Die Frau in der Streichholzschachtel - Nicki Pawlow - E-Book

Die Frau in der Streichholzschachtel E-Book

Nicki Pawlow

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Beschreibung

Berlin 1990, ein Jahr nach dem Mauerfall. Franziska Kling, die Protagonistin in Nicki Pawlows erstem Roman, arbeitet in der Pressestelle der Treuhandanstalt. Der Arbeitsalltag ist hart: Die Telefone funktionieren nicht, die Bürotechnik ist veraltet, ständig muss improvisiert werden. Und die Treuhand ist verhasst. Streiks vor dem Gebäude, abgewickelte Betriebe, Massenarbeitslosigkeit und schließlich der Mord an Rohwedder zehren an den Nerven von Franziska und ihren Kollegen. Eines Tages erhält Franziska einen Anruf von Wolfgang Kiefer dem berühmten Fernseh-Journalisten. Franziska kennt Kiefer bereits seit ihrer Kindheit in der DDR aus dem Westfernsehen. Der DDR-Korrespondent Kiefer wurde ihr Vorbild, ihr Idol, und ist es über die Jahre geblieben. Nachdem sie als Jugendliche mit der Familie in den Westen geflüchtet war, hatte sie Kiefer 1983 während eines politischen Seminars persönlich kennen gelernt. Damals schenkte er ihr seinen Talisman: Eine Streichholzschachtel, auf deren Boden eine Telefonnummer stand. Und nun, 1990, trifft Franziska ihr Idol in Berlin wieder. Eine verrückte Liebesgeschichte beginnt, in deren Verlauf Franziska sich mehr und mehr an Schlüsselszenen ihrer Kindheit in der DDR erinnert und schließlich das erschütternde Geheimnis der Streichholzschachtel lüften kann. Nicki Pawlow erzählt mitreißend, kenntnisreich, voller Tempo und erzeugt so einen Sog, dem sich der Leser nur schwer entziehen kann.

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Die Frau in der Streichholzschachtel

von Nicki Pawlow

XPUB Verlag

XPUB GmbH

Copyright (c) 2014 by XPUB GmbH, Leipzig ISBN 978-3-945703-01-4 1. E-Book-Auflage 2014

Umschlaggestaltung: Annika Metze Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Sprache: Deutschwww.xpub.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Verfielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung, der Vertonung als Hörbuch oder Hörspiel oder der Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen, Video oder Internet, auch einzelner Text- und Bildteile sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Prolog

Als ich seine Stimme höre, läuft der Film in meinem Kopf rückwärts. Immerhin kenne ich ihn schon seit vielen Jahren. Ich kenne ihn schon, seit ich denken kann. Er und seine Kollegen gehörten so selbstverständlich zu meinem Alltag wie Lassie, Bonanza und Winnetou. Weiter, immer weiter spult der Film zurück.

Da, jetzt stoppt er, der Bildschirm flackert kurz, und ich sehe ihn auf der Mattscheibe unseres Schwarz-Weiß-Fernsehers, Marke RFT. Er steht vor dem Palast der Republik in Ost-Berlin, an dessen Front das Staatswappen der Deutschen Demokratischen Republik prangt. Sein Kopf neben Hammer, Zirkel und Ährenkranz.

Es regnet Bindfäden. Ernst blickt er in die Kamera. Mit hochgezogenen Schultern. Er trägt einen hellen Trenchcoat und, wie es damals modern war, eine Hornbrille. Sein Haar ist feucht, winzige Regentropfen sitzen auf den Brillengläsern. Immer wenn er ins Mikrofon spricht, das er mit der rechten Hand vor den Mund hält, formt sich sein Atem zu weißem Dampf.

Es ist der 17. November 1976. Gestern ist Wolf Biermann ausgebürgert worden. Er darf nach einem Konzert in Köln nicht wieder zurück in die DDR. Ich verfolge das Geschehen auf dem Bildschirm zusammen mit meinen Eltern. Ich bin elf Jahre alt und wohne in Nordhausen am Harz. Bis zu unserer Flucht in den Westen wird nur noch ein knappes Jahr vergehen.

1

»Können Sie denn überhaupt etwas mit meinem Namen anfangen?« Das Bild vor meinem geistigen Auge zerplatzt wie eine Seifenblase. »Wolfgang Kiefer«, sage ich, »dreiundfünfzig Jahre alt, Fernsehkorrespondent.« Er lacht. Ich sehe mich auf der Straße stehen, an einem nieselgrauen Septembertag in Berlin. Ich bin ihm ohne Mantel nachgelaufen. Er lächelt mich an und berührt mit seinem Daumen die Stelle zwischen meinen Augenbrauen. Während eines Seminars hatten wir uns kennengelernt. Ich war achtzehn. Und obwohl unsere Begegnung nur kurz war, hat sie sich mir unauslöschlich eingeprägt. Sieben Jahre ist das nun her. Sieben Jahre, fünf Briefe von mir, drei Anrufe von ihm. »Ich habe eine Pressemitteilung erhalten, die von Ihnen unterschrieben ist«, sagt er. »Seit wann sind Sie denn bei der Treuhandanstalt?« Ich lehne am Schreibtisch in dem Büro, das ich mir mit Karola teile, und sehe aus dem Fenster auf das Hotel Stadt Berlin. Es ist ein trüber Novembertag, ein Jahr nach dem Mauerfall. »Seit ein paar Monaten«, rufe ich und presse den Hörer fester ans Ohr. Das andere halte ich mit der Hand zu. »Warum brüllen Sie denn so?«, fragt er gutgelaunt. »Weil es hier zugeht wie in einem Taubenschlag«, rufe ich.

Tatsächlich ist unser Büro voller Menschen, alle reden durcheinander und wollen was von uns: Gehört das Braunkohlekombinat in Cottbus schon zur Treuhand, und hast du die Telefonnummer? Ich brauch mal die Liste von allen Unternehmen mit mehr als fünfhundert Beschäftigten! Kennst du jemanden, der früher Dampfkessel hergestellt hat, und wo kann ich den jetzt erreichen? Funktioniert euer Fax? Wo find ich am schnellsten einen Juristen! »Hört sich an wie auf dem Moskauer Bahnhof«, sagt er. Dieses Mal lache ich und sage: »Das sind lauter Investoren, Kombinatsleiter und Journalisten. Die einen interessieren sich für einen Betrieb, den sie kaufen wollen, die anderen geben Sanierungskonzepte ab und wieder andere wollen Interviews. Und eine Pressekonferenz jagt die andere. Die nächste ist um elf Uhr.« »Waren Sie denn in Berlin, als die Mauer fiel?«, fragt Wolfgang Kiefer. »Nein, ich kam erst ein paar Tage später her«, sage ich. »Mich hat nichts mehr im Westen gehalten. Da hat man von allem viel zu wenig mitbekommen.«

»Das kann ich gut verstehen«, sagt er. »Aber wie sind Sie denn ausgerechnet in der Anstalt gelandet?« Das klingt, als sei ich in die Psychiatrie eingeliefert worden. Ich lasse mir jedoch nichts anmerken und sage: »Ein Freund erzählte mir, dass die Treuhand dringend Leute sucht. Und ich wollte weg aus Bonn.« »Und nun leisten Sie Pionierarbeit.« Kiefer lacht wieder. Dieses gewisse typische Männerlachen. Er schickt es durch die Leitung direkt in mein Ohr, das heiß am Hörer klebt. Nur wenige hundert Meter von hier steht der Häuserblock, in dem er gewohnt hat während seiner Zeit als DDR-Korrespondent. Und jedes Mal, wenn ich für einen Tag Ost-Berlin besuchte, liefen meine Beine wie von selbst zu den Hochhäusern Nummer 65 und 66 in der Leipziger Straße. Hier waren westliche Ausländer untergebracht, die in der Hauptstadt der DDR in Botschaften und Handelsvertretungen arbeiteten. Und Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik. Aber auch hohe Parteifunktionäre der SED. Und eben Korrespondenten aus Mainz, Bonn, Frankfurt am Main.

Einmal trat ich an das Klingelschild heran, in der Hoffnung, einen berühmten Namen zu entdecken. Ich suchte nach Mühlenberg, Otte, Bornheim, Sagebiel oder eben nach Kiefer. Eine schnarrende Stimme forderte mich auf, ich solle zurücktreten und mich ausweisen. Aus dem Nichts war ein Volkspolizist aufgetaucht. Der Vopo, dessen Dienstmütze tief in die Stirn gezogen war, zückte Notizblock samt Kugelschreiber. Ich holte meinen Passierschein und meinen Jugend-Ausweis, ausgestellt in Rottweil, Baden-Württemberg, aus dem Rucksack. Der Vopo betrachtete das Foto, sah mich an, dann wieder das Foto und wieder mich. »So, so, Sie sind Bürger der Bä Er Dä«, sagte er mit sächsischem Singsang und spitzte die Lippen. Dann befahl er: »Entfernen Se sich von diesem Objekt!« »Ich habe viele Artikel von Ihnen gelesen«, sagt Wolfgang Kiefer am anderen Ende der Leitung, und ich höre ein Feuerzeug klicken.

»Lesen Sie etwa den Kurier?«, frage ich. »Der landete, wie alle Zeitungen, jeden Tag auf meinem Bonner Schreibtisch. Und dann habe ich geblättert und gesucht, ob ich Ihren Namen irgendwo finde.« Wie peinlich! Die Überschrift des letzten Artikels, den ich für den Bonner Kurier schrieb, hieß: ›Oma Helene (83) springt mit Fallschirm ab‹. Es war mein erster Job nach dem Studium in Bonn, und ich hatte mir vorgenommen, mich bis in die politische Redaktion vorzukämpfen. Ich schrieb wunderbar weltbewegende Artikel mit Titeln wie: ›Frau ließ sich gegen Haarausfall behandeln, sie wurde schwanger‹, oder ›Bäcker wehrt sich gegen Mietwucher: So große Brötchen kann ich gar nicht backen‹ und ›Wasser lief weg: Panne im Goldfischteich‹. Das politischste, was ich in jener Zeit schreiben durfte, war: ›Ausgerechnet! Am Hochzeitstag fiel FDP-Fraktionssprecher Schlüssel in den Gully‹.

Die Politik-Seiten blieben für mich unerreichbar. Hatte ich dafür mein Politologie-Examen gemacht? Nach einem Jahr hatte ich genug. Und mein Ziel, bedeutenden, ja großartigen Journalismus zu machen, rückte in weite Ferne.

»Sie verfolgen mich schon seit Jahren.« Wolfgang Kiefer hält inne, vermutlich, um an seiner Zigarette zu ziehen. »Überallhin«, setzt er hinzu, und in seiner Stimme schwingt eine Zärtlichkeit mit, die mich überrumpelt. Ich kriege eine Gänsehaut. »Klar«, sage ich, »deshalb haben Sie sich auch jahrelang nicht gemeldet.« Ich beiß mir auf die Zunge. Fehlt nur noch, dass er mir erzählt, er habe meine Artikel ausgeschnitten, auf weiße Papierbögen geklebt und in eine Mappe geheftet, die er ständig bei sich trage. Wolfgang Kiefer redet nun auf mich ein. Ohne Luft zu holen. Karola tippt mir auf die Schulter und zeigt auf ihre Armbanduhr. Ich wedele mit der Hand, mache ein bedeutungsvolles Gesicht und flüstere: »Wichtig!« Karola nickt, greift nach dem Stapel Pressemitteilungen und verlässt das Büro.

Wolfgang Kiefer erzählt, dass er seit kurzem in Berlin arbeite. Nett, dass er nicht einfach davon ausgeht, jeder müsse das wissen. Sein Kommen ist in der Presse groß angekündigt worden. In der Zeitung stand auch, dass seine Frau, eine ehemalige DDR-Bürgerin, mit den Kindern bald nachkommen werde. Sie ist fünfzehn Jahre jünger als er. Es ist seine dritte Ehe. »Ich bin verantwortlich für eine deutschlandpolitische Sendung, die jeden Donnerstagabend ausgestrahlt wird.« »Das Deutschlandjournal. Ich weiß,« sage ich. »Seit fünf Monaten sitzen wir in unserem neuen Fernsehstudio Unter den Linden. Wir senden live aus Ost-Berlin. Wir wollen ein Zeichen setzen.« »Als erster westdeutscher Sender im Osten«, ergänze ich.

»Aber ich hocke nicht nur im Studio, ich fahre viel durch die neuen Bundesländer und recherchiere. Ich war auch in Ihrer Heimat, in Thüringen. Ich bin sogar durch Nordhausen gefahren.«

»Heimat ist gut«, sage ich. »Ich habe dort einige Reportagen gedreht.« ›Montagsdemonstration in Eisenach‹, denke ich, ›Der tiefe Fall des Genossen Wartmann‹, ›Aktenvernichtung in der Stasi-Zentrale Apolda‹. »Ich weiß«, sage ich, »Sie waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort.« Ich verschlucke mich, muss husten. Ich trinke einen Schluck kalten Kaffee. Er schmeckt bitter. Das Husten hört nicht auf.

In mein Husten hinein sagt er: »Ich möchte Sie gern wiedersehen.« »Auf Wiedersehen«, hatte er zu mir gesagt, damals 1983 in Berlin. Und: »Schreiben Sie mir! Ich freue mich darauf.« Dann trug ihn der Fahrstuhl in die Tiefe, fort von mir. Ich rief ihm nach, rannte hinterher, die Treppen hinunter, drei, vier Stufen auf einmal nehmend. Er war schon auf der Straße, ich sah ihn von hinten, seinen braunen Schopf, den beigefarbenen Burberry. Den Schirm hatte er trotz des Regens nicht aufgespannt. »Rufen Sie mich an, wenn es Ihre Zeit erlaubt«, sagt er.

»Ich bin immer schon sehr früh im Büro.« Gerade als ich mir seine Telefonnummer notieren will, beginnt es in der Leitung zu knacken.

»Hallo?«, rufe ich. »Herr Kiefer? Hallo?« Das Gespräch bricht ab. Ich fluche. Dass das ausgerechnet jetzt passieren muss! Ständig sind die wenigen Telefonleitungen in der Treuhand überlastet. Ich starre auf die schwarzen Löchlein der Hörmuschel. Was hat er zuletzt gesagt? Dass ich ihn anrufen soll? Ich bin völlig durcheinander. Ich verlasse das Büro und eile durch die überfüllten Flure. Alle Besucherecken sind besetzt. Kollegen führen hier, wegen des Platzmangels in den Grossraumbüros, Verkaufsgespräche mit Investoren. Manche stehen an die Wand gelehnt und sprechen dort miteinander. Andere haben sich einen Heizkörper als Sitzgelegenheit ausgesucht.

Es herrscht ein Kommen und Gehen wie auf einem Markt. Ich betrete den großen Vortragssaal, die Pressekonferenz ist in vollem Gange. Der Raum ist überfüllt, einige Journalisten stehen sogar auf dem Flur, manche rauchen. »Herr Dr. Rohwedder«, sagt eine Journalistin gerade, »die DDR-Wirtschaft entpuppt sich mehr und mehr als milliardenschweres Verlustgeschäft. Wie wollen Sie das bewältigen?«

»Es ist tatsächlich so«, höre ich die Stimme unseres Präsidenten, »als müssten wir mit Schäufelchen den Montblanc abtragen. Diesen Vergleich ziehe ich des Öfteren. Doch es hilft alles nichts, die Treuhandanstalt ist nun einmal per Gesetz dazu verpflichtet worden, Kombinate, wenn nötig, zu liquidieren.«

Ich schlängele mich an Kollegen, Fernsehkameras und Fotografen mit Teleobjektiven vorbei. Lehne mich neben Karola mit dem Rücken an die Wand. Meine Kollegin hält noch immer die Pressemitteilungen in den Händen. Neben Rohwedder sitzt Pfeiffer. Thorsten Pfeiffer ist Pressesprecher der Treuhandanstalt und mein Chef. Ein großer hagerer Mann, der Fliege trägt, cholerisch und ehrgeizig ist. Auf sein Zeichen hin beginnen Karola und ich die Pressemitteilungen an die Journalisten zu verteilen. Pfeiffer will das so: Nur nicht zu früh die Informationen an die Presse verfüttern! Sich immer ein Hintertürchen offenhalten! Und niemals einen Fehler zugeben! Ich halte den Journalisten das Papier hin, sie nehmen es, ich lächle sie an. Ich strahle! Ich schwebe! Wissen Sie, würde ich am liebsten sagen, Ihr Kollege Wolfgang Kiefer hat mich eben angerufen. Den kennen Sie doch, nicht wahr? Jawohl, der Kiefer! Genau der! Meine Bluse ist nass unter den Achseln. Ich beobachte die Uhr über der Eingangstür.

Der kleine Zeiger steht kurz vor der Zwölf, der große wippt gerade auf die Fünf, und ich muss mich zurückhalten, nicht laut und fröhlich zu singen. Ich höre die Fragen, die die Journalisten an Rohwedder richten, und ich vernehme die Worte, die dieser zu Sätzen zusammenfügt, doch ich verstehe kein einziges davon. Wolfgang, denke ich. Mein Wolf.

2

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich ihn zum ersten Mal traf. Es war ein regnerischer Sonnabend im September 1983, in Berlin-Charlottenburg. Ich saß in einem Seminarraum der Landeszentrale für politische Bildung und wartete auf Wolfgang Kiefer, den Mann, den ich seit meiner Kindheit aus dem Fernsehen kannte, den ich verehrte, der mein unerreichbares Vorbild war. Mein Gojko Mitić, der als Chingachgook, die große Schlange, auf seinem weißen Mustang durch die Prärie ritt und kein Verbrechen der Bleichgesichter ungesühnt ließ.

Der Regen klatschte an die Fensterscheiben. ›Als Höhepunkt des Seminars wird Wolfgang Kiefer, der bekannte Fernsehjournalist, über seine Erfahrungen als Korrespondent in Ost-Berlin berichten.‹ So stand es im Programm. Seinetwegen bin ich aus der schwäbischen Provinz hierher gekommen. Mit dem Ford meiner Mutter. Von Rottweil nach Berlin. Hinter der letzten westlichen Raststätte vor der Grenze habe ich das Schild mit der Aufschrift ›Bitte nicht vergessen, Sie fahren weiter durch Deutschland!‹ gelesen und geweint. Mit einem mulmigen Gefühl und im Schritttempo habe ich mich den Grenzposten genähert. Dem Zöllner meinen Pass gegeben und ihn auf dem Laufband in dem schmalen Tunnel verschwinden sehen.

Jetzt hast du dich ausgeliefert, habe ich gedacht, wie jedes Mal, wenn ich die Transitstrecke benutzte oder in die DDR einreiste. Ich sah, wie die Vopos einen klapprigen Volvo mit Hamburger Kennzeichen filzten. Der Fahrer musste alle Wagentüren, den Kofferraum und die Motorhaube öffnen. Die Vopos leuchteten den Unterboden ab und ließen ihre Schäferhunde an der Karosse schnüffeln. Angst schnürte meine Kehle zu. Ich versuchte, ruhig zu bleiben und an die Verordnung zu denken, die die DDR im Juni 1982 erlassen hatte. Dank dieser war allen, die vor dem 1. Januar 1981 abgehauen waren, die DDR-Staatsbürgerschaft aberkannt worden. Ehemalige Republikflüchtlinge galten nun als Ausländer und konnten folglich wieder einen Antrag auf Einreise in die DDR stellen.

Drei Monate später hatte ich es zum ersten Mal gewagt, darüber nachzudenken, wieder nach drüben zu fahren. Fünf Jahre nach unserer Flucht. Mein Vater sagte: »Keine hundert Pferde bringen mich dahin zurück.« Meine Mutter wiegte mit sehnsüchtigem Blick den Kopf. Meinen Bruder interessierte das überhaupt nicht.

Und ich rief Beatrix an, mit der ich in Nordhausen zur Schule gegangen war, und ließ mich von ihr offiziell einladen. Ich besuchte sie für eine Woche. Eine Woche Nordhausen. Eine Woche Heimat. Eine Woche Kindheit. Eine Woche DDR. Nun stand ich wieder an dieser Grenze und wartete auf meinen Reisepass. Ich bekam ihn mit einem Stempel versehen zurück. Ich legte den ersten Gang ein und fuhr langsam an. Mir war flau und meine Knie zitterten. Denn ich bin ein DDR-Flüchtling. Rübergemacht 1977. Mit den Eltern und dem kleinen Bruder. Ich musste nach West-Berlin zu diesem Seminar! Ost- West-Seminare waren meine Leidenschaft.Und wegen Wolfgang Kiefer war ich hier! Mein Idol würde einen Vortrag halten. Ich würde ihn live erleben! Nur seinetwegen ertrug ich die dümmlichen Sprüche des Seminarleiters Krause, der über den Alltag in der DDR referierte, was von Broiler und Soljaska faselte.

Und nicht mal wusste, dass es Soljanka heißt. Dem es Spaß machte, DDR-Alltagsvokabular an die Tafel zu schreiben. Handschlagrute, Bückware, Frottiervorbinder, Dispatcher, Strassenbegleitgrün, Richtsignalanlage. Ossi-Kisuaheli. Die anderen lachten. Ich nicht. Und mein Nachbar auch nicht. Der hieß Werner. Der Mann mit der Halbglatze und den traurigen braunen Augen war mir gleich zu Beginn des Seminars aufgefallen, weil er mit thüringischem Dialekt sprach. »Kommst von drüben, nicht?«, hatte ich ihn gefragt. »Aus Gera«, hatte er geantwortet.

»Wie bist du rausgekommen?« »Freikauf.«Ich nickte ihm zu und wollte, dass er weiterredete.

»Nach drei Jahren Knast. Wegen staatsfeindlicher Hetze.«Ein Buch war ihm zum Verhängnis geworden. Er hatte ›1984‹ von George Orwell auf der Schreibmaschine abgetippt und mit Blaupapier vervielfältigt. Ein Exemplar schenkte er einem Freund. Zwei Tage später wurde er verhaftet. Beim Verhör schlug ihm die Stasi drei Zähne aus. Die Narbe unterm Jochbein wird ihn ein Leben lang daran erinnern.

»Die DDR ist das einzige Ostblockland, in dem es möglich ist«, salbaderte Krause jetzt, »die ideologisch gefärbten Ost-Nachrichten mit denen des Westfernsehens zu vergleichen, sich so ein objektives Gesamtbild zu bilden und …« »Menschenskinder! Westfernsehen!«, unterbrach Werner ihn. »Das ist doch viel mehr! Freiheit wittern!, im Kopf nach Australien reisen!, Informationen grenzenlos! « Es sprudelte nur so aus ihm heraus. »Mit der Enterprise ins Weltall düsen, mit Flipper im Pazifik tauchen, und Eduscho-Kaffee und Persil schnuppern.« »Oder Sarotti-Schokolade«, fügte ich hinzu. Alle guckten uns an. Keiner sagte etwas. Auch Krause schwieg. Er drehte seine Zettel in den Fingern. Und ich dachte: Zwecklos. Wie sollen wir den Bundis das Westfernsehen erklären? Unser Schaufenster zum Westen. Es ist, als müssten wir Blinden die Farben beschreiben.

*November 1972. Kurz vor zehn am Sonntagmorgen.

Meine Mutter sitzt in ihrem blauen Frotteemorgenmantel am Fraühstückstisch im Wohnzimmer, vor sich eine Tasse Kaffee, zwischen den Fingern eine Zigarette. Der Fernseher läuft. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagenes Heft, daneben ihre unvermeidliche Schachtel F6. In das linierte Schulheft in DIN-A5-Format, mit blassgrünem, kratzigem Papiereinband, notiert sie die Sendungen des Westfernsehens für die kommende Woche. Das gelbe Plastebrettchen, dessen Rillen voller Brotkrümel sind, hat sie beiseite geschoben. Ihre Augen hängen am Bildschirm. Meine Mutter trinkt Kaffee, schwarz und in kleinen Schlucken. Die Vorschau dauert eine halbe Stunde. Nach wenigen Augenblicken klappen die Programmtafeln immer nach hinten weg und machen neuen Platz.

Mein Vater bestreicht sich ein Brot mit Pflaumenmus, und Basti fischt die Haut von der heißen Milch. Ich esse mein Fraühstücksei, und meine Mutter schreibt. Titel links, Sendezeiten rechts. Es gibt nur zwei Programme. »Aktuelle Schaubude und die Drehscheibe«, murmelt meine Mutter. Dann sagt sie laut: »Nächsten Sonnabend kommt der Blaue Bock, wie schön!« »Ja, und am nächsten Sonntag wird gewählt«, sagt mein Vater. »Ich freue mich schon auf das Gespräch im Fraühschoppen. Wenn der Brandt nicht Bundeskanzler bleibt, dann wandere ich aus.« »Wohin denn, Papi?«, frage ich.

Mein Vater lacht. »Vielleicht nach Amerika?« »Was ist Amerika, Papi?«, fragt Basti.»Ein fernes, freies Land«, sagt mein Vater. Meine Eltern versäumen keine einzige Tagesschau, keinen einzigen Weltspiegel, kein einziges Deutschlandjournal. Das Programmheft wird Freunden ausgeliehen, solchen, denen meine Eltern vertrauen. Sie schreiben sich Teile daraus ab. Andere Freunde fragen meine Mutter: »Isolde, weißt du, was heute Abend kommt?« Einer von ihnen heißt Walter. Er wohnt uns genau gegenüber, hat einen Schwager mit Beziehungen und kann einen Farbfernseher für sich organisieren. Das ist sensationell! Denn der größte Teil der in der DDR hergestellten Geräte wird ins nichtsozialistische Ausland exportiert. Walter lädt meine Eltern abends öfter zu sich ein. Und so sitzen meine Mutter und mein Vater nun ab und zu bei Nachbars und genießen bei Nüssen und Bier oder Salzstangen und Rotwein Sendungen des Westfernsehens in Farbe.

Einmal darf ich mit. Basti nicht, der ist erst vier Jahre alt, der muss ins Bett. An diesem Abend sehe ich zum ersten Mal Am laufenden Band. Der Showmaster spricht, als hätte er eine Kartoffel im Mund. Ich schließe ihn in mein Herz. Zum Schluss muss sich die siegreiche Kandidatin in einen riesigen Korbstuhl setzen. Die Preise ziehen auf einem Fließband an ihr vorbei. Ein Toaster, ein Vogelkäfig, eine Stereoanlage, ein Staubsauger, Kaffeegeschirr, ein Fahrrad, ein Planschbecken, ein Fragezeichen.

Alle Preise, die die Kandidatin aus dem Gedächtnis benennen kann, darf sie behalten.

Ich zähle alles mit auf.

Die Erwachsenen staunen über mein gutes Gedächtnis.

Das Planschbecken ist nicht nur ein Planschbecken.

Das Planschbecken ist eine Reise nach Mallorca.

Und mein Vater sagt leise: »Nur einmal nach Spanien, nur einmal Palmen sehen.« In der ersten Klasse hatte uns die Lehrerin noch gefragt: »Wer hat denn gestern Abend das Sandmännchen gesehen?« Alle heben die Arme in die Höhe, um die Gute- Nacht-Geschichte nachzuerzählen. Die Lehrerin will die Geschichte aber gar nicht hören. Sie will wissen, wie das Sandmännchen ausgesehen hat. Was trug es auf dem Kopf? Wie sah sein Bart aus? Hatte es einen Pullover an oder ein Mäntelchen? Die Lehrerin schreibt die Namen der Kinder ins Klassenbuch, die bei der Abstimmung der Meinung sind, dass der Sandmann einen Ringelpulli und eine Seemannsmütze auf dem Kopf trägt und einen weißen Seemannsbart hat, der von einem Ohr bis zum anderen reicht.

Hinter die Namen setzt sie jeweils einen schwarzen Punkt. Die Eltern erhalten in den nächsten Tagen Hausbesuche. Ich habe für den richtigen Sandmann gestimmt, für den mit der dreieckigen Zipfelmütze, dem wehenden Umhang und dem spitzen Bart am Kinn, dem Ulbricht- Bart. Ich bekomme einen roten Punkt. Rot ist gut. Rot ist gleich Frieden und Sozialismus. Rot heißt ›Immer bereit!‹. Rot ist die Freundschaft zur Sowjetunion. Als ich in die vierte Klasse gehe, bekommen auch wir einen Farbfernseher. Ich lerne Pierre Brice als Winnetou kennen. Mein Herz schlägt für Lex Barker, der Winnetous Blutsbruder Old Shatterhand spielt.

Aber Gojko Mitić bleibt als Chingachgook mein Held. Seine Gesichtszüge sind so edel, sein Blick ist so kühn, seine braune Brust so muskulös und glatt. Er ist der Retter der entrechteten Rothäute. Er reitet wie keiner sonst durch die Indianerfilme des ostdeutschen Fernsehens. Die Indianerfilme, die im Westen Western heißen, spiele ich mit anderen Kindern nach. Doch Western nur mit solchen, die die Klappe halten. So wie meine Freunde Beatrix und Frank. Einen ganzen Sommer lang spielen wir immer und immer wieder Der Schatz im Silbersee. Ich bin Winnetou, Frank ist Old Shatterhand. Nachdem wir Blutsbrüder geworden sind, küssen wir uns auf den Mund. Dann retten wir meine Schwester Ntschotschi, also Beatrix, vor den bösen Bleichgesichtern.

Niemals erzählen, dass wir Westfernsehen gucken. Niemals sagen, was du wirklich denkst.

Niemals jemandem vertrauen, den du nicht ganz genau kennst. In jener Zeit wurde Wolfgang Kiefer mein Vorbild, mein Held. Mein Chingachgook. Dass Wolf Biermann ausgebürgert wurde, erfuhren wir von Kiefer.

Und auch, dass sich fast die gesamte kulturelle Elite der DDR hinter den Liedermacher stellte. Und dass viele der protestierenden Künstler von der SED-Führung ebenfalls weggeekelt wurden. Sie wurden ausgewiesen oder gingen schließlich freiwillig in die Bundesrepublik. Ich hing vorm Fernseher. Kiefers Berichte und Kommentare zogen mich, die Elfjährige, in seinen Bann. Ich erinnere mich an seinen Bericht über die sozialistische Wehrerziehung. Den sehe ich mit zwölf. Die Wehrerziehung soll 1978 in den neunten und zehnten Klassen der Polytechnischen Oberschulen eingeführt werden. Mein Vater sagt: »Sieh dir das an, Franziska. Bald bist auch du dran.«

Mir wird zum ersten Mal vor Augen geführt, was mir bevorsteht. Während Wolfgang Kiefer spricht, runzelt er die Augenbrauen und sieht mich streng an. Was er da erzählt, gefällt ihm nicht. »Wenn die Jungs frei wählen dürften, würden sie sich dann diesem zweiwöchigen Wehrlager aussetzen?«, fragt er. »Wo sie lernen, sich im Gelände einzugraben, wo der Weitwurf mit Munitionsattrappen ebenso geübt wird wie das Marschieren in militärischer Formation?« Sein Blick wird noch strenger.

»Ist es richtig, Kinder als Vorgeschmack auf den Armeedienst bäuchlings in Richtung Klassenfeind robben zu lassen?«

»Nein«, flüstere ich, »ist es nicht.« Ich sinke neben meinen Vater auf das Sofa. Ich lehne mich an ihn und schiebe meine Hand unter die seine. »Und die Mädchen?«, redet Kiefer weiter. »Sicher sind sie und ihre Eltern sehr froh, dass sie keine Jungs sind. Doch auch sie werden in die Uniform der Gesellschaft für Sport und Technik gesteckt und paramilitärisch gedrillt. In einem Kurs für Zivilverteidigung lernen sie, erste Hilfe zu leisten, einen Bunker einzurichten und sich bei einem Atomschlag richtig zu verhalten.« »Ich will das nicht«, sage ich.Mein Vater drückt meine Hand.

»Wohin wird das führen?«, fragt Kiefer mahnend. Ich würde ihm gern antworten, doch ich weiß die Antwort nicht. Am nächsten Morgen auf dem Schulweg rede ich aufgeregt mit Beatrix und Frank über das, was Kiefer gestern Abend im Fernsehen gesagt hat. Was sollen wir tun? Wir sehen uns besorgt an. Bevor wir den Schulhof betreten, wechseln wir das Thema. Unsere Schule ist nach Käthe Kollwitz benannt. An der Mauer am Eingang steht in großen schwarzen Buchstaben ein Zitat der Künstlerin: ›Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden.‹

In der Mittagspause gab es Bouletten mit Kartoffelsalat, zum Nachtisch Quarkspeise. Jede Minute, ie verging, brachte mich Wolfgang Kiefer näher. Deshalb weiß ich alles noch ganz genau. Sogar wie der Senf schmeckte und dass am Kartoffelsalat Mayonnaise dran war.

Kiefers Vortrag war für vierzehn Uhr dreißig angekündigt.

Und ich war fest entschlossen, mich bemerkbar zu machen. Ich war gut vorbereitet! Zu Beginn des Seminars hatte ich den Stuhl belegt, der dem des Referenten genau gegenüberstand. Eine halbe Stunde vor Seminarbeginn setzte ich mich auf meinen Platz. Ich thronte in der Mitte der hufeisenförmig aufgestellten Tische und belauerte die Tür. Dreimal hatte ich meine Haarbürste aus der Tasche geholt und meine langen braunen Haare gekämmt. Ich hatte die FAZ in der Hand und las demonstrativ darin. Plötzlich wurde mein Mund unerträglich trocken! Sollte ich mir noch einen Kaffee aus dem Getränkeautomaten holen? Zu spät. Schon kamen die anderen herein. Werner setzte sich neben mich. »Klasse Mähne!«, raunte er mir zu. »Für mich?« Jetzt! Krause kommt. Und hinter ihm: Wolfgang Kiefer!

Er sieht viel besser aus als im Fernsehen! Licht nur auf ihn! Spot an! Wolfgang Kiefer trägt ein hellbraunes Cordsakko, ein blau-weiß gestreiftes Hemd und eine schmale goldumrandete Brille. Keinen Schlips. Lässig sieht er aus. Sympathisch. Er ist einen ganzen Kopf größer als Krause, der ihm den tropfnassen Schirm und den Regenmantel abnimmt.

Wolfgang Kiefer nickt uns zu und setzt sich auf den Referentenstuhl. Lächelnd blickt er in die Runde. Sein Blick ist offen und neugierig, eine Spur spöttisch. Alle klatschen. Auch ich. Meine Handflächen sind feucht und brennen wie Feuer. Krause stellt Kiefer vor. Er spricht vom Fernsehjournalisten, den jeder kennt, bezeichnet ihn als Insider der DDR, im Ostteil Berlins geboren und aufgewachsen. Kiefer hat die Fingerspitzen seiner Hände aneinandergelegt, mit den Kuppen der Zeigefinger berührt er seine Unterlippe. Krause steht links neben ihm und wirkt wie ein kleiner Junge, der ein Gedicht aufsagt. Er liest von einem Zettel ab. Wolfgang Kiefer fixiert einen Punkt auf der Tischplatte. Er zieht einen blauen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Sakkos und spielt damit. An seinem rechten Ringfinger sehe ich einen goldenen Ring. Einen Ehering. Ein Schock. Aber nur ein ganz kurzer. Dann male ich mir aus, wie es wäre, wenn ich an seiner Seite hier erschienen wäre. ›Darf ich Ihnen meine Assistentin Fräulein Kling vorstellen? Sie ist meine rechte Hand.‹ Ich säße jetzt neben ihm und würde etwas hochmütig das Publikum betrachten.

Kiefer lächelt nicht mehr. Ganz langsam hat sich das Lächeln aus seinem Gesicht zurückgezogen. Niemand kann ewig seinem Publikum zulächeln.

Es sei denn, er ist Politiker, oder die Kamera ist auf ihn gerichtet und er bleibt wegen einer technischen Störung auf Sendung. Ich glaube, ich habe auch eine technische Störung. Ich und seine Assistentin? Was für ein Unsinn! Jetzt! Krause ist fertig und übergibt das Wort an Wolfgang Kiefer. Der legt den Kuli beiseite und reibt seine Handflächen aneinander. Alle sehen ihn erwartungsvoll an, die Luft knistert, und meine rechte Pobacke juckt. Kiefer wendet sich an Krause. »Bitte, ich hätte gerne noch einen Ascher,« tönt seine dunkle volle Stimme durch den Raum. Wie Musik. Das sind die ersten Worte, die ich von Wolfgang Kiefer live höre. Die er nur für mich sagt. Sie summen in mir weiter: bitte-ich-hätte-gerne-noch-einen-Ascher, bitteichhättegernenocheinenAscher. Und ich denke: Es ist real, Franziska! Es passiert wirklich! Da sitzt er, der Unerreichbare. Nur drei Meter von mir entfernt. Wenn ich das den Eltern erzähle! »Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich rauche?«, höre ich Kiefer fragen. Nein, es stört niemanden, wenn du rauchst! Rauch ruhig! Krause ist schon aus dem Raum geeilt, um den Aschenbecher zu besorgen. Wolfgang Kiefer gießt Wasser in das Glas, das vor ihm auf dem Tisch steht, und greift in die Innentasche seines Sakkos. Er holt eine Streichholzschachtel

hervor, schüttelt sie kurz, die Hölzchen rasseln, und zündet sich eine Zigarette an. Er raucht Filterlose, die ganz starken. Wolfgang Kiefer beginnt über seine Arbeit zu erzählen. Er löst die Armbanduhr von seinem Handgelenk und legt sie vor sich auf den Tisch. Das Armband ist aus Leder und sieht abgegriffen aus. Er erzählt von seinem Korrespondentenbüro in Berlin-Mitte, das rund um die Uhr von der Stasi überwacht wird; er sagt, dass er seine Informanten immer nur von öffentlichen Telefonzellen aus anruft und dabei zuvor vereinbarte Decknamen benutzt; und dass er diese dann nur in der freien Natur oder nachts trifft. Während er spricht, streicht er sich hin und wieder mit der Hand durch sein dichtes braunes Haar. Ich sehe es, als würde es in Zeitlupe geschehen. Könnte doch nur einmal meine Hand sein Haar so berühren! Kerzengerade sitze ich auf meinem Stuhl, wie elektrisiert. Hallooo! Hier bin ich! Ich, das gebürstete und gestriegelte braune Rassepferd, bereit, jede Hürde zu überspringen, um zu dir zu gelangen! Alle meine Muskeln sind angespannt. Nach seinem Vortrag, so nehme ich mir vor, werde ich als erste von allen eine Frage an ihn richten, die Diskussion eröffnen. Eine brillante Frage! Eine Diskussion auf höchstem Niveau.

Ich werde zeigen, wer ich bin: eine junge Frau aus dem Osten, auf dem Weg, eine berühmte Journalistin zu werden. Unbestechlich, furchtlos und hochgeachtet. Die Frage wird mir bis dahin noch einfallen! Nervös rutsche ich auf der Sitzfläche des Stuhls hin und her. Gewiss wird doch noch Zeit für Fragen bleiben? Krause kommt zurück.

In Zeitlupe schließt er die Tür hinter sich. Lautlos. Auf Zehenspitzen schleicht er zu Kiefer hin. Wie ein Kellner, der etwas serviert, stellt er den Aschenbecher vor ihn auf den Tisch. Kiefer drückt die Zigarette aus und zündet sich eine neue an. Noch nie hat Zigarettenqualm so lieblich für mich gerochen. Er erzählt über die Zusammenarbeit mit der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost- Berlin. Oft hätten die Diplomaten gute Tipps für die Journalisten, dann wieder seien sie sehr zurückhaltend mit Informationen, um die innerdeutschen Beziehungen nicht zu belasten. Er spricht von Beiträgen, die er über Zwangsadoption, Wehrerziehung und Häftlingsfreikauf produziert hat. Werner und ich wechseln vielsagende Blicke.

Ich hänge an seinen Lippen, höre jedes seiner Worte überdeutlich, nehme jede seiner Gesten übergenau wahr. Ich finde ihn zauberhaft!

Wolfgang Kiefer raucht unablässig. Während er erzählt, quillt der Rauch stoßweise aus seinem Mund.

Ab und zu hustet er. Kiefer gibt Anekdoten zum Besten und freut sich, dass sich sein Publikum amüsiert. Gerade beschreibt er, wie es ihm wieder einmal gelang, die Stasi auszutricksen.

Und während er erzählt, dass er mehrmals kurz vor dem Klingeln, das das Schließen der Türen ankündigt, aus dem S-Bahn-Waggon gesprungen und in einen anderen gewechselt war, bis seinem Verfolger die Türen vor der Nase zugeschlagen waren, geschieht es: Ich verliebe mich. Ich verliebe mich in den Mann, den schon meine Mutter verehrte, als ich noch ein kleines Mädchen war. In den Mann, der für meinen Vater eine Instanz war, der er glauben konnte. In den Mann, den ich früher so oft im Fernsehen gesehen hatte. Nach einer Stunde lehnt Wolfgang Kiefer sich zurück, trinkt einen Schluck Wasser und zündet sich eine neue Zigarette an. Er ist Kettenraucher!

»Nun sind Sie an der Reihe«, höre ich ihn sagen.

»Haben Sie Fragen?«

Sofort hebe ich meine rechte Hand in die Höhe, so als wolle ich mich an einer Abstimmung beteiligen. Ich hoffe, es sieht grazil aus. Und während ich fieberhaft überlege, was ich ihn fragen könnte, nickt Kiefer einer vollschlanken Frau zu, die sich ebenfalls gemeldet hat.

»Herr Kiefer, gestatten Sie mir eine persönliche Frage«, sagt sie. »Sie haben Kinder?« Auweia, das passt ihm jetzt aber gar nicht. Da bildet sich eine ganz steile Falte auf seiner Stirn. Aber die Runde wird heiter, mit den Popos wird auf den Stühlen gerückt, alle freuen sich über diesen Schlenker ins Private. Wolfgang Kiefer nickt und sagt mit einem kleinen müden Seufzer: »Vier.« Vier Kinder hat er? Ich klappe meinen Mund auf und sofort wieder zu.

»Ihre Frau ist die bekannte Fernsehjournalistin Heidrun Kiefer-Wilms. Sie hat ihren Beruf der Kinder wegen aufgegeben …«

»… vorübergehend aufgegeben …«, korrigiert Wolfgang Kiefer eine Spur angespannt.

»…ja, gut, vorübergehend aufgegeben«, sagt die Frau. »Wie regeln Sie das mit Ihrem Familienleben? Haben Sie überhaupt Zeit für Ihre Kinder?« Wolfgang Kiefer lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Ein Jammer, dass er verheiratet ist! »Wer die Arbeit als Korrespondent ernst nimmt«, sagt er und lächelt etwas gequält, »läuft Gefahr, süchtig zu werden. Und ich gebe zu: Ich bin süchtig. Doch wir, also meine Frau und ich, versuchen, so viel Normalität wie möglich zu leben.«

Vielleicht ist seine Ehe ja gar nicht glücklich! »In einer Illustrierten habe ich gelesen«, sagt die Frau, »dass Sie …« »Das war kein autorisiertes Interview«, fällt Wolfgang Kiefer ihr ins Wort. Er bleibt freundlich dabei. »Ich trenne strikt zwischen Privatleben und Beruf.

Über mich und meine Familie gibt es keine Homestorys. Niemals würde ich meine Kinder fotografieren lassen.« »Da stand, dass Sie getrennt leben«, beharrt die Dicke. Die Ehe kann nicht glücklich sein! »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Frau … ähm, aber meine Frau und die Kinder leben in unserer Wohnung in West-Berlin. Dort befindet sich ihr soziales Umfeld, also Schule und Kindergarten. Ich pendele. Ich habe eine Dienstwohnung in Ost-Berlin. Für mich ist es wichtig, drüben stets vor Ort zu sein. Auch drüben zu leben. Um schnell auf aktuelle Vorkommnisse reagieren zu können.«

Die Vollschlanke hebt ihren mächtigen Busen, um nachzufassen, doch ich bin schneller. Ich komme richtig aus der Deckung: Attacke! »Wohnen Sie auch in dem Bonzen-Hochhaus in der Leipziger 65?« Leipziger 65 – das klingt lässig, nicht wahr? Verdutzt schaut Wolfgang Kiefer mich an. Volltreffer!

Asche bröselt von seiner Zigarette auf die Tischplatte. Er beginnt zu husten. Wischt dabei die Aschekrumen mit der Hand vom Tisch. Er hört gar nicht mehr auf zu husten. Wie schafft er es bloß, zu moderieren, ohne ständig husten zu müssen? Bei einer Aufzeichnung kann die jeweilige Einstellung ja beliebig oft wiederholt werden, aber bei einer Live-Sendung?

Er drückt die Zigarette aus.

Er denkt gar nicht daran zu antworten! So ein Mist! Niemand sagt etwas.

Er zündet sich eine neue Zigarette an.

Der rote Kopf des Streichholzes zischt über den schwarzblauen Zündstreifen. Alle starren auf das Streichholz.

Kiefer beugt sich über die Flamme, wobei er seinen Kopf leicht schräg hält. Er schaut mir direkt in die Augen. Ich halte seinem Blick stand. Äußerlich völlig kühl, innerlich total kribbelig.

Kiefer hält die Streichholzschachtel hoch, auf der etwas Goldenes schimmert. »Hier. Die hat mir letztes Jahr eine junge Frau zugesteckt. Wir drehten am 7. Oktober, dem Tag der Republik, an der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz.

Die Frau rempelte mich an, entschuldigte sich, und weg war sie. Später fand ich die Streichholzschachtel in meiner Manteltasche. Unter den Hölzchen stand eine Telefonnummer mit Leipziger Vorwahl. Die Leute sind sehr einfallsreich, um Kontakt aufzunehmen.« Ich starre ihn an, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Irritiert ihn das? Ich will es, ich will es! Und da spazieren plötzlich die Worte aus meinem Mund heraus: »Und Sie haben die Frau von einer öffentlichen Telefonzelle aus angerufen.« Meine Stimme klingt zu meiner eigenen Überraschung klar und fest.

»Ja, das habe ich. Sie wusste sofort, wer dran ist.« Er sieht mir ins Gesicht ohne auszuweichen. Und ich sehe genauso zurück.

»Was wollte die Frau von Ihnen?«, frage ich.

»Sie hat einen Ausreiseantrag gestellt. Für sich und ihr Kind. Sie bat mich um Hilfe.« »Und?«

»Sie hatte einen Mann aus dem Westen kennengelernt, wollte ihn heiraten.« »Und?«

»Vor drei Monaten ist sie raus.« Kiefer hustet.

Ich stelle fest: »Sie konnten ihr also helfen.« »Kein Kommentar!« Ich öffne den Mund, will weiterfragen, doch Krause kommt mir zuvor. »Wir müssen zum Schluss kommen«, sagt er und bedankt sich bei Wolfgang Kiefer. Alle applaudieren.

Kiefer steht auf und verbeugt sich leicht.

Einige gehen zu ihm, lassen sich Autogramme geben.

Werner blickt mich an, bläst die Backen auf. »Willste auch ’n Kaffee?« »Nee.«

»Warteste noch?«

Ich nicke.

»Na, ich geh schon mal.« Werner steht auf, streckt sich und beugt sich noch mal zu mir runter. »Haareschütteln nicht vergessen«, sagt er und grinst.

Geduldig warte ich, bis keiner mehr im Raum ist, außer Krause, Kiefer und mir.

Wolfgang Kiefer steckt den Kuli in die Innentasche seines Sakkos und sagt leise einige Worte zu unserem Seminarleiter. Krauses Worte dringen wie von Ferne an mein Ohr: »Wissen Sie, Herr Kiefer, die Franziska kommt aus der DDR.« Er beugt seinen Oberkörper nach vorn und fügt hinzu: »Fräulein Kling ist erst seit sechs Jahren im Westen, sie kommt aus Sachsen.« »Aus Thüringen«, verbessere ich mechanisch.

»Ach so?«

»Aus Thüringen«, bekräftige ich, »Nordhausen liegt nicht in Sachsen.« Wolfgang Kiefer grinst belustigt. Seine Augen blitzen, er lacht in sich hinein, versucht sich zu beherrschen.

Seine Schultern beben leicht.

»Franziska.« Genüsslich lässt er meinen Namen auf seiner Zunge zergehen. Wie flüssigen Honig. Fran – zisss – ka …Es bringt mich aus der Fassung, wie er meinen Namen ausspricht.

»Ja, Herr Krause, vielen Dank dann noch mal«, Kiefer drängt Krause zum Abschied. Krause dienert und zieht sich zurück.

Der Journalist und das Mädchen sind allein.

»Können wir uns kurz unterhalten, haben Sie noch Zeit?« Hingerissen lausche ich dem Klang seiner Stimme.

Dunkel und seidenweich liebkost sie meine Ohrmuscheln wie ein flaumiges Wattebällchen. »Fräulein Kling?« Ich räuspere mich, stehe auf und laufe die linke Seite des Tisch-Hufeisens ab, wobei ich mit den Fingern meiner rechten Hand über die Lehnen der Stühle streiche, die mit grobem grauen Stoff bezogen sind. Vor Wolfgang Kiefer bleibe ich stehen.

»›Sie haben Ihr Plansoll übererfüllt‹, Herr Kiefer.« Er lacht.

»›Für Frieden und Sozialismus‹«, witzelt er.

»›Seid bereit!‹«, sage ich. Wieder lacht er. Sein Lachen ist umwerfend. Erst jetzt registriere ich die kleinen Grübchen neben seinen Mundwinkeln.

»›Immer bereit!‹«, ergänzt er. »Deshalb werde ich mir jetzt auch was Gutes tun. Ich gehe nämlich essen.« Er steht auf und zieht sein Sakko über. Ein Schlüsselbund klimpert in der Jackentasche.

»Bestimmt sind Sie hungrig wie ein Wolf nach diesem anstrengenden Vortrag.« Ta-taa! Bin ich blöd!

Wieder lacht er.

Eine Stimme in meinem Kopf ruft: Was redest du nur für einen Stuss! Eine andere singt: Gleich lädt er dich zum Essen ein, gleich lädt er dich zum Essen ein.

Er tut es nicht.

Stattdessen verstaut er Streichholzschachtel und Zigarettenpäckchen in den Taschen seines Sakkos und fragt: »Wie sind Sie in den Westen gekommen?« »Mit meinen Eltern und meinem Bruder.« »Ich meinte, auf welchem Weg haben Sie die DDR verlassen?« »Mit gefälschten Pässen über die Tschechoslowakei«, sage ich und weiche seinem Blick aus.

»Es hat funktioniert. Sie sind hier.« »Wir haben Glück gehabt.« Ich schließe die Augen.

Neben uns der Fluss.

Es dämmert, mein Vater trägt einen Rucksack und tastet sich vorneweg. Das Wasser, durch das wir gewatet sind, war nicht tief, doch eisig kalt und voller Scherben.

»Nehmt ein zweites Paar Schuhe mit und zieht am anderen Ufer die nassen Schuhe und Strümpfe aus«, hatte der Fluchthelfer geraten, bevor er uns auf den Weg brachte. »Ihr dürft nicht mit nassen Schuhen in den Zug steigen.«

Ich trockne meinem Bruder die Füsse ab und helfe ihm beim Anziehen der trockenen Mokassins. Meine Mutter gibt ihm ein Schlafmittel. Ich mache mir Sorgen, weil unsere Nietenhosen nass geworden sind, obwohl wir sie hochgekrempelt haben. Die Angst sitzt mir wie ein harter Kloß im Hals.

Im Ausweis meiner Mutter steht: ›Augenfarbe: blau‹.

Das schwarz-weiße Passbild zeigt eine Frau, deren Iris hell ist, und nicht wie die meiner Mutter dunkelbraun.

Kann das gut gehen?

Meine Eltern haben es wieder und wieder mit mir durchgekaut. Mein Bruder wird schlafen. Nur mein Vater wird reden, er spricht als einziger von uns Tschechisch.

Seine Mutter stammte aus Böhmen. Wir heißen Čermak und kommen aus Teplice. Wir nehmen den Zug. Im Zug werde ich die tschechischen Kinderbücher durchblättern, die in meinem Rucksack stecken. Wir fahren von Teplice über Ústí nach Prag und mit dem Zug Vindobona weiter nach Wien.

Wolfgang Kiefer berührt kurz meinen Oberarm und sieht mich besorgt an. »Alles in Ordnung?« Ich nicke und sage trotzig: »Ich will auch Journalistin werden.«

»Das ist ja toll!«, Er zieht die Augenbrauen hoch. »Gehen Sie noch zur Schule?« »Ich mache dieses Jahr Abitur. Danach will ich in Bonn Politologie und Geschichte studieren.« »In der Hauptstadt. Das ist gut. Da sind Sie ganz nah dran am politischen Geschehen. Nehmen Sie noch eine Sprache hinzu. Es ist wichtig, über Spezialwissen zu verfügen.« »Was haben Sie denn studiert?« »Slawistik und Geschichte.« Er holt das Zigarettenpäckchen wieder aus der Sakkotasche, zieht eine Zigarette raus. Es ist die letzte. Unschlüssig betrachtet er sie und steckt sie dann hinter sein Ohr. Das Päckchen zerknüllt er in der Hand.

»Jetzt studieren Sie erst mal, und dann kommen Sie zu uns.« »Wie zu uns?«

»Wir brauchen immer gute Leute in unserer Redaktion.

Es gibt genug zu tun.«

Ich in seinem Redaktionsteam? Ich starre ihn an und stammle: »Ich möchte mit Ihnen in Verbindung bleiben.« »Ja?« Er lacht. Ich bemerke die kleine Lücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen.

»Ich schreibe Ihnen!«

»Ich würde mich freuen«, sagt er und es klingt ehrlich.

Er holt ein Portemonnaie hervor, das so abgegriffen aussieht, als hätte es ihm sein Vater zum achtzehnten Geburtstag geschenkt, fördert eine Visitenkarte zutage und legt sie mir auf meinen geöffneten Handteller.

Ich halte sie, als wäre sie die Feder eines seltenen, vom Aussterben bedrohten Vogels, und lese: ›Wolfgang Kiefer, Chefredakteur‹. Darunter steht die Adresse des Korrespondenten- Büros in Ost-Berlin.

Ich sehe ihn an und sage: »Und wenn mein Brief ignoriert wird?« »Bei uns wird nichts ignoriert.«

»Oder wenn er Sie nicht erreicht?« »Bisher ist noch nie etwas verloren gegangen. Formulieren Sie möglichst keine Staatsgeheimnisse, und schreiben Sie persönlich drauf. Dann landet der Brief direkt auf meinem Schreibtisch.«

Ich zögere. Kann es nicht fassen.

»Oder möchten Sie mir lieber ins Bonzen-Hochhaus schreiben?« Seine Augen blicken spöttisch. Sofort bereue ich meine Frage von vorhin.

»Nein, nein, ich …«

»Ihnen ist sicher bekannt, dass in diesen Häusern nicht nur hohe Tiere aus Ost und West wohnen, sondern auch ganz normale DDR-Bürger, die im Winter täglich ihren Kohleofen heizen müssen?« Nein, das wusste ich nicht.

»Meine Wohnung verfügt glücklicherweise über Fernwärme und hat einen hohen Standard. Und hin und wieder trifft man im Hausflur oder vor der Tür tatsächlich prominente Mieter. Günter Gaus zum Beispiel, Heinz-Rudolf Bornheim oder auch Margot Honecker.

Die besucht manchmal ihre Tochter und ihr Enkelkind.« Jetzt gibt er’s mir aber.

»Wir, also meine Kollegen und ich, witzeln öfter darüber, dass die Wände aus russischem Beton gemacht sind. Ein Drittel Zement, ein Drittel Sand, ein Drittel Mikrofone.«