Die Gabe - Segen oder Fluch - Iris M. Steiger - E-Book

Die Gabe - Segen oder Fluch E-Book

Iris M. Steiger

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Beschreibung

Die siebzehnjährige Ella schlägt sich seit dem Unfalltod ihrer Mutter mit außersinnlichen Wahrnehmungen herum und hat Angst, den Verstand zu verlieren. Das Sehen und Fühlen der Aura anderer Menschen überfordert sie, denn Ella verliert sich darin. Aber nicht nur das! Sie kann die Vergangenheit und die Zukunft sehen. Besonders eine Zukunftsvision lässt sie nicht mehr los: An der Steilküste der Insel Berse stößt ein Fremder eine junge Frau in den Tod. Sie möchte den Mord verhindern. Aber wie? Ella hat Glück und findet bei dem geheimnisumwobenen Lord Hilfe. Bringt Ella den Mut und die Stärke auf, ihre Gabe anzunehmen und die junge Frau vor dem sicheren Tod zu retten?

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Impressum

Iris M. Steiger

Die Gabe – Segen oder Fluch

Mystery-Thriller

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

ISBN 978-3-96521-831-4 (E–Book)

2023 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: verlag@edition–digital.de

http://www.edition–digital.de

Ein großes Dankeschön an Barbara, Christy, Sarah und Josef für die liebevolle Motivation.

Kapitel 1

„Ella, muss das sein? Jetzt trödle doch nicht so herum“, sagte Lisanne ungeduldig. Ihre smaragdgrünen Augen funkelten mich gereizt an. Ihr sonst blasses, rundes Gesicht, eingerahmt von einem dunkelbraunen Pagenschnitt, zeigte eine flüchtige Zornesröte.

„Lisanne … Mama, bitte, ich will da nicht hin! Warum willst du mich dort unbedingt hinschleifen?“, stieß ich trotzig hervor. Ausgerechnet heute machte der Gitarrenlehrer schlapp und lag mit Grippe im Bett. Nur weil er kurzfristig absagte, griff die Ausrede nicht, dass ich keine Zeit hätte und für die Schule lernen müsse. Mist!

„Er kann dir helfen, wenn …“

„Bisher war noch nichts und Es muss auch nicht kommen“, maulte ich zurück. „Nur weil wir beide uns aufs Haar gleichen, musst du Es mir nicht vererbt haben.“

„Ella, Es wird kommen, bald, glaube mir, ich habe es geseh…“

„Ich will es nicht hören!“, entgegnete ich und hielt mir die Ohren zu.

Lisanne schüttelte den Kopf. Sie hob die Autoschlüssel in die Luft und wedelte damit herum. Die Zornesfalten auf ihrer Stirn ließen keinen Einspruch mehr gelten. Sie drehte sich um und verschwand stampfend in den Hausflur.

„Entschuldigung, Ben“, hörte ich sie sagen, und die Haustür schlug mit einem kräftigen Knall zu.

Ben kam in die Küche und hob fragend die Augenbrauen. „Dicke Luft?“

„Kümmere dich um deine eigenen Probleme“, zischte ich.

Er hob abwehrend die Hände und drückte sich mit dem Rücken an den Türstock, um mich vorbeizulassen. „Dein Vater, ich meine natürlich Sven, schickt nur seinen Azubi rüber, um Kaffee zu machen. Für den nächsten Patienten braucht er, und auch ich, erstmal eine Stärkung. Es ist ein beißwütiger und sehr wehrhafter Hase namens Harvey.“

„Interessiert gerade eben überhaupt nicht“, keifte ich ihn an.

„Alles klar!“, meinte Ben und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen.

Ich ließ Lisanne absichtlich lange warten und zog meine Jacke im Hausflur betont langsam an. Sie sollte es endlich kapieren, dass ich keine Lust hatte, zum Lord zu fahren. Ich wollte es ihr nicht nur sagen, sondern auch zeigen.

Halbherzig und mit einem verächtlichen Blick stieg ich in das Auto ein.

„Na endlich! Wo bleibst du denn?“, giftete Lisanne. Sie fuhr mit Schwung los und die Kieselsteine spritzten zur Seite. Völlig untypisch für sie. „Ella, die Wahrnehmungen werden bald kommen. Mich überkamen sie auch in deinem Alter.“

„Warum bist du dir da so sicher, dass die Wahrnehmungen mich heimsuchen werden? Ich will dieses bescheuerte Sehen nicht“, gab ich trotzig zurück.

„Ich weiß es einfach, Ella“.

„Hör mir damit auf, ich weiß es einfach“, äffte ich sie nach.

„Ella, was ist denn heute mit dir los?“

„Die Leute reden über dich. Sie tuscheln und manche behaupten, dass du eine Hexe bist. Außerdem schauen sie mich ganz komisch an.“

„Ach, Pfarrer Jäger und seine Schäfchen“, stöhnte Lisanne. „Ich verstehe dich ja, dass man mit siebzehn Jahren nicht unangenehm auffallen möchte.“

„Genau, aber meine Mutter macht es mir unmöglich.“

„Ella, es gibt auf der Insel auch Menschen, die froh darüber sind, wenn ich ihnen durch meine Gabe helfen kann. Weil ich sehe, was sie nicht sehen. Ich kann ihnen zu mehr Klarheit über sich selbst und ihre Sorgen, die sie oft zu erdrücken drohen, verhelfen.“

„Ich will das überhaupt nicht sehen, was andere nicht sehen können. Was gehen mich fremde Leute an? Ich kriege doch mit, wie viel du überlegst und wie geistesabwesend du bist, nachdem jemand deine Hilfe benötigte. Du bist erschöpft und machst mir dann keinen glücklichen Eindruck“, konterte ich. „Und was ist mit dem aufgebrachten Automechaniker vor ein paar Tagen? Er hat dich angebrüllt und dir gedroht, wenn du nicht alles für dich behältst, dann würde er … Was würde er? Dich umbringen? Sven und ich hatten Angst um dein Leben. Eine verdammte Hexe nannte er dich. Gut so, dass Sven ihm einen Tag später Hausverbot erteilte.“

„Er war eine Ausnahme. Das ist nicht immer so und das weißt du auch.“

Da hatte sie recht. Lisanne freute sich tagelang darüber, wenn sie einem Menschen helfen konnte. Aber ich wollte nicht ins Blaue Haus zum Lord. Ich wollte mit Mona Zeit verbringen. Wir zwei hätten urgemütlich in meinem Zimmer rumgehangen, hätten Gitarre gespielt und geredet.

Der Regen verstärkte sich und prasselte hämmernd auf die Autoscheibe. Kleine Windböen schnaubten an die Seitenfenster. Wir fuhren die übliche Strecke wie jeden Dienstagnachmittag zur gleichen Zeit. Bald würde sich die alte Eiche zeigen, bevor wir an dem Haus des Gitarrenlehrers vorbeikamen. Zum Lord ging es noch durch ein langgezogenes Waldstück, bis wir am herrschaftlichen Anwesen, das sich nahe der Steilküste befand, ankommen würden. Es war mittlerweile das einzige blaugestrichene Haus auf der ganzen Insel Berse. Kehrte früher ein Seemann nicht vom Meer zurück, ließen die Hinterbliebenen ihre Behausungen hellblau streichen. Das Zeichen dafür, dass der Ozean den Leichnam in sich aufnahm.

Die Inselbewohner mieden das Blaue Haus, da es darin spuken solle. Keiner wusste, ob der Hausherr ein echter Lord war. Er hatte nie behauptet, ein Adeliger zu sein, widersprach dieser Annahme aber auch nicht. Seine aristokratische Ausstrahlung veranlasste die Einheimischen, ihm diesen Titel zuzuschreiben.

„Falls wirklich die Wahrnehmungen kommen sollten, dann drücke ich sie einfach weg“, sagte ich mürrisch und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

„Meinst du, ich hätte das nicht versucht. Ella, da wirst du nicht weit kommen.“

„Was meinst du damit?“

„Du kannst die Wahrnehmungen bis auf einen gewissen Rest wegdrücken, aber dann wird dir ein großer Teil deiner selbst fehlen. Du wirst früher oder später unzufrieden, wenn du deine Gabe nicht lebst. Das musste ich selbst leidvoll erfahren. Ich machte vieles falsch, weil ich sie nicht beachtete. Die Stimme der Gabe versuchte, mir leise ins Ohr zu flüstern, und ich überhörte sie willentlich. Ella, auf Dauer kannst du die Gabe nicht ignorieren. Dies würde bedeuten, Tür und Tor für selbstzerstörerisches Leid zu öffnen. Und nicht nur das, es könnten andere Menschen zu Schaden kommen.“ Lisanne biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe.

„Und warum muss ich unbedingt mit zum Lord? Er und sein Diener … wie heißt er noch mal?“

„Hugo, und er ist sein Butler.“

„Na dann, eben sein Butler. Die beiden sind mir unheimlich. Sie benehmen sich nicht nur eigenartig, sondern sehen die Leute auch merkwürdig an. Die anderen in der Klasse nennen sie die Halloween-Geister vom Blauen Haus.“ Ich schüttelte mich demonstrativ und verzog das Gesicht zu einer Ekel-Grimasse.

„Nur, weil du sie nicht näher kennst.“

„Wenn du alles siehst und weißt, dann kannst du mir doch helfen, falls die Wahrnehmungen wirklich bei mir zum Vorschein kommen sollten? Warum also zum Lord?“

„Ich sehe nicht alles und weiß auch nicht viel. Doch der Lord kennt sich in der Zwischenwelt aus. Er nimmt viel mehr wahr als ich. Er kann dir Dinge erklären, von denen ich ahnungslos bin. Er ist eine weise, alte Seele, genau wie sein Butler Hugo.“

„Zwischenwelt“, zischte ich verächtlich. Was sollte das schon wieder sein? Mich interessierte diese Welt nicht.

Der Regen trommelte immer heftiger gegen die Autoscheibe. Lisanne schaltete die höchste Stufe der Scheibenwischer ein. Es half nicht viel. Der Regenguss stürzte gleich den Niagarafällen die Frontscheibe herunter und behinderte die Sicht erheblich. Die Windböen rissen die Blätter von den Bäumen und wirbelten sie wild durch die Luft. In der beginnenden Dämmerung nahm dieser Blättertanz gespenstische Züge an. Wind und Regen drückten einen bunten Blätterteppich auf die Straße.

„Dann kann ich doch erst zum Lord, wenn es so weit ist? Da brauche ich doch nicht heute Nachmittag zu ihm fahren?“ Wehmütig dachte ich an Mona und die verpassten Stunden mit ihr. Ich sehnte mich nach ihrem sonnigen Lachen, ihrer guten Laune bei einem gemeinsamen Tee und behaglichem Kerzenlicht. Der Zorn darüber, dass ich gezwungen war, in diesem blöden Auto zu sitzen und Lisanne mich zu einem Menschen schleppte, der mir unheimlich erschien, ließ mein Blut brodeln.

„Ella, die Zeit drängt. Glaube mir, es ist besser so. Außerdem wirst du mehr wahrnehmen als ich. Da kann ich dir beim besten Willen nicht weiterhelfen. Ella, ich hab dich lieb. Darum nehme ich dich mit zum Lord, weil ich dich liebe und möchte, dass du nicht so leiden musst wie ich, da ich in deinem Alter keinen Menschen hatte, der mir die angstmachenden Wahrnehmungen erklären konnte.“ Lisanne streckte die Hand nach mir aus, um mich am Oberarm zu berühren.

Ich stieß sie brüsk weg.

Sie sah kurz zu mir herüber. Zu lange! Zwei Schafe huschten aus den Büschen auf die Straße. Lisanne versuchte auszuweichen. Sie stieg heftig auf das Bremspedal.

Die Reifen quietschten.

Das Auto schlitterte auf dem Blätterteppich. Es drehte sich.

Die alte Eiche stoppte uns frontal.

Ein schmetterndes, grelles Krachen bohrte sich in die Ohren.

Eine feste, weiße Wolke schoss auf mich zu. Mein Gesicht und Oberkörper prallten auf den Airbag. Dunkelheit hüllte mich ein.

Ein Luftstrom fuhr schneidend über meine linke Wange. Ein Brummen schwirrte unheilvoll im Kopf, und ein höllisches Brennen in der Lunge behinderte das Einatmen. Nach einem dröhnenden, metallischen Donnern und Vibrieren des Autos verschwand der Luftzug. Der Schmerz nahm zu, bis ins Unerträgliche. Ich sah zu Lisanne. Sie lag blutüberströmt auf dem Lenkrad. Ihre Augen starrten mich leer an. Kein Airbag! Nein! Die Schmerzen und eine Benommenheit hinderten mich daran, mich aufzurichten. Die Autotür auf meiner Seite quietschte quälend. Kälte drang ins Auto. Ich stöhnte auf.

„Verdammt, die nicht!“, sagte eine heiser krächzende Männerstimme. Mit größter Kraftanstrengung drehte ich mich zur Stimme, kam jedoch nicht weit. Das Schwarz überfiel mich erneut.

„Ella, Ella“, hörte ich dumpf. „Hallo, hier Heinrich Seifert. Kommen Sie bitte, schnell! An der alten Eiche ist ein Unfall passiert. Zwei Verletzte. Mmh … ja ist gut.“ Ich erkannte die Stimme, sie gehörte Bens Pflegevater.

„Ella, nicht einschlafen“, befahl Heinrich. „Oh, Gott!“

Das schmerzfreie Schwarz bemächtigte sich meiner wieder. Doch ein unerträglich stechender Schmerz im Brustraum ließ mich aufschreien.

„Das tut jetzt weh, aber wir müssen dich auf die Trage heben“, erklärte ein Mann mit weißer Hose und roter Rettungsjacke.

„Lisanne … Mama?“, schwer und kraftlos kamen mir die Worte über die Lippen.

„Wir kümmern uns um sie“, antwortete der Sanitäter.

Eine benommene Lähmung überkam mich. Doch ein Schrei, der die pure Verzweiflung und eine vernichtende Hoffnung in die Nacht entließ, ließ jede Faser meines Körpers erbeben.

„Nein!“, schrie Sven. „Lisanne, Lis!“

Die Halsmanschette hinderte mich daran, den Kopf in die Richtung zu drehen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er auf dem Boden kniete und sich über Lisanne beugte. Der Sanitäter sagte doch, dass sie sich um Lisanne kümmern würden. Ich verstehe das nicht! Es war das erste Mal, dass ich Sven schluchzen hörte. Ein schleichendes, beklemmendes Gefühl, die Gewissheit, dass sie tot war, kroch mir in die Brust, die sich nicht weiten konnte, um genug Atemluft aufzunehmen. Krampfhaftes Weinen überfiel mich. Die Luft erreichte nicht mehr die Lunge. Ich ersticke! Ich ersticke! Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte ich nach Sauerstoff. Die Panik wurde urplötzlich, ohne jeden Übergang, von einer Erleichterung und tiefen Ruhe abgelöst. Keine Schmerzen, kein Brennen in der Lunge plagten mich. Ich hatte das Gefühl, dass ich leicht wie eine Feder schwebte. Lisanne beugte sich lächelnd über mich. Ihr Körper flatterte durchscheinend und ihre Konturen verschmolzen mit der Luft, als ob sie eine Einheit wären. Es war alles in Ordnung, genau so, wie es jetzt passiert. Sie bot mir ihre Hand an und bedeutete mir, mit ihr zu kommen.

Der ältere Sanitäter brüllte etwas, das ich nicht verstand, und wenig später umschloss eine Sauerstoffmaske meine Nase und den Mund. Die Luft drang in die Lunge und zwang sie, den Sauerstoff aufzunehmen. Ein Ruck durchfuhr mich und die Schmerzen und das Brennen wurden übermächtig. Die Erleichterung schwand und die Angst nahm wieder überhand. Die Panik in meinen Augen alarmierte den Sanitäter.

„Ruhig atmen. Wehr dich nicht dagegen, dann wird es leichter.“ Doch die Worte verfehlten ihre Wirkung und die angstvolle Beklemmung trieb mir Schweißperlen auf das Gesicht. Mir wurde schwarz vor den Augen.

„Ella!“ Sven stürmte ins Krankenhauszimmer. „Ella, es tut mir leid. Als ich an der Unfallstelle nach dir fragte, sagten sie mir, dass sie dich schon ins Krankenhaus gebracht hätten.“ Seine geröteten Augen sahen mich verloren an. Er wich meinem forschenden Blick aus und umfing mich liebevoll mit seinen Armen.

„Ella, es tut mir leid.“ Seine zittrige Stimme verriet, dass er versuchte, seine Tränen zu unterdrücken. Kraftlos hauchte er mir einen Kuss auf das Haar.

„Ella, Schatz … jetzt musst du … stark sein.“ Er wiegte uns beide hin und her, wie das Meer die Wellen schaukelt. Da brachen die Tränen aus ihm heraus. Sie benetzten meine Stirn und trieben mir meine in die Augen. Dass, was er zu sagen hatte, wollte ich nicht hören. Wir weinten über das Endgültige, das man nicht mehr ändern konnte: Lisannes Tod. Sven und ich blieben allein zurück. Unsere Körper schüttelten sich vor Schmerz und die Tränen schwollen zu Flüssen an, die das wiegende Meer in sich aufnahm. Er presste seinen Kopf auf meine Schulter. Seine Umarmung wandelte sich zu einer Umklammerung. Sie schmerzte und ich bekam kaum Luft.

„Ella es tut mir leid, dass ich am Unfallort nicht für dich da war. Aber …“

„Lisanne ist tot“, presste ich mit letzter Atemluft heraus. Er zog mich eng an seine Brust.

Er schluchzte. „Wir werden sie nie wieder sehen.“ Seine Arme hielten an mir, als wollte er mich im Leben niemals mehr loslassen. Sie zurrten meinen Körper wie einen zusammengerollten Schlafsack zusammen.

„Autsch!“ Er ließ sofort ab von mir. „Die Prellungen … sie tun weh, wenn du mich so fest umarmst“, gestand ich ihm.

„Entschuldige.“ Er umarmte mich behutsamer.

„Ist schon in Ordnung.“ Ich bekam wieder besser Luft, doch die Prellungen schmerzten, trotz des sanften Wiegens. Ich erfühlte, dass er dieses Schaukeln brauchte. Er suchte Geborgenheit in einer Situation, die er nicht begreifen konnte. Seine Trauer und Hoffnungslosigkeit überschwemmten mich. Ich hatte keine Macht, sie zu stoppen. Sie vermischten sich mit meiner Traurigkeit. Doppeltes Leid und Schuldgefühle lösten in mir eine seelische Regungslosigkeit aus wie die Ruhe vor dem Sturm. Zum einen verschmolzen unsere Gefühlswallungen zu einem gemeinsamen Wesen, andernteils saß ich in einem durchsichtigen Kokon und betrachtete uns zwei aus einer neutralen Position heraus. Schweigsam versuchten wir, uns gegenseitig in Stille zu trösten.

Doch dann musste es raus aus mir. Die Gewissensqualen breiteten sich wie eine Quallenseuche aus und brannten unbarmherzig tief in der Seele. Mit Sicherheit würde Sven mein Verhalten verstehen und mir Trost zusprechen. Er würde mich davon überzeugen, dass ich nicht schuld am Unfall sei. Väter verhielten sich gegenüber ihren Töchtern nachsichtig. Ich sehnte mich nach einer Absolution, die nur er mir geben konnte.

„Sven, mir tut es so leid“, schluchzte ich.

„Was tut dir leid, Ella“? Ich schnappte nach Luft und jedes Schnappen verstärkte meinen körperlichen und seelischen Schmerz. „Ich … ich …“ Doch der Seelenschmerz besaß eine unermessliche Wucht und ließ die Worte verstummen. Ich weinte in mich hinein. Ein nicht kontrollierbares Zittern erfasste mich.

„Ella, ganz ruhig.“ Sven strich mir tröstend über den Rücken. „Erzähl mir ganz langsam, was passiert ist. Beruhige dich. Ich hab dich lieb.“

Ich hab dich lieb. Diese vier Worte sagte auch Lisanne, kurz vor dem Unfall und jetzt ist sie tot.

„Lisanne und ich … wir haben uns gestritten und dann, dann …“, ich heulte auf.

„Was?!“ Er hörte ruckartig auf, meinen Rücken zu streicheln. Ich bemerkte seine körperliche Anspannung. Sven bemühte sich, gefasst zu bleiben. „Und dann?“

„Dann sagte sie mir, wie lieb sie mich hätte. Aber ich war, ich war so …“, luftringend schluchzte ich auf.

„Was warst du?“ Er packte schmerzend meine Oberarme.

„Ich war so sauer auf sie. Lisanne wollte mich am Arm streicheln und ich stieß sie weg … und dann kamen die Schafe.“ Der Unfall spielte sich vor dem inneren Auge nochmals ab. Der sintflutartige Regen, die tanzenden Blätter, der Blätterteppich, die Schafe, das Rutschen des Autos, das ohrenbetäubende Quietschen der Bremsen, die alte Eiche, das schmetternde, grelle Krachen, der Airbag. Die heiser krächzende Stimme: „Verdammt, die nicht!“ Bens Vater, der nach Hilfe telefonierte. Svens Schreie. Lisannes durchscheinende Gestalt und ihre Aufforderung, mit ihr zu kommen. Mein Körper bebte.

„Du hast was?!“ Er sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.

„Hätten wir uns nicht gestritten und sie ihre Hand am Lenkrad gelassen, wäre der Unfall vielleicht nicht passiert. Ich bin schuld, dass Lisanne tot ist! Hätte ich die Abfahrt nicht absichtlich hinausgezögert, dann hätten wir die Schafe verpasst.“ Hätte, hätte! Ich ließ den Kopf hängen und zerfloss in Tränen. Schuldbewusst sah ich zu Sven auf. Sein entgeisterter Gesichtsausdruck jagte mir einen Schauder ein. Er haderte mit sich, mit der Welt, mit seiner Tochter. Ein giftiger Stachel durchbohrte sein Herz und verbreitete sein Gift erbarmungslos. Das Gift hieß Wut.

„Du hast was?!“ Sein Tonfall klang härter, verständnisloser, kühler. Er stand auf, fuhr mit der Hand durch sein mittelblondes, welliges Haar und schlürfte entkräftet zum Fenster. Er sah hinaus in die Dunkelheit. Sein Gesicht spiegelte sich in der Fensterscheibe, und es war beklemmend, was ich darin sah. Sven presste mahlend seine Kiefer zusammen und der Missmut eroberte seine Augen.

„Warum warst du sauer?“ Sein sachlicher Ton verriet mir, dass er versuchte, die Situation, das Geschehene zu ordnen.

„Lisanne wollte mich zum Lord schleppen. Aber ich wollte mich lieber mit Mona treffen.“

Sven sah es nicht gerne, wenn Lisanne zum Lord fuhr. Die Leute auf der Insel lästerten über ihn und seinen Butler. Das Gerede war nicht die beste Werbung für seine Tierarztpraxis. Außerdem empfand er die spirituellen Ansichten wie ein fremdes Land, deren Sprache er nicht verstand. Er und Lisanne redeten kaum über ihre Wahrnehmungen. Aber er sah auch, dass sie nach einem Besuch vom Lord ausgeglichener und unbeschwerter zurückkam.

„Und deswegen musstest du unbedingt mit ihr streiten? Wegen so einer Kleinigkeit? Wegen so einer Belanglosigkeit musste Lisanne sterben?“, fragte er mit bebender Stimme.

Beim letzten Satz rammte sich ein imaginäres Messer in mein Herz.

Sven drehte sich zu mir um. „Du wusstest doch, dass Lisanne keine Streitereien während der Autofahrt mochte. Du wusstest es doch!“ Er stützte sich auf das Bett und sah mich mit einem alles durchdringenden Augenpaar an. Keine Spur mehr von Trauer. Unsagbare Wut und Fassungslosigkeit sprühten mir scharfkantig entgegen.

„Ja, ich weiß.“ Der Kopf fiel mir bleischwer auf die Brust und dicke Tränen tropften auf die makellos weiße Bettdecke.

„Du wusstest doch genau, dass Lisanne eine Vorahnung von ihrem Tod hatte. Sie sagte immer zu uns, wir sollen beim Autofahren nicht streiten. Das könnte für sie tödlich enden. Hast du denn nicht daran gedacht?“ Er schlug mit der rechten Faust auf das Fußende des Bettes.

„Nein, daran dachte ich nicht“, gab ich schuldbehaftet zu. Ich heulte auf. Mein Vater sah mich wie eine Fremde an. Sein Blick zerriss mir das Herz.

„Das darf nicht wahr sein!“, schrie er.

„Es tut mir so leid. Ich weiß, ich bin schuld, dass Lisanne tot ist. Es tut mir so leid“, schluchzte ich. Dann gab er zwei Worte von sich, die mich bis ins Mark trafen.

„Ja, Ella.“ Sonst nichts.

Ich sah ihn verwirrt an. Er erteilte mir nicht die flehentlich erhoffte Absolution. Im Gegenteil! Er stieß mich mit voller Wucht in den schwarzen Abgrund der Verdammten. Reue stieg in mir auf, dass ich Lisannes Hand nach dem Unfall nicht annahm – ein zweites Mal – und ihr nicht ins Totenreich folgte. Dort wäre es mir todsicher besser ergangen. Sven würde nicht nur um seine Ehefrau, sondern ebenso um seine geliebte Tochter trauern.

Er schlug zornig mit seiner Faust auf das Fußteil des Bettes und verließ Hals über Kopf das Zimmer, ohne sich nochmals umzudrehen.

An diesem Tag starb nicht nur meine Mutter, wenige Stunden später verlor ich auch meinen Vater.

Kapitel 2

„Ich bin schuld! Ich ganz allein bin schuld!“ Mona legte ihre wohlig warmen Hände auf meine eiskalten und stoppte mit ihrer Berührung das elende Mantra, das seit Tagen im Kopf umherwirbelte. Die innere Kälte, welche mich nach dem Unglück heimsuchte, verband sich mit der fröstelnden Atmosphäre der alten Backsteinkirche.

Mona, meine beste Freundin, saß treu neben mir. Ich sah sie an und versuchte, ihre freundschaftlichen Gefühle mir gegenüber zu erfassen. Doch ein grau wabernder Schleier, der mich umgab, trennte uns.

„Hätte ich doch nur nicht mit Lisanne gestritten …“ Der Druck in der Brust befreite sich durch ein stotterndes Schluchzen. „… dann würde sie noch leben.“

„Nein Ella, das darfst du nicht sagen. Du bist nicht schuld.“ Mona versuchte, mit einem tröstenden Reiben meine Hände zu wärmen. Doch diese Kälte kroch aus der Tiefe meiner Seele. Schneidend, schmerzend, kristallisierend, betäubend. Keine äußere Wärmequelle war in der Lage, sie zu bezwingen.

„Doch, ich allein bin schuld.“ Ihre gutgemeinte Absolution wollte ich nicht hören. Schuldig, im Sinne der Anklage! Da gab es nichts zu rütteln. „Hätte ich …“ Die Kehle bemühte sich, mit einem erstickenden Schmerz die Worte herauszupressen.

„Du hättest nichts tun können.“ Sie umarmte mich sanft. Ein Zittern durchfetzte meinen Körper. Wieder einmal. Es war das Köpermantra, welches unerbittlich an den letzten Kraftreserven zerrte. Schüttelnd schmiegte ich mich an ihre weichen, roten Locken. Ich liebte Monas Sommersprossen und ihre warmherzigen braunen Augen. Bisher verkörperte Mona jede Minute einen wärmenden Sonnenschein, nur heute erreichte ihre Wärme mich nicht.

„Das ist nur ein Albtraum“, flüsterte ich und senkte die Augenlider. Hoffnung keimte auf, dass mich dieser Traum gefangen hielt, und wenn ich aufwachte, alles beim Alten war. Langsam öffnete ich die Augen. Die Tränen verwandelten die Welt in einen verschwommenen, dunkelgrauen Schleier. Ich blinzelte und betete beschwörend, in meinem Bett aufzuwachen. Lisanne würde gleich an der Zimmertür klopfen und hereinkommen. „Mein kleiner Delfin, aufwachen, dass Frühstück ist fertig. Hab dich lieb“, würde sie mich mit sanftmütiger Stimme wecken.

Durch das Blinzeln verschwand der Augenschleier. Ich saß immer noch in der Kirche. Verdammt! Ich schaute an Mona vorbei. Sven saß behütet zwischen seinen Eltern Margit und Harold. Margit streichelte ihrem Sohn unaufhörlich den Oberarm und redete tröstend auf ihn ein. Harold sah mit versteinertem Blick zum aufgebahrten Sarg. Mona ließ mich nicht im Stich, im Gegensatz zu Sven. Normalerweise tröstete der Vater seine Tochter, wenn die Mutter für immer gegangen ist. So wie seine Mutter ihm jetzt zur Seite stand.

Ein schneidender Biss in der Brust ließ mich zusammenzucken, er trieb mir heiß beißende Tränen aus den Augen, welche die eiskalten Wangen zu verbrennen drohten. Mona tätschelte mir den Rücken und ihr sanftes Wiegen beruhigte meinen Atem. Doch nach einer Weile überkam mich ein Schwindel und ich löste mich aus ihrer Umarmung. Matt lehnte ich mich an die Banklehne. Ich musterte das schlicht gehaltene Kreuz, welches schwebend hinter dem Altar ruhte. Lieber Gott, warum hast du meine Mutter sterben lassen? Wieso gerade Lisanne? Warum nicht ich? Du kannst kein liebender Gott sein! Sie ist, sie war eine Seele von Mensch. Sie half den Inselbewohnern von Berse unermüdlich, ging dafür bis an ihre Grenzen und darüber hinaus. War es ein belastendes Gespräch, saß sie wenig später wie ein zusammengekauertes Häufchen Elend auf der roten Couch in ihrem Atelier, inmitten ihrer selbstgemalten, farbenfrohen Werke. „Die Bilder geben mir Kraft und Klarheit“,sagte Lisanne im Flüsterton, wenn ich ihr einen Ginsengtee zubereitete, damit sie ihre geistige Erschöpfung überwinden konnte. Aber es dauerte in der letzten Zeit Mal für Mal länger, bis sie sich von den Geheimnissen der Inselbewohner und den außersinnlichen Wahrnehmungen erholte. Vor allem nach kräftezehrenden Gesprächen vergingen drei Tage, bis ich meine lebenslustige und kraftstrotzende Mutter wieder hatte. Ich hasste es, wenn die Leute kamen, um ihre Sorgen mit Lisanne zu besprechen, und ich hasste es, wenn Lisanne diese Leute ins Haus ließ. Ich möchte niemals sehend sein. Niemals! Das tue ich mir nicht an! Ich werde mich dagegen wehren, und wenn es das Letzte ist, was ich im Leben vollbringe! Genau aus diesem Grund wollte ich nicht zum Lord. Wut stieg in mir hoch, doch die zähe Traurigkeit ließ sie nicht weit kommen und erstickte sie, bevor sie die Kehle erreichte, um meinen Groll in die Welt, in das Universum, in Gottes Himmel hinauszuschreien.

Das flackernde Licht der vier großen, weißen Kerzen, welche den aufgebahrten Sarg flankierten, zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Kerzen kamen ihrer Aufgabe nicht nach, etwas Tröstendes und Lichtbringendes auszustrahlen. Lisannes Lieblingsblumen, weiße Rosen, lagen, zu einem Kranz gebunden, auf ihrem Sarg. In dieser pechrabenschwarzen Holzkiste ruhte meine Mama, gebettet auf einem weißen Kissen mit Spitze. Ich stellte es mir darin eng, einsam, stockfinster und bitterkalt vor. Mich schauderte es bei dem Gedanken, dass sie dort für ewig eingesperrt sein wird. Ich hätte Lisanne eingeäschert und ihre Asche ins Meer gestreut. Dann wäre sie frei. Doch Sven überhörte meine Einwände. Seit dem Streit im Krankenhaus sprach er mit mir kein einziges Wort mehr. Für ihn war ich nicht mehr anwesend. Nicht hörbar. Unsichtbar!

Ich stellte mir vor, wie sich der Sarg öffnete und Lisanne nach Luft schnappte. Sie würde sich aufsetzen, den süßlich weichen Duft der beigelegten Rose mit einem langen Atemzug in sich aufnehmen und sich mit einem Lächeln an die Trauergemeinde wenden. Sie würde den erstarrten Menschen erklären, dass sie sich nur ein bisschen ausgeruht hätte und nicht tot sei.

„Ich bin schuld! Ich ganz allein, bin schuld! Hätte ich doch nur nicht …“ Die Schuldgefühle verschluckten den restlichen Satz. Ich wollte diesen unendlichen Schmerz verbannen. Ich wollte zu einem unscheinbaren, grauen Stein werden. Denn Steine fühlten sich nicht schuldig. Die Gedanken trugen mich zu meinem Beschützerfelsen an der Steilküste. Ich liebte diesen graubraunen Riesen. Er war Stütze und Halt zugleich. War mir die Welt zu viel, schottete er mich davon ab und gewährte mir, mit ihm eins zu werden. Langsam glitt ich in den Felsen hinein. Doch bevor ich ein Teil von ihm wurde, schleuderte mich eine mir verhasste Stimme aus diesem Zustand.

„Liebe Gemeinde, wir sind hier versammelt, um Lisanne Wagner die letzte Ehre zu erweisen.“ Meine Augen verschmälerten sich. Ich war dankbar für die Tränenwand, denn so war ich nicht gezwungen, Pfarrer Jäger anzuschauen.

„Oh, Gott“, stöhnte Mona.

„Lisanne Wagner hinterlässt ihren Ehemann Sven und ihre Tochter Ella. Sie kam vor fünfzehn Jahren mit ihrer Familie in diese Gemeinde. Ihre Leidenschaft gehörte der Kunst, der Malerei, im Besonderen der abstrakten Kunst.“ Pfarrer Jäger räusperte sich und legte eine Pause ein. Ich erspürte, wie seine Augenpaare die Trauergäste musterten, und seine unverhohlene Verständnislosigkeit, denn abstrakte Malerei betrachtete er nicht als Kunst. Sinnlose Hirngespinste, ohne Ordnung, ohne Sinn, auf die Leinwand gebracht, so sah er ihre Bilder.

„Nun ja, wir alle wissen, dass Künstler eine reiche Fantasie besitzen, so auch Lisanne Wagner. Sie liebte Tiere, besonders ihre schwarze Katze Lisha, welche sie auf Schritt und Tritt begleitete und dies schon unheimlich anmutete.“

„Dieser Mistkerl, jetzt fängt er schon wieder damit an“, flüsterte Mona.

Der unbarmherzige Gottesvertreter machte nicht einmal bei ihrer Beerdigung einen Hehl daraus, dass er Lisanne als eine moderne Hexe sah. Eine Abtrünnige, die versuchte, seine Schäfchen für sich zu gewinnen. Mit entrüsteter Fassungslosigkeit bemerkte er, dass einige Mitglieder seiner Gemeinde nicht mehr zu ihm kamen, um sich Rat zu holen, geschweige denn die Beichte abzulegen.

„Diese Liebe zu Tieren teilte sie mit ihrem Ehemann Sven und assistierte ihm in der Tierarztpraxis.“ Er hielt für ein paar Sekunden inne. „Lisanne Wagner war keine Christin im herkömmlichen Sinne. Sie glaubte nicht an Gott, so wie wir. Künstler denken nun mal anders. Lisanne Wagner sah Dinge, die wir nicht sehen konnten und die offenkundig auch nicht existierten. Sie bewegte sich auf einem schmalen Grat zwischen Gottesglauben und Okkultismus.“

Das Raunen der Trauergemeinde schwappte wellenförmig vom hinteren Trakt zum Altarraum.

„Das darf jetzt nicht wahr sein“, maulte Mona halblaut. „Der rechnet mit Lisanne ab. Dieser Mistkerl!“

„Nun ja, Gott liebt alle Menschen“, versuchte Pfarrer Jäger, die Trauernden zu besänftigen. „Liebe Gemeinde, wir wollen für die Verstorbene beten.“ Mit monotoner Stimme murmelte er ein Gebet, die Trauergäste beruhigten sich und stimmten mit ein.

Seine Worte erreichten mich nicht, denn meine Seele flog zum Beschützerfelsen, um sich mit ihm zu verbinden. Langsam glitt ich in ihn hinein und würde sein steinernes Herz erreichen, das sich stumm bereiterklärte, mich in sich aufzunehmen. Ich hatte es fast geschafft.

„Ella?“ Mona stupste meinen Oberarm.

„Nun wollen wir den Leichnam der Erde übergeben“, hörte ich den Pfaffen salbungsvoll sagen.

Mona half mir auf und stützte mich. Ich kam nur steif und schleppend in Bewegung. Wir schlurften zum Kirchenausgang. Die abstrahlende Schwermut, der in den Bankreihen stehenden Trauergäste, empfand ich wie bleischweres Wasser, tief am Meeresgrund liegend. Mich erdrückten diese dunklen, düsteren Meeresmassen. Jede Körperbewegung kostete endlos viel Kraft. Die Beine knickten mir kurz weg. Mona griff mir rechtzeitig unter die Arme, bevor meine Knie auf den Steinboden knallten.

Vier Männer schulterten den Sarg über den schmalen Kiesweg. Margit und Harold nahmen Sven in ihre Mitte, um ihn bei diesem schweren Gang zu stützen. So wie sich eben fürsorgliche Eltern verhielten. Margit drehte sich hin und wieder um und nickte mir mit besorgtem Ausdruck zu. Ihr Augenpaar wanderte dankbar zu Mona weiter. Mir war es recht, mit meiner Freundin die zweite Reihe zu bilden. Ich könnte es nicht ertragen, direkt hinter dem Sarg zu gehen. Die trauernde Gemeinde schlürfte uns ergeben hinterher.

Mir fielen die bunten Blumen auf den Grabstellen ins Auge. Die Angehörigen putzten die Grabstätten vor Lisannes Beerdigung auf, um ihrer Dahingeschiedenen zu gedenken und sich selbst Trost zu spenden.

Die Pflanzen weckten in mir eine Erinnerung. Ich war acht Jahre alt. Lisanne und ich lehnten an einem Apfelbaum und bestaunten die Blumenwiese. Drei Tage vorher starb die Mutter meines Schulfreundes Martin. Ich hielt es damals in seiner Nähe fast nicht aus. Die Traurigkeit und die Verbitterung von ihm waren so unermesslich, dass sie mich in einen schwarzen Sog hineinzuziehen drohten.

„Mama, warum müssen Menschen sterben?“, fragte ich Lisanne.

„Na, stell dir mal vor, kein Mensch, kein Tier würde sterben. Wir zwei könnten dann nicht unter dem Apfelbaum sitzen und über diese wundervolle Blumenwiese staunen. Die Wiese wäre voll mit Menschen und Tieren. Sie würden ganz eng nebeneinanderstehen und sich berühren. Kein Grashalm, keine Blume hätte Luft und genügend Licht zum Wachsen.“

„Aber ich will nicht, dass du sterben musst.“ Ich lehnte mich an Lisanne und umarmte sie ganz fest, als vermochte ich sie dadurch vor dem Tod zu retten. Wie kindisch!

Sie küsste sanft mein Ohr. „Mein kleiner Delfin, ich bin doch da und so schnell werde ich nicht sterben.“ Lisanne nannte mich oft kleiner Delfin, da er die Fähigkeit besaß, unter und über Wasser, in zwei verschiedenen Welten, zu leben.

„Und Papa auch nicht?“

„Ella, der Tod ist nicht das Ende, er ist nur ein Übergang in eine andere Form des Lebens. Der Mensch verliert seinen Körper, aber niemals seine Seele.“

„Martin kann seine Mama nicht mehr umarmen“, sagte ich traurig.

„Nicht mehr mit seinen Armen, aber mit dem Herzen, wenn er an sie denkt.“

„Ich will, dass du ganz, ganz, ganz lange lebst, Mama. Ich will dich ganz, ganz, ganz viel umarmen.“ Ich presste mich an sie.

„Natürlich lebe ich ganz, ganz, ganz lange. Ich muss schließlich eine wichtige Aufgabe erfüllen.“

„Und welche Aufgabe ist das?“, fragte ich neugierig.

„Dir zu helfen, die Welt zu verstehen und dich und Papa lieb zu haben. Und die allerwichtigste Aufgabe ist natürlich …“, ihre Augen blitzten schelmisch auf, „… dich zu kitzeln.“

Ich erlebte nochmals die Herzenswärme von jenem Tag, welche uns beide verband. Eine unendliche Sehnsucht nach Lisanne überkam mich. Ein zuckendes Stechen durchfuhr die Brust bei dem Gedanken, dass ich ihr meine Liebe niemals mehr zeigen konnte. Die Lunge weigerte sich, Luft aufzunehmen. Die Farben der Grabblumen tanzten taumelnd vor den Augen. Ich sackte weinend zusammen. Mona fing mich diesmal nicht kurz vor dem Boden auf, und die Kieselsteine bohrten sich schmerzhaft in die Knie.

„Ella, Ella! Mein Gott, das arme Mädchen“, hörte ich Margit kläglich besorgt. Die Schuld war erdrückend schwer und stieß mich in ein Meer der Tränen, in dem ich versank und zu ertrinken drohte. Ich sollte im Sarg liegen. Ich sollte ins Erdreich versenkt werden, nicht Lisanne. Ich war schuld an Lisannes Tod. Eine wellenförmige Wärme in der rechten Schulter unterbrach mein qualvolles Mantra. Sie breitete sich im rechten Lungenflügel aus, erfasste das Herz und durchflutete den linken Flügel der Lunge. Das schmerzliche Atmen verschwand und eine verzeihende Ruhe löste das Mantra ab.

„Ella, du schaffst das“, hörte ich eine ältere Männerstimme. Mit dem Blick der Stimme folgend, erkannte ich den Lord. Ich versuchte, mich von ihm abzuwenden, aber es war mir unmöglich. Seine graublauen Augen strahlten eine unvergleichliche Klarheit aus, die mir Mut schenkte und Kraft gab, wieder aufzustehen. Mona und Margit halfen mir auf die wackeligen Beine.

„Du schaffst das, Ella“, hörte ich ihn nochmals sagen, ohne dass er seine Lippen bewegte. Verwirrt sah ich ihn an. Doch dann stieg eine bittere Wut in mir auf. Wären wir nicht auf dem Weg zu ihm gewesen, hätten Lisanne und ich uns nicht seinetwegen gestritten. Folglich kein Unfall!

„Lassen Sie mich in Ruhe!“, zischte ich ihn an und sah hilfesuchend zu Mona.

„Ella, Engelchen, beruhige dich“, versuchte Margit mich zu besänftigen.

„Du schaffst das, Ella“, sagte der Lord eindringlich zu mir. Ich drehte mich zu ihm, doch er war verschwunden, und der schneidende Schmerz eroberte sich seinen Platz im Brustraum zurück.

Der Trauerzug setzte seinen Weg fort und erreichte das ausgehobene Grab. Die Sargträger ließen den Sarg in die kohlrabenschwarze, feuchte Erde gleiten. Mona und Margit waren stützend an meiner Seite. Ich sah zu Sven herüber. Mit versteinerter Miene stand er vor dem Grab. Zumindest er schaffte es, ein Stein zu sein. Neid überkam mich bei seinem Anblick. Unsere Blicke kreuzten sich kurz. Und da war sie wieder, die Anklage in seinen Augen und die Frage des Warums. Ich erfühlte, dass er es nicht fassen konnte, dass er seine geliebte Frau für immer verlor und dass sein eigen Fleisch und Blut Mitschuld daran trug. Er verstand offenbar nicht, dass seine Tochter ihre Mutter verloren hatte.

Die zahlreichen Beileidsbekundungen nahm ich gedämpft durch einen dichten Nebel wahr. Ich beamte mich zu meinem Beschützer, dem Felsen an der Steilküste. Er sprach keine unsinnigen Worte. Im Geiste lehnte ich an ihm und erspürte seine Sicherheit. Wir verschmolzen miteinander, wurden eins. Die Stille umschloss meine geschundene Seele wie ein Schutzschild und beschützte sie vor der elenden Traurigkeit. Eine starre Ruhe erreichte mein Herz. Endlich! Dafür war ich dem Beschützerfelsen dankbar.

Ein blitzartiges Stechen im Arm riss mich aus dem Felsen heraus. Ich stand wieder vor dem offenen Grab. Margits lange Fingernägel bohrten sich, trotz gefütterter Jacke, in die Haut. Sie nahm die Beileidsbekundung eines mir fremden Mannes mit belegter, rauer Stimme und einem roten Schal entgegen. Sie klammerte sich an mir fest. Nun war ich es, die sie stützte. Ihre Unsicherheit, gepaart mit einem erstarrenden Erstaunen, durchzuckte mich wie ein elektrischer Schlag. Mir war es zu viel und mein Geist flog wieder zum Beschützerfelsen zurück.

Kapitel 3

„Lisanne! Nein!“ Mein eigener Schrei ließ mich aus dem Albtraum vom Unfall aufschrecken. Mein Schlafanzug klebte nasskalt auf der verschwitzten Haut. Die Uhr zeigte schon Elf. Margit rief heute nicht zum Frühstücken. Gut so, dann blieb mir Svens griesgrämiges Gesicht erspart. Beim gestrigen Frühstück bemerkte ich, dass seine Haare stellenweise über Nacht ergrauten. Seine standardmäßig bronzefarbige Gesichtshaut verwandelte sich in ein fahles Braungrau. Eine ausgeprägte Querfalte grub sich in seine sonst glatte, hohe Stirn. Zwei tiefe Falten furchten sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Seine gewinnenden, lächelnden Lippen mutierten zu einer zusammengepressten, sich nach unten ziehenden Linie. Sven alterte über Nacht um Jahre. Nicht nur äußerlich. Er veränderte sich von einem lebenslustigen, optimistischen Mittvierziger zu einem übellaunigen, alten Mann. Missmutiger und betagter als sein Vater Harold. Und das hieß schon etwas.

Der Herbstwind zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Er rüttelte energisch an den Fensterläden und rupfte die letzten Blätter von den Bäumen. Der Regen prasselte hypnotisch an die Fensterscheibe.

Ich kuschelte mich in die Bettdecke und wollte für den Rest meines Lebens das Bett nicht mehr verlassen. Doch der Magen gab klägliche Flehlaute von sich und bettelte nach irgendetwas Essbarem. Widerstrebend beschloss ich, runter zur Küche zu schlurfen, um eine Kleinigkeit zu essen und damit den Magen zu beruhigen. Benommen und mühselig setzte ich mich auf die Bettkante. Mein Kreislauf stellte sich nur zögerlich auf die senkrechte Körperhaltung ein. Ich atmete schwer und stieß mich mit einem Seufzer empor. Schwankend trottete ich zur Zimmertür, öffnete sie und wackelte angelehnt an der Wand in den Flur. Vom Erdgeschoss drangen – ungewohnt lautstark – die Stimmen von Margit und Harold herauf.

„Wir hätten es Sven längst sagen müssen, dass …“, hörte ich Margit unwirsch reden.

„Nein!“, widersprach Harold hart.

„Es ist seit Jahren überfällig“, konterte sie.

„Es ist alles in Ordnung, so wie es ist. Lass es einfach gut sein, Margit.“

„Ja für dich! Du hast doch nur Angst davor, dass Sven erfährt …“

„Schrei nicht so, oder willst du, dass Ella alles mitbekommt?“

„Schrei mich nicht an! Du hast mich allein gelassen, Harold“, äußerte sie leiser, aber laut genug, dass ich es hörte.

„Ich konnte doch nichts dafür. Ich war nicht einmal dabei, als Sven …“

„Du hast mich deine Schwäche ausbaden lassen“, unterbrach ihn Margit.

„Schwäche?“, empörte sich Harold.

„Emotional hast du mich damals einfach stehen gelassen. Mich aus deinem Leben ausgeschlossen. Ich fühlte mich so einsam und verlassen.“ Ihr Tonfall verfärbte sich ins Weinerliche.

„Margit, du bist doch vor dem Problem weggelaufen.“

„Du hast mit mir nicht geredet. Ich war Luft für dich. Im Selbstmitleid hast du dich gebadet. Meinst du wirklich, Harold, dass ich nicht auch gelitten habe?“

„Jetzt beruhige dich endlich, Margit.“

„Ich, mich beruhigen? Sogar jetzt blockst du noch ab. So, wie du es immer getan hast, wenn ich mit dem Thema anfing. Aber diesmal holt uns die Vergangenheit ein. Und ich werde Sven aufklären über …“

„Das wirst du nicht! Ich verbiete es dir!“, brüllte Harold.

„Du verbietest mir überhaupt nichts mehr!“, kreischte Margit. Ein dumpfes Klappern ertönte.

„Aua! Hast du jetzt völlig den Verstand verloren. Du hast mich verletzt.“

Die schrille Haustürklingel ließ mich zusammenfahren. Harold polterte zur Haustür und öffnete sie. Seine Hand überdeckte sein linkes Ohr.

„Hallo, Mona.“

„Hallo, Harold. Ich möchte Ella besuchen. Oh, du blutest.“

„Nur ein Kratzer. Ist nicht weiter schlimm“, banalisierte er.

An der Wand lehnend, hangelte ich mich zwei Stufen herunter.

„Mona!“, rief ich runter. Sie sah zu mir herauf und ihr angestrengter Gesichtsausdruck wich einer Gott-sei-Dank-Miene.

„Ella, warte, ich komme rauf zu dir.“ Flink sprang sie die Holztreppe hinauf und umarmte mich. „Komm, lass uns in dein Zimmer gehen“, flüsterte sie mir ins Ohr.

„Gute Idee.“ Im Zimmer angekommen, übermannte mich ein Schwindel und ich plumpste ins Bett.

„Deine Großeltern sind vielleicht schräg drauf“, prustete es aus ihr heraus. „So kenne ich sie überhaupt nicht.“

„Ich auch nicht.“

„Und deine Oma erst …“ Sie pfiff gepresst durch ihre Lippen. „Ich wollte den Streit deiner Großeltern abwarten und beobachtete sie durchs Fenster. Margit hat wütend Gemüse geschnitten und dann plötzlich das Gemüsemesser nach Harold geworfen. So wie im Zirkus die Messerwerfer, du weißt schon …“ Mona warf ein imaginäres Messer in meine Richtung und schüttelte ungläubig den Kopf. „… und Harold am Ohr getroffen! Er wollte sein verletztes Ohr vor mir verstecken, aber das Blut rann ihm am Hals herunter. Margit muss ihn echt schlimm erwischt haben. Gott sei Dank ist er Arzt und kann sich fachmännisch verbinden.“ Mit dem letzten Satz versuchte Mona sich selbst zu beruhigen. Ihr hektischer Redefluss offenbarte mir ihre innere Aufregung.

„Harold ist jetzt sein eigener Patient“, sagte ich schmunzelnd. Wir lachten beide leise auf.

Harold würde ich nicht als einen aufopfernden Menschenfreund bezeichnen. Mit Menschen an sich ging er distanziert und sachlich um. Empathie war eher ein Fremdwort für ihn. Er wäre vermutlich ein ausgezeichneter Physiker oder Ingenieur geworden, allein in seiner Kammer, über ein Problem brütend.

„Weißt du noch, Mona, als wir an meinem Geburtstag Federball spielten?“

„Oh ja, daran kann ich mich noch gut erinnern.“ Sie setzte ihr Mona-Lisa-Lächeln auf. Eine behagliche Wärme breitete sich um mein Herz aus.

„Wir waren in der vierten Klasse …“

„In der dritten“, verbesserte mich Mona.

„Ja, stimmt. Ich kann mich noch an dein blaues Sonntagskleid erinnern.“

„Das war mein Lieblingskleid“, schwärmte Mona.

„Du wolltest unbedingt gewinnen. Wir hatten Gleichstand. Ich hatte einen gigantischen Aufschlag und der Federball flog weit in den Himmel. Du hattest nur noch den Federball im Blick und dabei Lisha übersehen. Sie machte einen Katzenbuckel. So habe ich sie bisher nicht mehr Fauchen gehört. Vor Schreck hast du den Schläger fallen lassen, der Lisha nur knapp verfehlte. Du wolltest über Lisha springen, bist gestrauchelt und hast dir an den Kieselsteinen die Knie und die Hände blutig geschürft.“

„Lishas verächtlichen Blick werde ich nie vergessen. Sie baute sich miauend vor mir auf und strafte mich mit einem herablassenden Bist-selber-schuld-wenn-du-nicht-aufpassen-kannst-Blick. Sie ist die einzige Katze, die ich kenne, die so etwas kann. Sie war in ihrem früheren Leben sicherlich ein Mensch.“ Mona lachte hell auf.

„Harold wollte dich verarzten. Doch du hast nur geschrien wie am Spieß. Er wusste dich nicht zu beruhigen und wurde immer ungehaltener.“

„Er sagte zu mir, dass ich endlich stillhalten solle, damit er die Wunde desinfizieren könne. Ich solle endlich aufhören zu zappeln und herumzuplärren.“

„Du bist dann heulend weggelaufen und hast Margit gefragt, ob sie dich verbindet.“

„Was sie dann mit viel Liebe und beruhigenden Worten auch tat. Kannst du mir mal sagen, warum Harold Arzt geworden ist? Das verstehe ich bis heute nicht.“ Mona legte ihre Stirn in kleine Querfalten.

„Das fragte ich Sven auch einmal. Er erzählte mir, dass es eine Familientradition sei. Sein Ururgroßvater war schon Arzt und die Familie legte Wert darauf, dass einer der Söhne den Arztberuf ausübte. Da Harold das einzige Kind, der einzige Sohn war, wurde es ihm mit der Muttermilch eingetrichtert, dass er gefälligst und auf jeden Fall Arzt werden solle. Ich wette, Harolds Eltern gaben ihm ein Stethoskop zum Spielen.“

„Da ist Harold sicherlich froh darüber, dass Sven Tierarzt wurde“, meinte Mona.

„Ganz und gar nicht“, entgegnete ich. „Tierarzt ist in seinen Augen kein richtiger Arzt. Nur ein Humanmediziner ist ein waschechter Arzt. Sven hat somit die Familientradition gebrochen und das nimmt ihm Harold bis heute übel.“

„Margit sah ich bisher noch nie so wütend.“

„Ja, ich auch nicht. Seit der Beerdigung ist sie gereizt und teilweise abwesend. Sie lässt sogar ihren Kaffee kalt werden. Das kenne ich nicht von ihr. Sie sitzt gedankenverloren am Tisch. Harold sieht sie nur missmutig an. Die Stimmung zwischen den beiden ist äußerst angespannt.“

„Das habe ich gemerkt.“ Mona rollte die Augen. „Lisannes Tod wird ihr zusetzen. Margit und Lisanne verstanden sich auf Anhieb und hatten dasselbe Hobby. Ihre gute Laune hörte ich bis in die Küche, wenn sie zusammen im Atelier malten.“

„Dieser Gedanke kam mir auch zuerst, aber …“

„Aber was?“, fragte Mona.

„Da ist noch etwas anderes“, sinnierte ich.

„Was meinst du damit?“

„Du und Margit habt mich nach dem Zusammenbruch auf der Beerdigung zwischen euch genommen.“

„Ja, ich kann mich gut daran erinnern.“ Mona setzte sich zu mir aufs Bett.

„Ein Mann sprach seine Beileidsbekundung aus. Margits Fingernägel krallten sich in meinen Arm. Für kurze Zeit musste ich sie stützen.“

„Ich hab deine Anspannung gespürt. Und ich habe mich darüber gewundert, wie forsch er seine Hand ausstreckte und auch dir sein Beileid ausdrücken wollte. Doch dann kam kein einziges Wort aus seinem Mund, als ob er es sich anders überlegte. Er verließ dann recht zügig die Trauergemeinde, ja fast fluchtartig. Komisch.“

„Wie hat er ausgesehen?“, fragte ich nach.

„Ich habe ihn nur kurz gesehen. Er war im Alter von Sven. Mir ist der rote Schal aufgefallen. Wer zieht denn zu einer Beerdigung einen roten Schal an?“ Mona schüttelte verständnislos den Kopf.

„Ja genau, der rote Schal ist mir auch ins Auge gesprungen. Eigenartig.“

„Wie bist du hergekommen, bei diesem Mistwetter?“ Der Regen peitschte lautstark gegen die Fensterscheibe und rann mit dicken Spuren an ihr herunter.

„Meine Mutter hat mich hergefahren. Eigentlich wollte ich mit dem Fahrrad herkommen, aber …“ Mona zeigte mit verzogenem Mund auf das regennasse Fenster. „Sie musste in der Stadt ein paar Erledigungen machen und setzte mich bei dir ab. In zwei Stunden holt sie mich wieder.“ Sie gluckste. „Also genügend Zeit, dir das Neueste von der Schule zu berichten.“

„Erzähl!“ Mein Magen knurrte lautstark auf.

„Wow! Dein Magen spricht zu dir. Wann hast du ihn das letzte Mal gefüttert?“

„Ich glaube … gestern Nachmittag. Margit weckte mich heute nicht zum Frühstück.“

„Besser so, bei der miesen Laune da unten. Ich mach dir ein Butterbrot.“ Sie sprang auf. „Bin gleich wieder da“, gab sie singend nach.

Mona kannte sich in unserer Küche aus, so wie ich mich in ihrer zurechtfand. Ab dem ersten Tag im Kindergarten beschlossen wir, beste Freundinnen zu sein, und sind seitdem unzertrennlich. Wir erklärten die gegenseitige, innig empfundene Vertrautheit durch das Einzelkind-Trauma. Die Nachmittage verbrachten wir gemeinsam. Entweder blieb sie die Zeit bei uns oder ich bei ihr auf dem Bauernhof. Wir fütterten bei ihr zu Hause die Hühner. Kühe, Katzen und Hunde mussten unsere ausgiebigen Streicheleinheiten über sich ergehen lassen. Und beim Bau des Baumhauses verwöhnte uns Monas Mutter mit selbstgebackenem Kuchen. Verbrachte Mona den Nachmittag bei uns, halfen wir hin und wieder Sven bei der Tiersprechstunde. Er meinte, wir seien die guten Tierfeen. Er schenkte uns glitzernde Flügel, damit alle sahen, welch großartige Feen wir abgaben. Die Tierbesitzer freuten sich, wenn wir ihre Lieblinge streichelten und uns um sie sorgten. Sven erklärte, dass nicht nur die Tiere entspannter die Behandlung über sich ergehen ließen, sondern auch ihre Besitzer gelassener reagierten.

Eines Tages kam Pfarrer Jäger mit seinem Kaninchen in die Praxis. Mona und ich wollten es streicheln. Er scheuchte uns weg und sagte verächtlich, dass sein Hase Feen nicht ausstehen könne, nur Engel. Das Tier kam nicht durch und sah dadurch recht bald die Himmelsboten.

Wir erzählten uns alles und jede von uns erspürte, was in der anderen vorging. Lisanne sagte mir oft, dass so eine Freundschaft etwas Besonderes sei. Bei Mona fühlte ich mich wohl und geliebt. Geliebt? Wie hört sich das denn an? Na ja, eher schwesterlich geliebt.

Ich sank entspannt ins Bett und betrachtete das Delfin-Mobile, welches darüber wippte. Durch den Luftzug, den Mona durch das schwungvolle Aufmachen und Schließen der Zimmertür verursachte, wirbelten sie munter umher. Als Lisanne mit mir schwanger war, schnitzte und bemalte sie die Delfine selbst. Jeder für sich war ein Unikat. Die weißen Bäuche blitzten hervor. Die blaugrauen Rücken schimmerten silbrig. Sie senkten sich auf und nieder und beruhigten meinen Geist. Die Lider fielen mir wohlig schwer zu. Vor dem geistigen Auge tollte ein Schwarm Delfine vor mir her. Ich schwamm mit der Gruppe und verwandelte mich in einen von ihnen. Ich tauchte auf, um Luft zu holen, und tauchte hinab ins dunkelblaue Tief des Ozeans. Das strömende Wasser streichelte sanft die Haut. Wir düsten durch das Meer um die Wette und umkreisten den Sieger. Ein heiteres Geschnatter drang in mich liebkosend ein. Etwas rüttelte an meiner Flosse.

„Ella?“, ertönte es lärmend.

„Mmh …“ Blinzelnd öffnete ich die Augen und sah das tanzende Delfin-Mobile über mir schweben.

„Ella? Hallo!“ Ich drehte meinen Kopf leicht nach links und nahm Mona dösig wahr.

„Du bist eingeschlafen. Komm, setz dich auf. Zeit, zum Frühstücken.“ Sie hielt mir ein Tablett mit einem Butterbrot und zwei Tassen, mit köstlich duftenden Tee gefüllt, unter die Nase. Sie meinte es zu gut mit der Butter. Einen halben Zentimeter auf einer dünnen Scheibe Brot. Mein Zahnabdruck zeichnete sich deutlich ab. Jedoch verlieh der heiße Gewürztee dem Buttergeschmack eine feinherbe Note und weckte die Sinne.

„Du wolltest mir die Neuigkeiten von der Schule berichten. Ich gehe bestimmt niemandem ab. Sie sind sicherlich froh darüber, dass die Tochter der Hexe nicht in die Schule kommt, besonders Pfarrer Jäger.“

„Was redest du da? Du weißt genau, dass die meisten in der Klasse nicht so denken. Außerdem, mir gehst du ab!“, empörte sich Mona, um kurz darauf den Blick zu senken und an ihrem Tee zu schlürfen. In ihrem Gesicht zeichnete sich eine dezente Rötung ab, wahrscheinlich vom heißen Dampf des Tees hervorgerufen. „Doch mit Pfarrer Jäger hast du recht. Er unterrichtete über die Hexenverbrennung. Aber Lena hat es ihm richtig gegeben“, erzählte Mona spitzbübisch.

„Das wundert mich nicht bei Lena. Bei den zwei Brüdern und Ben als Pflegebruder. Sie muss sich gegen drei Jungs wehren. Wie geht es übrigens Ben, ist er wieder auf den Beinen?“

Ben konnte nicht zu Lisannes Beerdigung kommen. Er lag mit einer heftigen Erkältung im Bett. Das ärgerte ihn bestimmt. Die beiden verstanden sich auf Anhieb. Und Sven fehlte mit Sicherheit seine rechte Hand in der Praxis.

„Ich hab ihn heute gesehen. Aber …“, Mona streckte mahnend den Zeigefinger in die Luft, „… eins nach dem anderen.“ Sie tätschelte mich mütterlich am Arm.

„Erzähl, was hat Lena zum Besten gegeben?“, gluckste ich. Sie setzte ihr Mona-Lisa-Lächeln auf. Das machte Mona immer, wenn sie sich im Voraus diebisch freute. Ich genoss ihren Gesichtsausdruck und erwartete ihre Ausführung mit einer wohligen Spannung.

„Sie fragte den Pfarrer Jäger: Warum wurden früher Frauen als Hexen beschuldigt und verbrannt? Die Frauen kannten sich in der Heilkunst aus und halfen vielen Leuten, im Gegensatz zu den Badern, die den Menschen für nichts viel Geld abknöpften? Der Pfarrer sah sie entgeistert an und antwortete ihr: Das Böse konnte und kann sich nicht verstecken, man kann es erkennen. Sicherlich seien unter den Hexenverbrennungen auch Unschuldige zu Tode gekommen, das möchte ich nicht bestreiten. Doch unter ihnen hielten sich auch abscheuliche Giftmischerinnen auf, also Mörderinnen. Und diese bekamen ihre gerechte Strafe. Das erklärte er allen Ernstes.“

„Wow! Der glaubt das wirklich“, prustete ich hervor.

„Du kennst ja Lena, damit gab sie sich nicht zufrieden.“

„Stimmt! Sie lässt sich nicht so leicht abwimmeln, wenn sie ein Ziel vor Augen hat.“

Ich beugte mich ein wenig vor und nahm Monas herb-süßlichen Orangenduft, mit einer Prise Vanille, wahr. Ihre roten Locken umrahmten vollendet ihr sommersprossiges Gesicht. Mit ihrem Aussehen hätte sie im Mittelalter die perfekte Hexe abgegeben.

„Iss!“, befahl Mona. „Und trink deinen Tee, sonst wird er kalt.“

„Yes, Mom.“ Ihre fürsorgliche Art streichelte meine Seele. Brav aß ich das Butterbrot auf und nippte am leckeren Tee.

Mona erzählte weiter: „Das gab den damaligen Kirchenleuten noch lange nicht das Recht, diese Frauen auf den Scheiterhaufen zu verbrennen, legte Lena herrisch nach. Du kennst ja den Pfarrer, Widerspruch mag er nicht besonders.“ Sie kicherte.

„Allerdings“, bestätigte ich kopfnickend.

„Er meinte“, Mona schlug jetzt einen tiefen Ton an, „Mein liebes Kind …“ Wir zwei verdrehten gleichzeitig die Augen und stöhnten gen Himmel. Mona hob den Zeigefinger und sprach in der weihevollen Tonlage des Pfaffen weiter: „Mein liebes Kind, die Kirchenleute hatten und haben alle eine Verbindung zu Gott, dem Allmächtigen. Sie wurden und werden vom Heiligen Geist beseelt. Und ich bin mir sicher, dass sie auch bei ihrer Entscheidung, ob eine Frau eine Hexe war oder nicht, vom Heiligen Geist geführt wurden. Dabei sah er Lena triumphierend an.“ Mona schüttelte belustigend den Kopf. „Du kannst dir vorstellen, dass sich Lena dieses Geschwafel nicht hat überziehen lassen und nachhakte.“

„Typisch Lena, alles hinterfragen“, sagte ich.

„Sie meinte: Da Sie ein Kirchenmann sind, überkommt Sie sicherlich auch der Heilige Geist. Wie fühlt sich das an? Der Pfarrer dachte, damit sei die Sache erledigt, so scheinheilig wie ihn Lena fragte.“

„Und, was hat er darauf geantwortet?“

„Er verkündete: Das wüsste man, wenn einem der Heilige Geist überkomme. Dann spricht und handelt Gott aus mir heraus.“

„Er sagte tatsächlich aus mir?“

„Jaaaa!“ Mona riss die Augen auf. „Doch Lena hatte ihn jetzt am Haken. Sie gab ihm richtig Kontra: Wie konnte Gott den Kirchenmännern vermitteln, dass sie die Frauen verbrennen sollen? Gott war und ist doch reine Liebe, und in den zehn Geboten steht, man solle nicht töten. Das ist doch ein Widerspruch in sich. Der Pfarrer stand mit offenem Mund vor der Klasse da. Du konntest ihn richtig denken hören, na ja, das wenige zumindest.“

„Jetzt bin ich gespannt, was hat er geantwortet?“

„Es klingelte und die Stunde war zu Ende. So schnell hast du ihn noch nie aus dem Klassenzimmer stürmen sehen.“

Wir beide lachten schallend auf. Mein Körper schüttelte sich vor Johlen. Doch diese Anstrengung des tiefen Luftholens war er nicht mehr gewöhnt und ein Schwindel überkam mich. Ich kippte auf das Kopfkissen und stellte mir die Situation nochmal genüsslich vor.

Lena ließ sich nicht an der Nase herumführen und fadenscheinige Ausreden akzeptierte sie nicht. Dabei konnte sie ziemlich herrisch, bisweilen arrogant sein. Sie ging den Dingen auf den Grund und war von niemandem davon abzubringen. Auch nicht von einem Pfarrer Jäger oder gerade nicht von ihm. Geschah dem Pfaffen recht, so wie er auf der Beerdigung über Lisanne hergezogen war.

Hin und wieder half Lena in den Ferien in der Tierarztpraxis mit, um ihr Taschengeld aufzubessern. Sie versorgte die felligen Patienten und hatte Telefondienst. Die Tiere fassten flugs Vertrauen zu ihr. Ben freute sich jedes Mal darüber, wenn Lena aushalf. Dann hatte er bei der Herfahrt mit dem Fahrrad jemanden zum Quatschen. Ach ja, Ben!

„Und was ist mit Ben?“

Mona pfiff durch die Lippen. „Ben ist momentan krass drauf.“

„Was meinst du?“, fragte ich besorgt.

„Er passte Lena nach der Schule ab. Wütend maulte er sie an, dass sie den Schlüssel vom Ferienhaus dabeihätte, obwohl ihre Mutter sagte, sie solle ihn ans Schlüsselbrett hängen. Ein Wort gab das andere. Lena schmetterte Ben fuchsteufelswild den Schlüssel vor die Füße und ließ ihn wie einen begossenen Pudel stehen. Würde mich nicht wundern, wenn er nochmal krank wird. Er sah echt mies aus.“

„Er ist doch sonst immer die Seelenruhe in Person“, sagte ich. Ben ließ sich von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen. Ich bewunderte ihn für seine Besonnenheit mit einer Prise Heiterkeit.

Wütend erlebte ich Ben nur ein einziges Mal. Ich empfand ihm gegenüber eine unausweichliche, unerklärliche Verbindung, seit wir uns im Kindergarten begegneten. Und vor einem halben Jahr meinte ich, es würde Liebe sein. Wir küssten uns in der Küche. Doch es fühlte sich total falsch an! Mir kam es vor, als ob ich mit meinem Bruder knutschte. Dem zweiten Kuss wich ich aus, allerdings gab Ben nicht nach. Er überredete mich dazu und steckte seine Zunge in meinen Mund. Ekel stieg in mir auf. Ich stieß ihn abrupt weg. Beim Versuch, sich am heißen Holzofen abzustützen, verbrannte er sich die rechte Hand.

„Verdammt, Ella!“

„Es tut mir leid, Ben, aber ich wollte den zweiten Kuss von Anfang an nicht.“

„Deswegen musst du mich doch nicht gleich auf den heißen Ofen schubsen. Autsch!“ Ben betrachtete ärgerlich seinen rot aufleuchtenden Handballen.

„Daran dachte ich nicht. Es tut mir echt leid. Lass mal sehen.“

Ben versteckte blitzschnell die Hand hinter seinem Rücken.

„Behalt dein Mitleid für dich, Ella“, sagte er mit einem verächtlichen Unterton. „Hättest ja gleich sagen können, dass du mich abblitzen lässt. Was soll das Theater?“

„Ich wusste doch nicht, dass nichts passiert. Kein Feuerwerk, keine Schmetterlinge im Bauch und so.“

„Ella, das hat man doch schon vorher. Ich hatte jedenfalls Schmetterlinge im Bauch.“ Er schüttelte gefrustet den Kopf. „Was ist mit dir los?“

„Weiß nicht“, sagte ich schulterzuckend. Ein schlechtes Gewissen breitete sich in mir aus. Mich befielen Vorwürfe, dass ich den Kuss überhaupt zuließ und dass sich Ben verletzte. Ich streckte meinen Arm aus, um ihm am Oberarm zu berühren.

„Ich verbinde dir die Hand“, bot ich ihm beschwichtigend an.

„Lass mich in Ruhe!“, schrie er. Er rannte aus der Küche. Ich hörte die Haustür mit einem schmetternden Knall ins Schloss fallen. Ben überquerte hastig, mit gebeugtem Oberkörper, den Hof und verschwand in die Stallung, um sich auf die Galerie zu verziehen und zu schmollen. Einige Wochen redeten wir nur das Allernötigste miteinander. Ben versuchte, mir bei jeder Gelegenheit aus dem Weg zu gehen. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich ihn nicht am Oberarm berühren durfte. Genauso benahm ich mich gegenüber Lisanne. Die Bilder vom Unfall flackerten wieder auf.

„Ella, Ella!“, rief Mona.

Gedankenverloren sah ich sie an.

„Alles in Ordnung?“

Ihre Konturen verschwammen und Tränen bahnten sich ihren Weg über meine Wangen, um laut auf das Kopfkissen aufzuschlagen.

„Ella, habe ich etwas Falsches gesagt?“

„Nein, nein“, schluchzte ich. „Die Erinnerung an den Unfall.“

„Ach, Ella.“ Mona streichelte meinen Oberarm. Diesmal zog ich ihn nicht weg. Ich vergrub das Gesicht in ihre weichen, roten Locken und ließ mich in ihren herb-süßlichen Orangenduft, mit einer Prise Vanille, fallen.

Kapitel 4

Am nächsten Morgen wurde ich unsanft geweckt.

„Frühstücken!“, rief Margit ins Haus hinein. Ich wollte nicht aufstehen. Ich wollte mich im Bett verkriechen, einschlafen, aufwachen, um dann festzustellen, dass alles nur ein Albtraum war. Das Lisanne noch lebte und Sven sein Glück mit ihr genoss. Das ich glücklich war. Aber allein der Umstand, dass Margit zum Frühstück rief, zeigte mir, dass Lisanne nicht mehr unter uns Lebenden weilte. Vor fünf Tagen beerdigten wir sie. Es kam mir wie eine gefühlte Ewigkeit vor.

„Frühstücken!“, forderte Margit energischer. Der Magen grummelte quälend und bedeutete mir auf seine Weise, dass es an der Zeit war, ihm ohne Aufschub Nahrung zu geben. Seit Monas gestrigem Besuch habe ich nichts mehr gegessen. „Ein Spatzenessen“, hätte Lisanne dazu gesagt.

Der Körper schmerzte beim Versuch, mich aufzurappeln. So gab ich wieder nach und plumpste wie ein nasser Sack ins Bett zurück. Durch den abrupten Fall wurde mir schwindlig und die Zimmerdecke schwankte bedrohlich.

„Frühstücken! Kommt endlich! Lasst mich hier nicht den ganzen Vormittag nach euch rufen!“ Ihre Stimme klang verärgert. Ließ sie ihren Unmut über Harold nun bei uns aus? Aus ihrem Streit wurde ich nicht schlau. Was verheimlichten sie Sven? Es musste etwas Gravierendes sein, wenn Margit ein Messer nach ihrem Ehemann warf. Aber was?

Langsam setzte ich mich auf und zog die Filzpantoffel an. Ein Schreck durchzuckte meine Seele, als mir ein fremdes Spiegelbild von der gegenüberliegenden Spiegelkommode entgegenglotzte. Die ansonsten blasse Gesichtsfarbe verwandelte sich in den letzten Tagen in einen durchscheinenden, fahlen, bläulichen Schimmer. Das rundlich vornehme Gesicht, wie Lisanne mir ständig mit mütterlichem Stolz bekundete, wirkte schlaff und eingefallen. Die Nasenspitze zeichnete sich scharf ab. Der sonst volle schwarze Pagenschnitt hing mir fettig und in Strähnen unansehnlich herunter. Die grünen Augen sahen mir müde und erschöpft entgegen. Ich stöhnte auf und schlug mir die Hände vors Gesicht. Nur langsam erholte ich mich von diesem schockierenden Eigenbild. Ich raffte mich auf und die Beine zitterten vor Anstrengung. Der Spiegel fing mein Ebenbild nochmals ein.

„Verdammt!“ Ich strich über die mir verhassten, ausladenden Hüften. Mein Riechkolben verwandelte sich zu Michael Jacksons schmaler Nase, jedoch meine Hüften blieben breit und fett.

Frustriert schlurfte ich zur Tür. Der schwarze Bademantel hing schwer an der Klinke. Der Schwindel kam wieder und ich erreichte gerade noch rechtzeitig die Tür, um nicht zu fallen.

„Mist!“, quittierte ich den Schwindel, lehnte an der Tür und quälte mich in den Bademantel. „Geschafft.“ Die Anstrengung erwiderte mein Körper mit einem Schweißausbruch.

Ich verließ das Zimmer und torkelte zur Treppe. Die zweite Treppenstufe von oben knarrte. Zehn Jahre ist die Renovierung des Bauernhauses her, jedoch das Knarren bekam der Schreiner damals nicht in den Griff. Lisanne meinte, dass das Knarren dieses Haus zu unserem Haus machen würde. Sie sah immerfort das halb volle Glas, nie das halb leere. Ab heute würde mich das Knarren jedes Mal an sie erinnern. Ich überlegte, ob dieser Gedanke tröstend war oder ob er die Trauer um Lisanne schwärzer färbte. Der Schwindel unterbrach diesen Gedankenkreis und ich versuchte, mich konzentriert am Treppengeländer festzuhalten. Die Kälte im Treppenhaus ließ die Muskeln verspannen und meine Bewegungen langsamer und ungelenkiger werden. Ich kam mir vor wie eine Achtzigjährige.

„Da bist du ja, Ella, Engelchen.“ Margit empfing mich an der untersten Treppe und begleitete mich liebevoll stützend in die Küche. Sie sah besorgt aus. „Du siehst blass aus. Iss etwas, dann wird es dir gleich besser gehen.“ Sie zog den Stuhl vom Tisch hervor und deutete mir, darauf Platz zu nehmen. Sie streichelte aufmunternd über meine Schultern. Ein Teil von mir genoss ihre Fürsorge, der andere Teil war genervt.

Sven und Harold schlürften eigenbrötlerisch ihr Käffchen. Nach dem intensiven Kaffeegeruch war mir sofort klar, dass Margits Gebräu mehr das Aroma eines Espressos besaß als das eines banal aufgebrühten Kaffees. Sie benutzte heute den alten Holzofen und bereitete darauf Rührei zu. Ich war froh, dass sie nicht den Elektroherd nutzte, denn der Holzofen füllte den Raum mit einer wohligen Wärme. Sie drang in meinen Körper und erreichte nach und nach die geplagten Muskeln. Eine kindliche Behaglichkeit breitete sich in mir aus und die Muskeln entspannten sich allmächlich.

„Hast du ein wenig schlafen können, Ella?“, fragte Margit.

Nickend antwortete ich. Zum Reden fehlte mir die Energie. Lisha schmiegte sich mauzend an meine Beine. Seit dem Tod von Lisanne ist ihr schwarz glänzendes Fell matt und borstig geworden.

„Du trägst Trauer“, flüsterte ich ihr zu. Mit trübsinnigen Augen erwiderte sie meinen Blick.

Margit klatschte eine große Portion Rührei auf den Teller und goss mir einen Kaffee ein, der schwärzer als schwarz den Innenraum der weißen Tasse füllte. Ich atmete den starken, aromatischen Duft tief ein, bevor ich daran nippte. Meine Ahnung bestätigte sich: Dieser Filterkaffee hätte Tote aufgeweckt. Ich erschrak. Welche absurden Gedanken überkamen mich bloß?

„Wirst du dir eine Tierarzthelferin suchen?“, fragte Harold. Auf seinem linken Ohr klebte ein braunes Pflaster.

„Nein, vorerst nicht. Ben ist jetzt im dritten Ausbildungsjahr. Lisanne wollte sich in der nächsten Zeit sowieso etwas aus der Praxis rausnehmen.“ Sven stierte auf den Frühstückstisch. „Das hat sie ja auch getan.“ Er atmete niedergeschlagen ein und aus. „Aber anders, als wir zwei dachten“, murmelte er verbittert.

„Verstehe“, sagte Harold tonlos. Er hielt einen gefühlsmäßigen Abstand zu den Menschen, dies betraf mitunter seine eigene Familie. Ich kannte ihn nur so. Bisher vermutete ich, dass er nicht im Stande war, seine schützende Distanz, die er bei seinen Patienten praktizierte, zu Hause abzustreifen. Aber vielleicht hatte sein Verhalten damit zu tun, was Margit und er versuchten, vor Sven zu verheimlichen.

„Iss, Engelchen, sonst wird dein Rührei kalt“, ermahnte mich Margit fürsorglich und setzte sich zu mir.

Mein Körper erkannte, dass er nach fast einem Tag Entzug endlich wieder Essen bekam und verlangte noch mehr. Das Rührei und der Espresso-Kaffee ließen mich nach und nach in der Küche ankommen. Die wohlige Wärme entspannte nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Der graue Schleier, welcher mich in den letzten Tagen die meiste Zeit umhüllte, lichtete sich. Ich bemerkte, dass Margit ihr Frühstück nicht anrührte. Sie sah ins Leere und ihre Stirn legte sich in Falten. Hin und wieder sah sie musternd zu Sven herüber, um dann ihren Kaffee gedankenverloren anzustarren. Dachte sie über den Streit nach, den sie mit Harold gestern austrug? Margit gehörte zu der Gruppe der Kaffee-viel-Trinkerinnen, doch heute rührte sie ihn nicht an. Es drängte sich mir das Bild auf, dass ein stumpfes, blaugraues Damoklesschwert mit einer rotbraunen Spitze über ihr schwebte. Für kurze Zeit sah ich es förmlich. Eine flüchtige Beklemmung und Fassungslosigkeit zerrten unvermittelt an mir.

„Wenn es dir recht ist, bleiben wir noch ein paar Tage hier“, brummte Harold.

„Bleibt, solange ihr wollt“, antwortete Sven lethargisch.

Ein kühler Luftzug streifte meinen Rücken und ließ mich frösteln.

„Morgen, alle zusammen“, rief Ben aus dem Flur hervor. Ich sah über die Schulter. Er betrat mit reibenden Händen die Küche.

„Ganz schön kalt. Irgendwann werde ich mir eine Fahrradgriff-Heizung kaufen. Aber bis es so weit ist, tun es ab morgen auch Handschuhe.“ Er wärmte sich seine Pfoten an der heißen Ofenplatte, an der er sich nach unserem zweiten Kuss die Hand verbrannte.

Bens auffallend blasse Gesichtsfarbe zeigte auf, wie schwer ihm die Erkältung zugesetzt hatte. Ein Gefühl des Bedauerns überkam mich, dass er nicht in der körperlichen Verfassung war, Lisanne die letzte Ehre zu erweisen.

„Kaffee?“, fragte Margit und schenkte ihm, ohne eine Antwort abzuwarten, eine Tasse ein.

„Ja, gerne.“ Ben zog seine Jacke aus, hing sie über die Stuhllehne und setzte sich mir gegenüber.

„Hi, Ella, wie gehts?“ Ich zuckte nur die Achseln. Er nickte wissend.

Ben frühstückte jeden Morgen bei uns und gehörte fast schon zur Familie. Er nannte uns seine B-Familie und seine Pflegeeltern, mitsamt drei Kindern, die A-Familie.

„Wow!“, rief Ben. „Der Kaffee kann ja Tote aufwecken.“

Margit und Sven starrten ihn bestürzt an.

Ben lugte peinlich ertappt in die Runde. „Entschuldigung, so war das jetzt nicht gemeint. Ella, deine Oma macht einen echt starken Kaffee“, sich hilfesuchend aus dieser misslichen Lage herausredend.

Erleichterung stellte sich bei mir ein, dass ich nicht die Einzige war, bei der das Wort Tote in Bezug auf Margits extrem kräftig gebrühten Kaffees im Gehirn herumspukte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über meine Lippen.

„Ja, Margits Kaffee verhilft dir heute zu Höchstleistungen, weil du nicht mehr zur Ruhe kommen wirst“, sagte ich.

„Also, Ella, so stark ist der Kaffee auch wieder nicht“, verteidigte sich Margit.