Die ganze Wahrheit (wie Mason Buttle sie erzählt) - Leslie Connor - E-Book

Die ganze Wahrheit (wie Mason Buttle sie erzählt) E-Book

Leslie Connor

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Beschreibung

Die Welt wäre mit Mason Buttles Augen betrachtet sehr viel menschlicher. Leslie Connors liebenswerte Geschichte über Freundschaft, Familie und Zugehörigkeit

Mason Buttle ist grundehrlich und liebenswert, er hat ein Herz aus Gold. Dafür würde er niemals einen Buchstabierwettbewerb gewinnen, denn er kann kaum lesen und schreiben. Die anderen Kinder lachen ihn aus und hänseln ihn. Aber Mason hat Calvin. Calvin ist ungewöhnlich klein und dünn, dafür aber besonders schlau. Gemeinsam bauen die beiden Jungs ein Geheimversteck, eine Art unterirdische Höhle. So können sie sich vor den Angriffen der anderen verstecken. Als Calvin vermisst wird, gerät Mason in Schwierigkeiten. Es ist nicht lange her, dass Masons bester Freund Benny im Obstgarten der Buttles verunglückt ist. Noch immer sind viele Fragen offen. Und der verwirrte Mason muss endlich Antworten finden.

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Über das Buch

Mason Buttle ist grundehrlich und liebenswert, er hat ein Herz aus Gold. Dafür würde er niemals einen Buchstabierwettbewerb gewinnen, denn er kann kaum lesen und schreiben. Die anderen Kinder lachen ihn aus und hänseln ihn. Aber Mason hat Calvin. Calvin ist ungewöhnlich klein und dünn, dafür aber besonders schlau. Gemeinsam bauen die beiden Jungs ein Geheimversteck, eine Art unterirdische Höhle. So können sie sich vor den Angriffen der anderen verstecken. Als Calvin vermisst wird, gerät Mason in Schwierigkeiten. Es ist nicht lange her, dass Masons bester Freund Benny im Obstgarten der Buttles verunglückt ist. Noch immer sind viele Fragen offen. Und der verwirrte Mason muss endlich Antworten finden.

Leslie Connor

Die ganze Wahrheit

(wie Mason Buttle sie erzählt)

Aus dem Englischen von André Mumot

Carl Hanser Verlag

Für Mac und Jess und Sam und Ian.

Brüder und Söhne.

Ihr seid die besten Jungs, die ich kenne.

DAS DEEHMLICH-SHIRT

Also, ich sag mal so: Ich weiß genau, wer das T-Shirt in mein Schließfach gestopft hat. Matt Drinker. Vorher hat er sich aber noch mit einem Edding daran zu schaffen gemacht. Dicke schwarze Buchstaben. Er hat DEEHMLICH draufgeschrieben. Genauso, wie ich das Wort Freitagmorgen beim Buchstabierwettbewerb buchstabiert habe.

Einer wie ich hat beim Buchstabierwettbewerb eigentlich nichts zu suchen. Aber der gesamte siebte Jahrgang muss teilnehmen. Ich persönlich würde das Schuljahr nicht so anfangen lassen, aber ich habe ja nichts zu sagen. Die erste Ausscheiderunde findet jedenfalls noch in den Klassenzimmern statt.

Ich bin ausgeschieden.

Ich habe mal einen Film über einen Buchstabierwettbewerb gesehen. Da ging es um ein Mädchen mit einer ganz besonderen magischen Fähigkeit. Sie hörte ein Wort — ganz egal welches —, und schon schrieben sich die Buchstaben von selbst vor ihr in die Luft. Dabei flogen Funken und Sternchen und kleine Bienen und Feen und jede Menge Glitzer durch die Gegend, und die Buchstaben ploppten vor ihr auf wie Apfelblüten. Als wenn Farbe direkt von einem Pinsel fließt. Und es waren auch immer die richtigen Buchstaben.

Die Leute sagen, so was könnte im wirklichen Leben nicht passieren. Es wären bloß Spezialeffekte aus einem Film. Aber ich glaube an das, was das Mädchen gesehen hat. Zumindest zum Teil.

Ich sehe auch Sachen. Allerdings keine Feenflügel. Keine Blüten, die sich öffnen.

Also. Folgendes ist Montagmorgen passiert: Mir wurde das Wort genannt, das ich buchstabieren sollte.

DEHNÜBUNG.

Vermutlich das einfachste Wort, das jemals bei einem Buchstabierwettbewerb des siebten Jahrgangs drangekommen ist. Ich sag mal so: Ich wusste, ich würde es richtig buchstabieren. DEHNÜBUNG hat einen langen Vokal. Ein E mit einem H dahinter. So was mag ich. Tja, war dann aber doch Pech. Denn kaum hatte ich daran gedacht, kam mir ein anderes Wort in den Kopf geschossen. Das genauso anfängt.

Seit zwölf langen Jahren lebe ich schon mit meinem Kopf zusammen. Ich weiß genau, wie er Sachen durcheinanderbringt. Also habe ich schnell die Augen zugemacht. Und mir im Stillen gesagt: Okay, Mason, lass das jetzt nicht in deinen Kopf rein. Fang jetzt nicht an, dieses andere Wort zu buchstabieren. Das ist nicht dein Wort. Dein Wort ist Dehnübung. Und schon sind vor meinen geschlossenen Augen die einzelnen Buchstaben aufgetaucht. Deswegen meine ich ja, dass es eigentlich bei mir genauso ist wie bei dem Mädchen aus dem Film. Ich kann Buchstaben sehen. Nur dass sie bei mir hässlich werden. Sie verschwimmen oder blasen sich auf. Sie rutschen weg. Wenn ich Kneifzangen an den Augen hätte, würde ich die Buchstaben schnappen und festhalten.

Tick. Tick. Tick.

Bei einem Buchstabierwettbewerb kann man sich nicht ewig Zeit lassen.

Dehnübung.

D und E.

Die beiden waren korrekt. Das hab ich genau gewusst. Hab sie laut gesagt. Und mich gleich sicherer gefühlt. Aber die Buchstabier-Stoppuhr hat weitergetickt.

Ich hab versucht, die Buchstaben vor mir zu sehen. Klar und deutlich. Aber sie sind ausgefranst. Und dann verschwommen. Das habe ich schon so oft erlebt.

Ich habe die Augen enger zusammengekniffen. Und gedacht: Bitte, lass mich das hinkriegen. Ich habe aufgeblasene Buchstaben gesehen. Verschwommene Buchstaben. Und dann ist die Farbe vor meinen Augen aufgetaucht. Passiert mir manchmal. Diesmal war es das schmutzige Grün. Kommt angeschwebt wie Rauch. Immer wenn ich nicht die richtige Antwort weiß. Dieses Grün, das ist die Farbe, die der Druck hat, der mir im Nacken sitzt. Ein Buchstabierwettbewerb setzt mich unter Druck.

Ich habe die Pupillen hinter den Lidern verdreht. Versucht, den ganzen Mist auszublenden. Aber mein Gehirn ist irgendwie an dem anderen Wort hängen geblieben. E und H. Langer Vokal.

Tick. Tick.

Ich sah ein E und ein H.

Ich sagte E und H.

Und dann hat schon irgendwer aufgelacht. Spöttisch.

Ich wusste, dass es falsch war. Wusste, dass ich es zu Ende bringen musste. Es hinter mich bringen. Ich habe mir die schweißnassen Hände an der Hose abgewischt. Ich wusste, da fehlt noch was. Noch ein H? Nein! Ein C-H! Am Ende musste ein C-H kommen.

Tick. Tick. Keine Zeit.

»M«, hab ich gesagt.

Und buchstabiert habe ich am Ende: D-E-E-H-M-L-I-C-H.

Die Stoppuhr hat gepiepst, und die ganze Klasse hat losgebrüllt vor Lachen.

Matt Drinker findet es toll, wenn so was passiert. Ich nehme an, deshalb hat er auch das DEEHMLICH-Shirt in mein Schließfach gesteckt. Dafür muss er extra das Schloss geknackt haben. Das Verrückte ist, ich wusste gleich, was auf dem Shirt stand, wegen der zwei Es und dem H in der Mitte. Ich wusste das schon beim allerersten Blick.

Matt weiß davon nichts, aber er hat mir einen großen Gefallen getan. Ich nehme immer zwei Shirts mit zur Schule, wenn ich es nicht vergesse. Und vor der Mittagspause wechsele ich es. Das liegt daran, dass ich immer so schwitze. Ich schwitze echt viel. Kann nichts dran ändern. Kann’s auch nicht verstecken. Und in der Mittagspause am Tisch muss ich trocken sein. Sonst halten mich alle für den letzten Schweiß-Asi.

Na ja, heute war jedenfalls so ein Tag, an dem ich mein Extra-Shirt vergessen hatte, also trage ich jetzt das, auf dem das Wort DEEHMLICH steht. Es ist groß und passt mir. Es ist sauber und trocken. Ich gehe einfach ganz schnell damit über die Flure. Vielleicht fällt ja keinem auf, was draufsteht.

Und wenn doch, na ja, ich sag mal so: Mir sind schon sehr viel schlimmere Sachen passiert.

DAS BÜSO

Die anderen Schüler schauen auf den Fluren zu mir auf. Das müssen sie. Ich bin der größte und schwerste Siebtklässler der Merrimack Middle School. Und zwar mit Abstand. Heute beeile ich mich. Sie lachen, wenn sie mich sehen. Aber wenn sie lachen, ist das besser, als wenn sie nicht lachen. Ich lächele. Ich weiß, dass ich komisch aussehe. Wie eine große marschierende Plakatwand mit einer DEEHMLICH-Werbung drauf. Mit zwei Es und einem H.

Die Cafeteria lasse ich heute lieber aus. Da geht es wild zu. So ein DEEHMLICH-Shirt könnte mich zur Zielscheibe machen und die reinste Essensschlacht auslösen. Stattdessen steuere ich das BÜSO an. Das ist Miss Blinnys Zimmer. Mit riesigen Schritten gehe ich den Flur hinunter bis zum Ende. Mir kommt in den Sinn: BÜSO hat einen Umlaut in der Mitte, ein Ü, und das hätte Dehnübung auch gehabt.

Komischer Name: BÜSO. Miss Blinny hat sich den ausgedacht. Sie hat kleine Plastikbuchstaben benutzt. Sie stammten von einem Schild, auf dem BÜRO DER SOZIALARBEITERIN stand. Ich weiß das, weil Miss Blinny es mir erzählt hat. Das BÜSO-Schild hat sie an dem Tag zusammengebastelt, als ich sie kennengelernt habe. Es war mein letzter Schultag der fünften Klasse, und Mrs Lorenz von der Grundschule hat mich schon mal mit hierher genommen, damit ich ihre Freundin kennenlernte.

Wir sind durch den Vorderbereich des Büros gegangen, wo eine große weiche Couch steht und zwei Sitzsäcke. Außerdem eine Lavalampe und der kleine Tisch mit dem Korb voller Süßigkeiten darauf. An den Wänden hängen Plakate und jede Menge anderer Schnickschnack. Miss Blinnys Schreibtisch kommt als Letztes, denn er steht fast versteckt hinter einem Bücherregal, neben dem Fenster.

Es lag ein heißer Geruch in der Luft, an dem Tag, an dem ich Miss Blinny kennenlernte. Das lag daran, dass sie eine Klebepistole in einer Hand hielt und mit der anderen diese Plastikbuchstaben auf ihrem Tisch hin und her schob. Rosa Farbe trocknete auf einem hübschen Schild aus Holz und ein rosafarbener Pinsel auf ihrer Tischplatte. Miss Blinny war wirklich schwer beschäftigt. Aber als sie mich bemerkte, schaute sie auf und lächelte.

»Ach, ja! Mason!«, sagte sie. »Schön, dich kennenzulernen.« Ihr Lächeln wurde breiter. Und sie schaute mich immer weiter an — wie ein Mensch, der von innen strahlt. Der mich anstrahlt. Aus ihrer Klebepistole tropfte etwas von dem heißen Klebstoff auf ihre Papiere.

Ich sagte: »Passen Sie auf!«

»Oh!«, sagte sie. Und: »Ups. Es tropft!« Und schon war noch mehr Klebstoff heruntergelaufen. Sie griff nach einem Taschentuch, verschüttete aber gleichzeitig einen Becher mit Glitzerstaub quer über ihren Tisch. Trotzdem lächelte sie mit ihrem großen offenen Mund und ihren leuchtenden fröhlichen Augen. »Ha! Schau dir das an, Mason. Jetzt ist hier aber Glitzer-Ausnahmezustand!« Sie hat gleich ein Foto davon gemacht. Und das ist nun seit über einem Jahr ihr Bildschirmschoner.

Es hing ein neues BÜRO DER SOZIALARBEITERIN-Schild an der Tür, als die Ferien letzten September zu Ende waren. Ich meine, so ein ganz schlichtes. Wie es die Schule eben aufhängt. Aber Miss Blinny hatte ihre Glitzer-Version ebenfalls fertig. Sie hat ihr rosafarbenes BÜSO-Schild zusätzlich an die Tür gehängt. Ich sag mal so: Damit hat man wirklich keine Probleme, das Zimmer zu finden.

Ich mag ihre Art, also die von Miss Blinny. Sie schmeißt ständig Sachen um und wartet nicht ab, bis die Farbe ordentlich getrocknet ist.

Deshalb biege ich auch heute um die Ecke, zu ihrem Büro. Atme auf. Wie man aufatmet, wenn man es bis nach Hause geschafft hat. Ich mag das BÜSO. Hier bin ich immer willkommen.

BESSER ALS DEEHMLICH

Ich bin heute der einzige Schüler im BÜSO. Aber das wird nicht lange so bleiben, denn hier schaut oft mal jemand vorbei. Ich spähe um das Bücherregal herum. Sage Miss Blinny Hallo. Sie arbeitet, aber ich darf sie unterbrechen. Ich halte die Papiertüte mit meinem Sandwich hoch, sodass sie sie sehen kann. Den oberen Teil habe ich so verdreht, dass er aussieht wie ein Kürbisstiel. Und er ist ganz feucht, weil ich ihn vollgeschwitzt habe.

Ich frage: »Ist es okay, wenn ich hier drin esse?«

»Klar«, sagt sie und drückt einen Knopf am Telefon auf ihrem Schreibtisch. Sie spricht mit dem Sekretariat. »Hallo. Mason Buttle ist bei mir, und ich behalte ihn eine Weile hier.« Klingt, als sollte sich jeder wünschen, mich behalten zu dürfen.

Nachdem sie aufgelegt hat, steht Miss Blinny auf. Sie ist klein, selbst wenn sie ihre Stiefel mit den hohen Absätzen trägt. Auch sie muss zu mir aufschauen. Sie legt den Kopf schief. Sie liest, was auf meinem Shirt steht. Die Buchstaben, die das Wort DEEHMLICH bilden. Sie sagt: »Mason? Willst du mir von deinem Shirt erzählen?«

Ich schaue an mir herunter. Miss Blinny weiß womöglich schon von dem Buchstabierwettbewerb. Sie weiß eine ganze Menge über mich.

Dass ich glaube, dass es Matt Drinker war, der das Shirt in mein Schließfach gesteckt hat, werde ich ihr nicht verraten, und auch nicht, warum. Ich sage: »Es ist sauber und trocken. Und handbemalt.«

Sie sagt: »Handbemalt … hmmm. Ich mag es nicht. Es ist entwürdigend.«

Ich zucke mit den Schultern. Entwürdigend ist vermutlich was Schlechtes. Aber was soll ich machen? Mein Morgen-T-Shirt ist komplett durchgeschwitzt und steckt in einer Tüte in meinem Schließfach.

Miss Blinny zieht ihre Schreibtischschublade auf und holt eine Rolle Deko-Klebeband hervor. Lila kariert. Sie reißt zwei Streifen ab. Klebt sie über das DEEHMLICH, als würde sie es auf meiner Brust durchstreichen. Dann greift sie nach ihrem eigenen Edding. Sie fragt: »Macht’s dir was aus, wenn ich auf dich draufschreibe?«

»Nein, gar nicht.«

Es ist nicht ohne, wenn auf einen etwas draufgeschrieben wird. Miss Blinny meint, ich solle mir lieber eine Ausgabe der Merrimack Gazette unters Shirt schieben. Ich senke den Blick und schaue zu, wie sie schreibt.

Es gibt da was, das sollte man über mich wissen: Ich kann kaum lesen. Schon wenn Wörter richtig herum stehen, fällt es mir wahnsinnig schwer, sie zu entziffern, aber wenn sie auf dem Kopf stehen, funktioniert es erst recht nicht. Jetzt malt Miss Blinny auch noch ein Bild. Sie zeichnet zwei Quadrate, deren Ecken überlappen. Verbindet die Seiten mit vier Linien. Das erkenne ich. Es ist ein Kasten.

Miss Blinny ist fertig. Sie tritt einen Schritt zurück und steckt die Kappe zurück auf den Edding. Das ist auch besser so, weil sie jetzt mit dem Stift gegen ihre Unterlippe klopft. Sie lächelt. Große weiße Zähne. Dann sagt sie: »Warte, warte! Mir ist grad noch was anderes eingefallen.« Sie nimmt die Kappe wieder vom Stift.

Dann schreibt sie noch zwei weitere Worte, die für mich auf dem Kopf stehen. Malt ein Fragezeichen dahinter. »Fertig!«, sagt sie. Ich wurschtele die Merrimack Gazette unter meinem Shirt hervor.

Die Titelseite ist ganz gewellt von meinem Schweiß, also einigen wir uns darauf, dass ich sie lieber in den Papierkorb werfe.

Ich zupfe an der Unterseite meines Shirts. Schaue an meinem langen Oberkörper hinunter und frage Miss Blinny: »Was steht da jetzt drauf auf mir?«

Sie liest es vor: »PASST IN KEINE …« Dann zeigt sie auf die Zeichnung. Schaut zu mir auf.

Ich sage: »Schublade?«

»Ja!«, sagt sie. Dann liest sie den Schlussteil vor. »UND DU?« Den Teil flötet sie geradezu, wie ein zwitschernder Vogel. Sie sagt: »Dein Shirt trifft eine Aussage und stellt eine Frage. Es ist was ganz Besonderes!« Sie lächelt und fuchtelt mit dem Edding in der Luft herum.

Ich nicke. »Ich nehme an, das ist besser als DEEHMLICH. Aber eine Frage hab ich noch, Miss Blinny. Was soll das bedeuten?«

Sie sagt: »Es zeichnet einen Menschen aus, wenn er nicht in eine feste Schublade passt. Es bedeutet, dass du ein offenes, außergewöhnliches Wesen hast, Mason. Und wenn du nicht in Schubladen denkst, heißt das, dass du keine festgefahrenen Meinungen hast! Und das passt zu dir!« Miss Blinny lächelt. Sie lächelt mich an.

Ich sage: »Und es ist nicht entwürdigend.«

»Kein bisschen.«

Ich gehe das Ganze im Stillen noch mal durch. PASST IN KEINE SCHUBLADE. Das merke ich mir.

Sie sagt: »Okay. Mach’s dir gemütlich und iss dein Mittagessen, Mason. Oh, und lass dir ein paar von den Dingen durch den Kopf gehen, über die wir uns immer unterhalten. Konzentrier dich darauf. Und wenn du aufgegessen hast, habe ich etwas Neues für dich, das du ausprobieren kannst.«

Ich wähle den einzigen glatten Stuhl im BÜSO. Den kann ich später trocken wischen, wenn ich ihn vollschwitzen sollte. Dann drehe ich die Oberseite meiner Papiertüte auf. Frage mich, was Miss Blinny wohl vorhat. Und ob ich das mit dem Konzentrieren hinbekommen werde.

Dann kommt mir ein Gedanke: Ich nehme an, mein Kopf passt wirklich in keine Schublade. Vielleicht ist das ein guter Anfang.

BEI UNS ZU HAUSE

Wenn ich sage, dass Miss Blinny viel über mich weiß, dann liegt das daran, dass ich ihr viel erzähle. Sie sagt, ich rede ohne Punkt und Komma. Sie meint, ich hätte eine Geschichte zu erzählen. Schon komisch. Sie ist nicht die Einzige, die das glaubt. Lieutenant Baird glaubt das auch. Er denkt, ich hätte eine Geschichte über meinen besten Freund zu erzählen — Benny Kilmartin. Mehr, als ich ihm schon erzählt habe. Deshalb hat er mir ein Notizbuch gegeben. Er will, dass ich alles aufschreibe. Aber das ist natürlich der reinste Albtraum für einen Jungen wie mich.

Miss Blinny meint eine andere Geschichte. Ihr geht’s mehr um mein ganzes Leben. Meine Geschichte. Sie redet davon, als wäre es etwas, auf dem ich sitzen würde. Als könnte ich’s unter mir hervorziehen — wie eine Ausgabe der Merrimack Gazette. Und als würde ich dann einfach sagen: Bitte schön, das hier ist meine ganze wahre Geschichte. Mason Buttle.

Manche Leute glauben vielleicht, sie kennen meine Geschichte bereits. Das liegt daran, dass sie auch hier in der Gegend leben. Manche Sachen sind einfach klar. Manche Sachen stehen einem direkt vor Augen.

Wer in Merrimack lebt, kennt unser Haus. Es ist der heruntergekommene Kasten draußen auf der Swaggertown Road. Steht auf einem ziemlich großen Stück Land, das früher noch viel größer gewesen ist. Jetzt wird da gebaut. Mein Onkel Drum sagt immer: Ohne Land an die Bauunternehmer zu verkaufen, kommen wir nicht aus. Meine Großmutter sagt: Wir hätten’s trotzdem versuchen sollen.

Wer uns kennt, erinnert sich wohl auch an unsere Obstplantage. Daran, was da alles los war früher — wie in einem Bienenstock im Spätsommer. Da konnten sich die Kunden ihre Äpfel selber pflücken.

Vielleicht geht’s ja anderen ähnlich, aber ich traue meinen Augen kaum, wie schnell diese Bauunternehmer die Bäume gefällt haben. Sie bauen immer noch. Neue Häuser. Den Hügel rauf und den Hügel runter von unserem Grundstück aus. Und wenn man sich unser Haus anschaut, wie es da so in der Mitte steht, fragt man sich wahrscheinlich, warum es aussieht, als hätte jemand ein Kehrblech mit Dreck darüber ausgeleert.

Ich bemühe mich. Ich fege die Veranda. Zupfe vorne im Garten das Unkraut raus. Aber ich bin auch ein bisschen larifari. Ich bleib nicht dran. Onkel Drum sagt: Lass es einfach. Und dann fällt wieder eine Schindel vom Dach und landet unten im Garten.

Aber diese Bruchbude ist immer noch mein Zuhause. Von wo ich meinen Tag beginne. Wenn ich eine Geschichte zu erzählen hätte, würde sie also wahrscheinlich genau dort anfangen. Aber ich sag mal so: Ich würde ziemlich schnell an den Punkt kommen, bei dem jedem der Appetit aufs Mittagessen vergeht.

Ich sitze im BÜSO und starre mein Sandwich an. Ohne zu essen. Muss daran liegen, dass ich ganz tief drin bin in meinem Kopf. Ich konzentriere mich.

Ich denke: Benny Kilmartin gehört tatsächlich zu meiner Geschichte. Wir waren beste Freunde seit der ersten Klasse. Das Haus der Kilmartins ist nicht weit weg von uns, bloß ein Stück die Straße runter. Kann man gut zu Fuß erreichen. Ich bin früher oft zu ihnen gegangen. Und Benny ist zu uns gekommen. Wie zwei Brüder, die in unterschiedlichen Häusern wohnen. Deshalb hab ich auch ein enges Verhältnis zu Bennys Vätern. Andy ist sein Dad, der meistens zu Hause ist. Ein Tischler. Und Maler. Bennys anderer Dad heißt Franklin. Der arbeitet in der Stadt in einem Büro. Aber es war Andy, der uns oft vom Bus abgeholt hat. Deshalb vermisse ich ihn auch.

Doch am allermeisten vermisse ich Benny.

Benny ist seit dem Ende der fünften Klasse nicht mehr da. Frühling. Apfelblütenzeit. Ein ganzes Jahr her ist das. Plus ein paar Monate. Er ist im Mai gestorben, und jetzt ist schon zum zweiten Mal wieder September. Zwei Mal haben die Bäume geblüht. Zwei Mal neue Äpfel. An die Äpfel muss ich denken, weil Benny auf der Plantage gestorben ist. Auf unserer Apfelplantage.

Das ist die Geschichte, die Lieutenant Baird hören will. Ich hab sie ihm schon erzählt. Ich hab Benny gefunden, still und starr wie ein Stein, direkt unter unserem Baumhaus. Ich hab gesehen, dass die Leiter kaputt war. Die oberste Sprosse herausgebrochen. Hing runter. Das hab ich noch gesehen, bevor ich versucht habe, Benny Kilmartin zu beatmen. Ich nehme an, es war wohl nicht die beste Leiter. Ich hab allen gesagt, dass mir das leidtut. Ich wünschte, ich hätte sie stabiler gebaut. Aber als ich an dem Abend aus dem Baumhaus runtergesprungen bin, weil’s Zeit zum Abendessen war, ist die Leiter noch nicht kaputt gewesen. Ich bin dann nach Hause gelaufen. Ich hatte keine Ahnung, wie es sein konnte, dass die Sprosse nicht gehalten hat. Damals nicht. Und heute auch nicht.

So. Jetzt ist es raus: Mein bester Freund ist tot.

Ich sag mal so: Macht mich ziemlich kirre im Kopf, wenn ich daran denke, was mit Benny Kilmartin passiert ist.

SPRICH MIT DEM DRACHEN

Ich schaue auf meinen Schoß. Da liegt der Rest von meinem Sandwich. Ich will ihn nicht mehr. Mir ist der Appetit vergangen. Ich knülle das letzte Stück mit der Tüte zusammen. Dann wische ich mit zwei Servietten den Stuhl ab — so gut es geht. Ich kann nie so viel wischen, wie ich schwitze. Ich schaue auf. Bis jetzt bin ich immer noch der einzige Schüler im BÜSO.

Hinter dem Bücherregal, wo Miss Blinny sitzt, höre ich ein Rascheln und ein dumpfes Geräusch. Passiert oft. Deshalb mache ich mir keine Sorgen. Meistens sagt sie sowieso immer gleich, was passiert ist. Zum Beispiel: »Oh, jetzt ist mir alles aus der Handtasche gefallen.« Oder: »Ach herrje, ich hab die Topfpflanze umgekippt.«

Heute sagt sie: »Oh-oh, mein Terminkalender … und die ganzen Unterlagen.« Ich höre, wie sie die Sachen vom Boden aufhebt. Dann taucht ihr Kopf hinter dem Bücherregal auf. »Bist du fertig mit deinem Mittagessen, Mason? Gut! Dann komm doch mal her, bitte. Ich möchte, dass du etwas ausprobierst.«

Sie setzt mich an einen ziemlich niedrigen Tisch, der gegenüber von ihrem großen Schreibtisch an der Wand steht. Ich stoße von unten mit den Knien dagegen, hebe ihn ein bisschen an. Der kleine Tisch ist neu, letztes Jahr gab’s den hier noch nicht. Miss Blinny klappt vor mir einen Laptop auf. Der ist auch neu. Sie öffnet ein Programm. Ob ich ihr jetzt was vorlesen soll?

Aber dann wird mir klar, dass es um etwas anderes geht. Sie weiß ja, wie das bei mir ist. Miss Blinny wickelt einen Kopfhörer auseinander und setzt ihn auf. An dem Kabel, direkt an ihrem Mund, ist ein kleines Mikrofon. Sie hat ganz große Augen. »Schau gut zu, Mason.« Jetzt spricht sie. Sie sagt: »Wach auf.« Dann sagt sie: »Hallo, Drache. Darf ich dir Mason vorstellen?«

Ich denke: Drache? Ich bin doch kein Drittklässler. Ich schaue genau zu. Aber nur, weil ich Miss Blinny mag.

Dann sehe ich es. Die Worte erscheinen wie von selbst auf dem Bildschirm. Miss Blinny zeigt darauf. Sie sagt zu dem Drachen: »Nicht mehr zuhören.« Dann klatscht sie in die Hände. »Hast du gesehen? Ich sage ihm, dass er nicht mehr zuhören soll, damit er nicht weiterschreibt, während ich mit dir spreche.« Sie sagt: »Die Befehle lernst du noch. Aber schau!« Sie deutet wieder auf den Bildschirm.

Ich betrachte die Worte. Sie verschwimmen. Wie immer. Aber da gibt es ein Wort, das ich an den Umrissen erkenne. Meinen Namen. Am Anfang der Buchstabe M. Stimmt. Ich habe gehört, wie Miss Blinny gesagt hat: Darf ich dir Mason vorstellen?

Sie reicht mir den Kopfhörer mit dem Mikrofon. »Jetzt bist du dran. Sprich mit dem Drachen! Erst mal sagst du ihm, dass er aufwachen soll.«

Ich setze also den Kopfhörer auf. Ich schlucke. Zweimal. Ziehe an dem Kabel. Starre den Bildschirm an. Schließlich sage ich: »Wach auf.« Dann sage ich: »D-du siehst gar nicht aus wie ein Drache.«

Ich höre ein leises Klicken. Als würde jemand tippen. Die Worte reihen sich auf dem Bildschirm auf. Jetzt bekomme ich große Augen, denn ich glaube, ich sehe da meinen Satz, vielleicht sogar richtig buchstabiert.

Miss Blinny sagt zu mir: »Jetzt sag Lies vor und hör zu.«

Ich tue es. Aus den Kopfhörern kommt eine Frauenstimme: »Du-du siehst gar nicht aus wie ein Drache.«

Ich sage: »Heiliger Strohsack!«

Der Drache tippt zwei Wörter. Also sage ich: »Lies vor.«

Die Frauenstimme sagt: »Heiliger Strohsack.«

Miss Blinny trippelt mit ihren Stiefeln begeistert auf der Stelle. Sie dreht sich im Kreis. Sie sagt: »Ist das cool, oder was? Du kannst dir eine Schriftart aussuchen. Und auch eine Farbe, wenn du magst.«

Ich denke: Das Beste an der ganzen Sache ist, dass ich überhaupt nicht auf den Bildschirm schauen muss. Ich muss es nicht lesen. Muss nicht darüber nachdenken, welchen Klang welche Buchstaben haben. Muss mir keine Kneifzangen-Augen wünschen, um die Buchstaben an Ort und Stelle zu halten. Muss nicht blinzeln, um die ganze Unordnung zu sortieren.

Miss Blinny sagt: »Das sind deine Worte. Du schreibst, Mason! Am besten kommst du jeden Tag hierher. Das hier kann dein Tagebuch werden. Es ist deine Geschichte. Hier kannst du alles loswerden, was dir auf der Seele liegt.« Sie lässt ihre Stimme hart klingen. »Verfüttere alles an den Drachen.« Dann reckt sie eine Faust in die Luft. »Yeah!«

Im Stillen fällt mir ein, was eine Lehrerin mal zu mir gesagt hat: Wenn du sprechen kannst, kannst du auch schreiben.

Dieser Lehrerin hab ich damals geantwortet: Nein. Wer sprechen kann, kann vielleicht eine Geschichte erzählen. Aber das heißt noch nicht, dass er schreiben kann.

Das sollte kein Spruch sein. Es war einfach die Wahrheit. Ich kann mit dem Schreiben anfangen. Aber es geht nicht so schnell wie das Sprechen. Ich komme vom Weg ab. Und es gäbe nur eine Möglichkeit, ihn wiederzufinden: Ich müsste mir durchlesen, was ich schon geschrieben habe. Aber das Lesen ist ja gerade mein Problem.

Jetzt weiß ich, dass Miss Blinny recht hat. Der Drache wird es mir möglich machen, eine Geschichte zu erzählen. Sollte gut klappen. Sollte leichter sein. Aber ich sitze bloß wie erstarrt vor dem Laptop.

Miss Blinny sieht, dass ich feststecke. Sie sagt: »Fang einfach mit dem an, was dir eben durch den Kopf gegangen ist, als du dein Mittagessen gegessen hast.«

Ich denke: Na ja. Einiges davon könnte vielleicht gehen.

Sie sagt: »Sei einfach ganz du selbst, wenn du vor dem Drachen sitzt.«

Also mache ich es. Der Drache tippt. Und dann wird es mir klar. Wenn ich tatsächlich eine Geschichte zu erzählen habe, geht es nur auf diese Weise. So gut ich kann.

MORGENS

Ich fange mit meiner Geschichte zu Hause an. Ich sage zum Drachen:

Ähm. Okay. Ich … ähm. Ich steige in den Bus. Ich habe einen Doppelsitzplatz für mich allein. Morgens ist das meistens so. Am Nachmittag fahren mehr Schüler mit dem Bus. Morgens werden die meisten mit dem Auto gebracht. Deshalb … ähm … genau. Deshalb fängt der Tag ruhig an. Ich mag das: Bei der Fahrt so hoch über der Straße zu sitzen. Aus dem Fenster zu schauen. Ganz allein. Dann muss ich auch nicht befürchten, dass ich jemanden vollschwitze. Ich schaue einfach bloß raus. Ich habe bestimmte Punkte auf dem Weg durch die Stadt, die ich mir immer ansehe.

Dann breche ich ab. Denke nach. Wie soll ich erzählen? Ist das überhaupt eine richtige Geschichte? Dann kommt mir das Wort Reihenfolge in den Sinn. In welcher Reihenfolge welche Dinge auftauchen. Ich stütze den Kopf auf meine Hände. Auf den Bildschirm schaue ich nicht. Ich sage zum Drachen:

Als Erstes. Ähm. Ähm. Okay, ich weiß. Als erster Punkt kommt die Haltestelle direkt vorm Rathaus. Ich schaue mir die Männer an, die da stehen und darauf warten, für Gelegenheitsarbeiten engagiert zu werden. Heute Morgen waren es vier oder fünf. Mit Arbeitsstiefeln an den Füßen. Kaffee in Pappbechern in der Hand. Ich wünschte, Onkel Drum würde sich da auch mal hinstellen, statt morgens schon in aller Frühe zum Diner zu fahren. Da würde er sehen, dass die Leute durchaus Arbeit bekommen. Die Bauunternehmer holen sie ab und fahren mit ihnen zu den neuen Baustellen. Bezahlen sie dafür, dass sie beim Graben helfen oder Sachen schleppen. Sie helfen aus. Nicht jeden Tag, nehm ich an, aber an manchen. Ich denke, sie kriegen genug Geld, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Ich habe gehört, wie Grandma das zu Onkel Drum gesagt hat. Vorläufig genügt uns das Geld, das wir vom Verkauf unseres Lands bekommen haben. Aber das wird nicht ewig reichen, wenn wir so weitermachen und es einfach aufbrauchen.

Ich höre auf und denke nach. Ich weiß, dass ich das einfach so vor mich hin erzählt habe. Der Drache schreibt mit. Alles. Das ist wichtig. All die Worte stehen da irgendwo auf dem Monitor. Ich denke darüber nach, was ich als Nächstes sagen soll. Dann spreche ich weiter.

Also. Ähm. Ich liebe Onkel Drum. Vielleicht vor allem deshalb, weil mein Dad ein Auf-und-davon-Dad gewesen ist. An ihn kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass meine Mom mit mir zu Grandma und Grandpa gezogen ist, nachdem er auf und davon gegangen war. Onkel Drum hat sowieso noch zu Hause gewohnt, bei meinen Großeltern. Deshalb war er auch für mich da. Früher hat er mich morgens immer mit zum Diner genommen. Hat mich mit dem Ahornsirup Kreise auf seinen Teller malen lassen. Und dann durfte ich mir die Finger ablecken. Als ich groß genug war, und … ähm … ich bin ziemlich groß geworden …, hat er mich mit dem Traktor durch die ganze Apfelplantage gefahren. Hinter dem Fahrersitz hat er extra eine Holzkiste für mich eingebaut. Die ist da immer noch. Aber wenn ich jetzt versuchen würde, mich hineinzusetzen, würde sie sofort auseinanderbrechen. Oder mein Hintern würde drin feststecken. Ähm. Also, ich glaube, dass es nicht nur seine Schuld ist, dass er die Plantage aufgegeben hat. Wir hatten dieses schlechte Jahr. Ich war sechs. Genau. Sechs Jahre alt. Erst ist Grandpa gestorben. Dann Mom. Bing. Bang. Das sagt Onkel Drum immer. Er hat die Plantage danach allein betrieben. Das ist eine ziemliche Aufgabe, und dann war auch noch die Ernte schlecht. Zwei Jahre hintereinander. Kann passieren. Onkel Drum weiß das. Aber wenn er heute darüber redet, sagt er, die Plantage hätte ihn fertiggemacht. Sie liegt jetzt still. Aber das meiste ist noch da.

Die Bäume tragen immer noch Äpfel. Machen, was sie immer gemacht haben. Jetzt ist Apfelsaison, und unsere sind reif. Ich werde ein paar pflücken. Aber dabei wird nicht viel herauskommen. Nicht dieses Jahr.

Also. Genau. Ich denke an unser Haus. Ist eine ziemliche Bruchbude. Wir müssten wirklich einiges ausbessern. Oder etwas von dem Geld investieren, das wir von den Bauunternehmern bekommen haben, und jemanden anheuern, der beim Renovieren hilft. Aber so wie’s aussieht, will Onkel Drum das nicht. Ist ’ne teure Angelegenheit. Ich weiß. Daran muss ich denken, als ich die Männer vorm Rathaus stehen sehe.

Also. Es ist immer noch ziemlich warm. Aber wir hatten einmal einen ziemlich heftigen Winter — ist jetzt vielleicht zwei Jahre her. Kann man sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, aber es hat direkt in unser Wohnzimmer reingeschneit. Ein weißer Streifen auf dem Teppich. Bloß der eine. Zu der Zeit hatte ich noch Benny, meinen besten Freund. Deshalb ist sein Dad zu uns gekommen — Andy. Um zu helfen. Hat neue Dachschindeln angebracht, das Loch abgedichtet. Aber ich sag mal so: In dem alten Dach könnte jeden Augenblick wieder so ein Riss entstehen. Jederzeit.

Also. Onkel Drum sitzt im Diner rum. Lässt sich von Irene mit ihrem Haarnetz auf dem Kopf Kaffee einschenken. Stewart macht ihm einen Stapel Maispuffer. Ich versteh das. Ich esse auch gern. Aber Onkel Drum bleibt stundenlang da sitzen. Jeden Tag. Seine Sachen riechen immer nach Speck und Ahornsirup. Auch die Kabine von seinem Truck. Mich nimmt er nicht mit. Nicht mehr. Aber ich sehe seinen Truck vor dem Diner parken, wenn der Bus daran vorbeifährt. Wenn das Licht stimmt, kann ich ihn sogar da drinnen erkennen. Wie er direkt am Tresen sitzt.

Ich habe irgendwie das Gefühl, dass Onkel Drums Leben nicht so richtig erfüllt ist. Maispuffer zu essen, ist ja kein Beruf. Eher etwas, was man macht, wenn man nichts anderes machen will. Also zum Beispiel das, was man machen müsste. Onkel Drum spricht das nicht aus, aber ich glaube, ihm geht es nicht gut. Trotzdem würde jeder, der ihn kennt, sagen, er ist ein guter Mensch. Manche würden sogar behaupten, dass er zu gut ist, wegen der Sache mit Shayleen und wie er sie damals, eines Morgens, mit zu uns nach Hause gebracht hat. Shayleen, die mich aus meinem Zimmer vertrieben hat. Shayleen, die mich in den Wahnsinn treibt. Shayleen, die einfach nicht mehr weggehen will.

Als ich zu der Stelle mit Shayleen komme, breche ich wieder ab. Das ist keine Überraschung. Auch wenn es sich bestimmt gut anfühlen würde, weiterzureden und Shayleen dem Drachen zum Fraß vorzuwerfen. Darüber muss ich lachen. Ich schiebe meinen Stuhl zurück. Dann betrachte ich den Bildschirm und sehe den ganzen Text. Zeilen über Zeilen. Ich kann das gar nicht fassen. Dann fangen die Buchstaben an, sich aufzublähen. Sie zerlaufen. Ich blinzele und schaue schnell weg.

Hinter mir hat sich das BÜSO mit anderen Schülern gefüllt. Sie schauen einfach mal kurz rein. Wird schwierig werden, mich jetzt noch auf diese Sache zu konzentrieren. Miss Blinny merkt das. Sie sagt: »Fertig für heute, Mason? Großartig. Sag dem Drachen, dass er sich schlafen legen soll. Das ist der Befehl, wenn du fertig bist: Geh schlafen!«

Also mache ich genau das. Ich wische mir die Hände an meiner Hose ab und nehme den Kopfhörer herunter. Ich trockne ihn mit Taschentüchern. Soll ja nicht widerlich sein.

Ich spüre ein wildes Gefühl in mir. Etwas Neues.

Ich habe noch sehr viel mehr zu sagen.

Mehr zu schreiben.

ZWEI BREZELN

Die erste Regel des BÜSO lautet, dass man immer willkommen ist. Eine weitere Regel besagt: Du kannst nicht den ganzen Tag bleiben. Es kommt immer der Augenblick, wenn sich Miss Blinny die Hand auf die Brust legt und sagt: »Tut mir leid. Ich darf dich leider nicht für immer und ewig hierbehalten.«

Irgendwann werde ich ihr sagen, dass das total unlogisch ist. Wie kann man immer willkommen sein, wenn man dann doch nicht bleiben darf?

Gleich wird es läuten. Ich werde zum Unterricht gehen müssen. Also ziehe ich meine Knie unter dem Tisch hervor. Klappe den Laptop zu.

Als ich mich gerade auf den Weg machen will, höre ich ein Hi. Ich schaue mich um. Es ist, als wäre dieses Hi direkt aus der BÜSO-Couch gekommen. Dann sehe ich einen Jungen. Er besteht bloß aus einem Paar Schuhen und einem fluffigen weißen Kopf. Haare wie bei Katzenbabys. Er trägt Halbschuhe aus Wildleder. Sandfarben. Den Rest von ihm kann ich nicht sehen, weil die große weiche Couch den mittleren Teil seines Körpers komplett verschluckt. Ich erkenne bloß, dass er klein ist. Und dünn. Sieht aus, als wenn ihn jemand aus Papierschnipseln und Tesafilm zusammengeklebt hätte.

Er schaut zu mir auf. Ganz hoch. Ich denke nach über dieses Hi. Es war kein spöttisches Hi. Kein Ich-meine-das-gar-nicht-ernst-Hi. Kein Hi, auf das eine so lange Pause folgt, dass man es niemals für bare Münze nehmen würde. Bloß ein ganz einfaches Hi. Als wolle es sagen: Du gehörst genauso hierher wie ich, und von mir hast du keinen Ärger zu befürchten.

Er tippt jetzt wieder mit dem Finger auf einem Tablet in seinem Schoß herum. Also, wenn er überhaupt einen Schoß hat. Kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Dann hält er mit der anderen Hand eine Packung Brezeln in die Höhe. Wackelt mit der Tüte. Zweimal.

»Oh, für mich?«

»Natürlich«, sagt er.

Ich wische meine verschwitzten Hände an der Hose ab — drei Mal —, bevor ich eine der Brezeln nehme. Ich sage: »Danke schön.«

Er nickt.

»Ich bin Mason«, sage ich. Dann füge ich hinzu: »Buttle.«

Er schaut gerade lange genug auf, dass ich erkennen kann, dass er lächelt. Ich weiß: Buttle ist ein komischer Name. Er blickt wieder auf sein Tablet. »Natürlich bist du das. Und ich bin Calvin Chumsky. Ich fahre mit demselben Bus wie du.« Das Lächeln wird auf der einen Seite seines Mundes breiter. »Buttle und Chumsky«, flüstert er. Ich höre, wie er kurz vor sich hin kichert.

Es läutet. »Ich muss gehen«, sage ich.

Er nickt. Und sagt: »Noch eine für unterwegs?« Schüttelt wieder seine Brezeltüte.

Ich nehme noch eine. Bedanke mich. Gehe zur Tür.

Er sagt: »Hey, abgefahrenes Shirt übrigens.«

Ich schaue auf meine Brust. Worte, die auf dem Kopf stehen.

Ich denke nach. Was steht da noch mal? Dann fällt es mir ein.

PASST IN KEINE Bild einer Schublade. DU AUCH?

»Ja«, sage ich zu Calvin Chumsky. »Das stimmt. Abgefahren.«

GROSSE GELBE CHIPS

Während ich auf dem Flur Calvin Chumskys Brezel esse, denke ich: Schon ’ne ganze Weile her, dass mir ein anderer Schüler etwas zu essen angeboten hat. Es sei denn, ich rechne mit, wie Matt Drinker und Lance Pierson mich in der Cafeteria dazu gebracht haben, Hundefutter zu essen — so große gelbe Leckerli-Chips. Die beiden machen mir das Leben nicht gerade leicht — Matt und Lance. Aktionen wie das DEEHMLICH-Shirt. Aber sie meinen es nicht böse. Nicht wirklich.

Mann, haben die damals gelacht über die Hundefutter-Geschichte. Ich hab’s am Anfang gar nicht kapiert. Ich habe versucht, was Höfliches zu sagen über diese großen gelben Chips. Dass sie gar nicht so schlecht wären. Dabei waren sie ganz hart und schrecklich. Ich hab anschließend erst mal überprüft, ob ich mir auch keinen Zahn abgebrochen hatte.

Ich hab die Chips in meiner verschwitzten Faust versteckt. So getan, als ob ich sie aufgegessen hätte. Und als keiner mehr hingesehen hat, hab ich sie unauffällig in den Müll geworfen.

Den ganzen Nachmittag sind mir dann andere Schüler auf dem Flur entgegengekommen, die »Wuff-Wuff!« und »Kläff-Kläff« gemacht haben. Wenn sie nicht gebellt haben, sind sie fast geplatzt vor Lachen. Ich musste auch lachen. Ich hab das alles nicht verstanden. Bis ich dann ein paar Tage später bei Matt zu Hause war, um auf seinen Hund Moonie aufzupassen. Ich mache das manchmal, wenn seine Familie nicht da ist. Matt wohnt in einem Haus ein kleines Stück entfernt von uns, hügelabwärts hinter der Obstplantage. Es steht auf dem Teil des Landes, das Onkel Drum an die Bauunternehmer verkauft hat. Ich liebe Matts Hund. Moonie. Mir gefällt auch das Haus seiner Eltern. Riecht immer noch neu. Und mir gefällt seine Mom. Nicht gefallen hat mir allerdings, dass ich die Schachtel mit den gelben Chips in der Speisekammer der Drinkers neben Moonies Futter entdeckt habe. Na ja. Da hab ich’s dann kapiert. Ich hatte Hunde-Leckerli gegessen — und hab es überlebt. Ich sag mal so: Es gibt Schlimmeres.

Na egal. Es ist jedenfalls ein großes Glück, jemanden zu treffen und gleich zu wissen, dass man ihn mag. Und dass er dich mag. Ist früher öfter passiert. Heute eher selten. Damals, als ich Miss Blinny kennengelernt habe, war es genauso. Und jetzt wieder bei diesem kleinen Calvin Chumsky mit seinen Brezeln. Und wenn ich weiter zurückdenke, war es auch mit Matts Mom so, mit Mrs Drinker. Sie ist eine echte Freundin. Eine erwachsene Freundin. Und das war sie gleich vom ersten Moment. Seit ich damals mit meinem Schlitten durch ihr Kellerfenster gekracht bin.

Ich sag mal so: Das war so ein Moment, der ziemlich schlimm hätte ausgehen können. Aber Mrs Drinker hat etwas sehr Gutes daraus gemacht.

DER SCHLITTEN

Als der Unfall mit dem Schlitten passierte, war Matt der Erste, der die Kellertreppe heruntergelaufen kam. Er war noch ziemlich neu in Merrimack. Ich kannte ihn allerdings schon aus der Schule. Und vom Bus. Und von ein paar Apfel-Schlachten, an denen ich lieber nicht teilgenommen hätte. Ich wusste auch, dass es der Keller seiner Familie war, in den ich gekracht war. Seine Mutter und sein Hund kamen direkt hinter ihm die Treppe herunter. Matt schrie ganz aufgeregt. Seine Mutter schnappte nach Luft. Und sein schwarz-weißer Hund schaute mich neugierig an und wedelte wie verrückt mit dem Schwanz. Das war Moonie. Er hat den besten Schwanz, der einem Hund jemals am Hinterteil gewachsen ist.

Ich entschuldigte mich, so schnell und so oft ich konnte, weil ich durch das Fenster gekracht war und das eine Ende ihres Pingpong-Tisches abgebrochen hatte. Oh. Und dafür, dass ich ihrer großen weißen Tiefkühltruhe eine Delle verpasst hatte. Ich sag mal so: Der Schlitten ist unter mir weggesaust und mit voller Wucht dagegengeknallt. Ich weiß auch nicht genau, wie das passieren konnte. Muss was mit der Erdanziehung zu tun haben oder so.

Ich versuchte, vom Pingpong-Tisch herabzusteigen. Mrs Drinker wollte aber unbedingt, dass ich liegen bleibe, damit sie mich untersuchen konnte. Moonie dachte wohl, die Anweisung gälte ihm, denn er machte diesen Ellbogen-Gang, den Hunde manchmal draufhaben. Er versuchte, sich zu benehmen und trotzdem zu mir zu kommen.

Matt brüllte mich an: »Buttle! Du Vollidiot!«

Ich setzte mich auf.

Mrs Drinker sagte zu mir: »Warte, warte! Schätzchen, tut dir irgendwas weh? Was ist mit deinem Kopf? Und blutest du irgendwo?«

Matt sagte: »Das Fenster wirst du so was von bezahlen, Buttle! Und den Pingpong-Tisch auch!«

»Matty!«, zischte Mrs Drinker. »Er könnte sich verletzt haben! Was kümmern uns da irgendwelche Gegenstände!«

Ich berührte meinen Kopf, tastete nach meiner Mütze mit der großen Bommel obendrauf. »Ich glaube, bei mir ist alles heil«, sagte ich.

»Aber unser Haus nicht!«, sagte Matt. »Hier ist alles kaputt. Und du bist unbefugt hier eingedrungen!«

Ich sagte: »Ja … zwischen den Apfelbäumen bin ich mit dem Schlitten gut durchgekommen, und ich dachte, zwischen den Häusern würd ich’s auch schaffen. Ich weiß nicht, was dann passiert ist.« Ich schüttelte den Kopf und betrachtete das Chaos um uns herum. »Wow. Dann bin ich wohl ein Einbrecher«, sagte ich.

Das brachte Mrs Drinker zum Lachen.

»Es tut mir wirklich leid. Ich werde das bezahlen. Auf jeden Fall«, sagte ich. Dann sah Mrs Drinker aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen.

»Bis auf den letzten Penny!«, sagte Matt.

»Matty! Hör auf damit!«, sagte Mrs Drinker, und dann schniefte sie tatsächlich kurz. Sie legte ihre Arme um mich. Dann kam Moonie, Matts Hund, langsam auf mich zugekrochen und legte auch seine Vorderpfoten um mich.

Anschließend brachten sie mich nach Hause — Matts Hund und Matts Mutter. Sie schlüpfte in ihre Stiefel und zog meinen Schlitten den Hügel hinauf, obwohl ich ihr sagte, dass ich das selber machen könnte. Das kam für sie nicht infrage. Also gingen wir gemeinsam zu Fuß, und ich streckte meine Hand zu Moonies Kopf hinab. Er legte immer wieder die Ohren an, damit ich sie kraulen konnte. Dann rannte er voraus und hüpfte auf und ab. Ich brauchte bloß seinen Namen zu sagen, und schon kam er zu mir zurück. Direkt zu mir. Mit so einem Hundelächeln auf dem Gesicht. Da hab ich ihn zum ersten Mal getroffen.

»Das ist ein toller Hund«, sagte ich zu Mrs Drinker. »Er darf gern zu uns ins Haus kommen und meine Grandma kennenlernen, während ich Ihr Geld hole. Und wenn ich heute nicht genug dahabe, verdien ich noch was und zahle es Ihnen zurück …«

»Mason! Das mit dem Geld wollen wir ganz schnell vergessen!«

»Na ja, ich hab Ihr Fenster zerbrochen. Das muss ich doch bezahlen. Und ich kann es auch bezahlen. Ich bekomme Geld dafür, dass ich Leuten helfe. Vielleicht kann ich ja auch bei Ihnen irgendwas machen. Ich bin ein guter Handwerker. Ich arbeite gerne.«

So kamen Mrs Drinker und ich auf die Idee, dass ich mich um Moonie kümmern könnte. Unsere Regelung ist eine große Hilfe für sie. Weil sie oft Matts Dad besuchen fahren. Er hat einen verrückten Beruf. Er sollte eigentlich öfter in Merrimack sein, ist aber meistens nicht da. So sieht es aus.

Deshalb mache ich das im Moment ziemlich oft. Ich schaue bei ihnen zu Hause nach dem Rechten. Bringe die Post rein, wenn sie nicht da sind. Ich darf mich auch bei ihnen aufhalten. Mit Moonie spielen. Ihm Gesellschaft leisten. Und das mache ich. Ich liebe diesen Hund.

BOOM

Als die Schule vorbei ist, schaue ich mich nach dem Jungen um, der Calvin Chumsky heißt. Er sagte, er würde mit mir im selben Bus fahren. Aber ich sehe ihn nicht. Wenn ich in der Schlange vor der Bustür stehe, schaue ich mich allerdings auch lieber nicht um. Ich starre meine Schuhe an. Schlurfe vorwärts.

Die lautesten Schüler steigen als erste ein. Sie sitzen ganz hinten. Matt Drinker. Lance Pierson. Deren Freunde. Ich sitze in der Mitte. Gesicht zum Fenster. Es wird viel geredet, aber ich mag dieses laute Getümmel um mich herum. Gibt mir das Gefühl, unsichtbar zu sein, trotz meiner Größe.