Die Frauen vom Löwenhof – Agnetas Erbe - Corina Bomann - E-Book
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Die Frauen vom Löwenhof – Agnetas Erbe E-Book

Corina Bomann

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Beschreibung

Ein schwedisches Landgut, eine mächtige Familie, eine Frau zwischen Liebe und Pflicht: Die große Saga von Corina Bomann Agneta kämpft mit den Tränen. Ein Telegramm hat sie nach Hause gerufen, ihr Vater ist bei einem Brand ums Leben gekommen. Dabei hatte sie sich schweren Herzen von ihrer mächtigen Familie losgesagt und in Stockholm ein freies Leben als Malerin geführt. Eine Aussöhnung schien unmöglich. Jetzt werden ihr Titel, Glanz und Vermögen zu Füßen gelegt, sie soll das Erbe ihres Vaters antreten als Gutsherrin vom Löwenhof. Ihre Wünsche und Träume sind andere, sie sehnt sich nach einem Leben an der Seite von Michael, einem aufstrebenden Anwalt. Selbstlos stellt Agneta sich der Pflicht und Familientradition. Ihr Herz jedoch kann nicht vergessen und sehnt sich nach Liebe …

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Seitenzahl: 849

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Das Buch

Die Lejongårds besitzen ein prächtiges altes Gestüt in Südschweden, doch ihre Tochter Agneta hat der Familie den Rücken gekehrt. In ihrer Kindheit litt sie unter der Strenge und den Zwängen ihrer gesellschaftlichen Stellung. Erst in der Malerei konnte sie ihre Gefühle ausdrücken. Als junge Kunststudentin genießt Agneta die Freiheiten der Großstadt Stockholm, sie engagiert sich für Frauenrechte und liebt mit Michael einen jungen Mann, der nichts mit ihrer Herkunft zu tun hat. Doch ein Unglück bringt sie zurück zu ihrer Familie. Und unerwartet steht Agneta zwischen Verpflichtung und Liebesglück.

Mit »Agnetas Erbe« beginnt Corina Bomanns Schweden-Saga über die Lejongårds und ihr Zuhause, das Gut Löwenhof.

Die Autorin

Corina Bomann ist in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen und lebt mittlerweile in Berlin. Sie schreibt seit Jahren Romane, mit denen sie immer auf der Bestsellerliste landet. Das Schreiben und ihre Figuren sind ihre große Leidenschaft.

Von Corina Bomann sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Schmetterlingsinsel · Der Mondscheingarten · Die Jasminschwestern · Die Sturmrose · Das Mohnblütenjahr · Sturmherz · Ein zauberhafter Sommer · Eine wundersame Weihnachtsreise · Winterblüte · Winterengel · Ein Zimmer über dem Meer (unter dem Pseudonym Dana Paul)

Corina Bomann

Die

FRAUEN

vom

LÖWENHOF

AGNETAS ERBE

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1706-9

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Mai 2018

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018

Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München

Titelabbildung: plainpicture/© Dave and Les Jacobs (Tür);

Arcangel Images/© Anna Mutwil (Frau); plainpicture/

© Gerry Johansson (Landschaft)

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Erster Teil

1913

1. Kapitel

Etwas blendete mich. Als ich die Augen aufschlug, glaubte ich, in meinem alten Zimmer auf dem Löwenhof zu sein. Doch was ich im ersten Moment für eine Stuckverzierung hielt, entpuppte sich als langer Riss in der Decke, um den sich Wasserflecke gebildet hatten. Die dunkleren waren bereits da gewesen, als ich hier vor zwei Jahren eingezogen war, die hellen waren erst vor Kurzem dazugekommen. In der Wohnung über mir war ein Wassereimer umgefallen und hatte dem Kunstwerk eine weitere Facette hinzugefügt. Das Mauerwerk der Häuser in Stockholms Universitätsviertel war löchrig wie ein Schwamm und sog das Wasser genauso schnell auf, wie dieses dann unten wieder heraustropfte.

Dafür lebte man als Studentin hier billig. Meine Mutter würde es ärmlich und unter meinen Verhältnissen nennen, aber ich konnte hier sein, wer ich wirklich war. Ich konnte studieren, auch wenn es von den Mitgliedern der höheren Gesellschaft nicht gern gesehen wurde. Ich musste nicht auf Konventionen achten. Was machten da ein paar Flecke an der Zimmerdecke aus?

Kühle strich über mein Gesicht. Ich blickte in die Richtung des Luftstroms und bemerkte, dass das Zeitungspapier wieder einmal aus dem Loch im Glas gefallen war. Die unterste Scheibe des Sprossenfensters war schon lange kaputt. Zu verdanken hatte ich den Schaden einem Jungen, der beim wilden Spiel auf der Straße mein Fenster mit einem Stein erwischt hatte. Mein Vermieter sah nicht ein, dass er das Fenster reparieren lassen sollte. Und ich konnte es mir nicht leisten, denn dann hätte ich meinen Vater um mehr Geld bitten müssen. Seit dem letzten großen Streit an Weihnachten war ich nicht mehr auf dem Löwenhof gewesen, und ich hatte auch keinen Kontakt gesucht.

Ich wusste, dass meine Eltern die Art, wie ich lebte, missbilligten. Als ich vor zwei Jahren das Gericht aufsuchte, um meine Mündigkeit erklären zu lassen, hatten sie beide lange Gesichter gezogen, denn sie hatten gehofft, dass ich noch vor meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr heiraten würde. Dem war nicht so, und indem ich mein Leben selbst in die Hand nahm, zeigte ich ihnen deutlich, dass mein Weg nicht der sein würde, den sie für mich vorgesehen hatten.

Doch ohnehin würde nicht ich eines Tages das Gut erben, sondern mein Bruder. Hendrik war ein Musterkind, der beste Sohn, den sich ein Mann wie Graf Thure Lejongård vorstellen konnte. Vater wurde nicht müde, mir das vorzuhalten. Ich war kein Sohn, und ich war auch nur das zweite Kind. Ich konnte mein Leben führen, wie ich wollte. Jedenfalls waren meine Freundinnen und ich fest davon überzeugt, und für unsere Anschauung traten wir so oft wie möglich ein.

Zu meinem selbstgewählten Leben gehörte auch der scharfe Geruch, der in der Luft schwebte. Das beißende Aroma des Terpentins mischte sich mit dem milderen des Firnis und der Ölfarben. Auch wenn ich nicht an einem Bild arbeitete, schien er immer da zu sein. Ich hatte keine Ahnung, wer vor mir diese Wohnung belegt hatte, doch wer immer mir folgte, würde wissen, dass seine Vorgängerin eine Malerin war.

Michael regte sich neben mir. Sein rotblonder Haarschopf tauchte zwischen den Kissen auf, wenig später sah ich sein zerknautschtes Gesicht. Erst öffnete er ein Auge, dann das andere, um beide angesichts des Sonnenlichts, das mein Appartement flutete, wieder zusammenzukneifen.

»Warum bist du schon so früh auf?«

Ein Lächeln stieg in mir auf wie Sprudel in einem Sodaglas. Ich griff nach seinem Schopf. Sein Haar war dicht und so unglaublich weich wie das Fell einer Katze. Ich liebte es, meine Finger darin zu vergraben, besonders dann, wenn wir unserer Lust freien Lauf ließen und sein Kopf zwischen meinen Schenkeln ruhte.

»Es ist nach neun«, antwortete ich. »Eigentlich hätten wir schon längst wach sein müssen.«

»Sagt wer?« Er sah mich an und streckte beide Arme nach mir aus.

Es gab unter den Frauenrechtlerinnen einige regelrechte Männerhasserinnen, die es sich ausgebeten hätten, von einem Mann an sich gezogen zu werden. Doch mir gefiel es. Mir kam es eher darauf an, dass ich mir selbst aussuchen konnte, wen ich in mein Bett ließ. Seit einem Jahr war es ausschließlich Michael, und oftmals ertappte ich mich dabei, wie ich daran dachte, ihn nie wieder fortzulassen. Wenn er mit seinem Jurastudium fertig war, würden wir vielleicht heiraten. Es war komisch, dass ich, die ihrem Elternhaus entflohen war, an Heirat dachte, aber der Gedanke wärmte mir ungemein das Herz. Auch wenn ich dann meine hart erkämpfte Selbstständigkeit wieder verlor. Aber ich war sicher, dass Michael nichts dagegen haben würde, wenn ich weiterhin malte. Immerhin hatte er auch keine Vorbehalte gehabt, sich in eine Suffragette zu verlieben.

»Ich bin in einem guten Haus aufgewachsen, in dem Pünktlichkeit und Ordnung herrschen«, entgegnete ich.

Er küsste mich und vertrieb den aufsteigenden Gedanken an meine Eltern.

»Ach wirklich?«, fragte Michael und begann meinen Hals zu liebkosen und langsam an mir herunterzugleiten. Ich spürte ein Pochen zwischen den Beinen, das mich dazu brachte, ihn gewähren zu lassen. Ich mochte es sehr, wenn wir uns kurz nach dem Aufstehen liebten, es war einfach wunderbar und gab mir Kraft für den Tag, der vor mir lag.

Ein Klopfen ließ mich jäh zusammenzucken. Auch Michael hielt inne. Zunächst blickte er zur Tür, dann sah er mich fragend an. »Erwartest du jemanden?«

Sein Kopf glühte hochrot. Ich spürte, dass er nur schwerlich gegen seine Erregung ankam. Und auch ich hätte jetzt andere Dinge lieber getan, als darüber nachzudenken, wer um diese Zeit an meine Tür klopfte.

»Fräulein Lejongård? Sind Sie da?«, fragte eine Stimme, begleitet von einem weiteren Klopfen, das noch dringlicher klang. »Ich habe ein Telegramm für Sie. Es ist eilig!«

Ein Telegramm?

»Einen Moment, ich komme!«, rief ich und sah Michael an.

»Musst du wirklich?«, murrte er und begann erneut, meinen Hals zu küssen. So gern ich unter der warmen Decke in seinen Armen geblieben wäre, entzog ich mich ihm doch und stieg aus dem Bett. Die kalte Märzluft vertrieb meine Müdigkeit und leider auch meine Lust schlagartig. Hastig langte ich nach meinem Morgenmantel und schnürte ihn um die Taille zu. Dann ging ich zur Tür.

Der Mann, der die Uniform der Königlich Schwedischen Post trug, blickte mich ein wenig verlegen an. »Guten Morgen, verzeihen Sie die Störung, aber das hier sollte Ihnen sofort zugestellt werden.«

Ich nahm den kleinen Briefumschlag an mich und drehte ihn um. Das Telegramm kam von meiner Mutter. »Warten Sie einen Augenblick.«

Während der Mann an der Tür stehen blieb, ging ich zu der Kommode, wo ich immer etwas Geld aufbewahrte. Ich drückte dem Boten zehn Öre in die Hand und schloss die Tür. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der kleine Umschlag mehr wog als ein Kartoffelsack.

»Was ist denn?«, fragte Michael, der sich inzwischen im Bett aufgesetzt hatte. Im Gegensatz zu mir schien er nicht zu frieren, denn er lehnte mit freiem Oberkörper an den Kissen. So, wie die Sonne seiner Haut einen goldenen Schimmer verlieh, hätte er auch einem der zahlreichen Maler in unserem Viertel Modell sitzen können.

»Das werden wir gleich sehen.« Ich schob meinen Finger in die Öffnung zwischen den Brieflaschen und riss den Umschlag auf.

Was konnte Mutter wollen? Wir hatten seit dem Weihnachtsfest keinen Kontakt mehr. Ich zog das Telegramm hervor und klappte es auf. Erschrocken sog ich die Luft ein, als ich sah, was darauf geschrieben stand.

+++ Vater und Hendrik verunfallt +++ Komm bitte umgehend nach Hause +++ Mutter +++

Ich war wie erstarrt. Ein Unfall?

Mein Herz raste, und für einen Moment versuchte ich mir einzureden, dass dies nur ein gemeiner Trick meiner Mutter war, um mich nach Hause zu holen. Doch Stella Lejongård machte keine Scherze, wenn es um die Gesundheit und das Leben ihrer Familienangehörigen ging.

»Was ist?«, fragte Michael und erhob sich.

Ich konnte nicht antworten. Wie versteinert stand ich im Raum und konnte meinen Blick nicht von dem Telegramm lösen. Die Schreibmaschinenschrift darauf schien zu brennen.

Erst, als er mir seine Hand auf die Schulter legte, kam ich wieder zu mir.

»Mein … mein Vater …«, stammelte ich. »Er und mein Bruder … sie hatten einen Unfall.«

»Wobei?«, fragte Michael.

»Das steht hier nicht, vielleicht war etwas mit den Pferden …«

Meine Gedanken rasten. Vater und Hendrik waren hervorragende Reiter. Ein Reitunfall, bei dem beide verletzt worden waren, erschien mir unwahrscheinlich. Wie schwer mochten sie verletzt sein? Es war gewiss ernst, sonst würde Mutter mich nicht nach Hause rufen. Das Blatt entglitt meinen Händen. Michael bückte sich und hob es auf.

»Ich muss nach Hause.« Beinahe flüsterte ich diese Worte nur.

Da ich vor Michael keine Geheimnisse hatte, ließ ich zu, dass er das Telegramm las.

»Du lieber Himmel!«, murmelte er erschrocken, dann blickte er mich an und griff nach meiner Hand, die sich anfühlte, als gehörte sie nicht zu mir. »Kann ich etwas für dich tun? Soll ich mitkommen?«

»Nein«, sagte ich und versuchte, mich wieder zu sammeln. »Ich … ich muss einen Zug nehmen. Oder eine Kutsche.«

»Mit der Kutsche wärst du zu langsam«, bemerkte Michael. »Aber vielleicht fährt heute ein Zug nach Kristianstad.«

Ich nickte, aber es kam mir so vor, als würde mir mein Körper nicht gehorchen. Ich musste mich beeilen, aber ich konnte nicht. Am liebsten hätte ich mich unter die Decke verkrochen und so getan, als hätte mich das Telegramm nicht erreicht. Als wäre ich nicht hier. Doch ich musste los. Verdammt, ich musste los!

Schließlich schaffte ich es, mich von meinem Platz zu lösen.

»Soll ich dir helfen?«, fragte Michael.

Ich schüttelte den Kopf. Das hier musste ich allein durchstehen, da gab es keine Hilfe. Und ihn mitnehmen zu meiner Mutter? Gott bewahre!

Als ich den windschiefen Schrank öffnete, verwandelte sich die bleierne Schwere in meinem Körper in eine fahrige Nervosität. Mit zitternden Händen suchte ich ein paar Sachen zusammen. Dabei war es mir egal, was meine Mutter dazu sagen würde. Meine besten Stücke waren ohnehin auf dem Löwenhof geblieben, sie würde mit nichts, was ich trug, zufrieden sein. Eine schwarze Bluse glitt mir durch die Hand. Aus irgendeinem Grund starrte ich sie länger an, als es nötig gewesen wäre. Kein Schwarz, sagte ich mir und fühlte eine Welle der Angst in mir aufsteigen. Schwarz war Trauerkleidung, und es schien mir ein schlechtes Omen, wenn ich sie mitnahm. Also schleuderte ich sie in die hintere Ecke des Schranks. Ein Unfall, sagte ich mir. Es war ein Unfall, sie sind verletzt, aber noch am Leben. Mutter hätte mir nicht verschwiegen, wenn einer von ihnen gestorben wäre.

Als ich mich anzog, fühlte ich mich fiebrig. Der Stoff schmerzte auf meiner Haut. Der Mantel, den ich überstreifte, erdrückte mich beinahe mit seinem Gewicht. Meine Hände bebten, als ich die Tasche packte.

Ich wandte mich Michael zu. Er hatte seinen Körper inzwischen in einen Morgenmantel gehüllt.

»So«, sagte ich, wie immer, wenn ich etwas beendet hatte. Er breitete die Arme aus.

»Komm her«, murmelte er, zog mich an sich und vergrub sein Gesicht an meinem Hals, so wie ich meines an seinem. Fast schon verzweifelt schlang ich meine Arme um ihn und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss.

»Ich bin bei dir, hörst du?«, sagte er in mein Haar. »Egal, was du tust und was dir bevorsteht, ich bin bei dir. Mit meinen Gedanken helfe ich dir.«

»Das ist lieb«, entgegnete ich. »Danke.«

Eigentlich hätten seine Worte eine andere Entgegnung verdient gehabt, doch ich konnte nicht. Trotz allem, was Michael mir bedeutete: Das Telegramm hatte mich wieder zur Tochter des Hauses Lejongård gemacht, die keusch sein musste, bis ihre Eltern einen Mann für sie gefunden hatten. Es brach mir das Herz, aber ich hatte keine andere Wahl. Widerwillig löste ich mich von ihm und wandte mich meinem Gepäck zu.

»Kommst du zurück?«, hörte ich seine Stimme hinter mir.

Ich erstarrte. Er fragte das immer, wenn ich nach Hause fuhr, auch früher schon hatte er mir diese Frage gestellt. Früher hatte ich immer lachend mit Ja geantwortet, aber nun wurde mir das Herz schwer. Natürlich würde ich zurückkehren. Doch in diesem Augenblick konnte ich schwerlich sagen, wann das der Fall sein würde, und das beunruhigte mich ein wenig.

»Ich komme zurück, sobald ich kann, versprochen«, sagte ich und warf ihm noch einen Handkuss zu. Dann drehte ich mich endgültig um, nahm meine Tasche und verließ die Wohnung.

Draußen empfing mich der frische Geruch des Frühlings, der ausnahmsweise nicht von Gestank verdorben wurde: Hin und wieder erleichterte sich jemand in einem naheliegenden Hauseingang, meist am Sonntagabend, nachdem Horden von Studenten und anderen Männern aus den Gasthäusern gekommen waren.

War es möglich, dass sich die Guttempler bei den Studenten durchgesetzt hatten? Unwahrscheinlich.

Schnell schritt ich die Straße entlang. Der Stadtteil Norrmalm mit seinen breiten Straßen und klassizistischen Gebäuden war am Montagvormittag ein Ort reger Geschäftigkeit. Neben Arbeitern und Reisenden, die zum Bahnhof wollten, waren auch viele Studenten auf den Straßen unterwegs.

Ich hätte mich heute Mittag ebenfalls zu einem Seminar in der Königlichen Kunsthochschule einfinden müssen, doch dieser Gedanke erfüllte mich mit seltsamer Gleichgültigkeit. Mir schien es, als sei alles um mich herum in die Ferne gerückt, so als würde ich durch einen Nebel waten, der nur Konturen rings um mich auftauchen ließ. Das Einzige, was ich wirklich wahrnahm, war das Gewicht meiner Tasche und das unruhige Wühlen in meinem Magen. Wann mochte der nächste Zug fahren? Konnte ich Mutter vorher per Telegramm erreichen?

Es war erstaunlich, was das Schicksal anrichten konnte. Noch gestern hatte ich keinen Gedanken an mein Elternhaus verschwendet. Jetzt konnte ich an nichts anderes denken. Und auf einmal waren all die Gerüche und Eindrücke, die Sonnentage und auch die Verletzungen wieder da, Bilder, die unauslöschlich in meinem Verstand abgelegt waren.

»Agneta!«, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Ich blieb stehen und wandte mich um. Marit kam angelaufen. Sie hatte ihren grünen Rock gerafft, sodass man ein Stück ihrer langen Unterhose sehen konnte. Ihre braunen, immer ein wenig ausgetreten wirkenden Stiefeletten waren mit Matsch bespritzt. Ein selbstgestrickter Schal wehte um ihren Hals. »Du meine Güte, bist du taub?«, fragte sie, als sie mich erreichte. »Ich laufe schon ewig hinter dir her!«

Marit übertrieb, ich war gerade zweihundert Meter von meiner Wohnung entfernt. Aber so war meine Freundin. Ich stellte die Tasche vor mir auf den Boden, um sie in meine Arme zu schließen.

»Entschuldige bitte, ich war in Gedanken. Ich bin auf dem Weg zum Bahnhof. Familienangelegenheit.«

»Dann kommst du heute nicht zu der Aktion vor dem Büro des Dekans?« Marit wirkte enttäuscht. Mit flammendem Eifer organisierte sie Demonstrationen, beschaffte Materialien für Banner und trommelte die Frauen zusammen. Vor dem Büro des Dekans wollten wir heute gegen Bemühungen protestieren, die Einschreibungen von Frauen zu reglementieren. »Ich dachte, du stehst mit deiner Familie nicht mehr in so engem Kontakt.«

»Das stimmt, aber meinem Vater und meinem Bruder ist etwas zugestoßen. Es klingt ernst, und meine Mutter bittet mich, unverzüglich zu kommen.«

Marit schlug die Hand vor den Mund. »Das ist ja schrecklich! Hat sie geschrieben, was passiert ist?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber sie hätte sich nicht gemeldet, wenn es nicht wirklich dringend wäre.«

»Ach, das tut mir leid.« Sie schloss ihre Arme um mich und drückte mich fest. »Kann ich etwas für dich tun?«

»Ich fürchte nicht, aber danke. Ich melde mich, sobald ich Näheres weiß, ja?«

»Ja, bitte. Ich werde für deinen Vater und deinen Bruder beten. Ich hab es ja sonst nicht so mit Gott und der Kirche, aber in dem Fall werde ich eine Ausnahme machen.«

Das stimmte. Marit ließ sich nur selten in der Kirche sehen, weil sie fand, dass dort nichts für die Gleichstellung der Frauen getan wurde. Wenn sie anbot, für uns zu beten, war das schon etwas Besonderes.

Insgeheim wünschte ich mir, dass ich sie mitnehmen könnte. Was auch immer mich erwartete, ich würde ihre Unterstützung dringend brauchen, aber es ging nicht.

»Grüß die anderen von mir«, sagte ich, als ich sie wieder aus meinen Armen entließ. »Sag ihnen, dass ich ihnen die Daumen drücke für die Kundgebung.«

»Das ist jetzt nicht wichtig«, gab Marit zurück. »Für dich zählt erst mal deine Familie, sonst nichts. Obwohl ich zugeben muss, dass wir dich vermissen werden. Wenn ich daran denke, wie du Professor Svensson gegen die Wand geredet hast …«

»Danke.« Ich umarmte Marit erneut und drücke sie fest an mein Herz, dann hob ich meine Tasche wieder vom Boden auf. Sie schien noch schwerer geworden zu sein.

»Alles Gute, und pass auf dich auf!« Marit winkte, bis ich mich umwandte und weiterging.

Ich passierte die wunderschöne Königliche Oper, vor der ich sonst öfter stehen blieb, um sie zu betrachten, und näherte mich schließlich dem Bahnhof.

Rauchgeruch hing schwer in der Luft. Vom Hafen her ertönte das laute Horn eines Dampfers, gefolgt vom Pfeifen einer Lokomotive. Seit Schweden beschlossen hatte, sich nie wieder in irgendwelche Kriege hineinziehen zu lassen, befand sich das Land im Aufschwung. Und auch für uns Frauen änderte sich etwas. Wir konnten uns mit fünfundzwanzig Jahren für mündig erklären lassen, sofern wir nicht verheiratet waren. Erst vor Kurzem war ein Gesetz erlassen worden, das es Frauen erlaubte, ihren ererbten Besitz durch einen Ehevertrag zu schützen. Das waren wichtige Siege für die Frauenbewegung, allerdings hatten wir das größte Ziel noch nicht erreicht: das Frauenwahlrecht, das Finnland bereits vor sieben Jahren eingeführt hatte. Auch in Norwegen wurden Fortschritte gemacht, aber nicht hier. Die Politiker mochten sich vielleicht taub stellen, doch das bedeutete nicht, dass sie nicht merkten, was wir taten. Wir würden weiterkämpfen.

Auch in der Königlichen Kunstakademie tat sich einiges. Im Jahr 1864 war mit Anna Nordlander die erste Frau zugelassen worden. Der Versuch einiger Studenten und Künstler, die sich zu einer Gruppe namens »Opponenterna« zusammengeschlossen hatten, um grundlegende Reformen in Gang zu setzen, schlug zwar fehl, aber mittlerweile strömten immer mehr Frauen in die Akademie. Natürlich blieb es nicht ohne Konflikte, doch alle Mühen wurden von dem Gefühl der Freiheit aufgewogen.

Als ich endlich den Bahnhof erreichte, lief mir der Schweiß in Rinnsalen vom Gesicht und über den Rücken. Ich war froh, einen Mantel übergezogen zu haben. Die Märzluft trug die Ahnung des Frühlings in sich, aber dennoch war sie tückisch. Vor dem klassizistischen weißen Gebäude tummelte sich ein Gewirr von Menschen. Hier und da stach ein Hut heraus oder eine cremefarbene Anzugjacke. Droschken fuhren eng hintereinander, ihnen entstiegen weitere Passagiere. Ich fragte mich, wie sie es schafften, einander nicht in die Hacken zu treten.

Im vergangenen Jahr hatte ich den Bahnhof gemalt und mir eine Rüge von meinem Professor eingefangen. Ich hatte mich für den Stil van Goghs entschieden, weil ich wusste, dass Andersen ihn verehrte. Doch ich hatte mich verrechnet. Der Professor schlich um meine Staffelei herum, natürlich vor all meinen Kommilitonen, und wiegte den Kopf hin und her. Dann kratzte er sich am Kinn, kniff die Augen zusammen und wandte sich mir zu.

»Eine feine Arbeit«, sagte er, und ich war dumm genug, zu glauben, dass er tatsächlich zu einem Lob ansetzen würde. »Wirklich fein … für einen Kopisten.« Seine Miene verfinsterte sich so stark, dass ich meinte, vor den Fenstern wäre die Sonne verschwunden. »Allerdings glaube ich nicht, dass Sie hier sind, um sich zur Kunstfälscherin ausbilden zu lassen. Wenn dem nämlich so wäre, müsste ich darauf bestehen, dass Sie sofort der Universität verwiesen werden.«

Andersens Stimme donnerte durch den Saal. Ich erstarrte. Die Blicke meiner Kommilitonen trafen mich wie Nadelspitzen. Von den meisten hatte ich kein Mitleid zu erwarten. Es gab kaum Frauen in Andersens Seminar, und die meisten Männer waren wie der Professor selbst auch der Meinung, dass eine Frau besser in einer Ehe und hinter dem Herd aufgehoben war.

Einen ähnlichen Gedanken muss der Professor mir angesehen haben.

»Und bevor Sie mir nun wieder die Ansichten Ihrer Suffragetten-Freundinnen vorhalten«, fuhr er, jetzt richtig in Rage, fort, »so kann ich Ihnen versichern, dass ich Sie eigenhändig aus dem Kurs geworfen hätte, wenn Sie ein Mann gewesen wären. Wenn ich einen van Gogh sehen will, reise ich nach Paris, aber hier will ich sehen, wer Sie sind! Und ob Sie es verdienen, von mir ausgebildet zu werden!«

Ich starrte den Professor an. Zunächst war mein Kopf wie leer, dann wurde mir klar, was für einen großen Fehler ich gemacht hatte. Es war sonst nicht meine Art, irgendwem nach dem Mund zu reden. Warum hatte ich es bei Andersen versucht?

Tränen stiegen in mir auf, doch ich wollte nicht vor den anderen heulen. Die Burschen hätten mich gewiss ausgelacht. Ich dachte an meine Mutter, überlegte, was sie in dieser Situation gesagt und getan hätte. Und auf einmal wurde mein Selbstmitleid zu Zorn.

Andersen musterte mich, wahrscheinlich erwartete er Tränen. Doch er bekam den wütendsten Blick, zu dem ich imstande war.

Die Erinnerung beiseiteschiebend, betrat ich die Wartehalle des Bahnhofs. Mein Blick fiel auf die große Uhr. Seit dem Empfang des Telegramms war eine Stunde vergangen. Vor dem Fahrkartenschalter hatte sich eine lange Schlange gebildet. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich einzureihen. In meinen Schläfen pulsierte es. Unter der bogenförmig gewölbten Decke der Halle sammelten sich die Stimmen zu einem undurchdringlichen Gemisch, es klang beinahe wie Donnergrollen. Früher hatte ich dieses Geräusch aufregend gefunden: Nach der Stille, von der ich auf unserem Gut stets umgeben war, war dies der Klang der Welt, der Freiheit für mich. Aus irgendeinem Grund störte er mich jetzt, ja er wurde mir beinahe unerträglich.

Das Pfeifen eines einfahrenden Zuges lenkte mich ein wenig ab. Weitere Leute strömten in die Wartehalle. Einige trugen Lodenmäntel wie ich, andere waren in teure Pelze gehüllt. Eine Frau mit einem riesigen Federhut zog meinen Blick an. Meine Mutter hatte wahrscheinlich Dutzende solcher Hüte. Ich selbst hielt nicht viel von diesem Pomp und schon gar nicht von diesen Kopfbedeckungen. Sie waren schwer und plump und verdeckten oftmals den Menschen darunter.

»Fräulein?«

Ich wirbelte herum. Die Schlange war inzwischen vorgerückt, und ich war an der Reihe.

»Oh, verzeihen Sie bitte, ich war in Gedanken. Ich hätte gern eine Fahrkarte nach Kristianstad. Wann fährt der nächste Zug?«

»In einer halben Stunde«, antwortete er. »Einfach?«

»Ja«, hörte ich mich antworten, noch bevor ich nachdenken konnte. Michael hatte ich versprochen, möglichst bald wieder zurück zu sein. Doch wann würde das sein? Mutter hätte mir nicht geschrieben, wenn die Verletzungen nur leicht gewesen wären. Vater und besonders Hendrik brauchten meine Unterstützung. Und wenn das Schlimmste eintraf … Ich weigerte mich, daran zu denken.

Aber ich wusste, dass ich auch dann nicht ohne Weiteres zurückkehren konnte. Und Geld für ein Ticket zu verschwenden, das ich vielleicht nicht nutzen würde, konnte ich mir nicht erlauben.

Der Mann hinter dem Schalter beäugte mich kurz und nannte mir den Preis. Ich schob ihm die Kronen über den Tresen und machte mich mit der Fahrkarte auf den Weg. Die Zeit, die ich bis zur Abfahrt des Zuges noch hatte, würde ich dafür nutzen, Mutter zu telegrafieren.

2. Kapitel

Während der gesamten Bahnfahrt starrte ich gedankenverloren aus dem Fenster. Lebhaft erinnerte ich mich, wie ich schon einmal um das Leben meiner Eltern gebangt hatte. Damals war ich zwölf Jahre alt gewesen. Meine Eltern hatten eine Reise nach Frankreich unternommen und waren zwei Tage nach der angekündigten Rückkehr immer noch nicht wieder zu Hause. Wir hatten keine Nachricht erhalten, und das ganze Gut war in Aufregung.

Fräulein Rosendahl war damals die Kammerzofe meiner Mutter. Eigentlich eine ruhige und gefestigte Person, verlor sie an dem Tag die Contenance. Sie saß in der Küche und weinte um ihre Herrin.

Auch ich sorgte mich um meine Eltern, allerdings war ich nicht so aufgelöst wie sie. Mein Bruder Hendrik war ja da, und er schien noch ganz ruhig. Als ich ihn darauf ansprach, dass unsere Eltern längst von sich hätten hören lassen müssen, antwortete er nur, dass sie wahrscheinlich spontan Verwandte besucht hätten. Das Telegramm, das uns davon in Kenntnis setzen sollte, sei nur aus irgendeinem Grund nicht angekommen.

Nach dieser Antwort ging er schulterzuckend von dannen. Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich viel Zeit beim Fohlengatter verbrachte oder durch die Wiesen lief. Doch Fräulein Rosendahls Tränen machten mir klar, dass die Möglichkeit bestand, dass sie niemals zurückkehrten. Dass Hendrik und ich Waisen sein würden. Dass ein fremder Vormund unsere Erziehung übernehmen müsste.

Ohne dass ich von Fräulein Rosendahl bemerkt wurde, schlich ich mich in mein Zimmer, und während ich aus dem Fenster starrte, geisterten alle erdenklichen Schrecken vor meinem inneren Auge herum – bis eine Kutsche vorfuhr. Die Kutsche meiner Eltern. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und als ich sie aussteigen sah, fühlte ich eine nie gekannte Erleichterung.

Sie waren zurück, das Königspaar meines Kinderlandes. Die Liebe meiner Mutter zu erringen, war stets schwer gewesen, sie betrachtete mich wie eine Puppe, die hübsch ausstaffiert werden musste und zu schweigen hatte, was mir damals schon schwerfiel. Mein Vater jedoch teilte seine Zuneigung zu mir mit vollen Händen aus. Jedenfalls solange ich ein Kind war, das mit den Problemen der Älteren nichts zu tun hatte. Wir ritten miteinander aus, oftmals trug er mich im Haus umher und erzählte mir vor dem Zubettgehen Geschichten von Rittern und Räubern.

Das Verhältnis zu meinen Eltern verschlechterte sich, sobald ich die Höhere Töchterschule in Stockholm verlassen hatte. Ihr Wunsch war es, dass ich möglichst schnell heiratete und Kinder bekam. Doch auch nach meinem Debüt fand sich kein geeigneter Kandidat, was meine Mutter verstimmte und meinen Vater sorgenvoll in meine Zukunft blicken ließ. Beide ahnten nicht, dass ich ein Leben, wie sie es mir zugedacht hatten, nicht wollte. Ich wollte studieren, etwas von der Welt sehen, in Kunstsalons verkehren. Ich wollte einen weiteren Blick auf die Welt, ich wollte Wissen anhäufen und vor allem neue Bilder in meinem Kopf. Und ich wollte mir meinen Ehemann selbst wählen. Es dauerte nicht lange, bis es zum Eklat kam. Doch das machte mir nicht viel aus, war da doch mein Bruder, der eines Tages das Gut erben und für den Bestand des Hauses Lejongård sorgen würde. Ich dagegen war dazu verdammt, mit meiner Freiheit auch meinen Namen zu verlieren – und den Löwenhof zu verlassen.

Und nun …

Im Stillen verfluchte ich Mutter. Sie hätte mir wenigstens einen Anhaltspunkt geben müssen, was genau passiert war und wie es den beiden ging. Ich schob meine Gedanken beiseite und versuchte mich auf den Anblick vor dem Fenster zu konzentrieren. Sonnenlicht fiel zwischen den mächtigen Baumstämmen hindurch, die den Bahndamm säumten. Schon immer hatten Wälder meine Phantasie angeregt. Ich hatte von Elfen und Trollen geträumt, von Zauberwelten jenseits verwunschener Lichtungen.

Als wir den Wald verließen, kamen wir an riesigen Feldern vorbei, auf denen an verschatteten Stellen noch ein paar schmutzige Flecken Schnee lagen. Schon bald würden sich grün-goldene Teppiche über die sanft gerundeten Hügel spannen. In Skåne, der Kornkammer Schwedens, waren die Güter ebenso berühmt wie die Landschaft. Einige Gutsherren hatten den Rang eines Grafen inne, andere gehörten dem niederen Adel an. Aber sie alle waren wichtig für Schweden und sich in den meisten Belangen auch einig: Wenn sie eine Bahnlinie haben wollten, bekamen sie sie. Ich war damals noch nicht auf der Welt, aber ich konnte mir vorstellen, wie sich mein Großvater darum bemüht hatte.

Die Abenddämmerung leuchtete rot am Horizont, als der Zug in Kristianstad hielt. Viele Passagiere stiegen hier nicht mehr aus. Ich war schon seit einer Weile allein im Abteil. Ich ergriff meine Tasche, zog sie von der Gepäckablage und ging damit zur Waggontür. Eisiger Wind schlug mir entgegen und biss in meine Wangen. Der Winter war noch nicht besiegt.

Im ersten Moment erkannte ich niemanden jenseits des Bahnsteigs. War mein Telegramm nicht angekommen?

Als es mir in dem zugigen Bahnhof zu ungemütlich wurde, strebte ich dem Ausgang zu. Im kleinen Schaffnerhäuschen brannte Licht. Ich trug die Tasche zur Treppe. Wenig später hörte ich Pferdehufe auf dem Straßenpflaster. Unsere Kutsche fuhr vor dem Bahnhof vor. Ich erkannte sie deutlich an ihrem dunkelroten Anstrich. Eine Laterne schaukelte neben dem Kutschbock. Mutter hatte doch jemanden geschickt. Der Kutscher stellte die Bremse fest und stieg herab.

»Ah, da sind Sie ja, gnädiges Fräulein.« Der alte August zog seine Mütze vom Kopf. Sein dichtes weißes Haar stand an den Seiten ein wenig ab. »Es ist schon ziemlich lange her.«

»Es waren doch nur drei Monate.«

»Für einen alten Mann wie mich ist das fast eine Ewigkeit«, gab er zurück und nahm mir die Tasche ab. »Wo ist Ihr restliches Gepäck?«

»In Stockholm natürlich!«, erwiderte ich und versuchte die Unruhe zu verbergen, die mich angesichts dieser Frage überkam.

»Nun, wenn Sie wollen, veranlasse ich, dass es geholt wird«, sagte er.

Was hatte meine Mutter dem armen Mann erzählt? Dass ich von nun an hierbleiben würde? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein!

»Wie geht es meinem Vater und meinem Bruder?«, fragte ich, während wir zur Kutsche gingen. Der Atem der Pferde wurde vor ihren Nüstern zu kleinen Wölkchen.

»Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, gnädiges Fräulein, bedaure!«

Ich runzelte die Stirn. »Können Sie es mir nicht sagen, weil Sie es nicht wissen, oder …«

»Ihre Mutter hat mir untersagt, mit Ihnen darüber zu sprechen«, entgegnete August mit ernstem Gesicht. »Sie möchte Sie persönlich unterrichten.«

»Dann steht es schlimm?«

Der Kutscher presste die Lippen zusammen. Er brauchte nicht zu antworten, ich sah es an seinem Blick. Es stand schlimm.

»Können Sie mir denn sagen, was das für ein Unfall war? Sind die Pferde durchgegangen?«

»Sie werden es sehen«, sagte August bedrückt und öffnete mir den Schlag.

Wenig später setzte die Kutsche sich schaukelnd in Bewegung.

Mutters seltsamer Befehl an August und die Tatsache, dass sich der alte Mann, den ich seit Kindertagen kannte, daran hielt, ließen mich nichts Gutes ahnen. Mein Magen schmerzte, und in meinen Schläfen pochte es. Was, wenn das Schlimmste eingetreten war? Warum war Mutter eigentlich nicht mitgekommen, um mich gleich über die Geschehnisse in Kenntnis zu setzen? Dass sie fürsorglich am Bett meines Vaters oder meines Bruders saß, konnte ich mir nicht so recht vorstellen. Stella Lejongård überließ die Sorge um Kranke gern den Ärzten und ihrem Personal.

Nach einer Stunde tauchte das Gutshaus vor uns auf. Vom Tageslicht war nur noch ein schmaler roter Streifen am Horizont geblieben, doch es reichte, um die grobe Steinmauer zu beleuchten, die das Herrenhaus umgab. Das große, fein geschwungene Eisentor mit den Löwenköpfen auf den Torflügeln hatte in früheren Zeiten Räuber und Aufständische abgehalten. Jetzt stand es offen.

Wir fuhren an den hohen Linden vorbei, die zu dieser Jahreszeit kahl waren. Im Sommer überschatteten ihre Kronen den Weg wie ein Dach. Bienen summten darin, und es roch süß nach Honig. Doch davon war jetzt nichts zu finden. Stattdessen ließ sich ein Schwarm Krähen in ihren Ästen nieder. Und der Geruch … wirkte irgendwie eigenartig. Ich konnte noch nicht genau beschreiben, was es war, aber es beunruhigte mich.

Die weißen Mauern des Herrenhauses waren auch in der Dämmerung gut auszumachen. Die Fenster der beiden unteren Etagen leuchteten uns hell entgegen.

Bei diesem Anblick überkam mich ein merkwürdiges Gefühl. Zum einen wühlten Angst und Ungewissheit in mir, zum anderen empfand ich Freude und Wärme. Ich erinnerte mich wieder daran, dass es nicht das Gut gewesen war, das mich von hier weggetrieben hatte. Die grünen Wiesen, die mächtigen Wälder, die Pferdekoppeln und Ställe, selbst das weiße Herrenhaus waren immer freundlich zu mir gewesen und hatten mich nicht bewertet.

Im Haus selbst hatte ich mich stundenlang vor unserer Gouvernante und auch meiner Mutter verstecken können. Als wir noch klein waren, hatte ich mit Hendrik auf dem Dachboden gesessen und mir Geschichten ausgedacht. Möglicherweise war es in einem dieser Momente gewesen, dass ich beschlossen hatte, mich der Kunst zuzuwenden, dem Malen oder dem Schreiben.

Plötzlich fiel mir ein, wonach es bei den Linden gerochen hatte. Es traf mich wie ein Schlag. Scharfer Brandgeruch strömte durchs Kutschenfenster herein. Als ich klein war, hatte mal eine der Feldscheunen gebrannt. Der Wind hatte den Qualm zum Haus geweht. Tagelang hing der Geruch in den Räumen, egal, wie viel Lavendel die Mädchen auch verteilten. Hatte es ein Feuer gegeben?

Von der Kutsche aus konnte ich nichts erkennen, das Licht aus den Fenstern des Wohnhauses überstrahlte alles.

Als August schließlich auf die Rotunde vor dem Eingang fuhr, hielt es mich kaum noch auf dem Sitz. Ich wartete nicht, bis die Kutsche vollends zum Stehen gekommen war, sondern riss die Tür auf und sprang hinunter, sobald August »Ho!« gerufen hatte. Beinahe wäre ich auf dem Kies gestolpert, doch ich fing mich und stieg die Stufen hinauf. Da die Haustür um diese Stunde verschlossen war, läutete ich.

Wenig später erschien Arno Bruns, der Kammerdiener meines Vaters. Mittlerweile musste er Ende fünfzig sein. Sein schwarzes Haar war beständig grauer geworden, inzwischen leuchtete es fast weiß. Sein Gesicht war kantig, seine Augen waren braun wie Kaffeebohnen und seine Augenbrauen buschig. Als Kind hatte ich vor ihm immer Angst gehabt. Zusammen mit Fräulein Rosendahl, die seit einigen Jahren Hausdame war, leitete er das Personal an und achtete stets auf das Wohl unserer Familie.

»Guten Abend, gnädiges Fräulein«, sagte er, nachdem er die Tür geöffnet hatte, und begrüßte mich mit einer leichten Verbeugung. »Es freut mich, dass Sie heil angekommen sind.«

»Danke, Bruns«, sagte ich. »Wo ist meine Mutter?«

»Im Schlafgemach des gnädigen Herrn«, antwortete Bruns. »Ich begleite Sie.«

Gern hätte ich auf seine Begleitung verzichtet, doch in diesem Haus hatte alles seine Regeln. Auch die Rückkehr einer missratenen Tochter. Schweigend erklommen wir die Treppe. Hatte es schon bei August nichts genützt, ihn zu fragen, war es bei Bruns von vornherein zwecklos, eine Antwort zu erwarten. Seiner Miene sah man erst recht nichts an. Als junger Mann war er in England gewesen, wo er zum Kammerdiener ausgebildet worden war. Er wurde nicht müde, dem Personal von dem zu erzählen, was er »englischen Standard« nannte.

Vor Sorge um meinen Vater und Hendrik nahm ich die Pracht der Eingangshalle, die von einem riesigen Kristalllüster beleuchtet wurde, nur beiläufig wahr. Hohe Gemälde begrüßten den Besucher. Hier eine Jagdszene, da eine weitläufige Landschaft mit strahlendem Himmel und dazwischen Porträts einiger verdienter Vorfahren. Der berühmteste davon war Axel Lejongård, der ein Vertrauter des ersten Bernadotte-Königs war und dessen Wahl zum Kronprinzen unterstützt hatte. Mit Backenbart, leuchtend blauen Augen und steifer Uniform schaute er den Betrachter an, selbstbewusst und sicher sehr anziehend für die Damen, denen er damals begegnet war.

Unwillkürlich nickte ich meinem ruhmvollen Ahnen zu, dann schloss ich dichter zu Bruns auf. Dessen Schritte waren auf dem Teppich kaum zu vernehmen. Würdevoll wie zu einem Ball ging er voran.

Ich wunderte mich über mich selbst, dass ich das bemerkte. Ich war hier aufgewachsen, ich kannte jeden Winkel, und dennoch staunte ich immer wieder, wenn ich nach längerer Zeit herkam.

An der Zimmertür meines Vaters machten wir halt. Meine Mutter verfügte ebenfalls über ein eigenes Gemach. Das eigentliche eheliche Schlafzimmer wurde von beiden nur noch selten benutzt. Ich konnte mich entsinnen, dass ich mit vier oder fünf Jahren öfter in das Bett meiner Eltern gekrochen war, doch damit war dann plötzlich Schluss. Später erst verstand ich, dass ich nicht mehr in den Raum durfte, weil er unbenutzt blieb.

Bruns klopfte, und als keine Antwort ertönte, öffnete er einfach die Tür. Das erschien mir seltsam, denn normalerweise wartete er, bis der Gutsherr sich äußerte. Aber vielleicht schlief mein Vater gerade, und vielleicht hatte ich die Stimme meiner Mutter nur nicht gehört.

Als ich das Zimmer betrat, erstarrte ich. Meine Mutter war nicht zugegen. Nur mein Vater lag auf dem Bett, gekleidet in seinen besten Frack. Sein Gesicht war bleich und sah aus, als hätte man es mit einer weißen Paste bestrichen. Es erinnerte mich auf schreckliche Weise an das Make-up eines Clowns, den ich in einem Zirkus gesehen hatte.

Mir blieb die Luft weg, und ich taumelte zurück. Die Brust meines Vaters war still, seine Hände lagen schwer und leblos auf ihr.

»Gnädiges Fräulein, setzen Sie sich«, sagte Bruns und schob einen Hocker hinter mich. Einen Moment lang war ich versucht, mich fallen zu lassen. Doch dann wirbelte ich herum und starrte den Kammerdiener fassungslos an. Wessen Idee war das hier gewesen? Ganz sicher nicht seine!

»Bruns«, stammelte ich. »Was soll das? Warum haben Sie mich nicht gewarnt?«

Brennender Hass stieg in mir auf. Mein Vater war tot. Und niemand hatte mich darauf vorbereitet. Niemand hatte versucht, es mir schonend zu erklären. Der Kammerdiener hatte mich einfach hergebracht unter dem Vorwand, meine Mutter wäre hier. Das Gesicht des Mannes wurde zuerst feuerrot, dann bleich und dann wieder rot.

»Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, ich dachte …«

»Lügen Sie mich nicht an!«, fauchte ich. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass mein Vater verstorben ist?«

Der Kammerdiener schnappte nach Luft und blickte sich hilfesuchend um.

»Es war meine Anweisung«, sagte eine Stimme hinter ihm. Im nächsten Augenblick sah ich sie. Bleich und schlicht in Schwarz gekleidet.

Mutter! Ich begann am ganzen Leib zu zittern. Tränen schossen mir in die Augen.

»Ich wusste nicht, dass du jetzt schon kommst, deshalb habe ich mir erlaubt, mich zu entfernen.« Ihre Stimme verriet keinerlei Gefühl.

Meine Sicht verschwamm, und in meinen Ohren dröhnte mein Puls. Wie konnte meine Mutter so grausam sein? Wie konnte sie mir so etwas antun? Ich wäre am liebsten rausgelaufen, doch meine Beine versagten mir ihren Dienst. Bruns fing mich rechtzeitig auf und bugsierte mich auf den Hocker. Sobald ich dazu in der Lage war, schlug ich seine Hand weg. Bruns zuckte zusammen. Mit solch einer Reaktion hatte er nicht gerechnet.

»Sie können gehen, Bruns«, schnappte ich, worauf er sich verneigte und den Raum verließ.

Wie eine zerbrochene Puppe saß ich da, den Blick auf meinen Vater gerichtet, die leere Hülle, die von dem einstmals so stolzen und starken Mann geblieben war. Der Hass auf meine Mutter und die Wut auf den Kammerdiener, der mich von klein auf kannte und nicht den Schneid besessen hatte, mich zu warnen – auch wenn er damit gegen einen Befehl seiner Herrin verstoßen hätte –, wüteten in mir und schwächten mich gleichzeitig.

»Wie ich dir schrieb, hat es einen Unfall gegeben. Im großen Stall ist ein Feuer ausgebrochen. Dein Vater und dein Bruder haben versucht, die Pferde in Sicherheit zu bringen. Dabei stürzte das Scheunendach über ihnen ein.«

Ich regte mich nicht. Die Worte meiner Mutter waren wie eisige Wassertropfen, die auf fiebrige Haut fielen: Sie linderten nicht, sie schmerzten nur.

Ich hätte sie am liebsten angeschrien und sie gefragt, was ich getan hatte, um sie zu solch einer Niedertracht zu veranlassen. Mich nicht in Empfang zu nehmen, um mir zu sagen, dass mein Vater tot war, mich nicht zu trösten und nicht zu warten, bis ich mich beruhigt hatte, bevor ich vor den Aufgebahrten geführt wurde, war das Schlimmste, was ich je erlebt hatte. Das Schlimmste, was sie mir je angetan hatte.

»Dein Bruder ist noch im Krankenhaus, die Ärzte bemühen sich um ihn«, fuhr sie fort, ohne einen Hauch von Anteilnahme erkennen zu lassen. So, als sei Hendrik nicht ihr Sohn. Hatte der Tod meines Vaters sie um den Verstand gebracht?

Mein Bruder lebte. Das erleichterte mich ein wenig, allerdings war ich immer noch zu betäubt und schockiert, um eine Regung zu zeigen.

Ich starrte auf Vater. Er war tot. Tot. Das Wort hämmerte in meinem Verstand und ließ schließlich etwas in meinem Innersten zerreißen. Doch dem Schmerz würde ich mich in diesem Haus erst hingeben können, wenn ich ungestört war.

Es waren keine Tränen der Trauer, die mir in die Augen schossen.

Ich sprang auf und sah meine Mutter an. Sie war schon in meinen Kindertagen nicht viel mehr als eine Eiskönigin gewesen, deren Liebe man vergeblich zu erringen versuchte. Doch jetzt war sie zur bösen Hexe geworden. Ich wünschte, sie wäre in die Scheune gelaufen, als das brennende Dach herunterkam.

Meine Augen brannten vor Zorn.

»Warum hast du es mir nicht gesagt?«, fauchte ich. »Warum hast du mich in dieses Zimmer bringen lassen, ohne jegliche Vorwarnung?«

Die Miene von Stella Lejongård regte sich kein Stück. Meine Mutter war immer kühl und kontrolliert, aber in diesem Moment des Verlustes verstand ich sie noch weniger als sonst.

»Ich hätte dich unterwegs nicht erreichen können«, erwiderte sie nüchtern, als würde sie eine Einkaufsliste übermitteln. »Dein Vater war noch am Leben, als ich dir telegrafierte.«

Das mochte stimmen, aber nichts rechtfertigte, dass mich Bruns ohne ein Wort zu sagen in ein Totenzimmer führte. »Du hättest mir entgegenkommen müssen«, gab ich zurück. Jetzt stiegen die Tränen doch in mir auf und setzten sich in meiner Kehle fest. »Du hättest mich wenigstens durch August oder Bruns warnen lassen können.«

Die Tränen erreichten meine Augen und verschleierten meinen Blick. Das zornige Brennen in meiner Brust wurde zu einem kaum erträglichen Schmerz. Mein Vater war tot. Umgekommen durch die Wunden, die der Brand geschlagen hatte.

»Du hättest mich in Empfang nehmen müssen!«, wiederholte ich. »Du hättest es mir sagen müssen, bevor ich ihn sah! Was für eine Mutter bist du?«

Die Vorwürfe schienen an meiner Mutter abzuprallen. Sie zuckte nicht einmal zusammen, als ich sie ihr entgegenschleuderte. Sie stand nur schweigend da, als müsste sie sich eine Antwort zusammenreimen. Dann blickte sie mich an, jedenfalls glaubte ich das durch den Tränenschleier zu erkennen.

»Und was für eine Tochter bist du?«, fragte sie kühl. »Du hast dich schon lange nicht mehr um die Familie gekümmert! Du wolltest deinen eigenen Kopf durchsetzen.«

Diese Worte ließen die Trauer in mir wieder in Wut umschlagen.

»Also ist das meine Schuld?« Ich riss den Arm hoch und deutete auf Vater. Meine Stimme überschlug sich. Wahrscheinlich hörten es sogar noch die Mädchen oben in ihren Quartieren. »Nur weil ich meinen eigenen Weg gehen wollte? Wir sind im zwanzigsten Jahrhundert, Mutter, nicht mehr im Mittelalter. Ein Stall gerät nicht in Brand, wenn eine Tochter nicht den Vorstellungen ihrer Eltern entspricht!«

Warum musste sie damit anfangen? Warum die gleichen Vorhaltungen wie immer, auch jetzt, im Angesicht des Verlustes?

»Dein Vater hat gehofft, dass du zur Vernunft kommen würdest! Er hat noch auf dem Sterbebett auf dich gewartet und gefragt, wann du eintreffen würdest.«

Erschüttert starrte ich meine Mutter an. Wie konnte sie nur! Jetzt erst spürte ich den Schock, den mir der Anblick des Verstorbenen versetzt hatte. Übelkeit stieg in mir auf, und mühsam rang ich nach Luft. Meine Knie und Hände zitterten.

»Ich bin losgefahren, sobald ich das Telegramm erhalten hatte!«, presste ich hervor, während die Tränen mich würgten. Jetzt verstand ich, worauf sie hinauswollte und was sie damit bezweckt hatte, mich mit meinem toten Vater zu konfrontieren. Das war in ihren Augen wohl eine angemessene Strafe dafür, dass ich mich von der Familie befreit hatte.

»Wärst du nicht in Stockholm gewesen, hättest du keinen langen Weg gehabt. Du hättest bei ihm sein können.«

Ihre Stimme klang fest. Der Tod meines Vaters war für sie nur ein Grund, mir die Hölle heißzumachen.

Auf einmal wurde mir der Raum zu eng. Ich ertrug es nicht mehr, hier zu sein, bei meiner Mutter, die die Luft mit ihren Vorwürfen verpestete. Am liebsten hätte ich gegen etwas geschlagen, aber meine Arme fühlten sich so kraftlos an, und mein Herz schmerzte vor Trauer und Wut.

Vielleicht tat ich damit genau das, was ich früher getan hatte, aber um nicht vor ihr zusammenzubrechen, stürmte ich aus dem Raum. Dass Bruns neben der Tür stand und unseren Streit mitverfolgt hatte, kümmerte mich dabei nicht. Ich musste an einen Ort, der mir Ruhe gab, um zu weinen.

Ich rannte die Empore entlang und bog in den Gang ein, der zu den Kinderzimmern führte. Früher war ich in Hendriks Zimmer gelaufen, um bei ihm Schutz zu suchen. Auch er hatte nicht verstanden, dass ich meinen eigenen Weg gehen wollte, aber er unterstützte mich zumindest.

Doch er war nicht da. So stürzte ich in mein Zimmer, warf mich auf mein Bett und weinte wie schon lange nicht mehr.

3. Kapitel

Am Morgen erwachte ich in dem festen Glauben, dass der vergangene Tag nur ein Traum gewesen sei. Einer von der Sorte, die einen glauben ließ, dass das, was man erlebt hatte, Wirklichkeit war. Solche Träume hatte ich hin und wieder. Michael meinte, das käme davon, dass ich zu viel nachdachte. Er hatte mir geraten, diese Träume aus mir herauszuwaschen, indem ich malte.

Aber wie sollte ich den Tod meines Vaters malen?

Während diese Frage noch durch meinen Verstand zog, begriff ich langsam, dass ich nicht geträumt hatte. Alles war real gewesen. Ich befand mich nicht mehr in dem zugigen Erdgeschosszimmer in Stockholms Universitätsviertel. Die Fenster waren hoch, und das Sonnenlicht, das durch die klaren Scheiben fiel, strömte warm über mein Gesicht. Auch der Geruch war anders. Statt Terpentin und Firnis schwebte ein Schleier aus Lavendel und Rose im Raum. Zuhause. Der Ort, von dem ich weggelaufen war.

Ich lag in meinem Bett, in den Kleidern, die ich bei meiner Reise getragen hatte. Michael war nicht bei mir. Wie gern hätte ich ihn jetzt in meine Arme gezogen und seine Wärme gespürt! Als ich mich aufrichtete, blickte ich nicht auf leere Staffeleien und verhüllte Leinwände. Ich sah den Kamin mit den uralten Bildern, den Schrank, in dem meine Ballkleider schlummerten, und die schweren Vorhänge, die nicht verschlossen waren. Die Bettdecke unter mir roch ein wenig muffig. Niemand hatte das Zimmer vorbereitet. Es wirkte kalt und klamm und ungastlich. Aber länger als bis zur Beerdigung meines Vaters würde ich ohnehin nicht bleiben.

Stöhnend versuchte ich, meine Gliedmaßen wieder in die richtige Position zu bringen. Auf dem Bauch zu schlafen bekam mir nicht, danach schmerzte mein Rücken immer ganz furchtbar.

Ich hatte gerade mein zerzaustes Haar gelöst, als es an der Tür klopfte. Ich blickte überrascht auf, dann fiel mir wieder ein, dass man in diesem Haus niemals wirklich allein war. Und dass ganz sicher nicht meine Mutter nachsehen wollte, wie es mir ging.

Da ich nicht geläutet hatte und es bereits nach neun Uhr war, wollten die Dienstmädchen nach mir schauen. Der Affront gestern Nacht hätte mich ja auch dazu bewegen können, mich heimlich aus dem Haus und zur Bahnstation zu schleichen.

»Herein!«, rief ich und begann, die Ärmel meines Kleides aufzuknöpfen.

Das erste Mädchen, das eintrat, kannte ich von meinen letzten Besuchen. Susanna trug ihr blondes Haar heute zu einem Kranz geflochten, was ich früher an den Mädchen im Dorf so beneidet hatte. Sie war recht hübsch, und meine Mutter und Hendrik würden aufpassen müssen, dass sie ihnen nicht schon bald weggeheiratet wurde. Das Mädchen neben ihr, eine blasse Kleine mit langen Gliedmaßen und einem dünnen Körper, kannte ich nicht. Mit ihrem scheckigbraunen Haar und den dunklen, leicht furchtsam dreinblickenden Augen wirkte sie wie ein junger Spatz, der jeden Augenblick zum Fenster hinausflattern konnte.

»Guten Morgen, gnädiges Fräulein, verzeihen Sie, dass wir stören. Die gnädige Frau möchte wissen, ob Sie das Frühstück in Ihrem Zimmer einnehmen oder herunterkommen wollen.«

Die gnädige Frau … Ich musste mir ein Lachen verkneifen. Meiner Mutter war es egal, ob ich etwas aß oder nicht. Da ich aber nun mal hier war und die Bediensteten das natürlich wussten, mussten sie ein gewisses Dekorum einhalten. Dazu gehörte, die Tochter des Hauses zu fragen, wo sie das Frühstück einnehmen wollte. Mir wäre es lieber gewesen, wenn sie mir das Frühstück gebracht hätten.

»Ich werde hinuntergehen«, antwortete ich dennoch. Die Konfrontation mit meiner Mutter würde mir ohnehin nicht erspart bleiben. Dann wollte ich ihr lieber tapfer entgegentreten.

»Wie Sie wünschen, gnädiges Fräulein«, entgegnete Susanna und sah dabei fast ein wenig erleichtert aus. Es war für Bedienstete immer schwer, diskret ihren Pflichten nachzugehen, wenn sich der Bewohner eines Zimmers die ganze Zeit dort aufhielt.

»Das ist übrigens Lena Tyske.« Susanna blickte zu ihrer Begleiterin. »Die gnädige Frau möchte, dass sie Ihnen ab sofort zur Hand geht.« Die Erleichterung wich der Verlegenheit.

Als ich verwundert die Stirn runzelte, fügte sie hinzu: »Lena ist erst seit drei Tagen auf dem Löwenhof, es wäre möglich, dass sie ihre Aufgaben noch nicht ganz korrekt erledigen kann. Ich werde aber versuchen, sie so gut wie möglich an alles heranzuführen.«

Ach, daher wehte der Wind! Meine Mutter teilte mir das jüngste Dienstmädchen zur persönlichen Betreuung zu. Dieses hier war erst vierzehn oder fünfzehn, und es würde nicht im Ablauf fehlen, da es ohnehin noch nicht so viel zu tun hatte. Ich würde mich mit dessen Fehlern herumschlagen können oder letztlich alles selbst erledigen. Genau darauf schien Mutter zu vertrauen.

Aber den kleinen Spatz vor mir traf keine Schuld. »Vielen Dank, Susanna, das ist sehr freundlich von dir. Und Lena, ich bin sicher, dass du deine Sache gut machen wirst.«

»Sollen wir Ihnen beim Ankleiden helfen?«, fragte Susanna, noch immer ein wenig unruhig. Die Uhr tickte. Wenn ich unten essen wollte, musste ich so schnell wie möglich dort sein. Meine Mutter würde anstandshalber warten müssen, aber mit jeder Minute, die verging, würde sie unausstehlicher werden, und das bekamen letztlich die Dienstboten ab.

»Nein, das wird nicht nötig sein. Leg mir einfach frische Kleidung heraus. Ich beabsichtige, meinen Bruder zu besuchen.«

»Sicher wünschen Sie dunkle Kleidung, nicht wahr?«

Dunkle Kleidung. Ich starrte sie erschrocken an. Ja, richtig, dunkle Kleidung. Die ich in Stockholm nicht einpacken wollte. Heute würde mein Vater vom Bestatter in seinen Sarg gelegt werden. Die Trauerfeier musste organisiert werden! Dinge, bei denen die Tochter des Hauses mithelfen musste. Aber konnte ich den Besuch bei meinem schwer verletzten Bruder aufschieben?

»Ja, natürlich, dunkle Kleidung. Schwarz.« Ich überlegte kurz, dann setzte ich hinzu: »Ich habe keine Ahnung, ob ich etwas Passendes besitze, du kennst meinen Kleiderschrank vermutlich besser als ich. Mitgebracht habe ich nichts Dunkles. Wenn du in meiner Garderobe nichts Geeignetes findest, frag bitte Linda, ob meine Mutter mir etwas ausleiht.«

Der Blick, den sich die beiden Mädchen zuwarfen, sprach Bände. Wenn sie Linda, die Kammerzofe von Stella Lejongård, darum baten, mir etwas aus deren Kleiderschrank zu holen, konnte es sein, dass sie ihnen ein abgetragenes Kleidungsstück gab, in dem ich mich bis auf die Knochen blamierte. Linda hatte mit mir zwar noch nie Streit gehabt, doch sie absorbierte die Vorlieben und Abneigungen ihrer Herrin so sehr, dass sie mich genauso hasste wie meine Mutter selbst.

»Nun ja«, ergänzte ich, »wenn sich nichts passendes Schwarzes finden lässt, dann nehmt etwas Dunkelblaues.«

Susanna ließ sich zu einem schüchternen Lächeln hinreißen. »Wir werden sehen, was wir tun können.«

»Danke«, sagte ich und bedeutete ihnen, dass sie gehen konnten.

Ich entschied mich, in einer dunkelgrauen Bluse und einem dunkel karierten Rock zum Frühstück zu erscheinen. Beides war nicht geeignet als Trauerkleidung, und auch zum Ausgehen konnte ich es nicht tragen. Aber für das Frühstück würde es reichen, denn egal, in welchem Aufzug ich erschien, die Meinung meiner Mutter über mich würde dieselbe sein.

Am Frühstückstisch, der so üppig gedeckt war, als kämen Vater und Hendrik gleich von ihrem morgendlichen Ausritt zurück, saß sie auf ihrem üblichen Platz.

»Guten Morgen, Mutter«, sagte ich und begab mich zu meinem Stuhl. Ich wunderte mich beinahe, dass kein angeschlagenes oder fehlfarbenes Gedeck auf meinem Platz stand, um mir zu zeigen, dass ich nicht mehr hierher gehörte. Aber dann erinnerte ich mich, dass es so etwas hier nicht gab.

Ein Mädchen, Marie, erschien mit einer Kaffeekanne. Für einen Moment rechnete ich tatsächlich noch mit Vater oder Hendrik, doch als der Kaffee in meine Tasse plätscherte, wurde mir klar, dass das Frühstück begonnen hatte. Es wurde nie angefangen, bevor nicht alle Familienmitglieder am Tisch waren.

Ich hatte keinen Hunger, der Geruch des Haferbreis, den ich eigentlich liebte, schnürte mir jetzt die Kehle zu. Auch das Gebäck mochte ich nicht sehen, denn mit seinem roten Marmeladenauge erinnerte es mich an eine offene Wunde. Aber der Kaffee war mir willkommen. Er würde mir die Kraft geben, diesen Tag durchzustehen. Eine Weile hörte man nur das Ticken der Standuhr und das sehr leise Klacken von Maries Absätzen. Ansonsten war es totenstill. Meine Mutter schien Appetit zu haben, denn sie löffelte Brei aus ihrem Schälchen. Sie trug Schwarz, sehr einfache Kleider, und sie hatte heute viel zu tun. Sie musste den Bestatter instruieren, nach der Gruft sehen, und dann den Zeitungen die Traueranzeige übermitteln. Ich legte meine Hand an die Kaffeetasse, genoss die Wärme und nahm einen ersten Schluck. Schwarz und ungesüßt, so mochte ich ihn am liebsten. Michael meinte, ich würde Männerkaffee trinken. Die meisten Frauen mochten Sahne darin und Zucker, manche sogar Gewürze. Aber das war noch nie mein Fall gewesen.

Ich sah hinüber zum Platz meines Vaters. Mutter musste darauf bestanden haben, dass sein Gedeck aufgelegt wurde. Die Morgenzeitung lag unberührt neben dem Teller. Auch Hendriks Platz war vorbereitet. Der Anblick ließ einen Schauer über meinen Rücken rinnen.

»Wie war deine Nacht?«

Die Worte meiner Mutter tönten wie der Nachhall eines Echos zu mir. Beinahe hätte ich mich an meinem Kaffee verschluckt. Als ich aufschaute, bemerkte ich, dass sie mich ansah. Kein liebevoll fragender Blick, kein besorgter Blick. Ihre Augen waren wie schwarze Perlen und ihre Miene starr.

»Nicht besonders gut«, antwortete ich. Meine Gefühle hatten sich seit gestern Nacht nicht verändert. Ich war noch immer traurig, aber es war jetzt ein dumpfer Druck in meiner Brust. Ich wusste, dass der Schmerz in Wellen zurückkehren würde, dass aus ihm eine Flut werden konnte, aber noch war die See ruhig.

Meine Mutter sah mich einen Moment lang mit ihren Perlenaugen an, dann wandte sie sich wieder ihrer Mahlzeit zu. Ich hätte ihre Frage ausführlicher beantworten sollen. Ich hätte sagen sollen, dass ich geweint hatte. Aber das konnte ich nach dem gestrigen Vorfall nicht.

»Ich werde Hendrik besuchen«, sagte ich schließlich. »Er liegt doch im Hospital in Kristianstad?«

»Ja«, antwortete Mutter und hob die Tasse an den Mund, um nicht mehr sagen zu müssen.

Ich sah ein, dass es besser war, sie in Ruhe zu lassen. Mit meinem Entschluss, nach Stockholm zu gehen, hatte ich die Nabelschnur durchtrennt. Das ließ sie mich deutlich spüren.

Bevor ich mein Zimmer aufsuchte, beschloss ich, mich von meinem Vater zu verabschieden. In der vergangenen Nacht war der Schlaf zu schnell gekommen, und jetzt verspürte ich den Drang, ihn ein letztes Mal zu sehen, bevor er unter dem Holz des Sarges verschwand.

Die Tür des Sterbezimmers erschien mir wie ein drohender Riese. Ich wusste, was dahinter war. Mein Vater konnte mich nicht mehr mit Vorwürfen bedenken oder Forderungen stellen. Aber ich hätte mir jeden Vorwurf gern angehört, wenn er dafür noch am Leben gewesen wäre.

»Gnädiges Fräulein«, sprach mich jemand an. Als ich zur Seite blickte, trat Arno Bruns aus den Schatten, die in der Ecke neben dem Raum nisteten.

»Guten Morgen, Bruns«, sagte ich mechanisch, ohne einen Anflug von Freundlichkeit. Ich würde es ihm nicht vergessen, dass er dem Befehl meiner Mutter gehorcht hatte.

»Ich … ich wollte mich für mein Verhalten von gestern Abend entschuldigen«, sagte der Kammerdiener und senkte den Kopf. »Ich hätte Sie warnen müssen. Ich hätte Ihnen einen Hinweis geben müssen. Ich …«

»Sie haben den Befehl meiner Mutter ausgeführt. Daran ist nichts Unkorrektes.« Seine Zerknirschung rührte mich.

»Von dieser Warte besehen sicher, doch … Ich kenne Sie, seit Sie klein waren. Ich hätte wenigstens eine Andeutung machen müssen.« Er hielt kurz inne, dann fügte er hinzu: »Es tut mir leid. Hätte man mich zu meinem toten Vater geführt, ohne dass ich den Anflug einer Ahnung gehabt hätte, wäre ich sicher zusammengebrochen.«

Das war ich auch, aber allein in meinem Zimmer. Eine Lejongård bewahrte in der Öffentlichkeit immer die Contenance.

»Ist schon gut«, sagte ich, und ein wenig klang es, als wollte ich ein kleines Kind trösten. »Ich nehme es Ihnen nicht übel.«

Der Kammerdiener nickte, allerdings wirkte er nicht erleichtert. Mehr als ihn wissen lassen, dass ich ihm verzieh, konnte ich nicht, aber natürlich wusste er, dass die Aussage eines Herrn oder einer gnädigen Frau nicht immer das bedeutete, was die Worte meinten.

»Ich möchte meinen Vater noch einmal sehen«, sagte ich. »Und nachher statte ich meinem Bruder einen Besuch ab. Ob Sie wohl Bescheid geben könnten, dass ich August und die Kutsche benötige?«

»Wie Sie wünschen, gnädiges Fräulein.« Er machte eine kleine Verbeugung und zog sich zurück.

Ich wandte mich wieder der Tür zu, atmete tief durch und drückte die Klinke herunter.

Die Vorhänge waren halb geschlossen, so als fürchtete man, dass er aus seinem Schlaf erwachen könnte. Der schmale Streifen Licht, der durch ein Fenster fiel, berührte das Gesicht meines Vaters wie der Scheinwerfer in einem Theaterstück.

Ich setzte mich neben ihn aufs Bett und versuchte nicht darauf zu achten, dass er verkohlt und nach Konservierungsflüssigkeit roch. Ich versuchte auch, ihn nicht direkt anzusehen, aus Angst, dass ich dann die schrecklichen Verletzungen bemerken könnte. Es genügte schon, dass ich ihn aus dem Augenwinkel sah. Wieder kamen mir die Tränen, der Kloß setzte mir die Kehle zu. Aber diesmal war es anders. Es war kein Schock mehr, es war ein eher gleichförmiger Schmerz. Man konnte ihn nicht ignorieren, aber ertragen.

»Es tut mir leid, Vater«, sagte ich. Meine Stimme hallte dumpf durch den Raum. »Es tut mir leid, dass du dich so oft über mich ärgern musstest. Es tut mir leid, dass ich einen eigenen Willen habe. Und dass ich nicht da war. Aber ich habe damit gerechnet, dass du ein Methusalem wirst. Ich dachte, es würde immer so weitergehen. Verzeih mir diesen Fehler, ich war nicht vorbereitet.«

Schweigen folgte meinen Worten. »Ich wollte euch allen nicht das Leben schwer machen. Das will ich auch jetzt noch nicht. Aber ich bin nur einmal auf dieser Welt. Wir befinden uns in einem neuen Jahrhundert, alles verändert sich so rasch. Ich glaube nicht, dass wir stehen bleiben sollten. Jedenfalls nicht wir, deren Leben noch nicht gesetzt ist. Warst du nicht auch ein Rebell gegenüber deiner Mutter?«

Leider hatte mein Vater nie viel von unseren Großeltern erzählt. Unsere Großmutter war eine mürrische alte Frau in schwarzen Kleidern gewesen, die selten mehr als nötig gesprochen hatte. Das einzige Buch, das für sie Gewicht gehabt hatte, war die Bibel, und dementsprechend streng hatte sie darauf geachtet, dass Gottes Gesetz eingehalten wurde. Ungezähmte Freude hatte man von ihr nicht erwarten können, sie hatte sich alles fürs Paradies aufgespart. Uns Kindern war sie immer ein wenig finster vorgekommen. Ich wusste nicht, ob man gegen so eine Frau rebellieren würde. Mein Vater hatte immer darauf geachtet, dass alles seine Ordnung hatte, und ich war mir nicht sicher, ob er wirklich etwas getan hatte, um das Gesicht seiner Mutter noch mehr zu verfinstern.