doch wie sich herausstellte, hatte ich noch viel zu lernen.
Meistens steige ich vom Rad ab und schiebe es die letzten Meter auf dem Weg zur Arbeit. Hinter der Bushaltestelle wird die Pflasterstraße schmaler, und auch auf den Gehsteigen ist es eng in diesem Teil von York. An jenem Februarmorgen umschiffte ich eine von diesen Frauen mit Kinderwagen, die darauf beharren, genau dann stehen zu bleiben, wenn sie es für richtig halten; sie war mit den Vorderrädern bereits auf der Straße und mit den Hinterrädern auf dem Gehsteig. Da entdeckte ich das Buch.
Es lag auf dem Boden, neben einem Mülleimer, als habe jemand es wegwerfen wollen, sich aber noch nicht einmal die Mühe gemacht, genau zu zielen. Wie auch immer. Ich blieb selbstverständlich stehen. Wer würde ein Buch nicht retten wollen? Die Frau mit dem Kinderwagen zischte missbilligend, obwohl ich ihr nicht im Weg stand. Wahrscheinlich gehörte sie zu den Leuten, die den ganzen Tag über verächtlich zischen, wie Missfallensmaschinen mit Luftdruckantrieb. Von denen bin ich schon einigen begegnet, die Anti-Nasenring-Fraktion gehört auch dazu. Die würden hyperventilieren, wenn sie meine Tattoos sähen.
Ich nahm keine Notiz von ihr und hob das Buch auf. Es war der Gedichtband Grinning Jack. Er war unversehrt, ein bisschen feucht an der Rückseite, wo er auf dem Gehsteig gelegen hatte, doch ansonsten gut in Schuss. Ein paar Ecken waren sorgfältig umgeknickt und bildeten parteiische rechtwinklige Dreiecke. Ich würde das nie tun, dafür habe ich eine zu hohe Achtung vor Büchern, und überhaupt – so schwer ist es nun wirklich nicht, ein Lesezeichen aufzutreiben. Irgendwas findet sich immer. Eine Busfahrkarte, eine Keksverpackung, die abgerissene Ecke einer Quittung. Trotzdem mag ich es, wenn jemand Worte auf einer Seite für wichtig genug hält, um sie mit einem Eselsohr zu kennzeichnen. (»Eselsohr« wird im übertragenen Sinn seit dem 17. Jahrhundert verwendet. Falls es Sie interessiert. Wenn man die meiste Zeit des Tages in fünf Metern Entfernung von vier Regalen voller Wörterbücher, Enzyklopädien und Thesauren verbringt, grenzt es an grobe Fahrlässigkeit, derlei Zeug nicht zu wissen.)
Egal. Ich schweife ab, wie Archie sagt. Die Kinderwagen-Frau meinte: »Entschuldigung, aber ich kann nichts sehen«, doch sie war höflich, also zerrte ich das Hinterteil meines Fahrrads auf den Bürgersteig, so dass sie den Verkehr besser im Blick hatte. Und dann hielt ich mir vor Augen, dass ich keine Mutmaßungen und Wertungen anstellen sollte. Jeder Mensch darf Gedichte lieben. Selbst Menschen, die Radfahrer anzischen.
Ich fragte: »Ist das Ihr Buch? Es lag hier.«
Sie schaute mich an. Ich bemerkte, wie sie das Piercing abcheckte und meine schwarzen Haare mit deutlich sichtbaren braunen Wurzeln und zögerte. Doch ich muss ihr zugutehalten, dass sie offensichtlich beschloss, nicht zu urteilen, vielleicht begünstigten meine sauberen Fingernägel und Zähne ja die Umstände, jedenfalls ließ sie die Schultern wieder sinken.
»Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal ein Buch ohne Türchen zum Aufklappen angefasst habe«, antwortete sie. Beinahe hätte ich ihr das Buch geradewegs in die Hand gedrückt. Bevor ich es ihr aber anbieten konnte, gab es eine Lücke im Verkehr, und sie stürzte über die Straße, während sie dem Kind irgendwas von schwimmen gehen ins Ohr trällerte.
Ich schaute mich um, ob jemand in der Nähe so aussah, als hätte er gerade einen Vertreter der Liverpooler Dichter fallen lassen, oder der womöglich dabei war, seine Schritte zurückzuverfolgen und den Boden abzusuchen. Neben der Weinhandlung stand eine Frau und grub eilig in ihrer Tasche, und ich wollte sie gerade ansprechen, als sie ein klingelndes Handy herauszog und ans Ohr hielt. Okay, sie nicht. Niemand zu sehen, der auf der Suche nach einem verlorenen Buch war. Ich überlegte, es auf dem Fensterbrett der Weinhandlung liegen zu lassen, so wie man es mit einem heruntergefallenen Handschuh tun würde, aber wettermäßig braucht es nicht viel, um ein Buch zu ruinieren, also legte ich es in meinen Fahrradkorb – ja, ich habe einen Korb vorne an meinem Rad, na und? – und setzte meinen Weg zum Antiquariat fort. Seit zehn Jahren arbeite ich dort, seit meinem fünfzehnten Lebensjahr.
Mittwoch fange ich immer spät an, weil ich dienstags wegen des Lesekreises Überstunden mache. Nach dem zweiten Glas Wein werden die interessanten Momente dort aber meistens rar. Eine der Frauen lässt sich scheiden. Die anderen sind entweder neidisch oder aber missbilligen das, wobei beides mit Anteilnahme kaschiert wird. Kurzzeitig mag das amüsant sein, doch auf lange Sicht ist es fade, wie Jonathan Swift.
Am Lesekreis gefällt mir, dass wir eher Gastgeber als Leiter sind, ich kann also Tee trinken und aufräumen, bei der Diskussion lauschen und mich für den Rest ausklinken. Ich kann die Dinge tun, zu denen ich nicht komme, wenn der Laden geöffnet hat; es ist erstaunlich, wie viel man schafft, wenn es mal keine Unterbrechungen gibt. Archie meint, wenn es nach mir ginge, wären Buchhandlungen aufgebaut wie Tante-Emma-Läden, mit einer Theke und Regalen dahinter, damit keine Nervensägen kommen und mein perfektes System durcheinanderbringen. Ich finde, er ist ungerecht, trotzdem bin ich der Meinung, es würde nicht schaden, die Kunden einem Test über ihre Buchhandlungsfertigkeit zu unterziehen. Ein paar Grundregeln nur: Stell es dorthin zurück, wo du es herhast. Geh respektvoll damit um. Sei nicht assig zu den Mitarbeitern im Laden. So schwer ist das doch nicht. Müsste man meinen.
Als ich ankam, war es ruhig im Antiquariat. Ich war ein bisschen spät dran, was zum Teil an dem Brian-Patten-Band lag, ich war für den Elf-Uhr-Start allerdings auch etwas knapp losgefahren. Das ist aber kein Problem, weil ich oft genug nach Ladenschluss dableibe, so dass Archie mir Spielraum lässt, wenn ich beispielsweise dringend ein Kapitel fertiglesen muss. Nachdem ich das Rad abgesperrt hatte, ging ich noch schnell ins Café nebenan und holte mir einen Tee und einen Kaffee für Archie. Wenn man die Seidenblumen ausklammert und die Schilder, auf denen Sachen stehen wie »Als Fremder kommen, als Freund gehen«, ist das Café Ami kein schlechter Nachbar.
Ich trete unheimlich gern durch die Tür von Brodie’s Books. Der Laden riecht nach Papier und Pfeifenrauch. Archie raucht nicht mehr im Laden, zumindest offiziell nicht. Ich schätze aber, er tut es, wenn niemand da ist. Die vielen Jahre, in denen er den ganzen Tag über vor sich hin gequalmt hat, haben sich in die Wände, das Holz und die Bücher gegraben. Zwischen all den Regalen zu stehen erinnert mich an einen Wald, wobei ich genau genommen nie in einem Wald gewesen bin. Und wäre ich in einem, dann wäre der Geruch nach Rauch vermutlich keine so tolle Sache. Egal. Ich gab Archie den Kaffee.
»Danke, meine stets so hilfreiche rechte Hand«, sagte er. Er ist Linkshänder und hält solche Sprüche für witzig. Ich schenkte ihm ein sarkastisches Grinsen und knuffte ihn in die Weste. Unter dieser Weste gibt es eine ganze Menge Archie. Wollte ich ihn erstechen, bräuchte ich ein verdammt langes Messer, um irgendwelche lebenswichtigen Organe zu erreichen. Er griff nach seiner Pfeife. »Ich gehe Luft schnappen«, meinte er. »Brilliere, solange ich fort bin, Loveday.«
»Wie immer«, antwortete ich.
Auf beiden Seiten neben der Eingangstür sind Erkerfenster, und in einem davon steht ein riesiger Schreibtisch aus Eichenholz. Archie behauptet, dass er ihn in den späten Siebzigern beim Pokern mit Burt Reynolds gewonnen hat, was nähere Details zu diesem Abend angeht, bleibt er aber sehr vage. Wenn alle Geschichten von Archie wahr sind, dann ist er ungefähr dreihundert Jahre alt. Seiner Aussage nach besitzt er die Buchhandlung seit fünfundzwanzig Jahren, davor war er bei der Navy, hat in Australien gelebt, mit der »einzigen Frau, die ihn je wirklich verstanden hat«, eine Bar in Kanada betrieben, als Croupier in Las Vegas gearbeitet und einige Zeit in einem Gefängnis in Hongkong verbracht. Ich glaube ihm die Geschichte über den Buchladen und (eventuell) die über die Bar.
Der Schreibtisch ist wunderschön, wenn man ihn unter den Papierstapeln gefunden hat. Der Briefkasten befindet sich links von der Eingangstür, und darunter steht das Ende des Tisches. Manchmal türmen sich darauf die Briefe und Anzeigenblätter von drei Tagen, bis ich sie wegräume. Archie tut nie etwas anderes, als noch mehr Sachen darauf abzuladen.
Im anderen Erker ist eine kleine Fensterbank, die ungefähr so bequem ist, wie sie aussieht – was heißen soll, kein bisschen bequem. Leute aber, die mit Anne auf Green Gables groß wurden, können nicht anders als sich reinsetzen. Doch sie halten es nie lange aus. Ich denke, Fensterbänke gehören zu den Dingen, die in Büchern grundsätzlich besser als im echten Leben sind, genauso wie auf Viehweiden abgehaltene Landwirtschaftsschauen an gesetzlichen Feiertagen, Sex, Reisen und so ziemlich alles andere, was einem noch so einfallen könnte.
Ich hatte eine Menge zu tun. Ich weiß, man sollte es zu würdigen wissen, wenn man mal ausschlafen darf, ich aber habe immer das Gefühl, dass mir der Tag aus den Händen geglitten ist und ich es nie mehr schaffen werde, das aufzuholen. Der einzige Vorteil daran ist, dass ich die Tüten mit den Büchern nicht hereinholen muss, die die Leute vor der Tür abstellen, weil sie den Unterschied zwischen einem Antiquariat und einem Wohlfahrtsladen nicht kennen.
Die Mutter meines Dads ist immer mit den Hühnern aufgestanden. Ich höre sie noch sagen: »Die herrlichste Zeit des Tages, Liebes«, mit ihrem rollenden R und den lächelnden Augen. Die Eltern meines Dads waren die ersten Menschen in meinem Leben, die starben. In dem Jahr fuhren wir zwei Mal nach Cornwall, einmal im Frühling, als Großmutter an Magenkrebs starb, und dann noch einmal im Herbst, als Großvater ihr nachfolgte und alle kopfschüttelnd von »gebrochenem Herzen« sprachen. Damals war ich vielleicht vier oder fünf. Ich weiß noch, dass ich es seltsam fand, dass Dads Eltern gestorben waren, Mum aber diejenige war, die weinte. Der Strand, zu dem wir immer gingen, in der Nähe von Falmouth, wo mein Dad herkam, war wie aus dem Märchenbuch: In meiner Erinnerung ist der Sand gelb und das Meer filzstiftblau. Zu Hause in Whitby wohnten wir nicht weit vom Meer, aber der Strand in Cornwall war anders. Er war verzaubert. Nach Großvaters Tod sind wir nie mehr hingefahren. Dad sagte immer, dass er und Tante Janey nichts füreinander übrighätten, also gab es wohl keinen Grund mehr.
Zuerst räumte ich ein bisschen auf, dann machte ich mich an die Kundenanfragen. Archie ist nicht immer zuverlässig am Computer – er kann es schon, aber er ist ein bisschen sprunghaft –, deswegen setzte ich mich zunächst an den Schreibtisch und sah die E-Mails durch, während er draußen auf dem Gehsteig seine Pfeife paffte. Da war nichts Besonderes: eine Anfrage wegen eines Buchs, das wir nicht hatten, und ein Online-Verkauf. Fünf Minuten später hatte ich mich um beides gekümmert und sah den Kasten mit den Kundenzetteln durch. Ich habe damit angefangen, Zettel für Kundenanfragen auszulegen, weil Archie nur die Fragen weitergibt, die ihn selbst interessieren.
Nur eine Frage war neu, und sie betraf ein Buch, von dem wir oben im Lager ein Exemplar besaßen, also kramte ich es heraus und steckte es in eine braune Papiertüte, schrieb den Namen des Kunden darauf, rief ihn an, um Bescheid zu geben, dass es da war, und legte es auf das Regal hinter dem Schreibtisch. Es war eines von Jean M. Auel, etwas, das Archie sicher als unter seiner Würde abgetan hätte. Vielleicht war es nur einen Fünfer wert, aber ich wette, dass all meine Verkäufe für einen Fünfer zusammengerechnet mehr ausmachen als Archies kostbare Erstausgaben. Genau genommen muss ich nicht einmal wetten. Ich kenne die Zahlen. Archie nimmt mich zu den Besprechungen mit dem Buchhalter mit, damit ich die Dinge mitkriege, die er verpasst. Anfangs nickt er noch fleißig, doch dann nickt er, das Doppelkinn auf die Brust gestützt, ein. Lustigerweise sieht er klein aus, wenn er schläft. Ist er wach und redet, dann wirkt er zu groß für den Laden, zu groß für York, auch wenn er meint, dass die Stadt ihm ausgezeichnet liegt. Ich habe ihn mal gefragt, wie es zu dem Laden kam, und er antwortete: »Es war an der Zeit, sesshaft zu werden« – was albern ist. Ein andermal erzählte er, dass er einen Freund in York besucht hatte, ein wenig »über den Durst trank« und das Geschäft aus einer Laune heraus kaufte. Was nicht weniger albern ist, aber eher der Wahrheit entsprechen dürfte.
Ben, der Haushaltsauflösungen macht und uns die Bücher bringt, hatte ein paar Kisten dagelassen, und an den Buchrücken konnte ich erkennen, dass es einige willkommene Ergänzungen bei den Musikerbiographien (Klassik) geben würde: Das wäre meine Aufgabe für heute. Ich mag es, wenn solche Kisten hereinkommen, die ein Thema haben und nicht das Potpourri eines gesammelten Lebens sind. Dann habe ich das Gefühl, Zeit mit jemandem zu verbringen, der eine gewisse Substanz besaß. Außerdem besteht immer die Möglichkeit, einen verborgenen Schatz, wie Archie es nennt, zu heben. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der eine Leidenschaft besaß, eine Erstausgabe gekauft und behalten oder seltene Werke wegen ihres Inhalts aufgestöbert hat, ist größer, und er wird nicht an den finanziellen Wert gedacht haben, weil für ihn der Wert in den Worten lag. Ich meinerseits liege da ganz auf ihrer Linie, aber Archie macht mich gern darauf aufmerksam, dass nicht ich es bin, die die Miete bezahlt.
Bevor ich mich über die Kisten hermachte, schrieb ich eine kleine Notiz – »Gefunden«, so wie die Gesucht-Anzeigen von Leuten, die ihre Katze vermissen. Als habe die Katze nicht einfach ein besseres Angebot bekommen und sich aus dem Staub gemacht. Mein Aushang lautete: »Gefunden: Grinning Jack von Brian Patten. Wenn Sie der (nachlässige) Besitzer sind, kommen Sie herein und fragen Sie nach Loveday.« Ich klebte es ins Fenster und verstaute das Buch im Hinterzimmer, hinter der Tür, auf der »Privat« steht. Wenn kein anderer das Buch zu schätzen wüsste, würde ich es tun.
Archie braucht eine halbe Stunde, um seine Pfeife zu rauchen und mit jedermann, der vorbeikommt, zu tratschen, bis er in den Laden zurückkehrt. Dem Wetter gegenüber macht er keine Zugeständnisse, und ein wenig bewundere ich seinen Einsatz, obwohl mir durchaus klar ist, dass ich weniger wohlwollend wäre, wenn er Zigaretten rauchen würde. Der Geruch von Zigaretten erinnert mich an meinen Vater. Meine Mutter hat ihn dazu gebracht aufzuhören, als das Geld knapp wurde. Bis heute beunruhigt mich Zigarettenrauch, während es gleichzeitig ein bisschen nach zu Hause riecht.
In der Kiste lag eine Johann-Sebastian-Bach-Biographie, und als ich sie aufschlug, entdeckte ich ein sorgfältig gefaltetes Blatt Pergamentpapier mit einer Rose darin. Das Papier knisterte, als ich es auseinanderfaltete, doch es riss nicht. Die Rose schien zerbrechlicher als die Umhüllung, und ich hielt den Atem an, wollte sie möglichst gar nicht berühren, damit sie nicht zerfiel. Die Blütenblätter mochten einmal rosa gewesen sein, ohne Luft und Licht aber waren sie ein staubiges Grau geworden. Ich faltete das Papier wieder zusammen, pinnte es mit einer Stecknadel an die Tafel mit den »Fundstücken aus Büchern« am Ladeneingang und fragte mich, wer die Rose aufbewahrt hatte und warum; ob sie spontan getrocknet und vergessen worden oder ein Zeichen für etwas Bedeutsameres war. Die Tatsache, dass ich es nie erfahren werde, finde ich irgendwie tröstlich. Es tut gut, daran erinnert zu werden, dass die Welt voller Geschichten ist, die potenziell mindestens so schmerzlich sind wie die eigene.
Eine Woche verstrich, ohne dass jemand kam, um das Buch von Brian Patten abzuholen. An diesem Nachmittag wollte ich den Aushang abnehmen. Mein Plan war, das Buch unter der Theke aufzubewahren und es einem Kunden zu schenken, dessen Kauf darauf schließen ließ, dass es ihm gefallen könnte. Ich wollte es nicht verkaufen, das schien mir unredlich. Ja, manchmal mache ich mir zu viele Gedanken. Es gibt schlimmere Fehler.
Ich war gerade dabei, im Hinterzimmer Mittagspause zu machen. Dort befindet sich hinter einer klapprigen Holztür, die man mit einem Ruck zuziehen muss und nur mit einem Stoß wieder aufkriegt, ein winziges Klo mit Waschbecken, vor dem Notausgang steht ein Sessel, außerdem gibt es noch ein Regal, einen Abfalleimer und einen Staubsauger unter dem Regalbrett. Der in die Lücke gequetschte Sessel ist groß und gemütlich; ich kann mich im Schneidersitz hineinsetzen. Mittags esse ich ein Müsli und eine Banane – das Gleiche, was ich auch zum Frühstück esse, aber ich mag Frühstück, warum zum Teufel sollte ich mir nicht also zweimal am Tag eines gönnen? Ich war halb fertig, als Archie meinen Namen rief.
Archie ruft mich meistens dann, wenn einer »meiner« Kunden hereinkommt (das heißt jemand, den er nicht mag). Es ist bestimmt keine Frage nach dem Lagerbestand, denn ich schwöre, er kennt jedes einzelne Buch im Laden und weiß auch, wo es steht.
Archie und ich ähneln uns darin, dass wir wenig Geduld mit Leuten haben, die uns auf die Nerven gehen – was im Dienstleistungsbereich nicht unbedingt von Vorteil ist, wie er sagt. Das Gute aber ist, dass es nicht die gleichen Typen sind, die uns auf die Palme bringen. Ich kann Leute nicht ausstehen, die kichern. Er meint, es sei nichts Schlechtes an ein wenig Lebensfreude. Er wiederum mag Leute nicht, die schlecht riechen. Ich finde, man darf die Menschen nicht für die Verhältnisse, in denen sie leben, bestrafen, außerdem kümmert es Bücher nicht, wann man sich das letzte Mal gewaschen hat. Ich verabscheue Leute, die versuchen, den Preis zu drücken, oder sich darüber auslassen, dass sie es im Internet billiger kriegen können. Diesen Typen ist nicht klar, dass sie bei der Internetsuche nach seltenen Büchern am Ende oft ohnehin bei uns landen, wir ihnen dann aber auch den Versand in Rechnung stellen. Eigentlich mag ich es ganz gern, wenn das passiert. Ein bisschen Schadenfreude hebt die Stimmung in den zwanzig Minuten, die man wegen solcher Idioten in der Schlange vor dem Postschalter verbringen muss. Ich fühl mich dann wie Becky Sharp in Jahrmarkt der Eitelkeit.
Archie mag die Leute nicht, die er »Superfans« nennt, mir aber gefällt es ganz gut, wenn die Kunden ein bisschen Beharrlichkeit an den Tag legen. Ich finde es nicht schlecht, wenn man jede Ausgabe eines jeden Buches eines bestimmten Autors haben möchte. Die meisten Schriftsteller in unseren Regalen sind ohnehin tot, wenn sie sich also von leidenschaftlichen Fans nicht mehr belästigt fühlen können, dann weiß ich nicht, warum wir es sollten.
Ich ging davon aus, dass der Kunde ein Sammler war, den Archie automatisch an mich weiterreichte, obwohl ich gerade Mittagspause hatte. Über seine kleineren Verstöße gegen das Arbeitsrecht gehe ich hinweg, da seine guten Seiten die Fehler im Verhältnis drei zu eins aufwiegen. Die alte Dame mit der Vorliebe für Schauerromane besitzt ein besonderes Gespür dafür, wann sie mir mein Mittagessen vermiesen kann, also dachte ich, sie sei es auch diesmal. Als ich aber die Kochbuchabteilung umrundete, bemerkte ich, dass Archie sich mit jemandem unterhielt, den ich noch nie gesehen hatte. Ich hätte mich daran erinnert.
Ledermantel und Igelfrisur, eisblaue Doc Martens, die unterschiedlich geschnürt waren, es war zum Lachen. Archie sah aus, als hätte er zum Charme-Angriff geblasen, wie die See auf einem Kiesbett. Er sah mich kommen und schaute mir in die Augen.
»Wappnen Sie sich«, sagte er. »Sie goutiert es nicht, wenn Leute Bücher schlecht behandeln.«
»Durchaus verständlich«, erwiderte der Fremde. »Ich goutiere das ebenso wenig.«
»Da ist sie«, sagte Archie. »Meine Streunerin.« Einen schrecklichen Augenblick lang befürchtete ich, dass er zu seiner »Wie ich Loveday kennenlernte«-Erzählung ansetzen wollte, aber er widerstand der Versuchung.
»Kann ich helfen?«
»Ja«, sagte der Fremde. »Ich glaube, das haben Sie schon.« Er lächelte, seine Zähne waren gerade und ebenmäßig, Mittelstandszähne, die zweifellos unter großem finanziellen Aufwand in Stellung gebracht worden waren.
»Tatsächlich?« Er konnte ruhig etwas dafür tun.
»Loveday«, sagte Archie. »Dieser junge Mann ist auf der Suche nach einem verlorenen Dichter.«
»Der Anschlag im Fenster. Das Buch.« Der Fremde hatte eine klare Aussprache, ich konnte keinen Dialekt darin erkennen, aber sie war auch nicht irgendwie elitär.
»Ich habe es auf dem Gehsteig gefunden«, sagte ich. Es klang wie eine Anklage. Das störte mich nicht. Die Poesie hat es schon schwer genug, da müssen die Leute sie nicht auch noch wegwerfen.
»Ich glaube, es ist mir aus der Tasche gefallen«, sagte er. »Eigentlich ist sie ziemlich tief, aber ich habe im Bus gelesen und plötzlich bemerkt, dass ich meine Haltestelle beinahe verpasst hätte. Wahrscheinlich habe ich es nicht wieder richtig eingesteckt.« Er steckte die Hand in die Manteltasche, und sie verschwand bis zum Handgelenk darin. Mir fiel auf, dass er ausgesprochen langgliedrige Hände hatte, selbst im Verhältnis zum Rest, die Finger wurden vorne schmal, und der Daumen bog sich nach hinten, als ob er sich davonmachen wollte.
»Hm, hm«, brummte ich. Ich fand, er könnte sich ruhig noch ein bisschen mehr bemühen, auch wenn es mich amüsierte, dass er sich erklären wollte, so als wäre er zu spät zu einem Bewerbungsgespräch erschienen.
»Übrigens liebe ich die Liverpooler Dichter«, sagte er. »Ich habe mich mit ihnen beschäftigt. Den Leuten ist gar nicht klar, dass sie praktisch die Erfinder des Poetry-Slams sind. Wenn man’s genau nimmt, haben sie die Beatles erfunden.«
Ich wollte keinen Vortrag über seine Doktorarbeit. »Ich geh schnell und hol es«, sagte ich. Auf dem Weg ins Hinterzimmer aß ich einen Löffel Müsli, aber es war matschig geworden.
»Unser nachlässiger neuer Freund ist selbst Dichter«, erklärte Archie, als ich zurückkam.
»Dann sollte er es besser wissen und keine Eselsohren in Gedichtbände machen«, erwiderte ich und gab ihm seinen Brian Patten. So leicht würde ich mich nicht beeindrucken lassen. Ich habe selbst ein paar Notizbücher mit meinen Gedichten zu Hause liegen, trotzdem würde ich nie behaupten, dass ich Dichterin bin. Ich würde sagen, dass ich in einer Buchhandlung arbeite. Falls es den anderen irgendwas anginge.
»Ich weiß, es ist eine furchtbare Angewohnheit«, sagte der Ledermantel-Poet. Dann lächelte er, und ich lächelte zurück, obwohl ich gar nicht wollte. Wenn man lächelt, gibt man zu viel von sich preis. Mehr als nur die Zähne.
Er steckte das Buch in die Tasche und legte die Patte darüber, wie um mir zu zeigen, dass er seine Lektion gelernt hatte. Es war Anfang März und immer noch kalt. Ich fragte mich, was er im Sommer trug.
»Nun, in Zukunft werde ich besser aufpassen.« Er machte eine Geste, ich dachte zuerst, er salutiere, doch dann wurde mir klar, dass er sich an den Hut tippte; da er aber keinen Hut aufhatte, kam es ein bisschen dämlich rüber, beziehungsweise hätte es eigentlich dämlich wirken müssen. Er streckte mir die Hand entgegen, und ich schüttelte sie. »Danke, Loveday. Nathan Avebury«, stellte er sich vor. Seine Handgelenke waren schlank und glatt.
»Schon okay«, sagte ich. Das ist der Grund, warum ich ungern mit Leuten spreche. Mir fällt nie etwas Interessantes ein. Ich brauche Zeit, um nach Worten zu suchen, wenn mich jemand ansieht. Außerdem mag ich andere Menschen nicht besonders. Na ja, manche sind schon in Ordnung. Aber nicht genug, um es zu einer verbindlichen Tatsache zu machen.
Er wandte sich um, und ich bemerkte, dass ich etwas in der Hand hielt. Es war eine Schokoladenmünze, gewickelt in Goldfolie, die Erinnerungen an lang vergangene, glückliche Weihnachtstage weckte. Hätte er mich dabei angesehen, als ich es bemerkte, und meine Reaktion abgewartet, dann hätte ich ihn als bescheuerten Angeber abgeschrieben. Doch die Türglocke hatte schon seinen Abgang verkündet, und als ich aufblickte, war draußen nichts mehr von ihm zu sehen.
»Also«, sagte Archie. »Nathan Avebury.«
»Kennst du ihn?«, fragte ich.
Es gibt nicht viele Leute in diesem Teil von York, die Archie nicht kennt. Er ist mit den Kneipenwirten befreundet, wobei sich da in den letzten paar Jahren viel verändert hat, seit die Pubs immer mehr zu Restaurants werden und eher von Feinschmeckern als Trinklustigen geführt werden. Er geht ganz bewusst in die Läden in der Nachbarschaft, kauft Kissen und Bilder von Küstenansichten, handgemachte Schokolade und viel, viel Käse. Sein Arzt redet auf ihn ein wegen des Cholesterins und dass er abnehmen soll, aber Archie meint, dass gute Beziehungen wichtiger seien, als in der Lage zu sein, die eigenen Füße zu sehen.
»Ich kenne ihn nur dem Namen nach«, antwortete Archie. »Eine Zeitlang hieß es, er sei ganz groß im Kommen.«
Ich wusste, dass er darauf wartete, dass ich nachfragte, deshalb ließ ich es bleiben. Ich setzte mich wieder in den Sessel und aß meine Banane, und als ich zurück in den Laden ging, nahm ich den Aushang ab. Danach machte ich mich wieder über die Kiste mit den Musikerbiographien her.
Ich fand keine weiteren Schätze zwischen den Seiten, keine getrockneten Blumen oder Postkarten als Lesezeichen, keine Namen auf dem Vorsatzpapier, die neugierig machten. Mein absoluter Lieblingseintrag befand sich in einer Ausgabe von Mansfield Park aus dem Jahr 1912: Auf dem Vorsatzpapier stand in sorgfältiger Kinderschreibschrift »Edith Delaney, 1943«. Das »Delaney« war ausgestrichen, und darunter stand »Bishop«. Dann war »Bishop« ausgestrichen worden, und es folgte ein weiterer Name, länger, ein Doppelname, so dick durchgestrichen, dass man ihn nicht mehr lesen konnte. Ich tippe auf »Brompton-Smith«. Darunter kam »Humphrey«. Alles in derselben Handschrift, aber man erkennt, dass sie älter wurde. Ich habe das Buch zu Hause. Zusätzlich zu meinem Gehalt steht mir eine bestimmte Menge Bücher pro Jahr zu, und es war eines der ersten, das ich mir aussuchte. Ich sehe es an und denke: Meine liebe Edith Delaney-Bishop-Brompton-Smith-Humphrey, ich hoffe sehr, du hast sie alle aus Liebe geheiratet, auch wenn es so aussieht, als habe sich Brompton-Smith als Mistkerl erwiesen. Hut ab – du hast dir von niemandem was gefallen lassen.
Mittwoch hat Archie seinen Bridge-Abend, also machte er früh Schluss, zog sich den klassischen Wollmantel mit dem moosgrünen Samtkragen an und rief »Tschüss, Loveday«. Ich blieb ein bisschen länger, arbeitete mich durch die Kiste und legte die Bücher auf die Seite, die ich Archie zeigen wollte. Nach fünf sperre ich immer die Tür ab, weil Rob am liebsten am Spätnachmittag vorbeikommt, um mich zu überzeugen, dass wir es noch einmal miteinander versuchen sollten, weil wir es beim ersten Mal falsch angepackt hätten. Er würde mir nichts antun oder so, das würde er niemals wagen, aber ich habe keine Lust, mich mit ihm abzugeben. Genau genommen habe ich generell keine Lust, mich mit Männern abzugeben. Wenn also der vermeintliche Kick ausbleibt, kann ich ganz gut auf den Ärger verzichten.
Um Viertel nach fünf klopfte es an der Tür, Rob grinste durchs Fenster und machte eine Geste, dass er reinwollte. Ich schüttelte den Kopf, deutete auf das »Geschlossen«-Schild und widmete mich wieder meiner Arbeit. Er klopfte einige Male, aber ich ignorierte ihn. Dann hörte ich ein Klappern und merkte, dass er eine Rose durch den Briefschlitz schob. Das ist einer seiner üblichen Tricks. Er bringt auch Pralinen für mich vorbei und hinterlässt sie bei Archie, weil er weiß, dass ich sie nicht annehme. Ich lege sie dann mit einem »Bedienen Sie sich«-Schild auf den großen Tisch, und nach einer Stunde sind sie weg. Es wäre schön, wenn Rob das Schild persönlich nehmen und Konsequenzen daraus ziehen würde, aber er guckt nur beleidigt, wenn er hereinkommt und die Pralinen sieht.
Rob stand noch eine Weile herum und wartete darauf, dass ich die Rose holte, aber das tat ich nicht; bevor er abzog, rüttelte er noch einmal grimmig an der Türklinke. Ich sammelte den Stiel und die zerdrückten Blütenblätter vom Schreibtisch. Als ich sie zum Abfalleimer trug, klapperte der Briefkasten erneut, und ich erschrak. Ich drehte mich um und sah einen Ledermantel forteilen. Im Briefkasten steckte ein Faltblatt.
Poetry-Slam im George and Dragon
Jeden Mittwoch ab 20 Uhr. Eintritt £3. Offene Bühne.
Unten stand eine Facebook-Adresse. Ich pinnte den Zettel an die Tafel mit den allgemeinen Bekanntmachungen, die neben meiner Pinnwand mit den Fundsachen aus Büchern hängt. Dann sperrte ich den Laden ab und ging. Das Pub George and Dragon liegt auf meinem Heimweg, gleich an der Ecke, wo der Fahrradweg beginnt.
Ich ging nicht rein.
Ich fragte mich, ob der herumwirbelnde Ledermantel das Letzte war, was ich von Nathan Avebury sehen sollte. Doch nein. In der nächsten Woche kam er wieder.
»Hallo, Loveday«, sagte er.
Ich drehte mich um und nickte, dann wandte ich mich wieder meiner Arbeit zu. Man bezahlt mich nicht dafür, dass ich mich mit jedem dahergelaufenen Dichter abgebe. Das ist Archies Job.
Ich war gerade dabei, in der Science-Fiction-Abteilung aufzuräumen – dort bleibt es nie länger als einen halben Tag lang ordentlich –, und stand mit dem Rücken zur Tür, als er hereinkam. Ich hörte, wie Archie jemanden begrüßte, machte mir aber nicht die Mühe, nachzuschauen, wen. Archie begrüßt fast alle Leute so, als seien sie irgendwelche Würdenträger, seine persönliche Geliebte oder von den Toten auferstanden.
Nathan rührte sich nicht vom Fleck. Er stand immer noch da, als ich bei Wilder, Wyndall und Zindell angekommen war. Ich erhob mich. Träge betrachtete er die Regale, als warte er auf etwas. Einen Buchhändler zum Beispiel.
Seine Stiefel waren immer noch unterschiedlich gebunden, der eine kreuzweise, der andere parallel. Ich fragte mich, ob er es bemerkt hatte oder ob es ihn überhaupt kümmerte. Er registrierte meinen Blick.
»Ein alter Taschenspielertrick«, sagte er. »Wenn den Leuten die unterschiedliche Bindung auffällt, dann lenkt es sie ab. Und wenn es ihnen auffällt, dann weiß ich auch, dass sie zur aufmerksamen Spezies gehören und dass ich aufpassen muss.«
Ich nickte. Das leuchtete mir ein. Es gefiel mir besser, als wenn es Nachlässigkeit oder bloßes Getue gewesen wäre. Vorausgesetzt, es wäre mir nicht eh egal, und das war es ja.
»Taschenspieler?«, fragte ich, und dann fiel es mir ein. »Die Schokoladenmünze.«
»Zauberei zum Anfassen«, meinte er. »Das ist mein Brotberuf, den ich tagsüber mache. Wobei es genau genommen ziemlich oft Abende sind. Am Nachmittag sind es eher Kindergeburtstage, abends Firmenevents. Mit Gedichten bringt man die Miete nicht wirklich auf.«
Ich lachte. Warum, weiß ich nicht. Die Vorstellung, als Brotberuf Zauberer zu sein, fand ich wohl lustig. Die meisten Leute mit Brotberufen arbeiten in einem Laden oder im Callcenter, oder sie tragen eine Haube auf dem Kopf und servieren den Touristen Tee und Scones. Zumindest in diesem Teil des Landes.
»Ich dachte, ich komm mal vorbei und werfe einen Blick in die Lyrikabteilung«, meinte er.
»Ich zeige sie dir«, sagte ich. Der Laden ist nicht besonders groß, aber er ist verwinkelt, und es ist einfacher, die Leute hinzuführen, als ihnen zu erklären, wo etwas ist. Die Gedichtbände hausen an der Wand ganz hinten, zusammen mit den Theaterstücken und den alten Landkarten. Archie ist kein Freund von Lyrik und Dramen, er ist der Meinung, man sollte sie nicht aufschreiben, deswegen hat er sie in die dunkelste Ecke verbannt, die er finden konnte. Überall stehen Regale, kreuz und quer und durcheinander, in unterschiedlichen Höhen und Tiefen und an unterschiedlichen Orten. Die Romane ziehen sich an den Wänden entlang, und in der Mitte des Ladens sind zahllose freistehende Regale, die Rücken an Rücken und im rechten Winkel zueinander um einen zentralen Tisch herumstehen. Jedes Regal ist anders, gemeinsam ist ihnen nur, dass sie alle irgendwie alt sind: Massivholz, unempfindlich, klaglos tragen sie die schwere Bürde der Sachbuchliteratur in all ihrer Herrlichkeit. Trotzdem, mir ist ein Roman alle Tage lieber.
Ich führte Nathan an die Wand im hinteren Teil des Ladens. Hinter mir quietschten seine Stiefel, und plötzlich war ich mir meines Rückens und Hinterns bewusst, meines Nackens, in dem ich mir das Haar aus dem Gesicht gebunden hatte. Ich richtete mich gerade auf und drehte mich zu ihm um, als wir ankamen.
»Lyrik«, sagte ich.
»Danke«, antwortete Nathan. Er lächelte. Er schien oft zu lächeln.
»Gehört zum Service«, erwiderte ich.
In diesem Augenblick tauchte Melodie auf. Wenn wir in Arbeit ersticken, dann setzt Archie sie zum Regalräumen ein, und sie macht es gut, aber sie quatscht ununterbrochen vor sich hin wie ein Buchfink im Käfig, und es macht mich wahnsinnig. Wenn sie nicht gerade ihren Hauptberuf ausübt – Stadtführungen durch York –, tut sie so, als sei der Laden ihr Wohnzimmer. Dann sitzt sie mit einem Kaffee am Tisch, telefoniert so laut, dass man nicht weghören kann, und benutzt unser WLAN. Man könnte mir gar nicht genug bezahlen, dass ich mich freiwillig von Melodie durch York treiben und beschwatzen lassen würde, aber es scheint, sie macht ihre Sache gar nicht so schlecht. Sie hat große Augen, einen großen Mund, ist winzig und sieht aus wie ein freches Katzenjunges. Ich glaube, ihre Mutter kommt aus Malaysia, wobei ich keine Ahnung habe, warum ich mir das gemerkt habe. Wenn Melodie im Laden ist, dann monologisiert sie ohne Punkt und Komma, und ich versuche sie auszublenden, indem ich die Lautstärke meiner inneren Selbstgespräche hochfahre. Manches dringt aber doch durch. Sie hat keine Hemmungen, sich einzubringen, wie mein Vater immer sagte.
»Loveday zeigt dir die Lyrikabteilung?«, fragte Melodie.
»Ganz genau«, bestätigte Nathan.
»Alphabetische Reihenfolge«, erklärte Melodie. »Hab’s erst letzte Woche gemacht. Ich mag meine Dichter in Reih und Glied.« Sie benutzt diesen Seeräuberjargon, den sie vermutlich aus einem Film hat, denn ich weiß sicher, dass sie in Pickering aufgewachsen ist.
»Alles klar«, antwortete Nathan. »Ich bring die Garden nicht durcheinander.«
»Hallo.« Sie hielt ihm ihre kleine Hand hin, die Innenfläche nach unten und die Finger gebogen, als erwarte sie einen Handkuss.
Er schüttelte ihre Hand und lächelte. »Ich bin Nathan Avebury«, sagte er.
»Nathan Avebury«, erwiderte Melodie. »Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Melodie. Wie in Musik.« Sie hielt die Schokoladenmünze ins Licht, drehte sie langsam hin und her, völlig unbeeindruckt, als hätte sie nichts anderes erwartet, als genau diese Münze in der Hand vorzufinden.
»Melodie hilft uns manchmal aus, wenn wir viel zu tun haben«, sagte ich.
»Loveday is’ immer hier«, ergänzte Melodie, »jeden Tag. Das is’ ihre Welt. Ich komm und geh, wie’s mir gefällt.« Mit einem Blick aus ihren Katzenaugen wandte sie sich ab, und ich bemerkte, dass ich Nathan beobachtete, um zu sehen, was er von der ganzen Sache hielt. Er sah ihr nach – sie trug Jeansshorts über einer schwarzen Strumpfhose, Leinensneaker und eine gestreifte Jacke –, und dann schaute er zu mir und lächelte.
»Eine wunderbare Welt, um jeden Tag darin zu verbringen«, meinte er. Seine Augen waren blau, von jener Sorte, die man auf den Umschlägen von Selbsthilfebüchern findet, weil sie innere Ruhe und Klarheit symbolisieren sollen.
»Ja«, sagte ich. Ich war froh, dass er keinen Witz über Melodie machte. Ich mag sie nicht, aber ich mag auch Leute nicht, die gemein sind, insbesondere gegenüber leichten Opfern. Wie Frauen mit Tattoos und Nasenringen zum Beispiel. Immerhin kriege ich im Bus meistens einen Platz.
Eine Weile sahen wir uns an, und ich wünschte mir, so wie Archie in der Lage zu sein, mit jedermann ein Gespräch über egal was zu führen. Die Hälfte der Leute, die in den Laden kommen, kennt er von Gesprächen auf Vernissagen in Kunstgalerien oder vom Wurstkauf auf dem Bauernmarkt. Er ist unbefangen. Ich bin das nicht. Zumindest nicht bei neuen Bekanntschaften. Es braucht eine Weile, bis ich mich mit ihnen wohlfühle, und bis es so weit ist, rede ich nicht viel, und wenn, dann allenfalls Alltägliches. Archie meint, dass ich meine interessanten Seiten gut verberge und die Aufgabe, mich kennenzulernen, eine Übung darin ist, auf den Lohn für den Glauben zu hoffen. Ich vermute, er hält sich für nett.
Mir fiel nichts anderes mehr ein, also sagte ich: »Dann lass ich dich mal.«
»Prima«, erwiderte Nathan.
Eine neue Kiste war eingetroffen. Sie war voller Nullachtfünfzehn-Taschenbücher aus den Neunzigern, Klassikerausgaben von Penguin, die mit den schwarzen Umschlägen und den Postkartenmotiven aus der National Gallery. Sie waren so gut wie unbenutzt. Nichts Besonderes, jedenfalls nichts Außergewöhnliches. Eliot, Trollope, Dickens.
Ganz hinten im Laden gibt es etwas, das Archie den »Frühstückstresen« nennt. Im Grunde ist es ein tiefes Brett, das auf halber Höhe an der Wand montiert ist, und ein Hocker, auf dem man bei der Arbeit sitzen kann. In zwei alten Tassen sind Stifte und kleine Zettel für die Notizen. Hier setzen wir uns hin, wenn wir die neu hereingekommenen Bücher durchsehen. Ich sage »wir«, aber Archie mag diesen Teil des Geschäfts nicht besonders. Da können wir (beziehungsweise ich) gleichzeitig arbeiten und den Laden im Blick behalten: Über dem Brett ist ein gewölbter Spiegel angebracht, in dem man sehen kann, wer kommt und geht, wenn einer von uns allein im Laden ist. Archie lässt mich den ersten Durchgang machen und schaut sich nur die interessanten Neuzugänge an. Ich war achtzehn und seit drei Jahren im Laden, als er mir erlaubte, es allein zu machen. »Auf geht’s, Loveday«, hatte Archie an jenem Tag gesagt. »Betrachte dich als qualifiziert.« Es war ein schöneres Gefühl als bei meinem Schulabschlusszeugnis, besser noch als der Applaus am Ende des Schultheaters als Kind. An dem Abend ging ich nicht direkt nach Hause in meine Wohnung. Stattdessen setzte ich mich an den Fluss und dachte: Loveday, vielleicht wird ja doch noch alles gut.
Als ich anfing, die Penguin-Klassiker aus der Kiste zu nehmen, fühlte ich mich ein bisschen komisch. Ich schwebte über mir, so als passierte etwas Wichtiges. Wie damals, als ich unter den Schutzumschlag eines neu hereingekommenen, gewöhnlich wirkenden Hardcovers aus den Dreißigern schaute und feststellte, dass es ein Exemplar von Lady Chatterley war, getarnt, um durch den Zoll zu kommen. Sie sind äußerst selten, denn waren sie einmal im Land, wurde der falsche Umschlag normalerweise weggeworfen. Mir war bewusst, dass es mehrere hundert Pfund wert war, und ich konnte gar nicht glauben, dass ich es tatsächlich in der Hand hielt. Hier in dieser Kiste aber war kein besonderes Sammlerstück, insofern ergab das Gefühl, auf einer Klippe am Meer zu sitzen und nach unten zu sehen, wenig Sinn.
Dann wurde mir klar, was es war. All diese Bücher hatte auch meine Mutter besessen. Jedes einzelne davon. Sie wusste, dass Bücher wichtig waren, es gefiel ihr, dass ich las, und sie ermunterte mich dazu. Unter der Treppe im Wohnzimmer stand ein kleines Regalschränkchen – wir wohnten in einem winzigen Neubau am Stadtrand von Whitby, der womöglich groß ausgesehen hatte, bevor die Möbel darin waren, doch selbst als Kind fühlte ich mich beengt.
Das obere Regalbrett war den Klassikern von Penguin vorbehalten, das mittlere den Büchern, die ich nicht mehr im Kinderzimmer stehen haben wollte – Pferde-, Märchen- und Bilderbücher, von denen ich mich nicht trennen wollte, auch wenn ich mich für zu alt dafür hielt –, und im unteren Regal waren Rätselhefte und Frauenzeitschriften, die Amanda, eine Freundin meiner Mutter, an sie weitergab, wobei ich nicht weiß, ob sie je einen Blick hineinwarf. Ganz oben standen gerahmte Fotos, ausschließlich Paarvarianten – ich und Mum, ich und Dad, Mum und Dad –, weil Dad eigen war, was seine Kamera anging, und wir deshalb nur Fotos machten, wenn er dabei war, und wenn er dabei war, wollte er, dass wir drei unter uns blieben, damit wir die Zeit voll auskosten konnten. Was uns anging, war er auch eigen. Oder bedeuteten wir ihm einfach viel? Ach ja, es gibt nicht viel, was mir etwas bedeutet außer Worten. Ich denke, wir sahen alle einigermaßen glücklich aus auf diesen Bildern. Nachdem die Rahmen zerbrochen waren, stand nichts mehr auf dem Regalschränkchen.
Wie gesagt, die Bücher waren nichts Ungewöhnliches. Man bekam sie in jeder Buchhandlung, egal, wo. Die Tatsache aber, dass sie alle auch bei uns zu Hause gestanden hatten, machte mich … na ja, irgendwas halt. Ein Bauchgefühl.
Ich stellte die Klassikerausgaben mit dem Buchrücken zu mir an der Wand entlang auf den Frühstückstresen. Ich wollte wissen, wie das aussah. Waren es wirklich die Bücher aus meiner Erinnerung, oder fabrizierte ich irgendetwas zusammen?
Anfangs war ich mir unsicher.
Dann fiel mir ein, dass meine Mutter die Bücher alphabetisch nach dem ersten Wort des Buchtitels sortierte. Manchmal habe ich mich gefragt, ob wir das hier nicht auch machen sollten. Die meisten Menschen erinnern sich eher an Titel als an Autoren, es wäre also vielleicht gar nicht so dumm. Zu Hause halte ich es einfach mit »gelesen« und »ungelesen« und verschiebe die Bücher von einem Regal auf das andere. Meine Devise ist: Warum sollte ich kostbare Lesezeit darauf vergeuden, Bücher zu sortieren?
Bei meiner Mutter aber fing es mit Anna Karenina an und endete mit Dickens’ Weihnachtsgeschichte. Sie behauptete, dass die Bücher auf diese Weise ordentlicher aussahen. Auch Kleider sortierte sie nach Farben, was großartig war, wenn man nach einer passenden Strumpfhose zum Pullover suchte, weniger hilfreich aber, wenn man von allem etwas brauchte. Mein Dad machte immer seine Scherze darüber. »Na, was für eine Type ist deine Mum, Loveday?«, und ich wusste, ich musste darauf die Augen verdrehen.
Während ich die Bücher nach Titeln ordnete, war mir ein bisschen schwindlig. Als wäre ich zu dicht an den Vorsprung der Klippe getreten und der Boden gäbe unter meinen Füßen nach. Denn sie sahen genau richtig aus. So als könnten es tatsächlich exakt die Bücher sein, die zu Hause in unserem Bücherregal standen.
Ich hatte den Geruch dieses ersten Zuhauses in der Nase: die salzige Meeresluft und die feuchte Erde der zahllosen Topfpflanzen meiner Mutter (die genauso zahllos eingingen, sie lernte nie, mit ihnen umzugehen). Wir wohnten zur Miete, und Mum sagte immer, wenn wir einmal ein eigenes Haus besäßen, würde sie alle Wände grün streichen. »Es hat also durchaus etwas Gutes, dass wir so leben«, meinte Dad, und manchmal klang es fröhlich, manchmal aber sagte er es auch auf eine Weise, dass Mum »Oh, Patrick« sagte und die Hand ausstreckte, um sie ihm auf den Arm oder die Wange zu legen.
Vor mir auf dem Brett standen sechsundzwanzig Bücher. Ich zählte sie durch. Und dann zählte ich sie ein weiteres Mal, wie ein Mann mit Metalldetektor, der nicht fassen kann, dass er tatsächlich Münzen in der Hand hält.
Sechsundzwanzig Bücher. Genau die, die meine Mutter gekauft hatte, alle zwei Wochen eines, ein Jahr lang, beginnend mit einem Neujahrsvorsatz und endend mit der kalten Silvesternacht des Jahres, als ich acht war.
Jeden zweiten Freitag nach der Schule gingen wir in die Buchhandlung an der Brücke im Zentrum von Whitby. Der Laden war klein, eng, alles musste in ein, zwei Regalen Platz finden, aber die Buchhändlerin lächelte immer und sagte, dass sie alles, was wir wollten, für uns bestellen könnte. Es war ein warmer Ort. Ich durfte mir ein Buch aussuchen, und Mum unterhielt sich lange mit der Ladenbesitzerin darüber, welches Buch sie ihrer Sammlung hinzufügen sollte. Ich glaube nicht, dass sie ihr je sagte, dass sie die Bücher gar nicht las, andererseits weiß ich, dass sie nicht gelogen hätte. Und sie hatte vor, sie zu lesen, da bin ich mir sicher, sie hat es nur nie getan. Nach einem Jahr hörte sie auf, neue Bücher zu kaufen. Der nächste Neujahrsvorsatz war, tanzen zu lernen. Aber ihn setzte sie auch nicht um. Zwar fand sie einen Kurs, aber meinem Dad gefiel die Vorstellung nicht, dass sie mit anderen Leuten tanzte.
Jeder Mensch, der länger als einen Nachmittag in einer Buchhandlung gearbeitet hat, kann bestätigen, dass Bücher aus vielerlei Gründen gekauft werden. Natürlich gibt es da die einfache Liebe zur Literatur: das Bewusstsein, dass es eine Fluchtmöglichkeit gibt, dass man Dinge lernen kann, dass da ein Ort ist, an dem Herz und Geist ungehemmt herumtollen können. Andere Gründe sind Empfehlungen, Fernsehsendungen, der Wunsch, sich weiterzubilden oder andere zu beeindrucken, oder die Hoffnung, sich selbst zu vervollkommnen. All das sind berechtigte Gründe, doch keiner garantiert, dass das Buch am Ende auch aufgeschlagen wird. Ich glaube, meine Mutter mochte die Umschläge, das Wort »Klassiker« und die Möglichkeit anderer Welten.
Natürlich gibt es niemanden, mit dem ich darüber reden kann. Niemand würde sich an das Bücherregal erinnern, oder falls doch, wüsste er nicht, welche Bücher in welcher Reihenfolge darin standen.
Während ich hinten im Buchladen saß, spürte ich, wie meine Umgebung mit dem einzigen echten Zuhause, das ich in meiner Kindheit gehabt hatte, verschmolz. Ich roch das Vanille-Potpourri, das den Zigarettenrauch verschleiern sollte, ich hörte meine Mutter in der Küche herumwerkeln. Oft zog ich die Bücher heraus, betrachtete die Umschläge, entzifferte die Titel. Die Mühle am Floss klang merkwürdig, weil ich nicht wusste, dass Floss der Name eines Flusses war. »Dafür bist du ein bisschen zu jung, mein Engel«, sagte meine Mutter, wenn sie zur Tür hereinschaute und sah, wie ich darin blätterte. Ich erinnere mich daran, dass die Wörter sich auf den Seiten drängten wie Bonbons in einem Glas.
»Loveday«, sagte Nathan hinter mir.
Ich fuhr hoch. Und das meine ich ganz buchstäblich, mein Hintern schnellte für eine Nanosekunde vom Hocker empor.
»Entschuldigung«, meinte er.
»Schon in Ordnung«, sagte ich. »Ich habe … hatte zu tun.«
»Meine Eltern haben die Penguin-Klassiker«, sagte Nathan. »Es gibt Hunderte davon, oder?«
»Ja.« Ich hätte hinzufügen können: »Meine Mutter hatte auch welche.« Der Satz lag mir beinahe auf der Zunge, aber ich rede nicht über mich. Also saß ich einfach nur da und spielte die Rolle der launischen Emo-Gothic-Braut, die ich äußerlich abgab.
»Nun denn«, sagte Nathan. »Ich habe das hier gefunden.« Er hielt eine Ausgabe von Adrian Henris Penny Arcade hoch. Der schmale Buchrücken war rissig, und auf dem Umschlag war der braune runde Abdruck einer Kaffeetasse. »Das habe ich noch nicht. Eigentlich sollte ich es haben. Sofern ich es nicht beim Aussteigen aus dem Bus verloren habe.«
Ich lächelte. Ehrlich. »Da ist auch At Your Window drin.« Jeder, der Henri mag, mag das Gedicht At Your Window. Über Bücher kann ich reden.
»Ich hab’s gesehen«, antwortete er. »Genial.«
»Ein überstrapazierter Begriff«, erwiderte ich.
»Ganz deiner Meinung«, sagte er – er kann gleichzeitig lächeln und sprechen –, »in diesem Fall aber gerechtfertigt.«
Da war ich anderer Meinung, aber das behielt ich für mich. At Your Window handelt von einer Katze, die nicht verstehen kann, warum nicht jeder auf eine tote Maus scharf ist. Ich musste an Rob und seine Rosen denken.
Nathan tippte sich an den nicht vorhandenen Hut und drehte sich um, und dann plötzlich wieder zurück. »Letzte Woche habe ich ein Infoblatt eingeworfen, über den Poetry-Slam, jeden Mittwoch im George and Dragon. Er ist auch heute wieder.«
»Ich habe es gesehen«, sagte ich. »Ich hab’s an die Pinnwand vorne am Eingang gehängt, neben den Fundsachen.« Hilfsbereit deutete ich hin, für den Fall, dass er nicht wusste, wo der Ladeneingang war oder wie eine Pinnwand aussah. Manchmal verzweifle ich an mir selbst. Gern würde ich mich auf den Schock herausreden, den mir der Anblick der sechsundzwanzig Bücher versetzt hatte. Aber ich brauche gar keine Ausrede, um meine Unfähigkeit zur vernünftigen menschlichen Interaktion zu beweisen.
»Ich weiß«, er hörte auf zu lächeln. »Danke. Aber eigentlich war es eine Einladung an dich.«
»Mich?« Einen schrecklichen Augenblick lang befürchtete ich, dass er wusste, dass ich Gedichte schrieb, dass sich mein Traum/Alptraum übermittelt hatte: Ich sitze auf einer Bühne, rezitiere meine Gedichte, das Licht geht an, und da sind alle Gesichter – meine Mutter, mein Vater, die Hälfte des Publikums hat sein Gesicht, die andere Hälfte ihres, und ich weiß nicht, wohin ich schauen soll …
»Nun, offensichtlich schätzt du die Lyrik«, sagte er, »wenn du Bücher rettest, die nichtsnutzige Dichter fallen lassen. Deshalb dachte ich, du hättest vielleicht Spaß daran.«
»Danke, aber ich bin nicht besonders gesellig«, erwiderte ich. Ich habe festgestellt, dass es die beste Antwort ist, um Leute davon abzubringen, mich zu Unternehmungen zu überreden. Darauf gibt es keine echte Erwiderung mehr, anders als wenn man sagt, dass man zu tun hat (»Es sind doch nur ein paar Stunden!«), dass man pleite ist (»Es kostet nur fünf Pfund! Ich lade dich ein!«) oder man glaubt, dass es einem nicht gefallen wird (»Das kann man nie wissen! Versuch’s doch einfach mal!«).
»Okay«, Nathan zuckte die Schultern (sehen Sie!), »aber komm doch vorbei, falls du es dir anders überlegst. Wir sind auch bei Facebook. Schreib mir eine Nachricht, und ich halte dir einen Platz frei.«
»Ich bin nicht bei Facebook.« Es gibt schon genug Leute im wirklichen Leben, mit denen man sich abgeben muss, da braucht man nicht zusätzlich virtuelle. Oder womöglich solche, die dich von früher kennen.
»In Ordnung«, sagte er. Ich machte ihn nicht darauf aufmerksam, dass ich seine Telefonnummer nicht hatte. Das zeigte ja, wie ernst es ihm tatsächlich war.
Als ich mich wieder den Büchern auf dem Brett zuwandte, entdeckte ich eine Visitenkarte, die aus Jane Eyre herausschaute. »Nathan Avebury: Zauberei zum Anfassen«, daneben ein Zylinder und darunter eine Handynummer. Ich hätte schwören können, dass er seine Hände nicht bewegt hatte. In der einen hielt er den Band von Adrian Henri, die andere war die ganze Zeit in seiner Tasche.
In dem Jahr, als meine Mutter sie kaufte, gab es vermutlich achthundert Penguin-Klassikerausgaben. Kleine Buchhandlungen dürften vielleicht die hundert beliebtesten geführt haben, im Yorkshire der Neunziger hätte also jemand, der sich sechsundzwanzig Bände kaufte, eine begrenzte Auswahl gehabt. Meine Mutter hatte sich nicht weit vom Mainstream fortbewegt – von jedem einzelnen Buch vor meinen Augen hatte es mindestens eine Verfilmung fürs Fernsehen gegeben –, eine Menge Leute, die diese Bände kauften, hatten demnach vermutlich eine ganz ähnliche Auswahl. Und das setzte auch voraus, dass mich meine Erinnerung nicht täuschte.
Ich saß eine Weile da und betrachtete die unversehrten schwarzen Buchrücken; zunächst redete ich mir ein, dass es unmöglich ihre Bücher sein konnten, und dann schien es mir unmöglich, dass es nicht ihre Bücher waren. Keine der beiden Möglichkeiten gefiel mir. Ich stellte die sechsundzwanzig Bände in die Abteilung mit den Klassikern.
Zum Poetry-Slam ging ich nicht. Klar.
In der nächsten Woche schloss ich den Laden etwas später ab als sonst, weil wir ein paar umfangreiche Online-Bestellungen hatten. Der Verkauf über das Internet war meine Idee gewesen, insofern darf ich mich nicht wirklich darüber beschweren, was für eine unglaublich nervige Arbeit das ist. Es mag noch einigermaßen aufregend sein, ein zweihundert Jahre altes Buch zu verpacken und auf seine nächste Reise ans andere Ende der Erde zu schicken. Nur weiß man nicht, wohin es kommt, ob jemand sich hineinvertiefen und es wertschätzen wird oder ob es, unter Kontrolle der Luftfeuchtigkeit, in eine klimatisierte Vitrine gestellt wird, zu den Versicherungspapieren, und daraufhin nicht mehr beachtet wird. Was ist der Sinn eines Buchs, das nicht gelesen wird? Man kauft sich doch auch keine Birne und schaut sie sich ewig von außen an. Vielleicht führt jemand, der ein gesuchtes Buch im Internet findet, ja einen fröhlichen kleinen Tanz auf oder boxt in die Luft oder grinst wenigstens wie blöd. Ich erlebe das, wenn jemand in den Laden kommt. In einer E-Mail bekomme ich das nicht.