Die Frau aus dem Moor - Rolf Dieckmann - E-Book

Die Frau aus dem Moor E-Book

Rolf Dieckmann

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Beschreibung

In den letzten Minuten seines Lebens gesteht ein Mann seiner Frau einen Mord. Doch er stirbt, ohne weitere Einzelheiten zu nennen. In ihrem Entsetzen sucht die Witwe Hilfe bei Erik Corvin, dem Ex-Polizisten aus Hamburg, der sich auf einen Resthof im Wendland zurückgezogen hat und mit Verbrechen nichts mehr zu tun haben will. Die Verzweiflung der attraktiven Rothaarigen stimmt ihn um. Zur gleichen Zeit gerät auch noch einer seiner besten Freunde unter Mordverdacht und die Begegnung mit einer Frau, die zu einem Bordellbetrieb mitten im Wald gehört, macht alles komplizierter. Durch sie gerät er zwischen die Fronten zweier konkurrierender Gruppen aus dem Milieu, die nicht gerade zimperlich sind. Aber er gibt nicht auf, denn langsam wird ihm klar, dass zwischen diesen scheinbar zusammenhanglosen Ereignissen eine Beziehung besteht.

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Seitenzahl: 269

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DIE FRAU AUS DEM MOOR

Rolf Dieckmann

DIE FRAU AUS DEM MOOR

Der Wendland-Krimi

Ellert & Richter Verlag

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen

und Personen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden

oder verstorbenen Personen wären zufällig

und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Die Personen

Die Wendlandkrimis im Ellert & Richter Verlag

Der Autor

1

Durch den Spalt zwischen den geschlossenen braunen Vorhängen fiel ein Lichtstrahl schräg auf den ausgetretenen Dielenboden. Die Luft im Zimmer roch abgestanden und stickig. Staubpartikel flimmerten im fahlen Licht. Die Frau mit den auffallend roten Haaren saß auf der Bettkante und hielt mit der linken Hand eine Schüssel mit kaltem Wasser auf den Knien.

Mit der rechten tauchte sie in regelmäßigen Abständen einen Frotteewaschlappen hinein, wrang ihn aus und legte ihn dem Mann auf die Stirn. Sein Kopf lag auf dem von Schweiß durchnässten Kissen, seine Augen waren weit aufgerissen.

Sie sah ihn mit sorgenvollen Augen an.

„Soll ich dir ein neues Kopfkissen bringen?“

Er wollte etwas sagen, aber nur ein Krächzen drang aus seinem Mund, dessen Lippen rissig waren. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

Er begann heftiger zu atmen, öffnete die Augen und die Frau merkte, dass er ihr unbedingt etwas sagen wollte. Mit äußerster Anstrengung hustete er die Sperre frei, die ihm den Hals verschloss. Seine Stimme klang brüchig und tonlos.

„Bevor ich sterbe, muss ich dir etwas…“

Er begann wieder zu husten, sein Gesicht lief rot an und die Augen traten hervor. Sie wollte ihm erneut den Lappen auf die Stirn legen. Mit einer Abwehrbewegung schob er ihren Arm zur Seite.

„Ich will…ich muss … ich muss mein Gewissen…“ Der Satz wurde von einem erneuten Hustenanfall unterbrochen. Er rang nach Luft.

„…erleichtern. Ich bin mit Schuld, dass ein Mensch getötet wurde.“

Die Frau riss die Augen auf.

„Wie? Davon hast du nie etwas gesagt. Warum nicht? Was ist passiert? Ein Unfall?“

Er schloss die Augen und schüttelte langsam den Kopf.

„Nein.“

Er machte eine längere Pause.

„Es war Mord.“

Die Frau riss den Mund auf, brachte aber keinen Ton heraus. Ihr Oberkörper schnellte nach vorn, dabei entglitt ihr die Schüssel. Die fiel auf den Boden und das Wasser spritzte gegen das Bett und durchnässte ihre Leinenschuhe.

Sie sprang auf, bückte sich nach der Schüssel, die heil geblieben war, und sah ihn noch einmal ungläubig an.

„Warte, ich hole frisches Wasser und einen Feudel.“

Mit schnellen Schritten verließ sie das Zimmer. Schon nach wenigen Minuten kehrte sie zurück.

Mit aufgelösten Haaren und völlig verwirrt ging sie vor dem Bett in die Knie und wischte den Boden trocken.

Dann setzte sie sich zurück auf die Bettkannte, schob die Haare aus dem Gesicht und tauchte den Waschlappen wieder ins kalte Wasser.

„Georg, bitte erzähl mir jetzt genau, was passiert ist.“

Er antwortete nicht.

„Georg?“

Sie beugte sich über ihn.

Seine Augen waren weit geöffnet und starrten ins Leere, der Mund stand offen. So, als habe er etwas Schreckliches gesehen, kurz bevor sein Herz aufgehört hatte zu schlagen.

2

„Also, nehmt’s mir nicht übel“, sagte Kalle, „aber irgendwie finde ich, unser Repertoire ist ziemlich ausgelutscht. Wir sollten das mal ein bisschen upgraden.“

„Jetzt geht das wieder los!“, maulte Rebus und stand von seinem Schlagzeughocker auf. Reiner Bussau, den man seit Schülerzeiten Rebus nannte, was sich auch bei seiner langjährigen Tätigkeit im Bauamt nicht geändert hatte, griff in seine Hosentasche und zog eine Packung Marlboro heraus. „Ich rauch, jetzt erstmal eine!“

Corvin blickte ihn streng an und zog den Gurt seiner Fender E-Gitarre über den Kopf.

„Aber nicht hier drin. Geh auf den Hof.“

Jürgen nickte.

„Genau. Hier drin ist schon genug dicke Luft.“

Corvin zuckte mit den Schultern.

„Okay, dann machen wir eine Pause und lüften mal durch.“

Obwohl er und die anderen drei Mitglieder der Band „Coincidence“ wenig Lust auf feste Übungstermine verspürten, hatte der Ex-Polizist aus Hamburg doch eines Tages die Ärmel hochgekrempelt und zusammen mit seinem Nachbarn Erwin Wohlleben und Willy, einem befreundeten Zimmermann, das alte Kalthaus, das dem Dorf seit den Fünfzigern als kollektive Kühlmöglichkeit gedient hatte, entkernt, ausgebaut, gedämmt und mit ausreichend Steckdosen versorgt. Für die Verstärker, das Mischpult und nicht zuletzt für den alten Kühlschrank, in dem immer reichlich Bier vorhanden war. Jedenfalls fast immer.

„Verdammt“, zischte Corvin, als er die Tür des betagten Bauknecht öffnete und in gähnende Leere starrte.

„Und ich hätte geschworen…“

Ärgerlich schlug er die Tür zu, richtete sich auf und stapfte über den Hof in Richtung Küchentür.

In der Küche fuhrwerkte seine resolute Haushälterin, Lieselotte Lorenz, von allen Lilo genannt, und summte „Atemlos durch die Nacht“, wobei sie die Töne nicht immer ganz genau traf.

Corvin erhob seine Stimme.

„Lilo, könnte es sein, dass du die letzten Bierflaschen aus dem Übungsraum entfernt hast?“

Lilo hörte auf zu summen und schaute ihn streng an.

„Jawohl, mein Herr. Ich habe mir erlaubt, eure versiffte Bude mal richtig sauber zu machen. Und den Kühlschrank auch.“

„Und was hast du mit dem Bier gemacht. Die Haare gewaschen oder womöglich sogar getrunken?“

Lilo setzte ihre Arbeit fort und schrubbte den Spülstein mit Scheuermilch sauber.

„Dann schau doch mal im Kühlschrank in der Speisekammer nach. Dort liegen die Fläschchen für die kleinen Jungs, säuberlich gestapelt. Und den Öffner habe ich jetzt mit einem Bindfaden an der Wand befestigt. Damit deine ewige Sucherei ein Ende hat.“

Corvin musste grinsen.

„Ach, Lilo, wenn ich dich nicht hätte!“

Rebus, Kalle und Jürgen saßen nebeneinander auf dem dreieinhalb Meter langen halbierten Baumstamm, der mit drei querstehenden Sockeln und einer Rückenlehne ausreichend Platz für vier sehr schlechtgelaunte Musiker bot.

Corvin grinste noch immer, als er mit vier eiskalten Bierflaschen zurückkam.

„Hier, Leute, jetzt trinken wir erst mal was.“

Dass die Ansage unmittelbar befolgt wurde, war nicht zu überhören, denn wenn vier durstige Musiker gleichzeitig einen Schluck Bier zu sich nehmen, entsteht ein Geräusch wie in einem Gully bei Starkregen.

Jürgen wischte sich den Schaum vom Mund und schaute Kalle an, dessen richtiger Name Karsten Hoppe war und der sein Geld als freischaffender Architekt verdiente.

„Was schwebt dir denn so vor?“

Kalle zog die Schultern nach oben und die Mundwinkel nach unten.

„Dire Straits zum Beispiel. Die frühen Sachen. So‚ wie ‚Walk of Life‘. Man könnte…“

Sofort fiel Rebus ihm ins Wort.

„Ach und wer ist der Tastendrücker? Zu den Stücken gehört ja wohl ein Keyboarder. Willst du das übernehmen? Bass spielen füllt einen ja wahrscheinlich nicht so aus.“

Für ein paar Sekunden sah es so aus, als würden Kalle und Rebus sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Corvin registrierte das sofort und stellte sich zwischen die beiden, die ihre Oberkörper bereits kampflustig aufgerichtet hatten.

„Hab ich auch schon drüber nachgedacht. Ein Keyboarder wäre gar nicht mal so schlecht. Ich habe im letzten Jahr beim Elbrock in Langendorf einen gesehen, der war perfekt. Hatte keine feste Band und würde auch im Alter zu uns passen. Hat außerdem eine gute Stimme. Kommt immer noch ziemlich hoch. Der hat damals „A Whiter Shade of Pale“ gesungen und gespielt … und das ist verdammt ziemlich heftig.“

Rebus nahm einen Schluck Bier und lehnte sich zurück.

„Und wie heißt der Wunderknabe?“

Corvin zuckte mit den Schultern. „Weiß ich nicht mehr. Müsste aber leicht rauszukriegen sein. Ich glaube, Klaus oder so ähnlich. Lasst mich mal telefonieren.“

Jetzt machte Jürgen, der mit vollständigem Namen Jürgen Berger hieß und eine Herrenboutique in Lüchow besaß, ein beleidigtes Gesicht.

„Okay, wenn Euch meine Stimmlage nicht mehr reicht. Mich hat neulich Petra von den ‚Kincaids‘ gefragt, ob ich nicht…“

Corvin hob die Hand.

„Leute, ihr fangt jetzt wirklich an, kindisch zu werden. Es wird ja wohl noch erlaubt sein, mal über was Neues nachzudenken. Das heißt doch aber nicht, dass wir irgendjemanden abservieren wollen. Schauen wir uns den Typen doch erst einmal an. Wir sind doch nicht gezwungen, ihn in die Band zu holen. Wollen wir jetzt weitermachen?“

Der Vorteil des Übungsraumes im alten Kalthaus auf Corvins Hof am Rande des Dorfes Waddeweitz war, dass man alles so stehen und liegen lassen konnte, wenn die Lust zu musizieren plötzlich verebbte. Keiner musste mehr abbauen und aufräumen. Der Nachteil war, dass nachfolgende mit erheblichem Biergenuss gepaarte Endlosdiskussionen, die im Laufe des Abends immer unsachlicher wurden, stets dazu führten, dass alle die Auflösung der Band beschlossen. In der Regel dauerte es allerdings vier Tage, bis einer nach dem anderen zum Telefon griff, um zu beteuern, dass das, was er zu vorgerückter Stunde gesagt haben könnte, mit Sicherheit nicht so gemeint war und dass man sich auf den nächsten Termin freue.

So schlug auch an diesem Morgen Erik Corvin, der eigentlich auf den Namen Enrico getauft worden war, seine Augen auf und begann, die Zusammenhänge zu sortieren, die vor dem Eintreten des Tiefschlafs den Abend zu einem Dickicht von Gefühlsausbrüchen hatten werden lassen.

Sein Blick fiel auf den Wecker, der auf dem alten Holzstuhl neben seinem Bett stand. Oha, gleich elf. In wenigen Minuten kam Lilo und er hasste es, seiner Haushälterin in einem für den Tag noch nicht so sehr gefestigtem Zustand gegenüberzutreten. Lilo hatte ein animalisches Gespür, wann ihn ein schlechtes Gewissen plagte, und damit konnte sie hervorragend spielen.

Er stellte sich unter die Dusche, wartete nicht, bis das Wasser warm wurde und ließ den kalten Schauer auf seine kurzen braunen Haare prasseln. Beim Abtrocknen fiel sein Blick in den bodentiefen Ankleidespiegel. Erste Ansätze eines Bierbauches beunruhigten ihn. Er stellte sich auf die Waage. Zweiundneunzig Kilo bei einem Meter und achtzig. Ein bisschen viel für einen 47-jährigen, der immer stolz auf seine athletische Figur gewesen war. Offenbar hatte er das der radikalen Änderung in seinem Leben zu verdanken. Mit der unerwarteten Erbschaft des geräumigen Resthofes und der Tatsache, dass die großen verpachteten Ländereien ihm jeden Monat ohne eigene Anstrengung ein beträchtliches Sümmchen auf das Konto spülten, war auch eine gewisse Bequemlichkeit in sein Leben eingezogen, die jetzt auf dem Display der Waage dokumentiert wurde. Ab morgen wird alles anders, sagte er laut und zog sich an. Allerdings kam ihm dieser Satz ziemlich bekannt vor.

Als er in die Küche kam, war Lilo bereits eingetroffen, zeigte aber zu seiner Überraschung nicht die geringsten Ambitionen, ihn wegen seines desolaten Zustandes in Widersprüche zu verwickeln. Mit ungewöhnlich ernstem Gesicht deckte sie den Frühstückstisch.

„Moin Erik. Ich hatte gestern keine Gelegenheit mehr, dir zu sagen, dass Corinna hier war und dich sprechen wollte.“

Corvin hatte sich auf einen der alten Eichenstühle an dem langen Esstisch niedergelassen.

„Corinna? Welche Corinna?“

Lilo stemmte die Fäuste in ihre ausladenden Hüften.

„Welche Corinna? Corinna Harms natürlich. Du hast mich doch selbst beauftragt, zum Tode ihres Mannes ein Gesteck zu besorgen. Mit Schleife!“

Corvin fasste sich an die Stirn.

„Ach ja, Corinna. Die Frau von Georg. Und was wollte sie?“

Lilo zuckte mit den Schultern.

„Weiß ich nicht. Wahrscheinlich wollte sie sich bei dir bedanken. Allerdings machte sie einen ziemlich verstörten Eindruck.“

Lilo goss Corvin heißen Kaffee aus der Glaskanne in seinen Becher.

„Naja, ist ja auch nicht einfach, den Mann so plötzlich zu verlieren. Nach kurzer schwerer Krankheit nennt man das wohl. Ich glaube, der war erst so alt wie du.“

Corvin nahm vorsichtig einen Schluck vom heißen Kaffee, der angenehm durch die Speiseröhre in den Magen floss, seine Lebensgeister weckte und erinnerte sich im selben Augenblick an alle lebensverkürzenden Sünden, die er begangen hatte.

„Ja, glaube ich auch. Sie wohnten ja erst seit ein paar Jahren hier. Sind von Hamburg hergezogen, genau wie ich. Hat sie denn irgendwas hinterlassen? Soll ich sie anrufen?“

Lilo schüttelte den Kopf.

„Nein, sie wollte wiederkommen. Hat aber nicht gesagt, wann.“

3

Obwohl den ganzen Vormittag über die Fenster zum Lüften geöffnet waren, blieb der Geruch hartnäckig im Raum. Dafür hatten Tausende von Zigaretten, verdunsteter Schnaps und Männerschweiß jahrelang gesorgt und sich in den schwarz gestrichenen Wänden und den gleichfarbigen Samtvorhängen festgekrallt. Die gläsernen Pailletten baumelten an dünnen Fäden von den Lampen herab und gaben in der Zugluft leise klirrende Geräusche von sich.

Der Mann hatte eine auffallend breite Nase mit großen Poren und eine graue Bürstenfrisur. Passend zu Wänden und Vorhängen trug er ein schwarzes Hemd, das weit offenstand und eine goldene Gliederkette einrahmte, die bei jeder Bewegung in den grauen Brustlocken hin und her rutschte. Ebenso grau wie sein Drei-Tage-Bart mit dem darüberliegenden Schnauzer, unter dem ein erloschener Zigarillo hervorschaute. Seine großen Hände mit den auffälligen Goldringen griffen nach ein paar Gläsern, die die letzten Gäste nicht ausgetrunken hatten, als sie im Morgengrauen die kleine Bar verlassen hatten. Er drehte den Wasserhahn auf und hielt die Gläser über die rotierende Bürste in der Mitte des Spülbeckens. Obwohl er offensichtlich einige Pfunde zu viel auf den Rippen hatte, bewegte er sich rhythmisch und gleichmäßig und man konnte sich gut vorstellen, dass er in früheren Zeiten den Boxring nicht nur von außen gesehen hatte.

„Du hast die Pferdchen nicht im Griff“, sagte er mit einer Stimme, die seine Herkunft als gebürtiger Steiermärker nicht verleugnen konnte. Und die mit vielen Schnäpsen und ebenso vielen Zigaretten so trainiert worden war, dass sie tadellos zu seiner Figur passte.

Die Frau, die bisher von einer großen Vase mit Seidenrosen verdeckt wurde, trat ins Licht und zog die Augenbrauen hoch. Sie war etwa Mitte dreißig, trug die kurzen schwarzen Haare straff nach hinten gekämmt, Ohrringe mit großen goldenen Ringen und machte keinen übernächtigten Eindruck. Das Make-up war zurückhaltend perfekt und das rote Etuikleid makellos und kaum zerknittert.

„Bitte nicht schon wieder“, sagte sie, ohne ihn anzublicken. „Kannst du nicht mal eine andere Platte auflegen?“

Der Mann nahm die Kippe aus dem Mund und drückte sie im Aschenbecher aus, obwohl sie längst erloschen war.

„So? Und kannst du mir mal sagen, wo Danita gestern Abend war?“

Die Frau zog abermals die Augenbrauen hoch und sortierte dabei Geldscheine in eine Metallkassette ein.

„Erstens heißt sie Danuta und zweitens hat sie sich ganz ordentlich krankgemeldet.“

Der Mann stellte Gläser in das Regal hinter sich und drehte sich dann zu ihr um.

„Krank? Was hat sie denn? Migräne oder eine plötzliche Allergie gegen Männer?“

Die Frau, sichtlich genervt, schloss die Kassette mit einem Knall.

„Nein, sie hat eine ganz ordinäre Erkältung. Das kann ja wohl mal passieren. Sie ist sehr beliebt, aber kein Freier möchte eine Frau, die ihm dabei ins Gesicht niest und deren Nase tropft.“

Der Mann zuckte mit den Schultern.

„Trotzdem. Ich finde, du lässt den Pferdchen zu viel durchgehen. Die sollen wissen, dass sie sich nicht alles erlauben können, sonst passiert ihnen was. Ein bisschen Schiss ist nie verkehrt.“

Sie schaute ihn mit einem bösen Blick in die Augen.

„Ja, ja, ich weiß. Du liebst es, wenn die Mädchen Angst vor dir haben. Aber solange ich hier bin, fasst du keine mehr an. Dir traue ich inzwischen alles zu. Bis zum heutigen Tag hast du immer noch keine Erklärung, warum Tereza plötzlich verschwunden ist, nachdem du sie beschimpft und bedroht hast.“

Der Mann schaute sie wütend an.

„Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich ist sie längst wieder in Prag oder wo sie herkam.“

„Wahrscheinlich!“, sagte die Frau und warf ihm einen Blick zu, der ihm auch ohne Worte klar machte, dass sie ihm kein Wort glaubte.

4

Nach einem ausgiebigen Frühstück hatte Corvin beschlossen, doch noch einen Blick in den Übungsraum zu werfen und gegebenenfalls etwas aufzuräumen.

Doch dazu kam es nicht mehr. Denn als er durch die Küchentür auf den Hof trat, stand sie bereits in der Einfahrt. Corinna Harms war eine schlanke Frau mit einem schön geschnittenen ovalen Gesicht und einem blassen Teint. Was sofort auffiel, war ihr rotes Haar, das ihr in sanften Wellen auf die Schultern fiel. Ihre Kleidung stand im Gegensatz zu ihrer Porzellanhaftigkeit, denn sie trug Arbeitsklamotten, die eigentlich für Männer bestimmt waren. Ein kariertes Baumwollhemd, eine Zimmermannshose aus Cord mit den traditionellen zwei Reißverschlüssen und Schnürstiefel mit Stahlkappe, wie man sie in Werkstätten trägt. Die graue, etwas zu große Fleecejacke mit der Kapuze passte dagegen weniger zum restlichen Outfit.

Nach wenigen Schritten standen sie sich gegenüber.

„Hallo Erik“, sagte Corinna und schaute ihn mit ihren traurigen blaugrauen Augen, die manchmal ins Grünliche wechselten, direkt ins Gesicht und dabei gleichzeitig ins Unendliche, wie man es von Tagesschau-Sprecherinnen beim Blick auf den Teleprompter kennt.

„Ich nehme an, Lilo hat dir gesagt, dass ich dich sprechen wollte.“

Corvin nickte.

„Ja, hat sie. Lass mich dir sagen, wie leid es mir…“

Corinna hob die Hand.

„Danke, Erik. Ich bin froh, dass er sich nicht allzu sehr quälen musste. Jetzt soll er in Frieden ruhen.“

Corvin ging einen Schritt auf sie zu und berührte sie am linken Oberarm.

„Du wolltest etwas mit mir besprechen? Was kann ich für dich tun?“

Sie nickte und schloss dabei die Augen.

„Können wir irgendwo hingehen, wo uns keiner hört?“

Er lächelte.

„Da wollte ich gerade hingehen. Unser Übungsraum im alten Kalthaus ist ziemlich chaotisch. Aber da hört uns garantiert niemand.“

Er machte eine einladende Handbewegung, ging ein paar Schritte voraus und öffnete die Tür zum Kalthaus.

„Bitte sehr. Immer geradeaus.“

Ohne ihn anzusehen, ging sie in den schmalen Flur und betrat den Übungsraum, in dem tatsächlich chaotische Zustände herrschten. Kabel, Boxen, Stative, Gitarrenständer und andere Gegenstände, deren Funktion nur Rockmusiker deuten konnten, lagen wirr durcheinander.

Ohne sich daran zu stören, setzte sie sich in den alten Ledersessel, den sonst Corvin für sich beanspruchte. Er griff Jürgens Hochlehner an den Armlehnen aus Eichenholz und stellte ihn daneben.

„Also, Corinna, was kann ich für dich tun.“

Bisher hatte sie den direkten Blickkontakt vermieden, aber jetzt schaute sie ihm direkt in die Augen.

„Mochtest du Georg?“

Etwas überrascht von der Frage, lehnte sich Corvin umständlich zurück und atmete hörbar aus.

„Schwer zu sagen. Wir hatten ja nicht unbedingt gemeinsame Themen und geredet hat er ohnehin nicht viel. Wenn längere Gespräche stattfanden, dann ja wohl meistens zwischen uns, oder?“

Sie nickte.

„Ich weiß. Georg war ein ziemlich verschlossener Mensch und die meisten hielten ihn für arrogant. Aber das stimmt nicht. Er tat sich eher schwer im Umgang mit anderen. Schon, weil er glaubte, dass er nicht besonders gebildet war und nicht mitreden konnte. Dabei hat er mich oft mit dem, was er alles wusste, überrascht. Aber darüber wollte ich mit dir nicht reden.“

Corvin nahm eine bequemere Haltung ein.

„Worüber denn?“

Sie versuchte sich in dem durchgesessenen Sessel, in dem man fast versank, so gut es ging aufzurichten und räusperte sich.

„Er hat mir kurz vor seinem Tod etwas gesagt, mit dem ich nicht fertig werde. Das beschäftigt mich von morgens bis abends. Ich schlafe damit ein und ich wache damit auf. Er hat mir…“

Sie machte eine Pause.

„Er hat mir gesagt, dass er mitschuldig ist am Tod eines Menschen.“

Corvin beugte sich nach vorn.

„Ein Unfall?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Das habe ich auch gleich gefragt. Aber er sagte, es sei Mord gewesen.“

Corvin zog die Augenbrauen hoch.

„Ein Mord? Bist du sicher, dass du ihn richtig verstanden hast?“

Sie stand auf und ging ein paar Schritte durch die schmale Gasse zwischen Lautsprecherboxen, Mischpult und Schlagzeug. Dann drehte sie sich wieder zu ihm um.

„Ja, ich habe ihn richtig verstanden. Er hat Mord gesagt.“

„Und? Hast du irgendeinen Anhaltspunkt, was er damit gemeint haben könnte?“

Sie schüttelte den Kopf und setzte sich wieder in den Ledersessel.

„Überhaupt keinen. Ich zerbreche mir seit Tagen den Kopf. Aber da ist nicht mal die Spur einer Ahnung.“

Corvin drehte seinen Kopf in die andere Richtung, verharrte dort eine Weile und wandte sich ihr wieder zu.

„Entschuldige, aber ich muss dich das einfach fragen: Warum willst du es dann unbedingt wissen?“

Sie schaute ihn fast empört an.

„Warum? Weil ich keinen Tag mehr erleben werde, ohne daran zu denken. Weil ich erst wieder meine Ruhe finde, wenn ich weiß, was passiert ist. Verstehst du das nicht?“

Corvin hob beschwichtigend die Hand.

„Natürlich verstehe ich das. Ich will dir nicht vorgreifen, aber wahrscheinlich möchtest du, dass ich mich darum kümmere. Richtig?“

Sie nickte und schwieg einen Augenblick. Ihre Stimme hatte etwas Flehentliches.

„Du kennst dich doch aus in solchen Dingen. Vielleicht findest du eine Spur. Ich bitte dich.“

Corvin atmete langsam ein und wieder aus.

„Gibst du mir Zeit bis morgen? Ich muss erst einmal darüber nachdenken. Ich rufe dich auf alle Fälle an.“

Schweigend verließen sie den Übungsraum und ebenso schweigend gingen sie über den Hof durch die Einfahrt, wo sie unter den Kastanien ihren betagten Kombi geparkt hatte.

5

Nach drei Telefonaten war Corvin fündig geworden. Klaus Nowak hieß der Keyboarder, auf den er während des Elbrock-Festivals aufmerksam geworden war. Und nach einem weiteren Telefonat wusste er bereits, dass der Gesuchte in Hitzacker wohnte und wie er telefonisch zu erreichen war.

„…und wenn ihr nichts dagegen habt, lade ich ihn zu unserem nächsten Treffen ein“, tippte er in die Tastatur seines Notebooks, um wenig später zwei eindeutige und eine nebulöse Antwort per E-Mail zu erhalten.

Während Rebus und Jürgen mit einem lakonischen „ok“ und „meinetwegen“ antworteten, fiel die Antwort von Kalle etwas länger aus.

„Wenn es der Klaus Nowak ist, den ich mal kannte, habe ich keine guten Erinnerungen an ihn. Aber wenn die anderen es wollen, soll er ruhig mal kommen.“

Komisch, dachte Corvin, dann hätte er ja auch gleich sagen können, warum er mit dem Mann in der Vergangenheit offenbar mal zusammengerasselt war.

In der Vergangenheit? Verdammt, fuhr es ihm durch den Kopf, jetzt hättest du fast vergessen, Corinna anzurufen. Und du hattest es doch versprochen.

Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Schon wieder jemand, der deine Hilfe als Schnüffler in Anspruch nehmen will. Aber du hast dir doch mehrfach versprochen, so etwas nicht mehr zu machen. Andererseits – gib es zu – tut sie dir leid und eine interessante Person ist sie außerdem. Hast du dich nicht früher schon mal gefragt, warum eine solche Frau mit so einem Mann verheiratet ist?

Er musste grinsen.

Irgendwie hatte er sich doch längst entschieden. Und wählte ihre Nummer.

Nach dem dritten Rufton meldete sie sich.

„Hallo Corinna, ich habe darüber nachgedacht und will versuchen, dir zu helfen. Du weißt aber, dass ich dazu in eurem Privatleben stöbern muss.“

Er hörte, dass sie schlucken musste.

„Natürlich, das ist mir klar. Ich fürchte nur, viel Aufregendes wirst du nicht finden.“

„Wir werden sehen. Auf jeden Fall müssten wir uns noch einmal etwas intensiver unterhalten. Dazu komme ich am besten zu dir. Wann passt es?“

Das Haus, in dem Corinna Harms lebte, war eigentlich eine Scheune, die übrig geblieben war, als der Rest des Hofes nach einem Blitzeinschlag niederbrannte. Da sie unter Denkmalschutz stand, durfte sie nicht abgerissen werden, fand lange keinen Käufer und verfiel zusehends. Bis der Bauingenieur Georg Harms und seine Frau Corinna aus Hamburg bei einem ihrer Ausflüge ins Wendland durch Zufall dort vorbeikamen und Gefallen an dem alten Gemäuer fanden. Nach Verhandlungen mit dem Denkmalschutz wurde die Scheune zu einem ansehnlichen Wohnhaus umgebaut, diente zunächst als Wochenenddomizil und wurde, als Georg eine Festanstellung bei einem Bauunternehmer fand, zum ersten Wohnsitz. Für Corinna als gelernte Krankenschwester und Altenpflegerin war es nicht weiter schwierig, einen Job zu finden, da der demografische Wandel im Wendland ihren Beruf immer gefragter werden ließ.

Nachdem er seinen Wagen an der Pforte aus gespaltenen Haselnussästen geparkt hatte, kam sie ihm auf dem mit Kopfstein gepflastertem Weg bereits entgegen. Sie trug wieder ihre schwarze Zimmermannshose mit einem beigen Leinenhemd, das lose über dem Gürtel hing. Sie hob leicht die Hand, strich sich eine Strähne ihres roten Haars aus dem Gesicht, lächelte aber nicht.

Wenn der Anlass nur nicht so tragisch wäre, dachte Corvin. Trotzdem – ein verdammt schöner Anblick.

„Hallo Erik, schön, dass du gekommen bist.“

Corvin blieb stehen und deutete ein Lächeln an.

„Wie ich dir schon am Telefon sagte, Corinna, ich werde versuchen einen Anhaltspunkt zu finden. Aber versprechen kann ich gar nichts.“

Sie nickte.

„Ich weiß. Aber allein die Tatsache, dass du dich damit beschäftigst, beruhigt mich etwas. Komm rein, ich habe gerade frischen Kaffee gemacht.“

Hinter der Eingangstür ging es direkt in die Groot Deel, deren Boden mit Eichendielen ausgelegt war. Die Ständer und Querbalken waren sandgestrahlt, so dass die Struktur des alten Holzes gut zur Geltung kam. Den Mittelpunkt des Raumes bildete ein großer, nach allen Seiten offener Kamin, der allerdings aus Brandschutzgründen nicht betrieben werden durfte. Stattdessen hatte Georg Harms auf dem Brennplatz einen Bullerjan platziert, der spielend die ganze Diele heizte.

Der so norddeutsch klingende Ofen mit der seltsamen Röhrenkonstruktion war in Wirklichkeit die Erfindung eines Kanadiers für frierende Holzfäller. Und wenn die nicht wissen, pflegen Kenner zu sagen, wie man die Stube warm kriegt – wer dann sonst? Vor dem Kamin stand ein großes Sofa, davor ein flacher Tisch mit einer Glasplatte. Links und rechts davon zwei neu aussehende Sessel mit losen Kissen.

Corinna machte eine einladende Handbewegung.

„Setz dich doch. Ich hole eben den Kaffee.“

Sie durchquerte die Diele und verschwand hinter einer frisch weiß gestrichenen Stalltür, wo die Küche lag. Corvin setzte sich in einen der Sessel und schaute sich um.

Komisch, dachte er, alles sehr schön gemacht, aber irgendwie ohne Leben. Man hat nicht den Eindruck, dass hier viele Leute ein- und ausgehen.

Corinna war zurückgekommen und stellte ein Tablett mit einer Isolierkanne, Milch und Zucker, zwei Tassen und einer Schale mit Keksen auf den Tisch.

„Bediene dich bitte.“

Er nickte und goss sich eine Tasse ein, nahm einen Schluck, stellte die Tasse wieder auf den Tisch und lehnte sich zurück.

„Sag mal, kanntest du eigentlich alle Freunde deines Mannes?“

Corinna kräuselte ihre Lippen und zwei Falten gingen zwischen den Augenbrauen in die Höhe.

„Ich denke schon. Georg war kein Buddytyp, der mit den Kumpels gern mal ein Bier trinken geht. Er hatte auch in Hamburg einen sehr überschaubaren Kreis. Meistens Kollegen. Die haben uns ein-, zweimal hier draußen besucht und das war’s denn auch. Mit neuen Bekanntschaften tat er sich schwer, höchstens mal ein Small Talk mit den Nachbarn. Mit Heinrich, dem Landwirt, dessen Hof da gegenüber liegt, hat er sich manchmal unterhalten, weil ihn alles interessierte, was mit Maschinen zu tun hatte. Als Heinrich seinen neuen Trecker bekommen hat, war er richtig beseelt und stundenlang drüben. Und Heinrich war das auch ganz recht, wenn er jemandem mal seinen ganzen Stolz zeigen konnte. Aber ansonsten war unser Kontakt zu anderen Leuten im Dorf nicht gerade ausufernd.“

„Aber du bist da doch anders. Du gehst doch immer ganz offen auf die Leute zu. Das bedingt ja schon dein Beruf und daraus ergeben sich doch auch sicher neue Bekanntschaften.“

Corinna nickte.

„Ja, sicher. Aber wenn ich dann mal Leute zu uns nach Hause eingeladen habe und da war nur eine Winzigkeit, die Georg nicht mochte, dann klappte er sein Visier zu und sprach den ganzen Abend kaum ein Wort. Glaub doch nicht, dass sich aus solchem Verhalten irgendwelche netten Bekanntschaften ergeben.“

Corvin nahm einen Schluck Kaffee.

„Es tut mir leid, aber du kannst dir sicher denken, dass ich diese Frage stellen muss: Warum hast du diesen Mann denn eigentlich geheiratet?“

Sie schwieg, als müsse sie erst einmal ihre Gedanken ordnen.

„Du musst das aus der Situation heraus verstehen. Georg und ich kannten uns ja schon als Teenager und als dann meine Eltern bei diesem Verkehrsunfall ums Leben kamen, hat er sich rührend um mich gekümmert. Alles hat er mir abgenommen, diesen ganzen Verwaltungskram, den so ein schreckliches Ereignis mit sich bringt und gleichzeitig war er mein Seelentröster. Diese ruhige Art, die er hatte, war genau das, was ich damals brauchte. Und darum stand für mich bald fest: Mit diesem Mann wollte ich mein Leben verbringen. Das ist jetzt genau zehn Jahre her.“

Corvin nickte.

„Waren eure Lebensverhältnisse denn immer so, dass du – entschuldige bitte den Ausdruck – ihn ständig unter Kontrolle hattest?“

„Wenn du damit meinst, dass er sehr häuslich war – ja. Aber, wie gesagt, er hatte ein sehr großes Interesse an Technik. Und wenn es irgendwo eine Messe auf diesem Gebiet gab, dann fuhr er dorthin. Manchmal hatte seine Firma auch Bauprojekte, die weiter entfernt lagen. Dann war er tagelang nicht zu Hause.“

Corvin hatte inzwischen seinen Moleskine Block und den Drehbleistift hervorgeholt und machte sich einige Notizen.

„Er hatte also schon Gelegenheit, Dinge zu tun, die nicht in deinem Einflussbereich lagen.“

Corinna nickte.

„Ja, kann man so sagen. Möchtest du noch einen Kaffee?“

Corvin hatte sich vorgenommen, das erste Gespräch nicht länger als eine Stunde dauern zu lassen, aber dann wurden doch drei daraus. Als er Block und Bleistift wieder in die innere Seitentasche seines Jacketts schob, wurde ihm klar, dass die Arbeit, auf die er sich eingelassen hatte, wesentlich aufwändiger werden würde, als er am Anfang gedacht hatte. Er müsste sämtliche unbewachten Zeiten im Leben des Georg Harms durchleuchten. Das konnte dauern. Und dass er Corinna keinen Wunsch abschlagen konnte, wusste er schon länger.

Wenn man im Landkreis Lüchow-Dannenberg etwas wissen möchte, was nicht in der Zeitung steht, ist man gut beraten, als Erstes dem Zentralorgan wendländischer Kommunikation einen Besuch abzustatten. Im „Wendenhof“ wurden nicht nur köstliche Speisen und durststillende Getränke serviert, sondern diese auch mit Nachrichten aus allen Lebensbereichen angereichert. Man sollte zwar nicht alles, was in der „Wende“ erzählt wurde, einem Faktencheck unterziehen, aber der eine oder andere Anhaltspunkt war eigentlich immer dabei. Irgendwas wird schon dran sein, lautete das Credo der Gäste. Sonst würden wir ja nicht darüber reden. Und an einer schönen Geschichte zum Bier oder zum Wein, gab es immer Bedarf.

Corvin ging durch den Vorgarten, grüßte nach links und nach rechts und winkte denen zu, die etwas weiter weg saßen. Unter der Woche kannte er hier fast jeden, nur an Wochenenden und an Feiertagen waren die Tagestouristen in der Überzahl.

„Wie schön“, dachte er, als er durch die offenstehende alte Eichentür den Schankraum betrat, „dass sich hier nie etwas verändert. Die Bewirtung nicht, die Gäste nicht und die Speisekarte schon gar nicht.“

Frank Matthes, der Wirt, stand wie immer mit beiden Fäusten auf den Tresen gestützt und unterhielt sich mit dem dicken Klaas Vormann, der wie immer in seiner übergroßen Lederweste auf der Querbank saß. Zwischen Küche und Gastraum wirbelte Beatrix, Matthes’ Ehefrau mit holländischen Wurzeln, und am langen Tisch in der Ecke stritt sich immer noch die Gruppe von Künstlern um den Maler Uno Brömmer über die Frage: Braucht die Kunst noch den Menschen?

„Na, sag schon“, dachte Corvin, und Sekunden später knurrte Frank Matthes:

„Moin Erik. Köpi?“

Und wie immer sagte Corvin nichts, sondern reckte zum Zeichen der Einwilligung den Daumen der rechten Hand nach oben und ließ sich auf dem Hocker am Tresen nieder.

Und auch Klaas Vormann enttäuschte ihn nicht. Der hustete einmal kräftig den typischen Zigarrenraucherhusten, lehnte sich zurück und schaute Corvin aus seinen wasserblauen Augen an.

„Na Erik, was läuft denn so?“

Und wie immer antwortete Corvin.

„Im Moment nur die Nase.“

Das war die gewohnte Einleitung, denn nun kam Vormann zur Sache, die stets mit den Worten begann:

„Wusstest du eigentlich schon…?“

Und so begann er auch dieses Mal.

„Wusstest du eigentlich schon, dass der alte Pottgießer gestorben ist? Ich dachte, der lebt ewig. Letzten Dienstag war er noch hier.“

Frank Matthes nickte zustimmend und polierte dabei ein Weinglas.

„Dreiundneunzig war er. Da kann das manchmal schnell gehen.“

Das ist eine Steilvorlage, dachte Corvin, jetzt konnte er ganz beiläufig das Gespräch in die gewünschte Richtung bringen.

Er nahm einen Schluck Bier und wischte sich über den Mund.

„Besser so, als zu sterben, wenn man noch nicht mal halb so alt ist. Wie der…wie hieß er noch gleich. Der Mann von der Rothaarigen. Wisst ihr, wen ich meine?“

Frank Matthes stellte das inzwischen funkelnde Weinglas ins Regal.

„Ach, du meinst den Georg. Den Georg Harms. Ja, ich glaube, der war erst Mitte vierzig. So plötzlich. Das ist bitter.“

Corvin schob Frank Matthes sein leeres Glas entgegen.

„Kanntet ihr den gut?“

Vormann zuckte mit den Schultern und machte einen spitzen Mund.

„Was heißt gut? Der war schon ein komischer Kerl. Nicht unfreundlich, aber immer so, als wollte er nichts mit einem zu tun haben. Dabei hatte er doch so eine nette, hübsche Frau. Von der würde ich mich auch gern pflegen lassen, wenn ich alt bin. Und darum hab ich mich damals auch gewundert.“

Corvin schaute Vormann fragend an.

„Worüber hast du dich gewundert?“

Vormann dachte einen Augenblick nach.