DIE GABE - Christiane Weller - E-Book

DIE GABE E-Book

Christiane Weller

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Beschreibung

"DIE GABE" Band 2 der "silent sea"-Mystery-Trilogie. Lana entdeckt auf einem uralten Gemälde einen Mann, der heute noch lebt: Diegos Cousin Adriano, der Lana hasst, weil sie ihn in Port Grimaud in ernste Schwierigkeiten gebracht hat - und er weiß davon, dass Lana ihm auf der Spur ist. Um Rache an ihr zu nehmen, hat er sich eine besonders grausame Strafe für sie ausgedacht. Lana will ausgerechnet an der teuren Universität von Berkeley studieren, wo auch ihr Freund Diego ist. Womit sie selbst nicht gerechnet hätte: Es klappt, und völlig überraschend bekommt sie ein Stipendium für diese Elite-Uni, aber das Glück ist nicht ungetrübt: Plötzlich wird Lana mit Diegos Volk der Darksider konfrontiert, das über unheimliche Fähigkeiten verfügt. – Und dann sind da noch die Jäger, Menschen, die im Namen des Heiligen Bundes Jagd auf die Darksider machen. Schnell stellt Lana fest, dass auch Diego in Gefahr ist. All-age-Mystery at its best! Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie künftig bitte auf das Qindie-Siegel.

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Seitenzahl: 539

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Christiane Weller, Michael Stuhr

DIE GABE

silent sea-Trilogie, Band 2

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

SILENT SEA

PROLOG

01 TOTENGANG

02 DER AUFTRAG

03 DAS GEMÄLDE

04 CAETAN

05 MIRAMAR PLAZA

06 HERCULE

07 DER ALTE AUFZUG

08 DER VERDACHT

09 ALICIA, STAVROS UND DARYL

10 SAINT MALO

11 DAS ARCHIV

12 TANTE CLAIRE

13 DIE PARTY

14 DIE ALTE ADÈLE

15 ERKENNTNIS

16 PARIS

17 BABELCRYPT

18 TAGEBUCH

19 TANTE GISELLE

20 BEACHPARTY

21 DAS TOR

22 DAS FEST DES WASSERS

23 DAS LETZTE WORT

24 JETSET

25 HAMILTON

26 DAS DINER

27 DAS LICHT

28 LEBEN

29 ADRIANO

30 LUCAS

31 CONLAN

32 PLAN B

33 DAS GESCHENK

34 DANIEL

35 TRANSCONTINENTAL

36 BIGGY

37 DAS INSTITUT

38 WIE IM FILM

39 SCHREIE IN DER NACHT

40 LOU

41 AM POOL

42 AM HELLEN TAG

43 FEUER UND ASCHE

Impressum neobooks

SILENT SEA

MYSTERY-TRILOGIE

ZWEITES BUCH

Alle Rechte bei

Christiane Weller

und Michael Stuhr

www.christianeweller.de

www.michaelstuhr.de

Coverfoto:

Christiane Weller

Covergestaltung:

Michael Stuhr

Herausgeber:

PROLOG

Das Gefühl in Gefahr zu sein, hatte Adrien Taureau auf seinem Weg von der Stadt hierher nicht verlassen. Immer wieder hatte er sich umgesehen, aber er hatte kein Boot entdecken können, das seiner Jolle gefolgt wäre.

Jetzt in der Morgendämmerung war die Bucht auf der anderen Seite der Rance menschenleer. Es war fast schon Tag, und leider war es nötig, sich vor den Augen der Städter zu verbergen, wenn man schwimmen gehen wollte. Keine der armseligen Landratten aus Saint Malo wäre jemals auf die Idee gekommen, sich dem Wasser anzuvertrauen. Nicht im Sommer und schon gar nicht jetzt im März, wo in der Mündung der Rance immer noch dünne Eisschollen trieben.

Kaum einer der Küstenbewohner konnte überhaupt schwimmen und sogar die Besatzungen der Handelssegler und Kaperfahrer lehnten es ab, sich in dieser Kunst ausbilden zu lassen. Man war allgemein der Überzeugung, dass es angenehmer sei, bei einem Schiffsuntergang sofort zu ertrinken, als sich unnütz zu quälen und schließlich doch elend abzusaufen, oder – schlimmer noch – den Dämonen des Meeres in die Hände zu fallen.

An der Bewegung des Bootes erkannte Taureau, dass das Wasser auf das Meer hinauszuströmen begann. Es wurde Zeit, denn er hatte die Absicht, sich von der starken Ebbeströmung weit hinausbringen zu lassen. Dort draußen, wo das Meer noch sauber und nicht von den Abwässern der Stadt verunreinigt war, wollte er den Tag verbringen und am Abend wieder mit der auflaufenden Flut zur Mündung der Rance zurückkehren.

Die flachen Brandungswellen zu durchqueren war für den geübten Segler kein Problem. Leise knirschend schob sich der Bug der Taurillon in den Sand. Taureau sprang aus dem Boot und sicherte es, indem er einen kleinen Anker etwa dreißig Schritt weit den Strand hinauftrug, wo er ihn einfach fallen ließ. Das würde reichen, denn das Wasser strömte nun schon mit Macht auf das Meer hinaus und nach kurzer Zeit würde das Boot völlig auf dem Trockenen liegen.

Nun galt es, keine Zeit zu verlieren.

Mit ruhigen Bewegungen streifte Taureau Umhang, Gehrock und Hemd ab, legte sie auf eine Sitzbank im Boot und beschwerte die Kleidungsstücke mit seinem Degen, damit der Wind sie nicht fortblies. Es fiel ihm schwer, sich nicht sofort in die Brandung zu stürzen, denn er war lange im Binnenland gewesen. Fast schon zu lange. Schon seit Tagen hatte er das Gefühl, ersticken zu müssen, und er wusste, dass es für ihn nur ein Heilmittel gab: Er musste schnellstens in das Meer. Nur das Salzwasser war in der Lage, seinem Körper die alte Kraft zurückzugeben.

Fast drei Wochen lang war Taureau mit der Mietkutsche unterwegs gewesen. Gut eine Woche hatte die Reise von Saint Malo nach Versailles gedauert, dann hatte der Minister ihn fünf Tage lang warten lassen und wieder eine Woche hatte er für die Rückreise gebraucht. Zwanzig qualvolle Tage ohne die Gelegenheit, sich die Ausdünstungen von Mensch und Tier vom Körper zu spülen. Schlimmer noch: Auch ohne die Zufuhr lebenswichtiger Nährstoffe über die Haut. Schon in der zweiten Woche war der Mangel von Tag zu Tag deutlicher hervorgetreten. Immer qualvoller war es geworden, auf das Meer zu verzichten, und jetzt war der Zustand des Mannes fast schon lebensbedrohlich.

Die ganze Reise war eine einzige Zumutung gewesen, aber dafür war der Pakt mit dem Minister jetzt wieder erneuert. Taureau hatte den vereinbarten Anteil an seinen Gewinnen an den Beamten ausbezahlt.

Die Kaperfahrer waren im vergangenen Jahr so aktiv und erfolgreich gewesen, wie nie zuvor. Von Segeltuch über Tauwerk bis hin zu Proviant hatten sie alles gebraucht, was Taureaus Kontor anbot. Die Korsarenkapitäne waren bereit gewesen, hohe Preise für die Waren zu bezahlen, um nur ja wieder schnell auf See zu kommen.

Die Geschäfte waren also gut gelaufen und der Minister war mit seinem Anteil zufrieden gewesen. Damit stand einem weiteren Jahr voller saftiger Gewinne nichts mehr im Weg, denn beim Magistrat lag nun ein Schreiben des Ministers, in dem die Offiziellen der Stadt angewiesen wurden, dem Schiffsausrüster Adrien Taureau im folgenden Jahr jede nur erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen. Zölle und Steuern waren damit kein Thema mehr und es war ihm klar, dass er quasi über Nacht zum mächtigsten Kaufmann der Stadt geworden war. Besser hätte es gar nicht laufen können. Jetzt musste er nur noch die tödliche Schwäche besiegen, die während der Reise mehr und mehr von ihm Besitz ergriffen hatte.

Taureau stand noch über das Boot gebeugt, als plötzlich ein sirrendes Geräusch in der Nähe erklang. Es war kaum mehr als das Zirpen einer Grille, aber Taureau wusste sofort, was es zu bedeuten hatte. Hastig versuchte er, sich zu ducken, als er auch schon den Einschlag des Pfeils in seinem Rücken spürte. Haut und Muskeln zerrissen, Knochen zersplitterte. Der Schmerz nahm Taureau den Atem und er fiel mit einem Aufstöhnen vornüber in den Sand.

Hinter einem der Büsche in der Nähe wurde es lebendig, und eine Gestalt in einem weiten, grauen Umhang trat hervor. Taureau erkannte einen jungen Mann, der eine Armbrust trug. Bevor der Bewaffnete weiterging, spannte er die Sehne neu und legte einen Bolzen ein. Als er damit fertig war, näherte er sich fast im Schlenderschritt.

„Nun, Darksider“, begann er ohne Gruß zu reden, „wie schmeckt der Tod?“

„Wer bist du?“

„Unwichtig! Ich bin ein Jäger, das ist alles, was du wissen musst.“ Der Jüngling trug keinen Degen an seiner Seite, sondern ein sehr großes, starkes Messer mit breiter Klinge, ähnlich denen, wie es Jäger benutzen, um das erlegte Wild aufzubrechen.

Er sah so jung aus. So jung und voller Lebenskraft. Gier flackerte in dem Verletzten auf, dessen eigenes Leben in dünnem Strom im Sand versickerte.

„Jäger und Feiglinge kommen nie allein. Wo sind deine Bluthunde? Lauern sie auch im Gebüsch?“

„Feigling?“ Der Jäger kam einen Schritt näher und hob die Waffe. „Ich brauche keine Helfer, Taureau. Ich bin dir ganz allein entgegengetreten.“

„Ein Schuss aus dem Hinterhalt.“ Taureau sprach absichtlich leise. „Das nennst du entgegentreten? Hättest du wirklich den ehrlichen Kampf zwischen Männern gesucht, würdest jetzt du an meiner Stelle hier liegen.“

„Warum sollte ich das tun?“ Der Jäger war noch zwei Schritt weit näher herangekommen, um den Sterbenden besser verstehen zu können. „Du bist kein Gegner für mich - kein Mensch. Du bist eine Laune der Natur, Darksider. Du verlängerst dein Dasein auf unnatürliche Weise. Du stiehlst Lebenskraft von Menschen. Für dich gibt es keinen Platz im Licht der Schöpfung. Darum hat der Heilige Pakt deinen Tod beschlossen.“

„Es gibt mich, also bin ich ein Teil dessen, was du Schöpfung nennst.“

„Das ist ein tollwütiger Fuchs auch.“ Der Jäger beugte die Knie und hockte sich in knapp fünf Meter Entfernung auf die Fersen. Die gespannte Armbrust mit dem neu eingelegten Bolzen war dabei die ganze Zeit auf sein Opfer gerichtet, aber er war in dem Einflussbereich der Stimme Taureaus.

Der Junge war leichtsinnig. Ein ungestümer Draufgänger, der dachte, dass durch seinen Treffer aus dem Hinterhalt bereits alles entschieden sei. Ein älterer, erfahrener Jäger hätte es niemals gewagt, sich ohne Rückendeckung einem Darksider zu nähern. Hatte ihm denn niemand gesagt, dass die hypnotischen Fähigkeiten der Darksider mindestens genauso gefährlich waren, wie ihre gewaltigen Körperkräfte? Oder wusste er es und glaubte ernsthaft, dass er stark genug sei, dem Einfluss auf seinen Geist widerstehen zu können?

„Ich sterbe. Lass uns Frieden schließen“, versuchte Taureau die Wachsamkeit des Jägers zu mindern, aber seine Stimme klang rau und brüchig. Es wurde ihm klar, dass er so keinen hypnotischen Einfluss ausüben konnte.

„Ich spüre, wie du nach mir greifst.“ Der Jäger lächelte. „Aber du wirst mich nicht erwischen. Du bist schon zu schwach.“

Der Verletzte nahm eine Bewegung hinter dem Jäger wahr. Ein Mädchen von acht oder neun Jahren kam über die flache Düne. Es zog an einem kurzen Strick einen kleinen Korbschlitten hinter sich her, der im Moment allerdings noch leer war und taumelnd über den Sand tanzte. – Eine Treibholzsammlerin. Das konnte die Chance sein, die er brauchte. Vorsichtig und langsam spannte Taureau seine Muskeln an.

Das Mädchen entdeckte die beiden Männer und blieb schlagartig stehen. Der verletzte Mann am Boden, das Blut, der andere Mann mit der Waffe, das alles erschreckte sie zutiefst. „Nein!“, rief sie laut aus und schlug sofort die Hände vor den Mund.

Der Jäger sprang auf und wirbelte zu dem Mädchen herum. Als er erkannte, dass von der Kleinen keine Gefahr drohte, schnellte er wieder herum, aber es war schon zu spät. Sofort war Taureau aufgesprungen und unter Aufbietung all seiner Kräfte blitzschnell auf den Jäger losgestürmt.

Die Waffe beschrieb einen Halbkreis. Der Jäger versuchte, zur Seite auszuweichen, aber sein Gegner war schon heran und schlug ihm mit einem gewaltigen Hieb die Armbrust aus den Händen. Der Bolzen fuhr ziellos in den Sand und die Waffe fiel zu Boden. Hastig griff der Jäger nach seinem Messer, aber er spürte nur die Hand seines Gegners, die den Griff bereits fest umklammerte, während die andere Hand sich in seine Kleidung krallte.

Ohne auf den Widerstand seines Gegners zu achten, riss Taureau blitzschnell das Messer heraus und brachte es an den Hals des Jägers. Statt ihm aber nun einfach die Kehle zu durchstechen, führte er die breite Klinge in den Kragen des Hemdes und schnitt seinem Gegner mit einer einzigen Bewegung die Kleidung bis hinunter zum Gürtel auf.

Der Jäger stieß einen Wehlaut aus und krümmte sich Taureau entgegen, Eine blutige Spur zog sich vom Hals hinab über Brust und Bauch. Der Mann ahnte, was der Darksider vorhatte und versuchte zurückzuweichen, aber es war ihm unmöglich, dem eisernen Griff seines Gegners zu entkommen.

Der Dolch fiel in den Sand und mit unwiderstehlicher Gewalt presste Taureau den Brustkorb des Jägers an seinen nackten Oberkörper. Haut traf auf Haut, und sofort begann die Lebenskraft zu fließen.

Die Knie des Jägers knickten ein, aber er wurde unerbittlich aufrecht gehalten. Er war kaum mehr als eine Lumpenpuppe in den Armen des Darksiders, dessen Kräfte von Augenblick zu Augenblick immer mehr anwuchsen.

„Nein!“ Ein letztes Aufbäumen, aber der Jäger war schon zu schwach, um mit seinen Abwehrbewegungen noch etwas ausrichten zu können. Sein Gesicht hatte jede Farbe verloren und die angstvoll aufgerissenen, dunklen Augen in dieser grauen Maske des Entsetzens verliehen seinem Kopf das Aussehen eines Totenschädels. „Ich will nicht sterben!“

„Aber du wirst leben!“, lachte Taureau. „In mir wirst du weiterleben für alle Zeiten“, aber das hörte der Jäger schon nicht mehr. Ausgelaugt hing sein Körper in den Armen seines Feindes, und der Kopf sackte zur Seite. Taureau umfasste ihn noch fester und brach ihm mit einem kleinen Ruck das mürbe gewordene Rückgrat, bevor er ihn zu Boden gleiten ließ.

Nicht ein einziger Funke Lebenskraft war noch in dem Körper, der wie ein Bündel Lumpen im Sand lag. Lumpen mit grauer, alter Haut und ein paar brüchigen Knochen darin. Niemand wäre je darauf gekommen, dass dieser ausgedörrte Leichnam vor wenigen Augenblicken noch ein junger Mann gewesen war.

Der Darksider schaute auf und wandte sich dem Kind zu, das immer noch starr vor Entsetzen dastand und die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Die Kleine war jung und voller Lebenskraft. Die Flamme der Gier züngelte in ihm hoch. „Komm her!“, sprach er das Mädchen an. „Du musst keine Angst haben. Komm her!“

Der Mann, der bei dem Toten stand sah schrecklich aus. Sein nackter Oberkörper war blutverschmiert und aus seinem Rücken ragte immer noch der Schaft des Armbrustbolzens. Ein Ruck ging durch den Körper des Mädchens, als wolle es fortlaufen.

„Nun komm schon! Ich tu dir nichts!“

Etwas in der Stimme des Mannes bewirkte, dass das Mädchen langsam und zögerlich Schritt für Schritt auf ihn zuging. Taureau konnte sehen, dass die Kleine Angst hatte, aber gehorsam setzte sie Fuß vor Fuß. Er streckte ihr die Hand entgegen und als sie in seine Reichweite kam, griff er zu.

„Du wirst mir jetzt den Pfeil aus dem Körper ziehen“, forderte er, und als das Mädchen ihn erschreckt ansah, setzte er hinzu: „Ich habe Schmerzen und nur du kannst mir helfen. Das willst du doch?“

Die Kleine nickte stumm und Taureau kniete sich vor sie in den Sand, damit sie den Pfeilschaft besser erreichen konnte. „Du musst es mit einem einzigen Ruck schaffen“, sagte er. „Setz mir ruhig einen Fuß auf den Rücken, damit du genug Kraft hast, und dann – ein einziger Ruck!“

Aus den Augenwinkeln nahm Taureau wahr, dass die Kleine aus ihren Holzschuhen schlüpfte. Schon spürte er einen warmen Fuß auf seinem Rücken und die wütenden Schmerzwellen in seinem Körper zeigten ihm an, dass sie ihre Hände fest um das Ende des Pfeils schloss. „Jetzt!“, kommandierte er und brüllte im gleichen Moment laut auf, als der Armbrustbolzen mit einem hässlichen Knirschen an der zersplitterten Rippe entlang glitt. Zum Glück war die Spitze glatt und hatte keine Widerhaken.

„Danke!“, presste Taureau mühsam hervor. Warm rann das Blut über seinen Rücken. Nun wurde es wirklich Zeit, dass er ins Wasser kam, um die Heilkräfte des Meeres auf sich wirken zu lassen. Nur dann konnte er überleben. Aber zuerst gab es hier noch etwas zu erledigen. Er schaute die Kleine, die neben ihm stand und immer noch den blutigen Pfeil in der Hand hielt, nachdenklich an.

„Wirf das weg!“

Gehorsam ließ das Mädchen den Pfeil fallen.

„Gib mir deine Hand!“

Die Kleine streckte ihm die Hand entgegen. Der Darksider ergriff sie, bedeckte sie mit der anderen Hand und konzentrierte sich.

„Tut das gut?“, wollte Taureau von dem Mädchen wissen.

Die Kleine sah ihn verwundert an und nickte stumm.

„Spürst du die Kraft, die in dich hineinströmt?“

Wieder ein Nicken.

„Du wirst lange leben“, sagte Taureau und ließ die Hand des Mädchens los. „Geh jetzt!“ Er nahm den Bann der Hypnose von ihr.

Die Kleine schaute sich erstaunt um, sah den Leichnam, das Blut, den Pfeil und die Waffen. Mit entsetztem Gesichtsausdruck wich sie vor dem fremden Mann zurück, wirbelte herum und rannte davon. Schnell wie ein verängstigtes Reh flüchtete sie über die Düne und war Augenblicke später verschwunden.

„Langes Leben, Kleine“, flüsterte Taureau, lächelte, streifte achtlos den Rest seiner Kleidung ab und ging hinunter zur Wasserlinie, die in der kurzen Zeit schon deutlich zurückgewichen war. Erleichtert seufzte er auf, als die erste Brandungswelle ihn erreichte und seine Füße mit Salzwasser benetzte. Viel zu lange hatte er auf das Meer verzichten müssen. Langsam und kontrolliert ging er voran. Jeder Schritt tiefer in die eiskalte Brandung hinein brachte mehr Erleichterung. Er spürte, wie sein Körper begann, sich umzustellen. Er spürte die beißende Kälte des Wassers nicht mehr. Der Schmerz in seinem Rücken war unbedeutend geworden. Es gab nur noch das wohlige Gefühl, endlich da angekommen zu sein, wohin er wirklich gehörte.

Nach diesem Vorfall würde Taureau nicht mehr nach Saint Malo zurückkehren können, das war ihm klar, aber es war nicht das erste Mal, dass er eine Stadt fluchtartig verlassen und seine Identität ändern musste. Vielleicht würde er für eine Weile nach Cornwall gehen, wo Sochon, der König seines Volkes zurzeit residierte. Alles Weitere würde sich finden.

Ein letztes Mal schaute Taureau sich um, aber außer dem Toten war niemand mehr am Strand zu sehen. Kraftvoll stieß er sich von einem Felsen ab und war sofort in den Wellen verschwunden.

01 TOTENGANG

Mir ist kalt. Die Luft ist feucht und es riecht modrig. Der Boden ist mit kalkiger Nässe und milchigen Pfützen bedeckt. Fröstelnd ziehe ich die dünne Sweatjacke enger um meine Schultern. Aber die Gänsehaut bleibt.

Langsam gehe ich weiter durch diesen düsteren Gang, der kein Ende zu nehmen scheint. Die anderen sind schon lange vorgegangen, aber ich kann mich nicht so schnell trennen von diesem Anblick. Dunkle Augenhöhlen starren mich aus Totenschädeln an, die ordentlich ausgerichtet in Reih und Glied an beiden Seiten des Stollens gestapelt sind.

All diese vergangenen Leben voller Freude und Trauer, Liebe und Hass. Was mögen diese nun leeren Augenhöhlen wohl alles gesehen haben? Ich stehe vor einem Schädel und versuche mir auszumalen, wie dieser Mensch wohl ausgesehen haben mag. War es ein Mann oder eine Frau? Wie alt war er? War er glücklich in seinem Leben? Hat er geliebt, wurde er geliebt, musste er einen schmerzhaften Tod sterben?

Mich schaudert, denn mir wird bewusst, dass nichts übriggeblieben ist von all diesen Menschen, weder ihre Namen, noch ihr Geschlecht oder ihr Alter. Sie durften noch nicht einmal die Knochen behalten, die früher zu ihrem Körper gehört haben. Die liegen nun seit Jahrhunderten in einer grotesk geometrischen Anordnung aufeinandergestapelt in diesem Gruselkabinett.

Ein paar von Diegos Leuten könnten diese Menschen hier noch gekannt haben. Tatsächlich, das wäre doch möglich, wenn ich Diegos Erklärungen richtig verstanden habe. Darksider können sehr alt werden. Nachdenklich betrachte ich den Schädel vor mir. Vielleicht war dies hier ja ein Händler und Adriano hat mit ihm in längst vergangener Zeit in einer Schänke zusammengesessen und Geschäfte gemacht. Dieser Mensch hat vielleicht Pastis getrunken und Adriano wahrscheinlich Wasser, weil Darksider ja keinen Alkohol vertragen. Und dann, als dieser arglose Bürger von Paris ein bisschen angetrunken war, hat sich Adriano unauffällig etwas näher zu ihm gesetzt, um sich ganz nebenbei ein wenig von seiner Lebenskraft zu nehmen.

Am nächsten Morgen hatte der ahnungslose Kerl dann einen heftigen Kater und hat das auf den übermäßigen Genuss von Pastis zurückgeführt. In Wirklichkeit hat er ein paar Jahre seines Lebens verloren. Mich schaudert, und wieder stehen die Ereignisse des letzten Sommers so lebendig vor mir, als sei das alles gerade erst geschehen.

Hinter mir höre ich ein leises Atmen. Erschrocken fahre ich herum und starre in den halbdunklen, nur von wenigen Lampen beleuchteten Stollen. Nichts! Erleichtert atme ich auf. Ich dachte schon, da hätte mich einer belauert.

‚Ach quatsch Lana, das ist vorbei!’ schimpfe ich mich selbst. Trotzdem mache ich mich lieber auf den Weg. Kaum bin ich ein paar Schritte gegangen, höre ich ein gedämpftes Räuspern. Wie unter Zwang bleibe ich stehen, drehe mich langsam um und starre in das gespenstische Dämmerlicht. Eigentlich will ich nur weg hier, ich will fliehen, aber meine Muskeln versagen mir den Dienst, sie sind wie erstarrt.

In meinem Kopf wummert es in gleichmäßigem Takt. Ich will den anderen hinterher, aber ich kann mich nicht rühren. ‚Das kenne ich, das kenne ich doch!’ Ich fühle mich, als würden sich bleischwere Hände um meinen Schädel legen und vor mir taucht das Bild einer Yacht auf. ‚Du musst dich losreißen Lana’, schreit es in mir, ‚das ist derselbe Trick wie damals. Reiß dich los! Befreie dich!’ Mit einem Aufschrei gelingt es mir, diese merkwürdige Starre, die mich befallen hat, zu überwinden.

Unsicher drehe ich mich um und versuche, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es geht langsam, viel zu langsam. Ich komme mir vor, wie in einem Traum, in dem man fliehen will und nicht vorwärts kommt.

‚Nimm deine Kräfte zusammen Lana und geh schneller.‘ Ich versuche es, aber es wird nur ein Dahinstolpern daraus. Erst als ich in eine Pfütze trete, und die kalte, kalkige Brühe mir bis an die Knöchel spritzt, werde ich wirklich wach und meine Muskeln gehorchen mir wieder.

Viele Gedanken wirbeln mir im Kopf herum. Bilder von dieser Yacht, Dolores, die mich aus ihren Katzenaugen mustert, das Whisky-Glas, der Sprung über die Reling, das Wasser, das kalte dunkle Wasser und das Gefühl zu ersticken. Wo ist oben, wo ist unten? Die Strömung will mich in die Schiffsschraube hinein reißen. Die Erinnerung wird übermächtig, hier, in diesem dunklen unheimlichen Gang. Ich höre mich selber keuchen und mir wird bewusst, dass ich kurz davor bin, in Panik zu geraten. Wie besinnungslos hetze ich weiter.

Meine todbringende Feindin mit ihren mächtigen Helfern hat immer noch Macht über mich. Ich spüre noch den kalten tiefen Sog unter dem Schiffsrumpf und meine schreckliche Angst, nie wieder Luft holen zu können. Wenn Diego nicht gewesen wäre, würde ich jetzt nicht hier sein. Andererseits wünsche ich mir in diesem Moment eigentlich nichts sehnlicher, als wirklich nicht hier zu sein.

Meine Nackenhaare und mein ganzer Rücken geben mir knisternde Signale, die sagen, dass ich verfolgt werde! Aber wenn ich einen vorsichtigen Blick über die Schulter wage, sehe ich keine Bewegung, keinen Schatten, nur die Gebeine längst Verstorbener. Dass ich das mal als beruhigend empfinden würde, hätte ich mir auch nicht träumen lassen.

Schweiß rinnt mir in die Augen. Wo verdammt noch mal sind die Anderen? Wie lange habe ich denn dort gestanden, ohne zu merken, dass die alle schon weg sind?

„Diese Inschrift hier sagt uns, das die sterblichen Überreste 1859 vom Friedhof Madeleine hierher verbracht wurden ...“ Die rauchige Stimme von Madame Ulliette hallt gedämpft von den Wänden wider und klingt in meinen Ohren wie Engelsmusik. Endlich in Sicherheit. Schatten von Menschen sind hinter der nächsten Biegung zu sehen. Ich werde langsamer und versuche meinen keuchenden Atem in den Griff zu bekommen. Es muss ja nicht gleich jeder merken, das Lana Rouvier hier wie ein panisches Karnickel um die Ecke geflitzt kommt.

Na, ja, jeder merkt es nicht, aber Beatrice allemal. „Hey, Lana, wo warst du denn? Mein Gott, wie siehst du denn aus? Hast du einen Geist gesehen?“

„Halt die Klappe Bea!“, unterbreche ich sie leise und stelle mich möglichst unauffällig neben sie, während mir das Herz immer noch bis zum Hals hinauf hämmert. Ich versuche meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Unruhig schaue ich mich zum Gang hin um, aber dort ist niemand.

Beatrice Dupont ist meine älteste Freundin. Wir kennen uns seit der ersten Vorschulklasse. Sie mustert mich mit kritisch zusammengekniffenen Augen und schluckt weitere lustige Sprüche runter. Ist auch besser so. Bea kennt mich gut genug um zu wissen, dass ich es wirklich ernst meine, wenn ich so pampig werde. Schließlich stupst sie mich an und flüstert: „Ey, ist ja gut, beruhig dich.“

Es ist kalt, es ist feucht, es ist gruselig, was Madame Ulliette aber leider nicht daran hindert, uns in der Crypte de la Passion ausführlich Einzelheiten aus der Geschichte der Katakomben zu erzählen: „Von den über 300 Kilometern dieses Stollensystems haben wir gerade mal zwei Kilometer gesehen“, berichtet sie mit wichtiger Stimme und erhobenem Zeigefinger.

Ich gähne leise hinter vorgehaltener Hand.

„Pass lieber auf und merk dir das!“ flüstert Coco und schubst mich.

„Merk‘s dir doch selbst!“, flüstere ich zurück.

„Nö!“ Coco streicht sich grinsend über ihre lila gesträhnten kurzen Haare, zwinkert mir zu und gesellt sich zu ihrem Freund Hervé.

Hervé legt den Arm um sie und schaut sie dabei zärtlich lächelnd an. Die beiden sind seit einem halben Jahr ein Paar. Wie schon so oft frage ich mich, wie er sich gleich nacheinander in zwei so unterschiedliche Mädchen verlieben konnte: Zuerst in mich. - Fast so groß wie er, dünn und blond, und dann in die kleine Coco mit ihren schwarz-lila kurzen Haaren und dem ewigen Kaugummi zwischen ihren gepiercten Lippen. Ich bin nicht eifersüchtig, ganz im Gegenteil, ich mag Coco sehr. Auch wenn sie ganz anders aussieht, sie erinnert mich in ihrer lustigen, kumpelhaften Art ein bisschen an Felix.

Felix! Während ich Hervé und Coco folge, tauchen die Erinnerungen an sie und Port Grimaud wieder auf: Unsere Aktion bei der Miss Teen Beach Wahl und der Spaß, den wir beim Üben hatten und wie sie tanzen konnte und dann ...

Ein leichter Stupser in die Seite treibt mich vorwärts. „Träum nicht, Chérie, jetzt geht’s an die frische Luft.“ Bea drängt sich an mir vorbei in den Aufgang zu einer schmalen Wendeltreppe.

„Oh Gott, ich krieg Platzangst!“, stöhne ich auf, als ich zögernd in diese steinerne Enge schaue.

„Los, mach schon, sonst hältst du noch den ganzen Verkehr auf. Jetzt komm! Du schaffst das schon, sind ja nur 83 Stufen.“

„Nur ist gut“, maule ich und folge ihr.

Keuchend erreichen wir den Ausgang. „Tatsächlich, 83 Stufen“, schnauft Bea vor mir.

Ich hab nicht gezählt. Ich bin froh, dass ich diese bedrückende Enge endlich hinter mir habe und wieder frei atmen kann.

„Na toll, wenn da unten einer umkippt, muss man erst bis hier hoch hecheln, um Hilfe zu holen“, meckert Bea und deutet auf den Defibrillator an der Wand.

„Na, der hat’s wohl nicht mehr geschafft“, prustet Coco hinter mir los und zeigt auf einen Totenschädel, der neben dem Glaskasten mit dem Elektroschockgerät auf einer Ablage liegt. - Vermutlich das konfiszierte Beutestück eines Touristen.

Zwei Bedienstete der Katakomben kontrollieren sorgfältig unsere Taschen und Rucksäcke. Sie finden unser Gespräch gar nicht witzig, denn sie sind Knochenjäger. Sie suchen nach geklauten ‚Souvenirs‘ aus den Katakomben. Unser Grinsen quittieren sie mit ziemlich bösen, misstrauischen Mienen. Aber sie werden nicht fündig. Keiner von uns hat Knochen oder Schädel dabei - außer dem eigenen natürlich.

Helles Sonnenlicht blendet mich und eine wohltuende Wärme schlägt mir entgegen, als ich endlich auf die Straße hinaustrete. Mit dem Sonnenlicht schwinden jetzt endlich auch meine Beklemmungen, die ich die ganze Zeit über dort unten empfunden habe. Dieses leise Atmen hinter mir habe ich mir bestimmt nur eingebildet. Vielleicht waren das ja auch Geräusche vom Belüftungssystem. Und dass ich mich wie betäubt gefühlt habe und kaum weglaufen konnte, diese Muskelstarre, nein, das war wohl doch kein hypnotischer Einfluss. Bestimmt ist die Luft dort unten von betäubenden Gasen durchsetzt und es war ja auch ziemlich kalt, rede ich mir ein. Trotzdem fühle ich mich so, als sei ich gerade in großer Gefahr gewesen.

Nach und nach sammeln wir uns am Geländer vor dem Ausgang. Ich könnte jetzt ne Cola gebrauchen, aber hier gibt es leider keinen Kiosk. Komisch eigentlich. Die Pariser Katakomben locken doch jede Menge Touristen an.

Bea stößt mir leicht in die Rippen. „Du sag mal, was war denn vorhin los mit dir?“ Neugierig sieht sie mich an.

„Ach nichts, mir war nur unheimlich, weil ich euch nicht gleich gefunden habe“ - Tolle Erklärung! Es gab dort nur einen Gang. Unmöglich, eine Gruppe von 20 Schülern zu verfehlen.

„Mmh“, meint Bea nur und sieht mich stirnrunzelnd an.

„Na Kinder, auch froh, wieder an der frischen Luft zu sein?“ Mit hochrotem Gesicht erscheint Madame Ulliette im Ausgang und tupft sich mit einem Taschentuch seufzend die schweißglänzende Stirn. Ihr Blick fällt dabei auf meine Schuhe. „Na Lana, bist wohl auch in so eine Kalkpfütze getreten. Ob du das wieder raus kriegst?“, zweifelnd schüttelt sie den Kopf.

„Ihre Schuhe sehen aber auch nicht besser aus, Madame Ulliette“, meint Coco. „Oh und meine eigentlich auch nicht“, fügt sie betroffen hinzu, als sie an sich selber hinunter schaut. Keiner ist bei diesem Marsch durch die Katakomben gut weggekommen und überall wird Genörgel laut.

Schmieriges Weiß bedeckt meine Chucks. Während ich sie betrachte und meine Zehen darin hin und her bewege, merke ich, dass sich der rechte Schuh total vollgesogen hat. Na toll, die Schuhe habe ich mir vorige Woche erst gekauft.

„Wir fahren jetzt mit der 4 von Alésia zur Châtelet und gehen dann an der Seine entlang zum Louvre“, verkündet Madame Ulliette und reißt mich aus meinen Gedanken.

„Och nee!“, stöhnt Hervé auf, „warum können wir denn nicht in die 1 umsteigen und direkt bis zum Louvre fahren? Wozu gibt es denn die Metro?“

Madame Ulliette schüttelt energisch den Kopf. „Also bevor wir in Ch?telet durch diese vielen Tunnel gelaufen sind, haben wir den Louvre dreimal erreicht.“

„Oh ja, da hat sie leider Recht“, sagt Bea zu Hervé und verzieht betrübt die Lippen.

„Außerdem hab ich genug von unterirdischen Gängen“, fügt Madame Ulliette hinzu. „Ein bisschen frische Luft wird uns nach diesem Moder in den Katakomben bestimmt gut tun!“ Das allseitige Murren nimmt sie als Zustimmung und marschiert einfach los.

Als wir ihr zögernd zur Metro folgen, sehe ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung am Ausgang der Katakomben. Ein Mann tritt blinzelnd auf die sonnige Straße und schaut sich suchend um. Wie zufällig streift mich sein Blick. Mir wird ganz kalt. Ich hake mich bei Bea ein, ziehe sie vorwärts und drängele mich durch die Gruppe unserer Mitschüler, ohne auf ihre Proteste zu achten.

„Was ist denn mit dir los?“, mault Bea neben mir und gerät fast ins Stolpern, so heftig reiße ich an ihrem Arm. „Wieso hast du es denn plötzlich so eilig? Werden wir verfolgt?“ Sie schaut neugierig zurück und sagt dann laut - viel zu laut: „Na der hat sich seine Schuhe aber auch ganz schön ruiniert. Warum starrt der uns denn so an?“

Ich drehe mich nicht um und zerre weiter an ihrem Arm. Wieder spüre ich diese knisternde Anspannung in meinem Rücken.

„Was ist denn nur los mit dir?“, meckert Bea. „Du bist heute so komisch, so als wärest du vor irgendwas auf der Flucht. Vorhin da unten auch schon.“

Wenn sie wüsste, wie Recht sie hat. Ich bin auf der Flucht. Auf der Flucht vor den Schatten des Sommerurlaubs in Port Grimaud. Auf der Flucht vor Darksidern, die mich schon einmal entführt und fast umgebracht haben. Ich habe immer noch Angst vor Dolores´ Leuten.

„Jetzt sag doch mal, was ist los mit dir?“, drängelt Bea.

„Erzähl ich dir später“, murmele ich gereizt und zerre sie weiter, bis wir endlich in die nächste Straße einbiegen und im Schutz der hohen Häuser verschwinden können.

02 DER AUFTRAG

Der Tod in all seinen Erscheinungsformen konnte Thakur nicht schrecken. Als Kind hatte er Menschen am Straßenrand verhungern und an Krankheiten sterben sehen. In Kalkutta war das Alltag gewesen, und das Schwimmen hatte er im heiligen Ganges gelernt, dem Fluss, in dem die schlecht verschnürten Überreste verbrannter Leichen zu jeder Stunde des Tages auf das Meer hinaustrieben. Trotzdem spürte er die besondere Atmosphäre, als er in die Katakomben hinabstieg. Die Erinnerung an die Sterblichkeit war so allgegenwärtig, wie an kaum einem anderen Ort der Welt. Die Nischen voller Gebeine und die in langer Reihe an den Wänden aufgehängten, mumifizierten Körper längst verstorbener Würdenträger übten selbst auf Thakur eine niederdrückende Wirkung aus, der er sich nicht entziehen konnte.

Schweigend ging er den Gang entlang und schaute sich gründlich um, denn hier unten gab es etwas, das er unbedingt sehen wollte: Die kleine Rosalia Lombardo, die man 1920 hier bestattet hatte, und deren Körper dem Verfall so gut widerstanden hatte, dass sie wie schlafend wirkte.

Thakur empfand es als angenehm, dass die Katakomben für die Dauer seiner Besprechung mit dem Abgesandten gesperrt worden waren. Mitten am Tag ganz allein hier in dem Gewölbe zu sein, war ein Privileg, das nur wenige für sich in Anspruch nehmen konnten. Dass diese Ehre gerade ihm, dem Paria aus den Slums von Kalkutta zuteil wurde, machte ihn stolz. Zugleich zeigte es ihm die Macht seiner Auftraggeber. Bestimmt ließen die Kapuziner sich nicht gerne in ihre Belange reinreden, aber sie waren dem Wunsch des Heiligen Pakts nachgekommen, wie das handgemalte Schild bewies, das alle Touristen während der Mittagsstunde fernhielt.

Ein Gebilde zog Thakurs Blick auf sich, das so ganz und gar nicht in diese Umgebung passte. Es sah aus wie eine Astronauten-Schlafkapsel aus einem Zukunftsfilm. Er trat näher heran, und da war sie: Rosalia Lombardo.

Thakur empfand es als befremdlich, dass man den kleinen Sarg mit dem gläsernen Deckel in diesen größeren Sarkophag aus Edelstahl und Glas eingeschlossen hatte. Sicher, das war wohl nötig gewesen, um den kleinen Körper vor dem Verfall zu bewahren, aber das Ding wirkte in diesem spätmittelalterlichen Gewölbe wie ein Schlag ins Gesicht. Ein Anachronismus der übelsten Sorte.

Rosalia Lombardo lag genauso da, wie es in allen Beschreibungen stand. Das unschuldige Kindergesicht entspannt und wie im Schlaf. Zarte Locken waren in die Stirn drapiert und unterstrichen noch die scheinbare Lebendigkeit der Szene.

Thakur nahm das Bild in allen Einzelheiten in sich auf und wandte sich dann ab. Der Glas- und Stahlüberbau und das leise Sirren des Lüftungsventilators ließen es nicht zu, dass der besondere Zauber der Kleinen zur Wirkung kam. Es war vielmehr, als stände man im Supermarkt des Todes vor der Kühltheke mit einer ganz besonderen Ware darin. Mehr nicht.

Geräusche klangen vom Eingang her auf. Wenige Sekunden später kamen zwei ernst blickende Männer in dunklen Anzügen in Thakurs Blickfeld. Zielstrebig gingen sie auf den Mann mit den orientalisch anmutenden Gesichtszügen zu.

Automatisch hob Thakur die Hände in Schulterhöhe und ließ sich von einem der Bodyguards abtasten, während der andere seinen Kollegen von der Seite her absicherte. So war es immer gemacht worden, wenn Thakur einen Abgesandten des Heiligen Pakts traf, und so würde es auch immer bleiben. Man traute ihm nicht, und Thakur konnte es den Leuten nicht verübeln. Schließlich war er ein Jäger – ein bezahlter Mörder, ein Werkzeug für die Drecksarbeit die manchmal zu tun war. Wer wollte seinen Auftraggebern garantieren, dass dieses Werkzeug sich eines Tages nicht gegen sie richtete? Das konnte niemand, und deswegen wurde er jetzt nach Waffen durchsucht. Als Kind in den Straßen von Kalkutta hatte er schlimmere Demütigungen erfahren, und auch das hatte er ausgehalten.

Der Bodyguard fand natürlich nichts und trat zurück.

Thakur lächelte. Absicherung und Feuerschutz oder nicht: Es wäre für ihn eine Kleinigkeit gewesen, die beiden klotzigen Kerle innerhalb von Sekunden außer Gefecht zu setzen, aber darum ging es hier ja nicht. Offenbar hatte der Heilige Pakt beschlossen, dass mal wieder ein Darksider sterben musste, und dieses Treffen in der Kapuzinergruft von Palermo diente dazu, den Vertrag auszuhandeln.

Die Bodyguards trennten sich und brachten sich an den entgegengesetzten Enden des Hauptgangs in Stellung. Einer von ihnen sprach mit gedämpfter Stimme in sein Sprechfunkgerät. Sekunden später flutete Tageslicht die Treppe hinab und Schritte wurden laut.

Ein hoch gewachsener Mann kam in das Gewölbe. Ohne die Mumien und Gebeine zu beachten kam er mit schnellen Schritten den Gang entlang.

Im Sonnenlicht, das durch die weit oben eingelassenen Buntglasfenster in den Raum fiel, konnte Thakur erkennen, dass der Mann dunkle Haare hatte, die von weißen Strähnen durchzogen waren. Sein Gesicht und die Hautfarbe ließen auf eine Herkunft aus dem Mittelmeerraum schließen.

Vielleicht ein Araber? Thakur wusste es nicht und es war ihm auch egal. Es unterstrich nur wieder einmal, dass sich in dem Hass auf die Darksider offenbar alle namhaften Religionen einig waren. Seinen letzten Auftrag hatte Thakur mitten im Aokigahara-Wald von einem uralten Japaner in einer braunen Kutte bekommen. Einziger Zeuge war ein schon seit Wochen toter Selbstmörder gewesen, der sich in seiner letzen Minute sitzend an einen Baum gelehnt hatte.

Davor war es ein Russe gewesen, der den Auftrag erteilt hatte. Das war an einem der Türme des Schweigens nahe Bursa geschehen. Man musste schon zugeben, dass der Heilige Pakt ein Gespür für Dramaturgie und unheimliche Orte hatte.

Der Abgesandte kam bis auf zwei Schritte an Thakur heran und blieb stehen. „Ich soll Ihnen Gruß und Segen des Heiligen Pakts überbringen, Thakur“, begann er.

„Danke!“ Thakur verneigte sich leicht. „Stets zu Diensten.“

„Wo sind Ihre Bluthunde?“

Thakur lachte leise auf. „Sie werden da sein, wenn ich sie brauche.“

„Ist die gute Christin noch dabei – diese van Vliet?“

„Sicher!“

„Und Isaak, der alte Haudegen?“

„Izzy Silverman? Sie kennen ihn?“

„Wir hatten mal miteinander zu tun“, wich der Fremde aus. „Ist er noch dabei?“

„Natürlich!“

„Fein! Sie werden gute Leute brauchen.“ Der Abgesandte schaute Thakur in die Augen. „Diesmal geht es ums Ganze. Wir wollen, dass Sie der Schlange den Kopf abschlagen.“

„Sie wollen einen König?“

„Nein, wir wollen beide! Caetan beim Fest des Wassers, Sochon bei der nächsten Jahrwerdung. Ist das für sie machbar?“

Thakur zeigte sich unbeeindruckt. „Ich bin der beste Jäger und ich habe die beste Meute. Wenn ich es nicht schaffe, dann schafft es niemand!“

„Hochmut ist Sünde.“

Thakur winkte ab. „In Ihrer Religion vielleicht. In meiner nicht! Zu den üblichen Bedingungen?“

„Die üblichen Bedingungen. Machen Sie es so spektakulär wie es nur geht. Die Bande soll wissen, dass sie nirgends sicher ist. Aber denken Sie daran: Wenn ein Mensch bei der Sache zu Schaden kommt, ist der Vertrag erloschen, und Sie stehen selbst auf der Todesliste.“

„Es gibt Sympathisanten“, gab Thakur zu bedenken. „Sind die nicht genauso schlimm wie die, die sie beschützen? Sind das nicht Verräter an der menschlichen Rasse? Warum sollen die geschont werden?“

„Ich bin ganz Ihrer Meinung.“ Der Abgesandte seufzte tief auf. „Aber der Heilige Pakt lässt nicht mit sich reden. Nur Darksider und keine Menschen! Die üblichen Bedingungen also, damit das klar ist.“

„Das Fest des Wassers ist in fünf Monaten, Jahrwerdung erst im übernächsten Frühjahr. Ein Vorschuss wäre nicht schlecht“, forderte Thakur. „Zweihundertfünfzigtausend Dollar pro Job.“

„Genehmigt!“

„Wie? Einfach so genehmigt?“ Jetzt war Thakur doch etwas irritiert. Er hatte mit mehr Schwierigkeiten gerechnet.

„Der Heilige Pakt wusste, dass Sie das fordern würden.“

„Dann will ich ihn nicht nur heilig sondern auch weise nennen.“

„Darf ich das so weitergeben?“, lachte der Abgesandte auf.

Thakur lächelte höflich, aber das Gespräch glitt für seinen Geschmack ein wenig zu sehr ins Persönliche ab. „Lassen Sie uns weiter über Geld reden.“

„Gut“, stimmte der Abgesandte zu. „Reden wir über sehr viel Geld.“

Ein paar Augenblicke lang blieb Thakur in der Deckung des Eingangs zur Gruft stehen und sah sich gründlich um, bevor er auf die sonnenüberflutete Piazza de la Cappucine hinaustrat. Izzy stand an der Tankstelle etwas abseits der Zapfsäulen bei einem älteren Fiat Croma. Der Schatten einer kümmerlichen Palme fiel auf das Fahrzeug. Izzy hatte die Motorhaube geöffnet und hantierte etwas linkisch an der Maschine herum. Es musste jedem Beobachter so vorkommen, als habe er Schwierigkeiten mit dem Wagen, aber Thakur wusste, dass er im Notfall in Sekundenschnelle fahrbereit sein würde. Niemand konnte jemals auf die Idee kommen, dass dieser verloren aussehende, schon etwas ältere Mann einen sportgestählten Körper hatte und die 100 Meter mit Leichtigkeit unter zwölf Sekunden schaffte. Schon gar nicht hätte man vermutet, dass er unter seinem Hawaiihemd zwei großkalibrige Schnellfeuerpistolen verbarg, mit denen er hervorragend umzugehen verstand.

Während Thakur mit langsamen Schritten die Piazza überquerte, nahm er aus den Augenwinkeln wahr, dass auch Greta van Vliet auf ihrem Posten war. Sie hatte sich unter die Touristen gemischt, die darauf warteten, dass die Katakomben wieder geöffnet wurden und beschäftigte sich mit einer kleinen Digitalkamera. Jetzt sah sie auf ihre Armbanduhr, schüttelte leicht den Kopf, verließ die Gruppe der bunt gekleideten Urlauber und ging ebenfalls auf die Tankstelle zu. Ihre Bewegungen waren ruhig und geschmeidig. – Nur eine schlanke, rothaarige Touristin, der das Warten zu langweilig geworden war.

Der Angestellte, der vor dem Gemüseladen gegenüber die Kisten zurechtrückte, warf ihr einen bewundernden Blick zu, den sie aber nicht zu bemerken schien. Achselzuckend wandte der Mann sich wieder seiner Arbeit zu.

Izzy sah seine beiden Kollegen herankommen und schloss mit einem letzten, prüfenden Blick die Motorhaube. Mit langsamen Schritten ging er vorne um den Croma herum und setzte sich genau in dem Moment hinter das Steuer, als Thakur und Greta den Wagen erreichten. Greta setzte sich auf den Beifahrersitz, während Thakur die bequeme Rückbank für sich beanspruchte.

Silverman ließ den Croma an und fuhr los. Scheinbar willkürlich bog er in verschiedene Straßen ein und erst nach einigen Minuten, als feststand, dass sie nicht verfolgt wurden, eröffnete er das Gespräch: „Was hat denn mein alter Freund Maged mit der Sache zu tun?“

„Alter Freund?“ Thakur zog die Augenbrauen hoch.

„Nur so eine Redensart. Ich hatte mal dienstlich mit ihm zu tun.“

„Beim Mossad?“

„Allerdings! Er war bei der Hisbollah. Sag bloß, der arbeitet jetzt für den Heiligen Pakt?“

„Scheint so.“ Thakur hob die Schultern. „Auf jeden Fall hat er mir den Auftrag erteilt.“

„Wer ist es?“ Greta drehte sich auf ihrem Sitz halb zu Thakur um.

Der beugte sich auf dem Rücksitz vor. „Es sind zwei.“

„Wer ist der Erste?“

„Caetan.“

„Oh, der Herrscher des Pazifiks“, stellte Greta fest. „Ich hoffe, du hast gut verhandelt.“

„Wenn die Jobs erledigt sind, brauchen wir nie wieder einen Handschlag zu tun.“ Thakur grinste Greta an.

„Wer ist der Zweite?“, wollte Izzy wissen.

Thakur beugte sich noch weiter vor, damit Greta und Isaak ihn besser verstehen konnten. „Sochon.“

„Der König des Atlantiks auch!“ Greta war das Erstaunen anzumerken, während Izzy nur stumm nickte.

„Genau, beide Könige!“ Thakur lehnte sich behaglich zurück. „Aber zuerst Caetan.“

„Dann mal an die Arbeit“, sagte Greta und Izzy gab Gas. Sie hatten drei Plätze in der Nachmittagsmaschine nach Paris gebucht. Von dort aus konnte man jeden Punkt der Erde in wenigen Stunden erreichen. Die Jagd hatte begonnen.

03 DAS GEMÄLDE

Endlich erreichen wir das Tor zum Louvre am Place du Carrousel. Ich bin fußlahm. Meinen nassen Schuh habe ich inzwischen halbwegs trocken gelaufen. Er gibt beim Gehen keine quietschenden Geräusche mehr von sich, dafür hat sich aber die Socke als gekringelte Wurst nach vorne zu den Zehen hin verabschiedet. Ich habe nur noch einen Wunsch: Ich will mich irgendwo hinsetzen und den Schuh los werden, um endlich diese verfluchte Socke wieder hochzuziehen.

„Boah!“ sagt Bea, „ich muss mich setzen, ich kann nicht mehr!“

„Ich auch“, stöhne ich, „Ich muss unbedingt meinen blöden Schuh ausziehen. Ich glaube, ich hab mir eine Blase gelaufen.“

Auch die andern jammern und schnaufen gequält.

Madame Ulliette, die mit unverminderter Energie vor uns hermarschiert, dreht sich um und bleibt stehen. „Nun stellt euch doch nicht so an, war doch nur ein kurzer Weg!“, grinst sie herausfordernd.

„Ja, ja“, meint Daniel, der längste aus unserer Klasse, ein dunkelhaariger, sympathischer Kerl mit tiefer warmer Stimme, „ein kurzer Weg für Madame Ulliette, aber ein langer Weg für die Menschheit!“

„Ach Daniel!“ Madame Ulliette hebt kopfschüttelnd die Augenbrauen. „Du immer mit deinen theatralischen Kommentaren!“

„Wir können aber wirklich nicht mehr!“, jammert Coco und wir alle brechen wie auf Verabredung in verzweifeltes Stöhnen und Seufzen aus.

„Na gut!“ Madame Ulliette verzieht missmutig das Gesicht und verdreht die Augen, „dann setzen wir uns eben einen Moment hier auf die Treppen.“ Kaum hat sie diese Worte ausgesprochen, stürmen wir zu den Treppenstufen und lassen uns dort fallen wie hingeschlachtete Lämmer.

„Ihr solltet Komiker werden mit eurem Sinn für melodramatische Posen“, murrt sie, „man meint gerade, ich hätte euch im Zweitagesmarsch von Paris nach St. Petersburg geführt!“ Kopfschüttelnd schaut sie uns an. „Keine Kondition mehr, diese Jugend! Aber bis in die Nacht hinein am PC hocken!“

„Da müssen wir uns ja auch nicht bewegen, da können wir mit ein paar Mausklicks die Welt erforschen“, meint Daniel leise.

Mit den Worten „Diese Jugend“, betrachtet unsere Lehrerin aufseufzend die große gläserne Pyramide, in der der Eingang zum Louvre liegt. Schließlich lässt sie sich am Rand der Treppe auf einer Stufe nieder. „Sagt mir Bescheid, wenn ihr armen alten jungen Leute euch ein wenig erholt habt!“, meint sie noch, faltet die Hände über ihrem Bauch, lehnt den Kopf seitlich an die Mauer und schließt die Augen.

Daniel sitzt hinter mir auf der Treppe und stellt mir seine Knie als Rückenlehne zur Verfügung, nachdem ich endlich meine blöde Socke wieder in Ordnung gebracht habe. Eine Wohltat!

Daniel beugt sich vor und flüstert mir leise ins Ohr: „Die hat aber auch einen Sinn für melodramatische Posen.“

„Das habe ich gehört!“, brummt Madame Ulliette mit geschlossenen Augen.

„Hat einer von euch was zu trinken mit? Ich hab Durst“, jammert Coco nach einer Weile.

„Und ich hab Hunger“, murmelt Bea neben mir.

„Stellt euch vor, ich hab beides“, seufzt Hervé auf.

Madame Ulliette steht schwungvoll auf und klatscht in die Hände. „Also bevor ihr jetzt hier alle vollkommen schlapp macht, gehen wir lieber rein.“

Murrend erheben wir uns und folgen ihr in die Glaspyramide.

„Du hattest doch Durst“, grinst Daniel zu Coco hinüber und deutet auf die Wasserbecken, die die Pyramide symmetrisch umgeben.

„Ha, ha, sehr witzig“ brummt Coco und boxt ihn in die Seite.

„Benehmt euch jetzt aber!“, mahnt uns Madame Ulliette mit erhobenem Zeigefinger. Sie geht vor, und wir fahren mit der Rolltreppe in die Halle unter der gläsernen Pyramide.

„Ob der niedliche Typ noch da ist, der die Multimedia-Führer ausgibt?“, flüstert Bea mir grinsend zu und reckt den Hals, um besser sehen zu können.

„Findest du den echt gut? Der hat doch’n Bart.“

Bea zuckt mit den Schultern. „Na und?“

Madame Ulliette verteilt die Tickets. „So Kinder, ihr wisst Bescheid. Wie es läuft, haben wir ja gestern schon besprochen. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch einen Führer holen, ihr könnt aber auch so losmarschieren. Ihr habt zwei Stunden Zeit. Also ab jetzt“, sie schaut auf ihre Armbanduhr, „bis 16.00 Uhr wieder hier in der Halle. Ich hoffe, ihr habt auch alle was zu schreiben mit.“ Skeptisch verzieht sie den Mund und hebt eine Augenbraue.

„Also ich hole mir so einen Multimedia Guide“, verkündet Bea und geht los. War ja klar.

„Oh Mann, wir waren doch schon so oft hier!“, maule ich.

Statt einer Antwort dreht sich Bea nur um und zwinkert mir grinsend zu, während sie rückwärts weitergeht.

Ich hab’s kommen sehen: Als sie sich wieder umdreht, rennt sie mit voller Wucht gegen einen älteren Japaner. Der Mann verbeugt sich ganz erschrocken immer wieder vor ihr, wobei er aufgeregte Worte murmelt.

Bea steht ganz verdattert vor ihm, ringt die Hände und stottert mit hochrotem Kopf „Entschuldigung! Sorry! Pardon!“ Hilflos sieht sie zu mir rüber. „Lach nicht, du dumme Kuh, er hört gar nicht mehr auf, sich zu verbeugen. Sag mir lieber, was Entschuldigung auf Japanisch heißt.“

„Woher soll ich das ...“

„Shazai“, unterbricht mich Daniel, als er neben mich tritt. Klar, dass er das weiß. Sein Vater ist Diplomat, und er ist in vier verschiedenen Ländern aufgewachsen. Wahrscheinlich kennt er auch alle Flüche, die brasilianische Taxifaher so draufhaben.

„Shazai? - Echt?“ Bea zögert zweifelnd, versucht es dann aber doch mit diesem Wort, einem freundlichen Lächeln und einer leichten Verbeugung. Der Japaner lächelt zurück und geht, sich nochmals verbeugend, seiner Wege.

Sichtlich erleichtert dreht sich Bea wieder zu uns um. „Ich hatte schon fast mit einer Ohrfeige gerechnet“, sprudelt sie hervor, „Ich trau dir nämlich nicht, mein Lieber!“

Daniel grinst nur.

„Was grinst du denn so, das hieß doch wirklich Entschuldigung oder?“ Bea ist immer noch misstrauisch und schaut sich nach dem Japaner um, aber der ist inzwischen in der Menge verschwunden.

„Nun hol schon deinen Guide, damit wir endlich loslegen können, wir haben nicht viel Zeit“, drängele ich.

„Nee, da geh ich jetzt nicht mehr hin, nach dem Auftritt, das ist mir zu peinlich.“ Bea schüttelt den Kopf, wobei sie schon wieder ganz rot wird.

„Der hat das doch gar nicht gesehen bei dem Andrang, nun geh schon“, fordere ich sie auf.

„Nö!“ Bea schüttelt trotzig den Kopf und strebt schon der Rolltreppe zu, die uns in den Sully Flügel bringt.

„Wer hat was nicht gesehen?“, fragt Daniel neugierig.

„Du musst nicht alles wissen“, grinse ich ihn an und folge Bea.

Zu dritt erreichen wir schließlich die Säle, in denen Werke der französischen Malerei des 18. Jahrhunderts zu sehen sind. Bea und ich sinken auf die erstbeste Bank.

„Mann, ich kann nicht mehr“, stöhne ich verzweifelt.

„Da war er ja schon wieder“, sagt Bea plötzlich. „Kann es sein, das der was von dir will?“

„Was? Wer? Wo?“ Plötzlich bin ich hellwach.

„Ach, dieser Typ von eben“, Bea zeigt mit dem Kinn zum nächsten Durchgang. „Der mit den versauten Schuhen. Der ist in den Katakomben doch auch schon ständig um uns rumgeschlichen.“

„Aber da war doch niemand.“ Ich richte mich auf und folge ihrem Blick, aber ich kann niemanden entdecken. „Wen meinst du denn?“

„Ist jetzt im anderen Saal.“

Ich muss an mein déjà vu in den Katakomben denken. Genauso habe ich mich bei der Entführung gefühlt, so seltsam – gedämft. Sind sie etwa wieder hinter mir her? Steckt Dolores dahinter? Hat sie so viel Macht, dass sie mir auch aus dem Gefängnis heraus noch schaden kann? Eine heiße Welle läuft durch meinen Körper, und ich spüre, dass ich innerlich anfange zu vibrieren. Wer ist dieser Kerl? Was will der von mir?

Gerade will ich aufstehen und rübergehen, um ihn mir anzusehen, als Daniel sich vor uns aufbaut. Ungeduldig sieht er auf uns herab. Er scheint noch richtig fit zu sein. „Jetzt mal los Mädels, wie machen wir es? Wollen wir alle zusammen ein Bild aussuchen, oder soll jeder einzeln auf die Suche gehen?“

Mist! Ich kann mich jetzt doch nicht lächerlich machen und diesem Typen hinterherlaufen. - Vielleicht ist das ja sowieso alles nur Einbildung.

„Na, was ist, Mädels? Entscheidet euch!“, drängt Daniel.

„Ist mir egal, wie wir es machen. Hauptsache wir sind hier schnell fertig“, mault Bea und steht stöhnend auf.

Schließlich ziehen wir alle zusammen durch die Säle und ich bin froh, dass ich nicht allein gehen muss. Immer wieder schaue ich mich um, aber da ist niemand, der mir folgt.

Wir bleiben vor verschiedenen Gemälden stehen und ich merke, dass ich eigentlich keine Ahnung habe, wonach wir wirklich suchen sollen. Diese Bilder sind alle so nichtssagend, so albern.

Auch Daniel scheint so seine Probleme zu haben. Er schaut sich genau wie wir die vielen Gemälde an und kratzt sich ratlos am Kopf. „Was soll man bloß von dieser Frau auf der Schaukel halten? –Und was von ihren beiden grinsenden Verehrern? Mal ehrlich: Was sagt uns das über die gesellschaftliche Stellung der dargestellten Personen in ihrer Epoche?“

„Man könnte vermuten, sie leben in einer Nervenheilanstalt“, meint Bea.

„Ja und guck doch mal, wie merkwürdig die Frau grinst.“ Kopfschüttelnd stehe ich vor dem Bild. „Ich glaub, die ist scharf auf den Kerl hier vorne!“

„Blödes Bild“, schimpft Bea neben mir, wendet sich ab und schaut sich mit ziemlich verzweifelter Miene suchend in dem großen Saal um.

„Schaut mal, das hier ist noch besser“, ruft uns Daniel aus dem nächsten Saal zu und wird natürlich gleich von einem Museumsbediensteten mit leisen Worten zur Ordnung gerufen.

„Das ist die falsche Epoche“, flüstere ich ihm zu, als ich bei ihm bin. Schnell schaue ich über die Schulter zu dem Museumswärter. Er nickt mir lächelnd zu. Das war wohl die Lautstärke, die er sich wünscht.

„Aber witzig ist das Bild trotzdem“, grinst Daniel und deutet auf zwei nackte Frauen, die in einem Badezuber sitzen und den Betrachter mit merkwürdigen Blicken anschauen. Die eine zwickt der anderen seltsamerweise mit spitzen Fingern in die rechte Brustwarze.

„Warum macht sie das?“ Bea schüttelt den Kopf. „Würdest du das bei mir machen, wenn wir zusammen duschen würden?“

„Nein!“, wehre ich erschrocken und empört ab und fühle, wie ich dabei rot werde.

Daniel mustert mich. „Du wirst ja ganz rot.“

„Danke, jetzt wirds bestimmt sofort besser“, maule ich ihn an.

Daniel grinst.

„Ob das Lesben sind?“ sinniert Bea ziemlich laut, sie weiß noch nicht, dass sie hier andächtig flüstern muss. Ein ärgerliches „Ssst!“ macht sie darauf aufmerksam. „Was bewegt einen Maler dazu, so einen Moment festzuhalten?“, wispert sie hinter vorgehaltener Hand.

„Geld?“, vermutet Daniel. „Bestimmt war das so ein Lohnmaler, der alles gemacht hat, wenn nur der Preis stimmte.“

„Meinst du?“ Ich schaue ihn fragend an. Aber das klingt für mich schon logisch. „Ich glaube, hier sind wir sowieso falsch. Das waren doch bisher alles eher erotisch angehauchte Bilder. Ich weiß gar nicht, was wir damit anfangen könnten.“

Ich schaue auf die Uhr und bekomme so langsam Panik. Ich fasse es nicht. Wir werden doch wohl heute noch ein Bild finden, das wir als Grundlage für unsere Präsentation über die Gesellschaftliche Entwicklung in einer Region Frankreichs im 18.Jahrhundert nehmen könnten.

„Leute, ich glaube, wir hätten ein anderes Thema wählen sollen“ stöhnt Bea und lässt sich auf eine Bank fallen.

Ich hocke mich mit gekrümmtem Rücken auf die andere Seite und starre Löcher in den Boden. „Ich will keine Bilder mehr sehen.“

„Nicht schlapp machen, wir haben doch noch eine halbe Stunde Zeit.“ Daniel steht mit ausgebreiteten Armen vor uns wie ein Coach, der uns anfeuern will. Irgendwie mag ich ihn.

„Eine halbe Stunde, doch noch so viel“, brummt Bea und reibt sich die Augen, was ihrer Schminke nicht gerade gut bekommt.

„Wow!“ Daniel grinst sie an. „Warum fotografieren wir nicht Bea und schreiben über die Augenschminke und ihre Auswirkungen auf die Ausstrahlung eines Menschen?“

Ich drehe mich zu Bea um und pruste los. Sie sieht aus wie ein kleiner Pandabär.

„So schlimm?“, murmelt sie mit erschrocken gekrauster Stirn und kramt hektisch ihren Taschenspiegel aus dem Rucksack. „Merde!“ Mit spuckebefeuchtetem Zeigefinger versucht sie mit schnellen Bewegungen ihr Aussehen wieder zu korrigieren, während sie mit hochgezogenen Augenbrauen konzentriert in den kleinen Spiegel guckt.

Ich drehe mich wieder um und starre die gegenüberliegende Wand an. Plötzlich dringt das Abbild eines Gemäldes in meinen verschleierten Tunnelblick. Im Vergleich zu seinen pompösen Nachbarn ist es eher klein. Es zeigt eine Personengruppe am Strand und im Hintergrund eine Ansiedlung mit einem spitzen Kirchturm. Eine kleine Insel mit einem festungsartigen Gemäuer darauf ragt gegenüber der Stadt aus dem Meer. Hinter den Leuten am Strand steht ein kleines Segelboot.

Aber das ist es nicht, was mir an dem Bild so besonders ins Auge sticht. Langsam stehe ich auf und gehe darauf zu. Was ist so anders an diesem Bild im Vergleich zu den anderen, die wir bisher gesehen haben? Ich stehe davor und schaue mir die Personen genauer an.

„Ey, die Gegend kenne ich doch“ Daniel steht neben mir und zeigt auf das Bild. „Ja klar, das ist Saint Malo – eindeutig! Und da ist auch das kleine Fort. Da wohnt meine Tante.“

„In dem Fort?“, fragt Bea. Auch sie steht nun vor dem Gemälde und sieht wieder einigermaßen normal aus.

„Ja klar!“ Daniel zieht ihr im Takt seiner Worte leicht an den Haaren. „Sie wohnt am Rand von Saint Malo in einem kleinen Haus am Meer.“

Bea wehrt ihn lachend ab und betrachtet mit vor der Brust verschränkten Armen und schräg gelegtem Kopf das Gemälde. „Das Bild ist anders, irgendwie.“

„Ja, weil das ein ganz anderer Stil ist“, werfe ich ein. „Die Leute sehen normal aus, nicht so künstlich. Wie Menschen eben. Die grinsen nicht so dümmlich lüstern, wie auf den anderen Bildern. Und sie sind auch nicht so komisch übernatürlich beleuchtet.“

„Ja stimmt, die Leute auf den anderen Bildern wirkten wie glänzende Porzellanpuppen“, stimmt Bea mir zu, „obwohl...“ Mit kritisch zusammengezogenen Augenbrauen tritt sie näher an das Bild heran.

„Du hast Recht“, ergänze ich ihren angefangenen Satz, „der Mann hier, neben dem die Armbrust im Sand liegt, sieht irgendwie merkwürdig aus, so blass, fast schon leichenblass!“

Schweigend stehen wir vor dem Bild. Dieser Mann, sein aufgerissener Mund, die starren Augen ...

„Warum ist er so bleich, es sieht aus, als würde er - sterben?“, flüstert Daniel.

„Der Titel heißt ja auch Der Tod holt den flämischen Jäger“, liest Bea laut vor. „Wer ist denn da der Jäger? Eigentlich sieht der bleiche Mann in dem weiten Umhang wie der Tod aus, der den Schwarzhaarigen holt.“

„Und der Schwarzhaarige ist schwer verletzt. Seht ihr? Unter seinem linken Schulterblatt steckt ein Pfeil und er blutet.“ Ich zeige auf die Stelle. „Vielleicht hatte er ja einen Jagdunfall?“

„Aber warum grinst er dann so?“, murmelt Daniel. „Wer stirbt denn auf diesem Bild, der Verletzte oder der mit dem bleichen Gesicht? Seltsam!“

„Und warum hat der Tod ein aufgerissenes Hemd?“ setzt Bea nach. „Und schaut mal, der Jäger fasst den Tod an, und der Tod sieht aus, als würde er sterben.“

Bea hat Recht, der Jäger steht ganz dicht vor dem Tod und umfasst dessen Schultern. Es sieht fast so aus, als wolle er mit ihm tanzen.

„Eine Art Totentanz vielleicht?“, vermute ich. „Aber warum grinst der Schwarzhaarige so hämisch? Er grinst den leichenblassen Mann so richtig überheblich an. Der Typ kommt mir irgendwie bekannt vor.“ Mich schaudert.

Bea’s Kopf ruckt zu mir rum „Hä?“ Mit weit aufgerissenen Augen schaut sie mich an.

Ich war mir gar nicht bewusst, dass ich den letzten Satz laut gesprochen habe und schüttele nur den Kopf.

„Was macht nur das kleine Mädchen da?“, murmelt Daniel hinter mir.

„Und warum hat der grinsende Kerl einen nackten Oberkörper?“ rätsele ich.

„Komisches Bild“, fasst Bea zusammen.

Auf dem Schild steht neben dem Titel der Name des Malers, von dem ich noch nie etwas gehört habe: Amrel Triballat, bretonischer Maler, 1732 ist dort zu lesen.

„Das Bild nehmen wir“, verkündet Daniel bestimmt. „Aus der Gegend kommt meine Familie und da kriegen wir mit Sicherheit auch eine Menge Informationen über diese Zeit und so.“

„Sollen wir wirklich?“ Bea runzelt skeptisch die Stirn.

Ich kann nur nicken. Eine merkwürdige Faszination geht von diesem Bild aus. Ich kann meinen Blick kaum von ihm lösen, als Daniel mich anstößt.

„Träum nicht Lana, mach ein Foto. Ich schreib die Daten des Malers auf und dann sind wir hier fertig“, sagt er und zieht uns energisch ein paar Schritte zurück.

„Okay, stellt euch mal möglichst unauffällig um mich rum.“ Ich packe meine kleine Nikon aus. „Ich versuch’s mal“ flüstere ich und halte die Kamera so, dass sie das Gemälde erfasst.

„Aber ohne Blitz“, flüstert Daniel mir zu.

Ich drehe mich zu ihm um und schaue ihn strafend an.

„Ja ich weiß, du bist nicht zum ersten Mal hier“, murmelt er schuldbewusst.

In der Tat, der Louvre begleitet uns schon die halbe Schulzeit lang und dass man hier nicht ungestraft mit Blitzlicht hantieren kann, weiß sogar eine Lana Rouvier.

Ich mache mehrere Aufnahmen, indem ich die Kamera in meiner offenen Jacke versteckt in Brusthöhe vor mich halte.

Schnell verlassen wir den Saal, ohne dem kritisch blickenden Museumsbediensteten in die Augen zu schauen.

Etwas später beugen wir uns in einer Ecke über meine Kamera und begutachten die Qualität meiner Fotos auf dem Display. Eins ist richtig gut geworden. Man kann sogar das leicht spiegelnde Schild mit der Bildbeschreibung lesen.

„Perfekt!“, murmelt Daniel, „das ist sogar richtig scharf, das wird man problemlos vergrößern können.“

„Hey, da ist er ja schon wieder.“ Bea nickt mit dem Kopf in Richtung des nächsten Saales.

Ich drehe mich um, sehe aber niemanden, der besonders auffällig wäre.

„Wen meinst du denn?“, will Daniel wissen. „Wer ist wieder da?“

„Lanas Verehrer“, grinst Bea. „Der Anzugtyp da vorne.“

„Ach, der schon wieder.“ Daniel winkt ab. „Kennst du den?“, wendet er sich mir zu.

„Nö!“, behaupte ich, und das stimmt ja vielleicht auch. Das einzige Problem bei der Sache ist, dass ich absolut nicht weiß von wem die reden. Da wo sie hinschauen, ist nämlich außer einer älteren Frau mit einem verrückten Hut niemand zu sehen.

„Mmh, jetzt ist er weg!“ Ärgerlich schüttelt Bea den Kopf. „Komischer Kerl!“

Ich hebe kurz die Schultern. „Hier laufen so viele Leute rum, wer weiß, wer das war“, erwidere ich leichthin und wende mich wieder ab. - Ich kann doch unmöglich erzählen, dass ich von Leuten mit hypnotischen Kräften verfolgt werde. Die beiden würden doch sofort wissen wollen, warum. Und dann? Wenn ich die Wahrheit sage, wenn ich ihnen sage, wovor ich wirklich Angst habe, erklären sie mich für verrückt. Lieber tue ich ganz unbefangen: „Na ja, egal, lasst uns gehen, sonst schickt Madame Ulliette noch einen Suchtrupp los.“

Nachdenklich verstaue ich meine Digicam im Rucksack. Verdammt! - Ich habe diesen Typen weder in den Katakomben noch hier gesehen.

04 CAETAN

An der Einfahrt zum Panamakanal gab es den üblichen Rückstau, aber der Kapitän nahm über Funk Verbindung mit der Verwaltung auf und zwei Minuten später war alles geregelt. Die Manhattan war mit ihren hundertvierzig Meter Länge nicht gerade winzig zu nennen, aber im Vergleich zu den Containerschiffen ringsum war sie doch deutlich kleiner. Sich zusammen mit einem Schiff der Panamax-Klasse schleusen zu lassen, kam aber trotzdem nicht in Frage. Die waren allesamt fast dreihundert Meter lang und brauchten die mehr als dreißig Meter breiten Schleusen komplett für sich.