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Sie kämpfen für ihre Freiheit. Und für die Liebe ...
Karlskrona 1910. Liv fühlt sich nicht nur von dem Korsett eingeengt, das sie tagtäglich anlegt, sondern auch von der lieblosen Ehe mit dem Reeder Sten Boregard. Der Drang, von ihrem Platz an seiner Seite auszubrechen, verstärkt sich, als sie die Arbeiterfrau Marlene kennenlernt, die das Schicksal hart getroffen hat: Seit dem Tod ihres Mannes und seiner Mannschaft auf See wird Marlene von den Seemannsfrauen angefeindet – und doch lässt sie sich nicht kleinkriegen. Liv ist fasziniert von Marlenes Freiheitsgeist und Tatendrang. Zarte Bande einer Freundschaft entstehen, und als Liv überraschend ein von Rosen umranktes Wildhüterhaus in den schwedischen Wäldern erbt, keimt in ihnen eine kühne Idee: Sie wollen einen Rückzugsort für Frauen erschaffen, an dem sie sich selbst verwirklichen können. Heimlich hauchen Liv und Marlene dem Rosenhag und seinem Garten voller Wildblumen neues Leben ein – doch sie ahnen nicht, dass nicht nur ihr Geheimnis in Gefahr ist, sondern auch sie selbst …
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Seitenzahl: 696
Veröffentlichungsjahr: 2025
Corina Bomanns Romane sind mit einer Gesamtauflage von über zwei Millionen Exemplaren nicht aus den Bestsellerregalen wegzudenken. Mit ihren beliebten historischen Sagas steht sie regelmäßig auf den vorderen Plätzen der SPIEGEL-Bestsellerliste und begeistert ihre Leserschaft mit mutigen Heldinnen, großen Gefühlen und bewegenden Schicksalen – so auch zuletzt mit ihrer vierbändigen Waldfriede-Saga. Ihre neue Reihe »Die Frauen vom Rosenhag« entführt nach Schweden, wo zwei mutige Protagonistinnen für ihre Freiheit und die Liebe kämpfen.
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Corina Bomann
Traum vom Neubeginn
Roman
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Redaktion: Carlos Westerkamp
Covergestaltung: bürosüd
Coverabbildung[en]: Arcangel (Jacinta Bernard), www.buerosued.de
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-31840-6V002
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Ich richtete mich im Bett auf und blickte zum Fenster. Das erste Morgenlicht fiel in die Schlafkammer und ließ das Meer und den Himmel in einem stechenden Blau erstrahlen.
Auf einem in Ufernähe vertäuten Fischerboot hockten die Möwen, müde und klamm von der nächtlichen Kälte. Sie warteten auf die vier Männer, die jeden Tag gegen acht Uhr hinausfuhren.
In einem großen Schwarm folgten die Vögel dem Boot, sobald es sich in Bewegung setzte. Sie umkreisten es in dem Wissen, dass etwas vom Fang für sie abfallen würde. Durch sie wusste man immer, wo die Fischer waren.
Der Gedanke an das Boot und die Möwen verschwand, als ich Bjarnes Hände an meinen Hüften spürte. Warm waren sie und rau von der langen Zeit auf See, aber dennoch imstande, leicht und zärtlich wie eine Feder über meine Haut zu gleiten.
In der vergangenen Nacht hatten wir kaum Schlaf gefunden. Obwohl wir einen ganzen gemeinsamen Monat gehabt und diese Zeit auch gut genutzt hatten, dürsteten unsere Körper nach einander, als wäre es das erste Mal nach langer Zeit. Das war immer so, wenn Bjarne wegmusste. Ich würde genug Zeit haben, mich auszuruhen, wenn er fort war.
»Noch einmal?«, fragte er neckend, und der Klang seiner dunklen, warmen Stimme durchlief meine Seele wie Feuer. In den kommenden Wochen würde ich sie schmerzlich vermissen.
Ich streckte die Hand nach seinem Gesicht aus, streichelte seine Wangen, fühlte die ersten Bartstoppeln darauf, die weiche Kurve seiner Lippen. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, sich einen Bart stehen zu lassen, während er auf See war. Zum einen, weil es schwierig war, sich bei Seegang zu rasieren, ohne sich dabei zu schneiden. Zum anderen, weil es Glück bringen sollte.
Ich glaubte nicht daran, aber die Bräuche der Seeleute waren ohnehin ein Buch mit sieben Siegeln für jene, die an Land zurückblieben.
Ich lächelte ihn an, dann setzte ich mich rittlings auf ihn. Die Bettdecke glitt von meinen Schultern, und in der kühlen Luft versteiften sich meine Brustwarzen sofort.
Ich hörte ihn aufseufzen, spürte, wie sein hartes Glied gegen meinen Unterleib drückte. Wie jedes Mal, wenn ich mit ihm schlief, fragte ich mich, wann es so weit sein würde. Wann ich endlich ein Kind von ihm bekam. Vielleicht diesmal? Wenn er zurückkehrte, könnte ich schon einen runden Bauch haben …
Er glitt in mich, während seine Hände mich sanft dazu aufforderten, ihn zu reiten. Doch ich wollte es noch ein wenig hinauszögern, so als könnte ich ihn auf diese Weise festhalten.
»Wirst du mich vermissen, da draußen auf See?«, fragte ich, während ich ganz ruhig auf ihm verharrte.
»Ja!«, stöhnte er und bewegte sich drängend gegen mich. »Und wie, mein Engel!«
Mein Schoß pulsierte. Obwohl wir unsere Lust in der vergangenen Nacht wieder und wieder gestillt hatten, erwachte derselbe Hunger aufs Neue.
»Und wirst du dir kein anderes Mädchen in irgendeinem Hafen suchen?«, fuhr ich fort.
»Wie sollte ich?«, fragte er, während seine Hände an meinen Hüften hinaufglitten, sie streichelten und dann an der schmalen Beuge meiner Taille verharrten. »Ich werde nur von Männern umgeben sein! Männern, die nach Erdöl stinken und Flüche in vier verschiedenen Sprachen kennen.«
»Und wie sieht es bei Unwetter aus?« Das Verlangen wurde beinahe übermächtig, doch noch immer zügelte ich mich.
»Selbst wenn wir in einen Hafen einlaufen müssen, wird es keine andere für mich geben!« Er richtete sich auf, umschlang meine schmale Gestalt mit seinen starken Armen, senkte sein Gesicht auf meine Brüste. Er wusste genau, dass es mich wild machte, wenn seine stoppeligen Wangen meine Haut rieben. »Komm«, raunte er leise.
Diesmal gab ich ihm nach. Im Gleichtakt bewegten wir uns, wie ein Schiff auf den Wellen.
Bjarne barg seinen Kopf an meinem Hals und fand zielsicher die Stelle, an der ich am empfindlichsten war. Ich konnte den Höhepunkt genauso wenig zurückhalten wie den Abschied. Aufstöhnend ließ ich mich ganz in seine Arme sinken.
Und obwohl er noch bei mir war, vermisste ich ihn schon jetzt.
Marlene
Ein Geräusch schreckte mich aus dem Schlaf. Das wohlige Gefühl, das der Traum in mir hinterlassen hatte, verschwand so schnell, als hätte man mich mit einem Eimer Wasser übergossen. Überlaut drang es an mein Ohr: Ein seltsames Bimmeln, gefolgt von einem Tapp, Tapp, Tapp, das wie blecherne Schritte klang.
Es kam mir bekannt vor, doch ich war zu schläfrig, um es benennen zu können. Ich öffnete meine bleiernen Lider. Das erste Morgenlicht fiel durch das Fenster und zeichnete die Konturen der Möbel nach. Ein Kleiderschrank mit Rattantüren stand an der Wand gegenüber, ein Waschtisch mit weißem Emaillekrug und einer etwas angeschlagenen Schüssel neben der Tür. Das Bett, in dem ich lag, war ein einfaches Metallbett, über dem Stuhl, der vor dem Schreibtisch am Fenster stand, hingen noch meine Kleider vom Vortag.
Der Raum bot wesentlich weniger Platz als das kleine Haus, in dem wir zuvor gelebt hatten. Ich war froh gewesen, dass Ove Malmström über seinem Lebensmittelladen noch ein Zimmer frei und nichts dagegen gehabt hatte, es mir zu überlassen. Trotz allem, was vorgefallen war.
Wie spät mochte es sein? Drei Uhr? Vier? Meine Taschenuhr lag auf dem Schreibtisch vor dem Fenster, aber ich hatte keine Lust, aufzustehen und nachzusehen.
Im Zimmer nebenan setzten sich die Geräusche fort und schienen noch lauter zu werden. Tapp,tapp, tapp, tapp, tapp – kling!
Genervt seufzte ich auf.
Der Sonntag war nach einer langen Woche in der Fabrik der Tag, an dem ich ausschlafen konnte. Die Glocken der Admiralitätskirche von Karlskrona riefen die Gläubigen erst spät zum Gottesdienst. Die verlängerte Schlafenszeit reichte meist aus, um die Schmerzen in meinen Gliedern zu lindern. In der Fabrik stand man sich entweder den Rücken krumm oder zerrte sich Hände und Arme beim Zusammenschrauben der Metallteile.
Mein Nachbar schien die Nacht nicht zum Ausruhen nutzen zu wollen. Warum um alles in der Welt saß er um diese Zeit an seiner … Schreibmaschine? Ja, genau, das war es! Ich hörte diese Geräusche jeden Morgen, wenn ich am Verwaltungsgebäude vorbeiging.
Eigentlich interessierte ich mich nicht sonderlich für meinen jeweiligen Mitbewohner. Wenn ich ihm zufällig begegnete, grüßte ich, und das war’s. Ohnehin hatte ich nicht viel freie Zeit. Wenn ich nach einem langen Tag in der Montage heimkehrte, blieb mir gerade noch Zeit, etwas zu essen und meine Nase in ein Buch zu stecken. Manchmal nicht mal das, weil meine Augen vom genauen Hinsehen brannten.
Aber die Lampenfabrik sicherte mein Einkommen und bewahrte mich einen Großteil der Zeit davor, an Bjarne zu denken. Manchmal lenkte mich die Arbeit so sehr ab, dass ich vergaß, was geschehen war, und den Weg zu meinem alten Zuhause einschlug. Oder mich dabei ertappte, mir vorzumachen, dass er vielleicht doch wieder durch die Türe treten würde.
Das Klappern ging weiter, und wieder und wieder klingelte es. Ich verdrehte schnaufend die Augen.
Die Frau, die zuvor nebenan gewohnt hatte, war in der Nacht nicht laut gewesen. Sie war Krankenschwester und hatte, wie Oves Frau Siri berichtete, eine private Pflegestelle angenommen. Die wenigen Male, die sie mir über den Weg gelaufen war, hatte sie immer eine Schwesterntracht getragen.
Offenbar war ihr Dienst im Hospital nun beendet. Durch die Extraschichten in dieser Woche hatte ich ihren Auszug nicht mitbekommen.
Sollte ich vielleicht doch klopfen? Dem Störenfried meine Meinung sagen?
Ich ließ mich wieder auf die Kissen sinken. Sie rochen nach der Seife, mit der ich mich jeden Abend wusch. Ich konnte es nicht ausstehen, schmutzig ins Bett zu gehen, besonders dann nicht, wenn meine Hände nach Schmieröl stanken.
Auch Bjarne hatte es so gehalten. Bevor er mir nach seiner Heimkehr nahekam, hatte er erst einmal ein Bad genommen. Manchmal hatten wir uns gleich geliebt, nachdem er aus der Wanne gekommen war, im Stehen, er noch feucht vom Wasser.
Ich weiß nicht, wieso, doch plötzlich hatte ich diesen einen Morgen vor drei Jahren wieder vor mir, den letzten, an dem ich Bjarne lebendig gesehen hatte …
Die frostige Märzluft drang rasch unter mein dunkelblaues Wollkleid und den Mantel, während wir zum Kai schritten. Erschaudernd zog ich das dicke, ockerfarbene Tuch, das Bjarne mir aus Russland mitgebracht hatte, um die Schultern zusammen.
Mein Mann schien von der Kälte nichts zu spüren. Er trug seine dunkelblaue Wolljacke, dunkle Hosen und die Kapitänsmütze auf dem Kopf, die er manchmal schelmisch seine »Krone« nannte. Trotz seiner vierzig Lebensjahre scherzte er gelegentlich wie ein junger Bursche.
Doch jetzt schien ihm dazu ebenso wenig zumute zu sein wie mir.
Unter einem tief hängenden, grauen Wolkendach schwappte das Meer dunkel und gischtgekrönt gegen die Hafenanlagen von Karlskrona, während im Hintergrund die Glocke der Admiralitätskirche acht Uhr läutete.
Bjarnes Schiff, die Solveig, ein Schoner, der inmitten moderner Dampfschiffe altmodisch wirkte, erhob sich majestätisch an seinem Liegeplatz. Es war früher auf hoher See gefahren, hatte sogar die Passage um Kap Hoorn geschafft, doch nun wurde es als Transportschiff für Petroleum genutzt. Eines der letzten, die noch unter Segeln fuhren.
Petroleum war das schwarze Blut des Fortschritts, wie Bjarne es nannte. Es wurde für die Lampenfabrik gebraucht, aber auch die Königliche Admiralität wurde beliefert. Seit dem Jahr 1901 förderte Schweden selbst Erdöl, doch es reichte nicht aus, den gestiegenen Bedarf des ganzen Landes zu decken.
»Weißt du, wie gern ich dich hierbehalten würde?«, fragte ich. »Ich wünschte so sehr, dass du nicht mehr rausfahren müsstest.«
Bjarne küsste mich und zog mich an seine Brust.
In seinem Alter hätte er gut einen Posten an Land bekleiden können. Doch ich wusste, wie sehr er das Meer liebte. Wenn es etwas gab, auf das ich eifersüchtig war, dann die unergründlichen Wogen, die ihn immer wieder von mir wegtrugen.
»Wird es nicht langsam Zeit, dass die Solveig außer Dienst gestellt wird?«, fragte ich, während ich mich an ihn schmiegte.
Bjarne hatte mir erzählt, dass anlässlich des Inhaberwechsels ein Mann erschienen war, der sich sämtliche Schiffe, die für die Reederei fuhren, angeschaut hatte.
»Sie wird es schon noch eine Weile machen«, raunte er in mein Haar, das ich zu einem Zopf geflochten um meinen Kopf geschlungen hatte. »Aber vielleicht heuere ich nächstes Jahr auf einem Dampfschiff an.«
»Das würde dich nur noch länger von mir wegführen.« Ich blickte seufzend zu ihm auf und versuchte jeden Zug seines Gesichts in mich einzusaugen: seine eisblauen Augen, die kleine Narbe, die er an der Augenbraue hatte, den Schwung seines Kinns, die kleinen Grübchen in seinen Wangen.
»Es tut mir leid, dass ich dich verführt habe, mich zu heiraten«, sagte er lachend und küsste mich.
»Mir nicht«, gab ich zurück. »Doch es ist deine Schuld, dass ich nicht genug von dir bekommen kann.«
»Eines Tages werde ich immer bei dir sein, versprochen.« Er küsste mich noch einmal leidenschaftlich, und in mir stieg die alte Angst auf. Das Meer hatte keine Balken, und auch wenn Bjarne Walsted ein erfahrener Kapitän war, so war sein Schiff doch alt und die Fracht, die er über die Ostsee fuhr, gefährlich.
»Pass gut auf dich auf«, sagte er, als er sich aus meiner Umarmung löste. »Ich werde dir telegrafieren, sobald ich in Riga angekommen bin. Und ich werde dafür sorgen, dass wir uns nicht länger als nötig dort aufhalten.«
Ich nickte und versuchte die Tränen, die in mir aufstiegen, zu unterdrücken. Er sollte mich nicht weinen sehen, sollte keinen bedrückten Ausdruck auf meinem Gesicht mit sich nehmen auf die wochenlange Reise.
Bjarne wandte sich um. Als ich den Kopf zur Seite drehte, um mir rasch eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen, sah ich noch andere Frauen, die ihre Männer verabschiedeten. Sie alle würden bleiben, bis das Schiff hinter dem Horizont verschwunden war. Sie alle würden wie ich in den folgenden Wochen Angst um ihre Männer haben.
»Kommen Sie mir ja heil wieder, Kapitän Walsted!«, rief ich ihm nach, worauf er noch einmal stehen blieb und sich herumdrehte.
Jetzt gab es für mich kein Halten mehr. Es war egal, ob die anderen Frauen zuschauten. Ich rannte zu meinem Mann, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn ein letztes Mal mit voller Inbrunst.
Hinter uns ertönte die Schiffsglocke. Wir würden die Zeit nicht betrügen können. Doch diesen einen Moment wollte ich behalten.
Für immer …
Nein, sagte ich mir, während ich spürte, dass Tränen in meine Augen schossen. Nicht jetzt. Der Schmerz durfte mich nicht schon wieder überwältigen.
Wütend warf ich mich auf die Matratze. Das Gestell darunter knarzte protestierend. Noch immer klapperte es nebenan. »Geh schlafen!«, flüsterte ich dem Störenfried mürrisch zu, obgleich er mich nicht hören konnte.
Dann drehte ich mich um, zog mir die Decke über die Ohren und schwor mir, ihm die Leviten zu lesen, wenn ich ihm am nächsten Tag begegnete.
Liv
»Fester!«, hallte meine Stimme durch das Ankleidezimmer.
Astrid kam meiner Aufforderung nach und zog die Korsettschnüre noch ein bisschen mehr an. Der mit Fischbein verstärkte, cremefarbene Stoff legte sich eng um meine Taille, wie die Umarmung eines Liebhabers, der geschworen hatte, mich nie mehr loszulassen.
Astrid schnaufte hinter mir. Im Gegensatz zu Svenja, meinem vorherigen Dienstmädchen, hatte sie nicht besonders viel Kraft in den Armen. Leider hatte Svenja vor zwei Wochen das Haus verlassen, um zu heiraten.
Ich betrachtete mich in dem hohen Spiegel, der schon so manche Generation Frauen dieser Familie bei der Morgentoilette beobachtet hatte. Das Glas war an den Rändern etwas angelaufen, und die kleinen Putten, die an den Ecken des Rahmens kauerten, waren an einigen Stellen verblichen.
Da ich recht zierlich war, stellte es keine so große Anstrengung dar, das gerade moderne Taillenmaß zu bekommen. Doch um wie eine Sanduhr auszusehen, würde ich nicht nur mein Hinterteil polstern müssen, auch für die Bluse hatte ich gefütterte Einlagen, um die unliebsamen Dellen zwischen Schultern und Brust auszugleichen und die Taubenbrust zu formen, die das derzeitige Ideal der Weiblichkeit darstellte.
Ein weiterer Ruck an den Schnüren presste mir die Luft aus der Lunge. Offenbar hatte Astrid doch noch irgendwelche Kraftreserven.
»Es reicht!«, rief ich schärfer, als ich beabsichtigt hatte. Ich griff nach hinten und versuchte, die Schnüre wieder ein wenig zu lockern. Wenigstens um die Brust herum, dass ich besser atmen konnte.
»Verzeihen Sie, gnädige Frau.« Astrid wich zurück und senkte den Kopf. Im Spiegel sah ich, dass sie rot wurde.
»Schon gut«, sagte ich und griff nach den Bändern. Ich führte sie um meine Taille herum, band eine Schleife und ließ die überhängenden Fäden unter dem Rand des Korsetts verschwinden. »Bring mir die Polster und den Unterrock.«
Astrid nickte und huschte zur Kommode.
Eine halbe Stunde später fühlte ich mich präsentabel. Mein braunes Haar hatte ich zu einem eleganten Knoten geschlungen und mit silbernen Nadeln festgesteckt. Auf meinem Gesicht lagen eine Schicht Puder, etwas Röte auf den Wangen und etwas Grau auf meinen Lidern, das ich mit einem angebrannten Hölzchen auftrug. Über meiner Unterwäsche trug ich eine reich mit Spitze verzierte weiße Bluse und einen dunkelgrauen Rock, der die Farbe meiner Augen zur Geltung brachte. Komplettiert wurde mein Aufzug durch braune Schuhe mit kleinem Absatz und einer Brosche am Kragen. Der blaue Stein funkelte in einem Strahl Morgensonne.
Es war das einzige Erbstück meiner Mutter. Sie selbst hatte die Brosche von ihrer Großmutter bekommen. Liebevoll zog ich mit dem Finger die Konturen der geschwungenen Fassung nach, die an einen Blütenkelch erinnerte. Bilder tauchten vor meinem geistigen Auge auf, Erinnerungen an die Zeit, in der meine Mutter das Zentrum meines Lebens war. Bis dieser eine Sommertag alles in die Brüche gehen ließ …
»Benötigen Sie noch etwas, gnädige Frau?«, riss mich Astrid aus meinen Gedanken. Ich hatte sie beinahe vergessen.
»Nein. Du kannst gehen«, sagte ich und drängte die Erinnerungen zurück. »Ich komme allein zurecht.«
Als sie fort war, wandte ich mich um. Durch die weißen Gardinen war das satte Grün des Parks zu erahnen. Ein wunderschöner Tag. Pfingsten. Normalerweise war das die Zeit, in der man sich zusammenfand, die Kirche besuchte und anschließend spazieren ging. Doch Sten hatte mir nicht den Auftrag gegeben, für diesen Tag etwas vorzubereiten.
Da ich nicht wusste, ob mein Mann bereits auf den Beinen war, beeilte ich mich, denn er hasste es, beim Frühstück auf mich zu warten.
Ich schritt über die weichen, prachtvoll gemusterten Teppiche des Flurs zur Treppe, die in einem eleganten Schwung in die untere Etage führte. Unser Haus war recht groß, neben dieser Treppe gab es im hinteren Teil noch einmal eine für die Dienstboten. Diese war steiler und weniger prächtig, während man auf den Stufen, die ich nun betrat, nur so dahinzufliegen schien.
An der Treppe blieb ich einen Moment lang stehen. Der schwere Kristalllüster, der wie eine große Traube von der Decke hing, glitzerte noch im Schein der Lampen, obwohl durch die hohen Fenster bereits Sonnenlicht hereinströmte. Die Portraits zwischen den Landschaftsbildern an den mit beige-goldener Tapete versehenen Wänden blickten mich wie immer kühl und ein wenig entrückt an.
Stens Eltern waren schon vor einigen Jahren von uns gegangen. Olivia, seine Mutter, war eine zarte Person gewesen, die schwer unter Migräne gelitten hatte. Ich konnte mich kaum noch an sie erinnern. Sie starb mit nicht mal fünfzig Jahren. Ihr Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen.
Mein Schwiegervater Arnulf überlebte sie bloß um vier Jahre. Er war nur wenig älter gewesen als sie, ein rotgesichtiger Mann voller Vitalität. Auch seine Zeit wäre noch nicht gekommen gewesen.
Doch es hatte einen Unfall am Hafen gegeben. Ein Kran hatte plötzlich herumgeschwenkt und ihn getroffen. Obwohl ein Arzt schnell zur Stelle war, hatte er ihn nicht mehr retten können.
Die Portraits meiner Schwiegereltern waren vor zwei Jahren an dieser Wand angebracht worden. Sie waren die einzigen vertrauten Gesichter für mich. Bei den anderen handelte es sich um entfernte Ahnen, Frauen und Männer in altmodischen Kleidern und mit teilweise seltsam anmutenden Frisuren.
Doch wenn mich wie heute die Schwermut überkam, glaubte ich in allen Augenpaaren einen Vorwurf zu erkennen. Den, nicht für den Fortbestand dieser Familie zu sorgen.
Das Esszimmer war einer der schönsten Räume dieses Hauses. Das in einem warmen Braunton gehaltene Parkett wurde von den Dienstmädchen blitzblank gehalten. Die Wände waren nicht mit Tapeten geschmückt, sondern mit echten Wandmalereien, die Szenen aus dem ländlichen Leben zeigten. Sie mussten mittlerweile schon an die hundert Jahre alt sein.
Sten sprach immer mal wieder davon, den Raum umgestalten zu lassen. Zu modernisieren. Doch er war dermaßen beschäftigt, dass er nicht dazu kam. Ich war froh darüber, denn ich liebte die alte Villa in der Ronnebygatan. Wie durch ein Wunder hatte sie den großen Stadtbrand im Jahr 1790 unbeschadet überstanden. Mit ihrem weitläufigen Garten und den weißen Säulen kam sie meiner kindlichen Vorstellung eines Schlosses ziemlich nahe. Sogar Hugo Skantze, der Besitzer der Lampenfabrik, der ein paar Häuser weiter in der Nummer 5 wohnte, beneidete uns darum.
Hier unten war außer mir noch niemand. Ich hörte Astrid gedämpft mit dem Geschirr klappern. Von draußen tönte Vogelzwitschern durch die Fenster.
Ich trat an den langen Esstisch, der Platz für acht Personen bot. Auf Wunsch von Sten wurden unsere Gedecke an den Kopfenden ausgelegt, weit voneinander entfernt. Das Blumenbouquet dazwischen wurde jeden zweiten Tag erneuert. Momentan bestand es aus rosafarbenen Rosen, weißem Schleierkraut, weißen Margeriten und dunkelroten Ranunkeln. Besonders im Winter kosteten diese Arrangements ein Vermögen, und meist waren die Dienstmädchen und ich die Einzigen, die sie sahen. Selbst wenn Sten hier war, wirkte es nicht so, als würde er sie wahrnehmen.
Schritte ertönten, und wenig später kam Sten durch die Tür. Er trug einen sandfarbenen Anzug und ein Hemd mit Vatermörderkragen. Sein blondes Haar war ordentlich gescheitelt.
»Guten Morgen, Liv.«
»Guten Morgen«, erwiderte ich und trat zu ihm. Er küsste mich auf die Wange. »Hattest du eine gute Nacht?«
»Es ging so«, antwortete er knapp und begab sich an seine Seite des Tisches.
Seine Berührung hallte in mir nach. Ich roch sein Rasierwasser, und eine alte Sehnsucht kroch in mir hoch. Wenn er mich doch nur in seine Arme ziehen und wieder so leidenschaftlich küssen würde, wie er es damals getan hatte! Unsere Ehe war vielleicht arrangiert gewesen, dennoch hatten wir eine gewisse Leidenschaft füreinander entwickelt.
Doch damals hatte er noch die Hoffnung gehabt, dass ich Kinder bekommen würde.
Jetzt, sieben Jahre nach unserer Hochzeit, schliefen wir in getrennten Betten. »Damit ich dich nicht störe, wenn ich spät zurückkehre«, war Stens Erklärung dafür gewesen.
Ich setzte mich auf meinen Platz und spürte dabei die Enge des Korsetts noch mehr als sonst. Früher hatte Sten mich dafür bewundert, dass meine Taille schmal wie die eines jungen Mädchens war. Es wäre ihm aufgefallen, dass ich mich besonders hübsch gemacht hatte.
Jetzt richtete er den Blick sofort auf die Abendzeitung, die gebügelt neben seinem Teller lag. Er war vergangene Nacht so spät heimgekommen, dass er sie nicht mehr hatte lesen können. Überhaupt sah ich ihn in letzter Zeit nur zum Frühstück.
Astrid trug das Essen auf. Angesichts des Geruchs der frischen Erdbeermarmelade lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ruth, unsere Köchin, hatte ein ganz spezielles Rezept dafür, das sie niemandem verriet – auch mir nicht. Doch warum sollte eine Fabrikantengattin wie ich auch Marmelade kochen?
Ich räusperte mich. »Musst du denn den ganzen Tag im Büro bleiben?«, wagte ich einen Vorstoß. Sten arbeitete weiß Gott genug, und dass er sich nicht einmal am Sonntag ein wenig Ruhe und Zerstreuung gönnen wollte, besorgte mich ein wenig.
»Ich habe doch gesagt, dass ich viel zu tun habe«, gab Sten zurück, während er die Kaffeetasse an den Mund führte. »Wir haben einen Großauftrag aus Deutschland bekommen. In diesen Zeiten ist das fast ein Wunder!«
»Aber selbst in Deutschland feiert man Pfingsten!«
Der Blick, den er mir daraufhin zuwarf, ließ mich wünschen, meinen Mund gehalten zu haben.
Sten schnaufte und stelle die Kaffeetasse ab. »Liv«, begann er, und etwas in mir krampfte sich zusammen. Ich mochte seine Ansprachen nicht. Und ich verstand auch nicht, warum er sie mir gegenüber hielt wie vor einem seiner Mitarbeiter. »Du weißt, wie viel von meinem Erfolg abhängt. Das alles hier«, er machte eine ausladende Handbewegung, »kommt nicht von nichts. Als Besitzer muss ich alle Aspekte überwachen. Natürlich sind das Dinge, von denen du keine Ahnung hast.«
Die Worte schnitten in meine Seele wie die Stäbe des Korsetts in meine Rippen. Wenn ihm meine Fragen oder Forderungen unangenehm wurden, reagierte er in letzter Zeit häufiger damit, mich als unwissend hinzustellen.
Ein Geräusch ließ mich zur Tür blicken. Astrid hatte den Kopf hereingesteckt, wahrscheinlich, um noch einmal nach unseren Wünschen zu fragen. Als sie meinen Blick auffing, zog sie sich schnell zurück.
Sten schien sie nicht bemerkt zu haben. Während sich sein Gesicht mehr und mehr rötete, holte er weiter aus. »Das Geschäft mit den Deutschen ist wichtig, denn es könnte dazu führen, dass wir Folgeaufträge in der Größenordnung bekommen. Du als meine Ehefrau hast die Pflicht, mich dabei zu unterstützen, und das tust du am besten, indem du mich gewähren lässt und mir nicht ständig widersprichst.«
Ich spürte deutlich, dass er sich in Rage reden wollte. Meine Frage war harmlos gewesen, doch sie wirkte nun wie ein Funke an einem Dynamitfass. Ich hatte ihm nicht widersprochen und auch nichts gefordert. Ich hatte ihn nicht darum gebeten, mehr Zeit mit mir zu verbringen. Doch genau so schien er es aufgefasst zu haben, und das war anscheinend das Letzte, was er wollte.
»Du solltest dir mehr Freundinnen suchen«, fuhr er in scharfem Ton fort. »Eine Aufgabe. Oder einen guten Zweck. Schau dir Nanna Skantze an! Sie hat drei Kinder und noch Zeit für Wohltätigkeit! Wenn du schon keine Kinder hast, könntest du der Gesellschaft auf andere Weise nützlich sein!«
Mit unwirschen Bewegungen faltete er die Zeitung zusammen, nahm noch einen Schluck aus seiner Tasse und sagte dann steif: »Entschuldige mich.« Damit kehrte er mir den Rücken zu und marschierte zur Tür.
Ich fühlte mich, als hätte ich einen Schlag ins Gesicht bekommen.
Was war geschehen? Warum dieser plötzliche Ausbruch? Ich hatte doch nur angemerkt, dass Pfingsten war … Selbst wenn Sten kein eifriger Kirchengänger war, musste er doch anerkennen, dass dies ein besonderer Tag war. Ein Tag, wenn nicht mit Gästen, dann für uns.
Stattdessen hatte er mir vorgeworfen, ihn von seinen Geschäften abzuhalten. Er hatte mir unsere Kinderlosigkeit vorgehalten, mich nutzlos genannt …
Schwere Ziegelsteine türmten sich auf meiner Brust. Ich fühlte mich schwach und machtlos, und vor allem war es … ungerecht.
Wir hatten so oft versucht, Kinder zu bekommen. Ärzte hatten mich untersucht und nichts Krankhaftes gefunden. Und der Vergleich mit Nanna … Sie und ihr Hugo wirkten noch immer so verliebt wie am Tag ihrer Hochzeit. War es da ein Wunder, dass sie so viele Kinder hatten?
Zitternd griff ich nach meiner Kaffeetasse. Die heiße Flüssigkeit schwappte mir über die Hand und auf die Tischdecke. Der körperliche Schmerz war mir willkommen, betäubte er doch den in meiner Seele.
Marlene
Mit einem kraftvollen Ruck öffnete ich die Tür des kleinen Verschlags. Ove bewahrte hier nicht nur seine Kisten und Fässer auf, er erlaubte mir auch, mein Fahrrad hier unterzustellen. An einen Pfosten gekettet, sicher vor Dieben, wartete es auf meine sonntäglichen Ausflüge.
Es war einer der wenigen Schätze, die ich aus meinem früheren Leben behalten hatte. Ein kleines Stück Freiheit.
Ich erinnerte mich noch genau an den Tag, als Bjarne mich mit zugehaltenen Augen aus dem Haus geführt hatte. Für einen Moment hatte ich geglaubt, er wolle mir einen Hund schenken. Als er meine Augen wieder freigegeben hatte, sah ich es: schwarz lackiert, mit blitzblank polierten Speichen und einer silbrig glänzenden Klingel.
Ich fiel ihm um den Hals, küsste ihn und fragte dann: »Woher hast du das? Und wie hast du das vor mir verstecken können?« Ich war jeden Tag in den Holzschuppen gegangen, dort hätte ich es sicher entdeckt.
»Aus Stockholm«, hatte er geantwortet. »Peer hat es für mich aufbewahrt.« Peer Martens war sein Maat, mit dem er viele Jahre auf See gewesen war. »So kannst du immer zum Hafen fahren, anstatt dir deine hübschen Füße plattzutreten.«
»Eigentlich habe ich nichts dagegen zu laufen«, hatte ich lachend geantwortet, ihn erneut geküsst und mich dann in den Sattel geschwungen.
Eine Ewigkeit schien seitdem vergangen zu sein …
Den Weg zur Lampenfabrik legte ich meist zu Fuß zurück, doch an den freien Sonntagen fuhr ich durch die Stadt oder ins Hinterland hinaus und ließ mir den Wind um die Nase wehen. Der heutige Maitag war wie geschaffen dafür.
Die Luft an diesem Pfingstsonntag 1910 war mild und die Sonne schon so kräftig, dass ich sie durch meine Jacke fühlen konnte.
Nachdem ich das Fahrrad aus dem Verschlag geholt hatte, öffnete ich die Frontklappe meines schwarzen Laufrocks und verwandelte ihn damit in Windeseile in eine Hose mit weiten Beinen.
Ein Kribbeln durchzog meinen Körper. Obwohl einige adelige Damen diese Art Beinkleid offen zur Schau stellten, war es in einer Stadt wie Karlskrona noch immer verpönt. Doch ich fühlte mich damit frei wie nie. Außerdem, was hätte meinen Ruf denn noch schlechter machen können?
Wenig später fuhr ich die Straße hinunter, allerdings nicht zum Hafen, sondern in Richtung Bahnhof. Ich wollte zunächst über die Brücke nach Pantarholmen, einer zu Karlskrona gehörenden Insel im Norden, und dann an Blå Port vorbei in Richtung Wald.
Im Wald gab es zu dieser Jahreszeit schon einiges, was man gebrauchen konnte: Waldmeister in Hülle und Fülle, Löwenzahn für einen Salat, und Gundermann, den ich für Suppe verwenden konnte. Wenn ich Glück hatte, würde ich vielleicht noch ein paar Nüsse vom vorherigen Winter aufstöbern. Eichhörnchen legten große Lager an, waren aber vergesslich, sodass man auch im Frühjahr noch Wal- oder Haselnüsse finden könnte.
Doch zuvor musste ich noch etwas erledigen.
Am nördlichen Stadtrand erhob sich eine Reihe von Mietskasernen, in denen nicht nur Arbeiter untergebracht waren. Auch lebten hier Leute, die es nicht ganz so gut getroffen hatten. Sie hangelten sich mit Gelegenheitsarbeiten von einem Tag zum nächsten, konnten immer nur gerade so die Miete für den Monat aufbringen.
Die kleine Gestalt, die ich wenig später auf einem Treppenabsatz zu Gesicht bekam, gehörte zu ihnen.
Ingrid Lasebrö war mir vor einem Jahr begegnet. Sie war um die fünfzig, ihre Kleider wirkten zerschlissen, das ergrauende Haar hatte sie unter einem Kopftuch versteckt. In einem Hinterhof hatte sie den Abfall durchsucht und war von einem Mann mit groben Händen und brutalem Gesicht angegangen worden.
Ich hatte den Kerl in die Schranken gewiesen und brachte sie unter einem Schwall Beschimpfungen fort.
»Sie hätten sich nicht einmischen sollen«, sagte Ingrid. »Ich bin es gewöhnt, dass man mich nirgendwo haben will.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ist schon gut. Es sind nur Worte, nicht wahr?« Sie hatte mich angesehen, und ich hatte erkannt, was sie dazu getrieben hatte, den Müll zu durchwühlen. Hunger.
Auch wenn sie durchaus ein Dach über dem Kopf hatte – eine kleine, von Schimmel durchzogene Wohnung in einem unserer ärmsten Viertel –, reichte das Geld, das sie verdiente, manchmal nicht, um sich im Laden Brot zu kaufen.
Der Teil von meinem Proviant, den ich ihr damals zusteckte, war zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber Ingrid hatte sich mit leuchtenden Augen bedankt.
»Frohe Pfingsten, Ingrid!«, rief ich und hielt vor ihr an. »Hast du Lust auf einen Ausflug?«
Ich wusste, dass sie nicht mitkommen würde, schon gar nicht auf dem Gepäckträger des Fahrrades.
Ingrid lachte auf. Wie immer trug sie einen abgewetzten dunkelgrünen Mantel, fingerlose braune Handschuhe und Schuhe, die etwas zu groß an ihren Füßen wirkten.
Die Sonnenstrahlen schienen ihr gutzutun. Ihr Gesicht wirkte gesünder als sonst.
»Frohe Pfingsten dir auch! Aber du machst wohl Witze, Marlene!« Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das voller Falten und Runzeln war, Spuren eines Lebens, das nur selten gut zu ihr gewesen war. »Wir kippen mit deinem Fahrrad in den Graben!«
»Nicht, wenn ich fahre!«
Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt, was meine Knochen dazu sagen würden. – Komm, setz dich doch einen Moment. Oder hast du es eilig?«
Ich verneinte, lehnte das Fahrrad an die Hauswand und ließ mich auf der Treppe nieder. Die Häuser ringsherum wirkten einfach, beinahe ärmlich. Viele von ihnen hatten Risse in der Fassade. Von manchen blätterte die Farbe herunter. An einigen Stellen war das Pflaster schadhaft. Ein muffiger Geruch strömte aus offen stehenden Fenstern.
»Ich habe hier etwas für dich.« Ich nahm zwei Äpfel und ein in Papier eingewickeltes Butterbrot aus meiner Tasche. »Mit besten Grüßen von Siri Malmström.«
»Hat sie das so gesagt?« Ingrid zog zweifelnd die Augenbrauen hoch. Sie wusste natürlich, dass sich niemand von den Leuten in der Stadt für sie interessierte.
»Nein«, gab ich zu. »Aber ich habe schon gefrühstückt.«
»Und was isst du da draußen im Wald?« Ingrid klang fast schon peinlich berührt.
»Kräuter, Beeren … Irgendwas finde ich immer.« Ich stieß sie an. »Ich kann dir gern etwas mitbringen.«
»Ich hätte nichts gegen Nüsse einzuwenden.«
»Die bekommst du«, versprach ich ihr.
Ingrid ließ die Äpfel und das Brot in ihren Manteltaschen verschwinden. »Weißt du eigentlich, dass ich dich beneide?«, fragte sie.
Ich wagte nicht, nach dem Warum zu fragen, denn es war ja offensichtlich. Ich hatte einen vollen Magen und Arbeit, ich musste nicht darum bangen, dass ich mein Dach über dem Kopf verlor.
Ingrid dagegen war davon abhängig, dass man sie gewähren ließ, wenn sie sich einen Apfel von einem Baum zupfte oder im Abfall von Krämerläden nachsah. Dass man sie in der Wäscherei zum Arbeiten einließ, auch wenn sie zuvor tagelang gefehlt hatte.
»Du bist noch jung«, sagte sie, »und hast es trotz allem, was geschehen ist, geschafft, auf die Füße zu fallen. Wie eine Katze.« Sie gab mir einen kleinen Knuff.
Ich versuchte zu lächeln, trotz des Steins, der auf meiner Seele lag. Es waren harte Jahre gewesen, Jahre voller Schmerz und dunklen Stunden. Ich war zu einer Ausgestoßenen geworden, obwohl ich mit dem, was auf Bjarnes Schiff passiert war, nichts zu tun hatte.
Aber Ingrid hatte recht, ich hatte mich wieder gefangen.
Und auch wenn ich mich mit meinen achtundzwanzig Jahren manchmal alt fühlte, lagen noch viele Jahre vor mir.
»Ich hatte Glück«, entgegnete ich.
»Nein, nicht nur Glück«, entgegnete Ingrid, griff nach meiner Hand und drückte sie. »Du bist stark und kannst arbeiten. Ich wünschte, meine Hände wären besser, damit ich nicht nur für die Miete in diesem Loch arbeiten könnte.«
Ich blickte auf Ingrids Finger, die geschwollen waren vom Rheuma. An manchen Tagen konnte sie sie recht gut bewegen, doch die Schufterei in der Wäscherei verschlimmerte die Schmerzen. Wenn sie versuchte, sie zu ignorieren, führte das oft dazu, dass sie die Hände gar nicht mehr bewegen und nicht zur Arbeit antreten konnte. Das waren dann die Hungertage, an denen sie sich auf die Suche nach Essbarem machen musste.
»Ich habe mal davon geträumt, Köchin zu werden«, fuhr sie fort. »Wenn Ulf noch hier wäre …« Ihre Stimme stockte, und in ihre Augen schlich ein trauriger Ausdruck.
Ich schlang meinen Arm mitfühlend um ihre Schulter, und mir wurde klar, dass ich ganz leicht an Ingrids Stelle hätte sein können. Was, wenn alles viel später passiert wäre? Wenn ich nicht mehr die Möglichkeit gehabt hätte, selbst arbeiten zu gehen?
»Aber es hilft nichts, nicht wahr?«, riss mich Ingrids Stimme aus den Gedanken. »Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Der Tod ist kein Händler, mit dem man feilschen kann.«
Plötzlich klebte ein dicker Kloß in meinem Hals.
»Ich habe ja dich, damit du nach mir siehst«, fügte Ingrid hinzu. »Das ist viel mehr, als andere in der Stadt tun.«
»Ich wünschte, ich könnte dich noch besser unterstützen.« Es war nicht das erste Mal, dass ich daran dachte, sie mit in die Lampenfabrik zu nehmen. Da viele junge weibliche Angestellte heirateten und deswegen kündigten, gab es immer leere Plätze an den Werkbänken, die besetzt werden mussten.
Ingrid schien meinen Gedanken zu erraten, denn sie sagte plötzlich: »Für die Lampen sind meine Finger zu steif. Und niemand wird mich dort als Küchenfrau anstellen.« Sie deutete auf ihre Kleider, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, lass nur. Was du tust, ist genug. Wir kennen uns ja kaum.«
Das stimmte nicht, und Ingrid wusste das. Wir kannten einander mittlerweile gut genug.
Die Kirchenglocke läutete. Ingrid mühte sich von ihrer Treppenstufe hoch. Es wurde Zeit für den Pfingstgottesdienst. Früher wäre ich auch gegangen, allein schon um zu beten, dass der liebe Gott Bjarne behütete, aber ich wusste mittlerweile, dass die anderen Seemannsfrauen diesen Besuch für mich zur Hölle machen würden.
Liv
Der Schimmel trabte ruhig vor der einspännigen Kutsche, deren metallene Beschläge blankgeputzt in der Sonne glitzerten.
Jetzt, da der Frühling sich unaufhaltsam ausbreitete, wirkte alles viel freundlicher und sanfter. Die Bäume und Wiesen begrünten sich, auch wenn man hier nur wenig davon sah.
Ursprünglich war Karlskrona ein reiner Marinestandort gewesen, doch dann hatten sich mehr und mehr Menschen auf den umliegenden Inseln angesiedelt und die Stadt zu dem gemacht, was sie heute war. Viele Brände hatten das Gesicht der Stadt verändert. Mittlerweile fand man nur noch vereinzelt Häuser, die älter als zweihundert Jahre waren. Die große Festung vor der Stadt gehörte genauso dazu wie die alten Kirchen.
Um diese Uhrzeit waren viele Kirchgänger unterwegs, aber die würdigten mich kaum eines Blickes. Ich hielt die Zügel fest in der Hand, wie damals, als ich für einen der Pastoren, bei denen ich gewohnt hatte, mit dem Wagen in die Stadt fahren musste, und fühlte mich zum ersten Mal seit Langem frei.
Wie Kohlensäurebläschen in einem Sodaglas stieg die Freude in mir auf, und der Gedanke, dass Sten nicht wusste, was ich tat, ließ mich leise auflachen. Wenn er es gewusst hätte, wäre er sicher in die Luft gegangen! Es gehörte sich nicht für die Frau eines Stadtrates, selbst eine Kutsche zu lenken. Doch genau darauf hatte ich nach dem Gespräch heute Morgen Lust bekommen.
Seine Worte hatten noch lange in mir gewütet. Normalerweise hätten sie mich dazu gebracht, weinend in meinem Salon zu sitzen. Mich zu fragen, was ich falsch machte. Warum Sten nicht mehr glücklich mit mir war.
Das hatte ich zunächst auch getan. Aber dann … Ich weiß nicht, was über mich gekommen war.
Ich hatte wieder meine Mutter vor mir, die über Jahre vergeblich darauf gewartet hatte, dass der Mann, dessen Kind sie geboren hatte, endlich zu ihr stehen würde. Sie hatte ihr Glück vollkommen davon abhängig gemacht, wie er sich ihr gegenüber verhielt. Und war an seiner Ablehnung zerbrochen.
Mir wurde klar, dass ich im Grunde genommen nicht viel anders war als sie. Ich kleidete mich für Sten, frisierte mein Haar für ihn, versuchte, ihm zu gefallen. Und alles, was er sah, war eine Frau, die ihm keinen Erben bescherte.
Die Wut, die mich daraufhin gepackt hatte, war anders gewesen als alle Male zuvor. Anstatt weiterhin in Selbstmitleid zu versinken, lief ich in mein Zimmer, holte einen meiner braunen Straßenröcke hervor, dazu eine kurze braune Jacke mit breitem Revers und Keulenärmeln, in der ich mich gut bewegen konnte.
Wenn Sten keinen Pfingstausflug wollte, fuhr ich eben allein!
Astrid, die gerade dabei war, die Tischdecke mit dem Kaffeefleck fortzuschaffen, schaute mich erstaunt an, als ich die Treppe hinunterkam und sie aufforderte, dem Stallburschen Bescheid zu geben, das Pferd vor den Surrey zu spannen.
»Soll er Sie fahren?«, fragte sie. »Der gnädige Herr hat dem Kutscher Bescheid gegeben …«
»Nicht nötig, ich fahre selbst.«
Astrid war die Kinnlade heruntergeklappt.
»Du kannst außerdem heute schon etwas früher gehen«, hatte ich hinzugefügt. »Ich werde den Tag über auswärts sein.«
Das Mädchen bedankte sich und eilte davon. Wenig später stand die Kutsche bereit, und Martin, der Bursche, der unsere Pferde versorgte, staunte nicht schlecht, dass ich auf den Kutschbock stieg, die Zügel ergriff und die Pferde angehen ließ.
Kurz durchzuckte es mich, dass er meinem Mann erzählen könnte, was ich getan hatte. Doch war es denn falsch? Sten hatte mich aufgefordert, mir eine Aufgabe zu suchen. Mit der Kutsche zu fahren war eine.
Als ich den Surrey durch das Tor lenkte, bemerkte ich Nanna Skantze, die ihre drei Kinder vor sich her scheuchte, gefolgt von ihrem Ehemann. Offenbar waren sie auf dem Weg zum Pfingstgottesdienst in der Fredrikskyrkan.
Die beiden waren ein hübsches Paar. Nanna war einen Kopf größer als er, hatte rotes Haar und die schlanke Figur einer griechischen Göttin. Hugo war dunkelhaarig, bärtig und etwas gedrungen, hatte aber einen energischen Schritt.
Sten und Hugo waren beide erfolgreiche Geschäftsleute, deren Freundschaft hauptsächlich auf Petroleum gründete. Der eine lieferte, was der andere brauchte, und umgekehrt.
Aber die Zeiten waren im Wandel begriffen.
Schon seit einiger Zeit setzte sich Hugo Skantze dafür ein, dass die Stadt mehr und mehr elektrifiziert wurde. Zwar würde er dadurch weniger Petroleumlampen verkaufen, aber wie ich von Nanna wusste, war er dabei, die Produktion auf elektrische Lampen umzustellen.
Stens Freundschaft mit Hugo brachte es mit sich, dass ich mich auch mit Nanna anfreundete. Wir trafen uns zum Tee und hin und wieder zum Abendessen. Ich beneidete sie um ihre Kinder und um ihr Verhältnis zu ihrem Mann. Jeder sah, dass Hugo ganz vernarrt in sie war. Insgeheim wünschte ich mir, dass Sten und ich auch wieder so sein könnten.
Als sie auf meiner Höhe waren, winkte ich Nanna zu, die mich ein wenig erstaunt ansah. Ich grüßte Hugo und wünschte ihnen allen einen schönen Sonntag. Dann trieb ich, ungeachtet dessen, was sie wohl dazu sagen würden, den Schimmel an.
Ich kam nun in einen Teil der Stadt, in dem die moderne Zeit nicht mehr zu übersehen war. Obwohl es Sonntag war, rauchten einige Fabrikschornsteine, und Kähne mit Kohle fuhren den Sund hinauf. Auch Kirchenglocken und Feiertage konnten die Industrie nicht zum Stillstand bringen.
Ich fuhr weiter, immer weiter, dem Grün entgegen, das hinter Pantarholmen wartete. Fast konnte ich schon das Gras riechen, das mittlerweile lang genug war, um geschnitten zu werden. Ich würde einen ganzen Tag lang herumfahren und mich frei fühlen wie damals, als ich mit meiner Mutter von Pfarrhaus zu Pfarrhaus zog. Damals hatte niemand auf mich geachtet, niemand gefragt, wohin ich ging. Ich war einfach nur ein Mädchen, das in seiner Phantasie leben durfte.
Da schoss plötzlich etwas aus dem Gestrüpp. Ich konnte nicht einmal sagen, was es war, sah für einen Moment nur braunes Fell aufblitzen.
Der alte Schimmel, der sonst immer so friedlich war und nicht einmal zusammenzuckte, wenn es irgendwo knallte, wieherte auf, stieg, so weit es das Geschirr erlaubte, in die Höhe, dann rannte er los.
Ich wurde zurückgeworfen und wäre beinahe vom Sitz gefallen, doch ich konnte mich fangen und wieder hochziehen. Panisch griff ich nach den Zügeln, während der Wagen dahinraste, als gelte es, vor einer Gefahr zu flüchten.
»Ho!«, rief ich dem Schimmel zu, doch er hörte nicht. Was auch immer ihm über den Weg gelaufen war, hatte ihn dermaßen erschreckt, dass er gegenüber allen Rufen taub war. Während Angst durch meinen Körper peitschte, versuchte ich, das Pferd wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch meine Kraft reichte nicht aus.
Marlene
Ich trat in die Pedale, als wäre der Teufel hinter mir her. Meine Lunge schmerzte, und meine Beine protestierten, doch ich versuchte es zu ignorieren.
Die Straßen füllten sich zusehends, und meine Angst vor einer unangenehmen Begegnung wuchs mit jedem Meter. Meine Hände, die den Lenker umklammerten, wurden eiskalt und feucht.
Es reichte zuweilen schon aus, dass die Frauen, deren Männer mit Bjarne in den Tod gefahren waren, mich sahen, um wieder den ganzen Hass in ihnen hochkochen zu lassen.
Vergangenes Weihnachten hatte ich den Fehler begangen, zum Gottesdienst in die Admiralitätskirche zu gehen. Ich hatte mich nach Gesellschaft gesehnt und geglaubt, dass sie es mittlerweile überwunden hätten. Als ich aus der Kirche kam, hatte mich die Spucke von Nella Holm direkt ins Auge getroffen.
»Miststück«, hatte sie mir zugeraunt, und die anderen, die sich hinter ihr zusammenrotteten, hatten ihr zugestimmt.
»Dass du die Nerven hast herzukommen!«
»Dein Mann soll in der Hölle schmoren!«
»Du bringst uns nur noch mehr Unglück.«
Dabei vergaßen sie alle, dass nicht ich das Schiff gesteuert hatte. Und dass auch ich das Liebste in meinem Leben verloren hatte.
Von der Nächstenliebe, die der Pastor zuvor noch verkündet hatte, war nichts zu spüren. Trotzdem hatte ich es nur dem Geistlichen zu verdanken, dass ich heil nach Hause gekommen war. Er hatte die Frauen zurückgedrängt und zur Ordnung gerufen.
Die Erinnerung ließ die Wut von damals in mir hochschießen. Ich biss die Zähne zusammen und trat noch fester. Dabei fühlte ich mich beinahe wie an jenem 27. März 1907, als ich zum Kontor am Borgmästarekajen gefahren war.
An diesem Tag hatten wir Bescheid bekommen, dass wir uns im Kontor einfinden sollten. Leider war der Botenjunge zu schnell weg, als dass ich ihn hätte ausfragen können. Die Angst, die während Bjarnes Abwesenheit immer in mir schwelte, brannte auf einmal lichterloh in mir.
Er hatte mir versprochen, aus Riga zu telegrafieren. Doch mittlerweile war er schon weit über der Zeit. Normalerweise dauerte die gesamte Fahrt nicht mehr als einen Monat. Aber im März war die See noch immer stürmisch und das Wetter unberechenbar.
Hatte es eine Havarie gegeben? Saß die Besatzung wegen eines Unwetters in Russland fest? Bjarne hatte mir haarsträubende Geschichten über russische Häfen erzählt …
Im Kontor warteten bereits andere Frauen. Gudrun, Anna, Mara und wie sie alle hießen. Jede von ihnen blickte sich mit großen, angstgeweiteten Augen um, aber kaum eine wagte, etwas zu sagen oder Fragen zu stellen.
Nach einer Weile gesellten sich auch Männer hinzu, Väter oder Brüder der Seeleute. Ihnen sah man die Angst weniger deutlich an, aber ich wusste, dass sie in ihnen tobte.
Schließlich war Sten Boregard vor uns getreten, begleitet von seinem etwas blass wirkenden Sekretär Rudolph Ekström.
Keine von uns Frauen hatte je zuvor mit dem Reeder gesprochen, der das Geschäft ein Jahr zuvor von seinem verstorbenen Vater übernommen hatte. Man sah ihn und seine schöne Ehefrau hin und wieder auf der Straße oder beim Gottesdienst, aber das war es auch schon. Auch sein Vater hatte nie mit Seemannsfrauen geredet.
Jetzt stand er da, mit Leichenbittermiene und im schwarzen Anzug. In seinen Händen hielt er einen Zettel.
»Meine Damen und Herren«, begann er in getragenem Ton, als wollte er ein Gedicht zum Besten geben. Aber es folgten keine Worte der Erbauung. »Mich erreichte soeben die Nachricht, dass unser Schoner Solveig vor einigen Tagen auf offener See in ein Unwetter geraten ist.« Ein schmerzvoller Ausruf ertönte hinter mir. »Zu Hilfe geeilte Schiffe kamen zu spät. Das Schiff war da bereits gesunken. Leider wurde die gesamte Besatzung ein Opfer der See.«
Die Worte landeten wie Felsbrocken auf mir. Mein Verstand weigerte sich, ihren Sinn aufzunehmen. Ein Unwetter. Das Schiff gesunken. Die Mannschaft …
»Sie sind alle tot?«, platzten die Worte aus mir heraus. Sie klangen überlaut durch die ungläubige Stille, die sich über die Anwesenden gelegt hatte. Wahrscheinlich glaubte in diesem Augenblick keiner, was Boregard gesagt hatte.
Er senkte den Kopf. »Ja. Sie sind alle tot.«
Für einen Moment wurde es so leise ringsherum, als hätte man uns eine große Glasglocke übergestülpt. Mein Verstand wehrte sich gegen die Worte, meine Finger gruben sich tief in meinen Arm, doch ich spürte keinen Schmerz. In meinen Ohren rauschte es, als wäre ich unter Wasser. Als ich nach unten blickte, sah ich das Blut an meinen Fingernägeln.
Dann brach der Sturm los.
»Das ist die Schuld deines Mannes!«, fauchte plötzlich eine der Frauen neben mir. Ich kannte sie nur flüchtig, wusste nicht einmal, wer ihr Gatte war.
»Ja«, pflichtete eine andere ihr bei, die ich nur als Beate kannte. »Er war der Kapitän!«
»Wie könnt ihr das sagen?« Ich sah mich hilflos um, doch es gab niemanden, der mich verteidigte. Ringsherum blickte ich nur in tränen- und hasserfüllte Augen. »Mein Mann hat sicher nichts damit zu tun! Ich kenne ihn! Er würde seinen Leuten niemals schaden!«
Aber meine Worte verloren sich in dem Zorn der anderen. Vorwürfe und Beschimpfungen folgten. Sie nannten Bjarne einen Säufer und verantwortungslos, einen Hallodri, einen Mistkerl.
Nichts von alledem war er.
»Meine Herrschaften!«, rief Boregard und hob beschwichtigend die Hände. »Wir wissen nicht, was der Grund für diese Katastrophe ist! Wir werden natürlich Ermittlungen anstellen. Doch bevor diese abgeschlossen sind, bitte ich Sie, keine Mutmaßungen zu unternehmen.«
Aber es klang halbherzig.
Frauen stürmten vor, um mich zu packen, ihre Wut und ihre Trauer an mir auszulassen. Einige Männer versuchten sie zu halten, doch sie konnten nicht verhindern, dass die Hände mich erreichten. Sie zerrten an meinem Haar, versetzten mir Schläge.
Mir blieb schließlich nichts anderes übrig, als davonzulaufen. Ich schwang mich auf mein Fahrrad und fuhr blindlings durch die Stadt. Bis heute konnte ich nicht sagen, welchen Weg ich eingeschlagen hatte. Mein Herz raste, und mein Verstand weigerte sich noch immer, die Worte des Reeders aufzunehmen. Bjarne sollte tot sein? Das war nicht möglich! Er sollte für den Tod seiner Mannschaft verantwortlich sein? Das konnte ebenfalls nicht sein!
Ein Fuhrwerk geriet mir in den Weg, und das Fluchen des Mannes auf dem Kutschbock klärte meinen Verstand. Erst jetzt bemerkte ich, welche Distanz ich bereits hinter mich gebracht hatte. Vor mir erstreckte sich der Kai, und die Festung erhob sich fast schon drohend in den Himmel.
Bjarne war tot!
Diese Erkenntnis riss mich auseinander. Ich begann zu schreien, als hätte ich den Verstand verloren.
Irgendwann erreichte ich unser Haus und fiel ins Bett. Ich verschloss nicht einmal die Tür. Das hätte leicht gefährlich werden können, aber die Frauen kamen nicht zu mir.
Am Morgen erwachte ich in dem Glauben, alles nur geträumt zu haben. Für einen Moment war ich davon überzeugt, dass Bjarnes Telegramm jeden Augenblick kommen und mir erklären würde, dass er sich hatte retten können.
Mochten mich die anderen auch hassen, mochte er vielleicht wirklich schuld sein, ich wollte nur, dass er zurückkehrte. Alles andere würden wir schon durchstehen.
Doch das Telegramm kam nicht. Er kam nicht.
Ich verdrängte die Erinnerung. Mittlerweile lagen die Wohnhäuser hinter mir, und ich näherte mich Pantarholmen. Meine Angst zog sich zurück, und ich trat jetzt etwas ruhiger in die Pedale.
Hier draußen begegnete man bestenfalls Arbeitern aus der Gießerei oder Reisenden. Denen war ich egal.
Für gewöhnlich war es hier sonntags recht still, auch wenn es sich um die offizielle Landstraße nach Karlskrona handelte.
Frischer Wind trug einen grünen Geruch nach Gras und Kräutern zu mir. Dazu gesellte sich die Seebrise.
Mochte die Sonne scheinen oder Regen fallen, in dieser Gegend war es immer windig. So windig, dass man auch dann auf dem Fahrrad treten musste, wenn man bergab fuhr. Bereits jetzt spürte ich die Böen, die an mir zerrten. Dennoch gönnte ich es mir, ein wenig langsamer zu werden, denn der Schweiß klebte die Unterwäsche an mir fest.
Auf der Pantarholmen-Insel drängte sich die Industrie: hohe, rußgeschwärzte Ziegelgebäude, deren Schornsteine dicken schwarzen Rauch in die Luft bliesen.
Auch die Gießerei der Lampenfabrik lag hier, deren Schornstein schon von Weitem zu sehen war. Ursprünglich war sie ein eigenständiger Betrieb, der aufgrund von Platzmangel hier errichtet wurde. Als ihr die Pleite drohte, kaufte Hugo Skantze sie und machte sie zu einem Teil seines Unternehmens.
Als ich näher kam, strömte mir ein scharfer, metallischer Geruch in die Nase. Ich war froh, dass ich nicht hier arbeiten musste. In der Lampenfabrik roch es den lieben langen Tag nach Schmieröl, aber das hier war schlimmer. Überhaupt lag über Karlskrona ständig der Geruch nach Rauch und Maschinenöl. Wenn man nicht gerade am Hafen war, konnte man kaum glauben, dass sich die Stadt an der Ostsee befand.
Nachdem ich die Gießerei passiert hatte, stutzte ich.
Ich kniff die Augen zusammen, ließ das Rad rollen und wurde sofort durch den Wind gestoppt. Als ich erkannte, was geschehen sein musste, fuhr mir ein heißer Schreck durch die Glieder, und ich begann erneut in die Pedale zu treten.
Oskar
Als ich die Augen öffnete, wunderte ich mich über die plötzliche Enge der Wände um mich herum. Dann erkannte ich das kleine Pensionszimmer, und mir wurde klar, dass ich mich nicht mehr in Stockholm befand.
In der vergangenen Nacht war ich eindeutig zu lange auf den Beinen gewesen. Das sollte ich mir abgewöhnen. Doch die Unterlagen, die ich erhalten hatte, waren wichtig. Und mir blieb nicht viel Zeit, sie zu kopieren.
Heute Abend, hatte mein Informant gemeint, spätestens heute Abend wollte er sie wiederhaben. Die Katze wird nicht ewig außer Hauses sein, wenn Sie wissen, was ich meine.
Ich hatte ihm zugesichert, dass ich ihm die Unterlagen rechtzeitig zurückbringen würde, auch wenn ich nicht glaubte, dass der Chef an Pfingsten in der Firma war.
Meinen Eifer, den Termin einzuhalten, bezahlte ich nun mit einem grausigen Stechen hinter den Augen, als ich mich erhob und mit dem Gesicht in den Lichtstrahl geriet, der durchs Fenster fiel. Verdammt, ich hatte nicht einmal die Vorhänge zugezogen, bevor ich mich schlafen legte!
Während ich zwinkernd versuchte, die grünen Flecken vor meinen Augen loszuwerden, ging ich zur Waschschüssel.
Glockenläuten drang an mein Ohr. Oder vielmehr versuchte es mein Gehör zu zerreißen. Dabei hatte ich gestern nur ein einziges Glas von diesem Teufelszeug getrunken, das mir mein Verleger zum Einstand vermacht hatte!
Das kalte Wasser, das ich mir ins Gesicht spritzte, verschaffte mir immerhin ein wenig Linderung.
Ich schlüpfte in saubere Kleidung: eine braune Hose, ein weißes Hemd, eine schwarze Weste mit einer kleinen Tasche für meine Uhr. Auf die Krawatte, die ich sonst trug, verzichtete ich vorerst, denn ich würde ja momentan nicht das Haus verlassen. Dieser Sonntag, Pfingstsonntag genau genommen, war leider kein Feiertag für mich.
Drei Tage waren seit meiner Ankunft in Karlskrona vergangen. Wie abgesprochen, hatte ich mich sofort bei meinem Zeitungsverleger Ron Lundström gemeldet.
Die Blekinge Läns Tidning war keine große Zeitung, deckte jedoch einen weiten Teil des Landstrichs um Karlskrona ab. Der Mann, der sie leitete, war etwas kleiner als ich, blond und um die vierzig. Sein sehniger Körper und seine hohe Stirn verrieten Entschlossenheit und Klugheit.
Schon als ich ihn zum ersten Mal sah, wusste ich, dass es keinen Sinn machte, ihn in irgendeiner Weise zu täuschen, also trat ich ihm so offen wie möglich entgegen. Mit Erfolg. Er bot mir seine volle Unterstützung an.
Nachdem ich die Knöpfe der Weste geschlossen hatte, überprüfte ich mein Aussehen im Spiegel. Mein Bart und mein Haar hatten dringend einen Besuch beim Barbier nötig. Meine Abreise war so schnell angeordnet worden, dass ich vorher nicht die Zeit dazu gehabt hatte. Wenn ich noch ein paar Tage länger wartete, würde ich wie ein Snapphanar aussehen, einer der legendären Räuber, die die Provinz Blekinge im 17. Jahrhundert heimgesucht hatten.
Doch für heute musste es gehen.
Ich verließ mein Zimmer und begab mich nach unten. Die Zimmerwirtin hatte mir angeboten, für ein paar Öre extra ein Frühstück zu bereiten. Es war nichts Besonderes, aber solide und sättigend. Und es war vor allem besser als das Essen, das ich in manchen Unterkünften vorgesetzt bekam.
Als ich die Küche betrat, die auch als Speisezimmer diente, kam mir meine Wohltäterin mit einem Stapel Teller entgegen.
»Guten Morgen, Herr Andersson«, grüßte sie mich mit einem freudigen Lächeln. Siri Malmström war eine zierliche, etwa sechzigjährige Frau mit weißblondem Haar und strahlend blauen Augen. In ihrer Jugend musste sie umwerfend ausgesehen haben.
Ihr Mann Ove war das ganze Gegenteil. Von seiner brünetten Haarpracht war nur noch ein ergrauter Kranz am Hinterkopf geblieben. Er trug einen Schnurrbart, seine Augen wirkten schlickgrau wie das Meer nach einem Sturm. Er war ein wortkarger Bursche, der sich meist hinter seiner Zeitung versteckte.
»Wie schade, dass Sie Ihre Nachbarin verpasst haben!«, sagte Frau Malmström, während sie das Gedeck vor mir auf den Tisch stellte. Der Duft des Rollmopses ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Sie ist eine sehr nette Frau. Und hübsch obendrein.«
Ihre Worte und das vielsagende Lächeln, mit dem sie mich bedachte, bestätigten nur, was ich mir schon gedacht hatte, als ich sie zum ersten Mal sah: Sie interessierte sich brennend für das Leben ihrer Gäste.
Ich fragte mich plötzlich, ob es klug gewesen wäre zu behaupten, dass ich verheiratet war.
»Ich fürchte, ich habe leider zu viel zu tun, um mich um die Damenwelt zu kümmern«, gab ich zurück.
Der alte Mann neben mir lachte auf und senkte seine Zeitung. »Da hörst du es!«, sagte er zu seiner Frau. »Ich habe dir gleich gesagt, dass er davon nichts hören will.«
»Aber die beiden würden so gut zueinander passen!«
Dass sie sich über mich unterhielten, obwohl ich mit ihnen im Raum war, fand ich höchst seltsam und auch unangenehm.
Doch der Rollmops, der wenig später in meinen Mund wanderte, vertrieb das Gefühl schnell. Nach einigen Schlucken von dem starken Kaffee zogen sich auch die Kopfschmerzen zurück.
Dreißig Seiten hatte ich noch abzutippen. Eigentlich war das nicht viel, aber die Handschrift, in der die Dokumente verfasst waren, konnte einfach nur als schrecklich bezeichnet werden.
Als ich mit meiner Mahlzeit fertig war, erhob ich mich und bedankte mich.
»Kommen Sie doch heute Abend auch zum Abendessen«, sagte Siri Malmström freundlich. »Möglicherweise ist Ihre Nachbarin auch da.«
»Ich fürchte, da bin ich schon verabredet«, erwiderte ich und beeilte mich, die Stufen hinaufzukommen.
Marlene
Die kleine Kutsche lag auf der Seite im Graben, das linke Hinterrad zeigte nach oben. Das dazugehörige Pferd, ein Schimmel, stand daneben und steckte den Kopf ins Gras. Schmutz und Grashalme hingen in seinem Fell. Wahrscheinlich war er von der umstürzenden Kutsche mitgerissen worden, konnte sich dann aber aus eigener Kraft wieder aufrichten.
Ich sprang ab, legte mein Fahrrad hin und lief um die Kutsche herum. Dann sah ich sie. Eine Frau in braunem Kostüm lag bäuchlings auf dem Boden. Ihr Haar zwar zerzaust und voller Grashalme, so als hätte sie sich auf der Wiese gewälzt.
»O mein Gott!«, entfuhr es mir, dann hockte ich mich neben sie. »Hallo? Können Sie mich hören?« Ich berührte sie vorsichtig. Wie war sie vom Wagen gestürzt? Wer war sie? Was sollte ich jetzt tun?
Ich beugte mich über sie, drückte mein Ohr an ihren Rücken. Ihr Atem war schwach, und ihren Herzschlag konnte ich kaum spüren.
»Hallo?«, fragte ich erneut.
Aber die Frau regte sich nicht. Panik erfasste mich. Wir waren hier ein ganzes Stück weit von einem Krankenhaus oder einer Arztpraxis entfernt. Und ich war keine Krankenschwester, die wusste, was jetzt zu tun war!
Ich blickte an ihr hinab, und dabei fiel mir auf, wie eng ihr Korsett geschnürt war. War sie deswegen ohnmächtig geworden und hatte die Kontrolle über das Gefährt verloren?
Korsetts gaben uns Halt, jede Frau trug eines. Doch nicht jede von uns war darauf aus, mit einer Wespentaille eine gute Partie zu machen.
Ich überlegte nicht lange, zog ihr die Jacke aus und zerrte die Bluse aus dem Rockbund. Dann löste ich langsam die Schnürung. Somit würde sie immerhin besser Luft bekommen. Schließlich drehte ich die Frau vorsichtig herum, und mein Schrecken verdoppelte sich. Nicht nur, weil sie eine klaffende Platzwunde an der Stirn hatte, aus der ihr das Blut ins Gesicht lief.
»Frau Boregard!«, rief ich aus.
Was war nur passiert? Und wo war der Wagenlenker? Normalerweise ließen sich die Boregards von einem jungen Mann durch die Stadt kutschieren. Hatte er das Weite gesucht? Holte er bereits Hilfe?
Ich beugte mich über sie und versuchte, das Blut mit einem Taschentuch vom Gesicht zu wischen.
»Frau Boregard?«, fragte ich erneut und tätschelte leicht ihre Wangen. Dabei fragte ich mich, ob ihr Mann mir ebenfalls die Schuld geben würde, wenn seine Frau starb … »Können Sie mich hören?«
Aber es war, als würde ich eine Wachsfigur berühren.
Glühende Wellen der Angst schossen durch meinen Körper. Ich blickte mich um in der Hoffnung, dass jemand hinter mir auftauchen würde. Doch ich sah nur ein paar Vögel, die in Richtung Meer flogen.
In meiner Ratlosigkeit tätschelte ich sie etwas kräftiger und begann schließlich, die Bewusstlose zu rütteln. Wenn das nicht half, was sollte ich dann tun? Zur Gießerei fahren?
Erneut schaute ich mich um, da hörte ich einen lauten, schnappenden Atemzug. Ich wirbelte herum, und ein Schrei der Erleichterung brach aus mir hervor. »Frau Boregard!«
»Was ist los?«, fragte sie benommen und wollte sich aufrichten. In der halben Bewegung sank sie jedoch wieder nach hinten.
»Bleiben Sie liegen«, sagte ich, während ich meinen Rucksack von den Schultern nahm und ihren Kopf darauf bettete.
Sie gehorchte und murmelte: »Wo bin ich?«
»In der Nähe der Gießerei«, antwortete ich. »Können Sie sich erinnern, was passiert ist?«
Liv Boregard runzelte die Stirn. »Nein, ich …« Sie stockte, dann spürte ich ihre Hand auf meinem Arm. »Warten Sie … die Kutsche!« Ein Ruck ging durch ihren Körper.
»Die Kutsche liegt neben Ihnen. Aber das Pferd scheint in Ordnung zu sein.« Ich wartete auf eine Reaktion, doch die kam zunächst nicht. Stattdessen wirkte sie, als würde sie mir wieder entgleiten. »Hatten Sie einen Unfall? Ist das Pferd durchgegangen?«, fragte ich schnell.
Frau Boregard schaute mich an. »Da war irgendwas«, sagte sie schließlich. »Ein Tier. Ich weiß nicht, ob es ein Marder war oder ein Hase … Irgendwas Braunes … Es hat das Pferd erschreckt.«
Ich blickte zu dem Schimmel, der uns beide beobachtete und träge vor sich hin kaute.
»Haben Sie Schmerzen?«, fragte ich weiter. »Spüren Sie Ihre Beine?« Ich hatte davon gehört, dass man, wenn man sich den Rücken brach, vollkommen taub da unten war.
Als Antwort stellte sie die Beine auf.
»Mein Handgelenk fühlt sich seltsam an«, sagte sie leise.